Kapitel

In einer Mischung aus Verblüffung und wilder Freude folgte Derek Maia durch die dunkle Straße. Erebos hatte Wort gehalten, er hatte sie gefunden, bevor ihr etwas zugestoßen war – auch wenn es ganz danach aussah, als hätte Maia keine Rettung nötig. Sie lief den Weg mit einer Gewissheit entlang, als wäre sie hier zu Hause, und summte dabei leise vor sich hin. In ihrer Hand klimperte etwas. Schlüssel vermutlich. Ab und zu drehte sie sich zu ihm um und lächelte ihn an.

Wenn es nach Derek gegangen wäre, hätte der Spaziergang ewig dauern können. Er verkniff sich die Fragen, die ihm auf der Zunge brannten, denn damit würde er die gelöste Stimmung sicher ruinieren. Maia hatte ihm schon auf seine erste – »Wie meinst du das, du hast auf mich gewartet?« – keine Antwort gegeben. Nur gelächelt und ihn mit sich fortgezogen. Ihn kurz darauf gefragt, ob er Hunger habe. Angekündigt, dass es gleich Pizza geben werde.

Sie hatten die bewohnte Straße jetzt hinter sich gelassen, hier gab es keine Häuser mehr … bis dann, eine halbe Meile weiter, doch wieder eines in Sicht kam. Derek kannte es, er hatte es auf Instagram gesehen. Das weiße Bauklotz-Haus.

Wie groß es war, erfasste er erst, als sie direkt davorstanden. Maia entsperrte den Zugang mit einem fünfstelligen Code, und sie befanden sich in einem japanischen Garten. »Keine Angst«, sagte sie. »Die Überwachungskameras sind aus.«

Überwachungskameras. Er blickte sich um. Ein Schwimmteich, ein Pavillon, zwei Nebengebäude. »Wem gehört das hier?«

Sie gab einen weiteren Code ein, direkt neben der Tür. »Jemandem, der es uns leiht. Ohne es zu wissen und nur für kurze Zeit, aber wir machen ja nichts kaputt.«

Sie trat ein, ohne das Licht anzumachen. Leuchtete nur mit ihrem Handy in den Eingangsbereich, auf weißen Marmor, Designermöbel, abstrakte Kunst an den Wänden. Derek folgte ihr stumm. Das hier war ein Palast, ein sehr moderner, ungemütlicher zwar, doch es war klar, dass er Millionen gekostet haben musste.

Erst als sie die Küche erreichten, schaltete Maia das Licht an. »Diese Fenster kann man von der Straße aus nicht sehen«, erklärte sie und tippte das Bedienfeld des Ofens an.

Derek hatte sich auf einen der Stühle am Esstisch gesetzt. »Seit wann bist du schon hier?«

Sie schob vier Tiefkühlpizzen in ein beeindruckend großes Backrohr. »Seit drei Tagen. Magst du lieber Salami oder Thunfisch?«

»Salami.« Vier Pizzen. Dann mussten noch mindestens zwei andere Leute im Haus sein. Er sah Maia zu, wie sie eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank holte, zwei Gläser vollschenkte und damit zum Tisch kam. Es half nichts, er musste das Thema irgendwann ansprechen.

»Deine Eltern sind total besorgt um dich.«

Sie sah ihn aus ihren dunklen Augen ernst an. »Welche?«

Erst meinte er, sich verhört zu haben. Hatte Maia ihn eben gefragt, welche Eltern? Im nächsten Moment lächelte sie. »Kann ich mir vorstellen, tut mir auch leid, aber wenn alles klappt, kriegen sie mich morgen wohlbehalten zurück. Oder übermorgen.«

»Willst du sie nicht wenigstens anrufen?« Dann ergab sich vielleicht auch für ihn eine Möglichkeit, sich kurz zu Hause zu melden. Sein schlechtes Gewissen ließ sich kaum noch ausblenden.

»Nein.« Entschieden schüttelte Maia den Kopf. »Nicht bevor …«

Im gleichen Moment öffnete jemand die Küchentür. Derek sprang auf, darauf gefasst, dem Hausbesitzer Rede und Antwort stehen zu müssen. Doch es war nur ein Junge in Cargohosen, mit kaffeebrauner Haut, krausem Haar und offenem Lächeln. Er kam auf Derek zu und setzte sich auf den Stuhl neben ihn. »Hi! Ich bin Cameron. Und du Derek, nicht wahr?«

»Äh. Ja.« Damit war zumindest geklärt, wer die dritte Pizza bekam. Allerdings nicht, wer dieser Cameron war. Derek konnte sich nicht erinnern, ihn schon jemals gesehen zu haben. Gehörte seinen Eltern das Haus? War er Maias Freund?

Er erinnerte sich daran, was Sarah und Alison nach ihrem Verschwinden in der Schule erzählt hatten: dass sie sich mit jemandem traf, den sie alle nicht kannten …

»Riecht schon gut«, stellte Cameron fest und schnupperte in Richtung Ofen.

Maia nickte. »Wie geht es ihm? Ist er okay?«

»Ja. Ist total konzentriert und noch immer motiviert. Cooler Typ, eigentlich. Aber irgendwann wird er die Geduld verlieren.«

»Angst hat er keine?«

»Nein. Zum Glück.«

»Gut.«

Derek hatte das Gespräch wortlos verfolgt; schlau wurde er nicht daraus. Seine Erleichterung darüber, dass es Maia gut ging und sie nicht einmal annähernd so aussah, als wollte sie ihr Leben beenden, wich allmählich leisem Unbehagen. »Was tut ihr hier eigentlich?«

Die beiden anderen wechselten einen Blick. »Wir warten«, sagte Maia.

»Aha. Und worauf?«

»Wir haben eine Menge Fragen«, antwortete Cameron. »Und warten auf Antworten.«

»Nicht nur«, ergänzte Maia. »Aber auch.«

Wieder betrat jemand die Küche. Ein Mädchen, ebenfalls dunkelhäutig, mit riesigen Augen und kurzen Zöpfen, die leicht abstanden. Sie grüßte nicht, setzte sich nicht, sondern lehnte sich nur mit verschränkten Armen gegen die Wand.

»Schon Hunger?« Maia stand auf und warf einen prüfenden Blick ins Backrohr. »Dauert noch ungefähr fünf Minuten. Das dort ist übrigens Derek. Derek, das ist Cora.«

»Hi«, sagte er, bekam aber keine Antwort. Das Mädchen senkte nur das Kinn und gähnte.

Diese Versammlung wurde immer merkwürdiger. Und so gerne er Zeit mit Maia verbringen wollte, so wenig gefielen ihm die Umstände. »Hört mal«, sagte er, »ich denke, ich bin dann hier raus. Teilt euch meine Pizza einfach auf. Ich hoffe echt, dass ich jetzt noch einen Zug in Richtung London kriege.« Er stand auf, und Cameron tat dasselbe. Cora stellte sich in die Küchentür.

»Tut mir leid, Derek, aber das geht nicht«, erklärte Maia. »Ein bisschen musst du noch hierbleiben.«

»Was?« Ungläubig sah er, wie Cora ein langes Messer aus dem Block auf der Anrichte zog. »Das ist nicht euer Ernst.«

»Wir tun dir nichts.« Maia gestikulierte beschwichtigend in Coras Richtung. »Aber sieh mal, wenn du nach Hause kommst, fragen sie dir sofort Löcher in den Bauch. Und ganz ehrlich: Du würdest meinen Eltern Bescheid geben, nicht wahr? Um sie zu beruhigen?«

Das hätte Derek tatsächlich fair gefunden. Er hatte das Bild von Maias weinender Mutter vor der Direktion noch gut vor Augen.

»Und das geht eben nicht.« Maia zog ihn wieder auf seinen Stuhl zurück. »Wenn du jetzt nach Hause fährst, werden sie dir Fragen stellen, die du nicht beantworten kannst. Und die, bei denen du es könntest, würden uns alles zunichtemachen.«

»Was denn zunichtemachen? Die Antworten, auf die ihr wartet?«

»Auch.« Maia stand auf und schaltete das Backrohr aus. Sie legte den dampfenden Inhalt auf vier Teller und nahm Cora das lange Messer aus der Hand. Mit den geachtelten Pizzen kehrte sie zum Tisch zurück.

Cora setzte sich immer noch nicht dazu. Sie holte sich nur zwei Stücke Thunfischpizza – und das Messer. Damit stellte sie sich wieder an die Tür.

Derek sah ihr zu, wie sie genüsslich zu essen begann, tief in ihm war seine alte Freundin, die Wut, neu erwacht. »Heißt also, wenn ich versuche, hier rauszukommen, sticht sie dort mich ab? Seid ihr völlig irre?«

»Das würden wir nicht«, erklärte Cameron kauend. »Aber wir würden dich anders am Abhauen hindern. Und wenn du es doch schaffen solltest, würdest du am Ende mit ziemlichen Problemen dastehen. Wir sind nämlich eigentlich alle nicht hier.«

»Genau.« Zum ersten Mal meldete sich Cora zu Wort, mit überraschend tiefer Stimme. »Es ist nur ein einziger hier. Und zwar freiwillig.«

Derek schlang zwei Stück Pizza hinunter, ohne zu schmecken, was er aß. Er begriff nach wie vor nicht, was Maia und ihre Freunde hier taten, worauf sie warteten, aber er hatte verstanden, dass noch eine fünfte Person im Haus sein musste. Freiwillig, wie Cora meinte. Derek hatte dazu eine gewisse Idee. Und er nutzte die Essenspause, um sich die Bedingungen zu überlegen, unter denen er mitspielen würde.

»Okay«, sagte er schließlich und wischte sich die Finger an einer Papierserviette ab. »Ihr lasst mich also nicht raus. Aber ich finde, wir könnten ein paar Fakten auf den Tisch legen, oder? Ich fange an: Wir alle vier spielen Erebos, und das ist auch der Grund, warum wir hier sind. Maia, du bist Soryana, bei den anderen weiß ich es nicht.«

In Maias Augen funkelte es amüsiert. »Der erste Teil deiner Behauptung stimmt. Der Rest … nicht ganz.«

»Na fein. Dann lasst mal sehen, wie es mit meinem nächsten Tipp steht. Wir alle sind in Wahrheit gar nicht hier, wie ihr sagt, ein anderer aber schon, und ich glaube, dass er Cedric heißt.«

Keiner der drei reagierte. Sie kamen Derek vor wie ein gut aufeinander eingespieltes Team. Wie ein Rudel, und Maia war die Leitwölfin.

»Ich sollte heute mit ihm Rollen tauschen«, fuhr er fort. »Er sagte, er wäre sicher um drei zurück, aber um fünf war er das immer noch nicht. Auch nicht um halb sechs. Könnte es also sein, dass er euch in die Fänge geraten ist? Und auch nicht mehr gehen darf? Hört mal, er ist erst vierzehn!«

Er glaubte, in Maias Lächeln echte Zuneigung zu erkennen. »Du bist ein lieber Kerl, Derek.« Sie stand auf. »Komm mit.«

Treppen, die nach unten führten. Zu einem Partykeller mit riesiger Musik- und Lichtanlage. Einer Bar. Daneben führte eine weitere Treppenflucht noch tiefer. »Dieses Haus«, erklärte Maia, »gehört sehr reichen Leuten, wie du dir sicher schon gedacht hast. Reiche Leute sind oft auch sehr ängstliche Leute. Deshalb haben sie nicht nur eine eigene Disco, einen Schwimmteich und allen möglichen anderen Kram hier eingebaut, sondern auch das da.«

Sie standen in einem dunklen, kahlen Raum, in dessen Mitte der Fußboden eine Art Fenster aufwies, aus enorm dickem Glas. Von dort strahlte Licht herauf. Derek ging daneben auf die Knie und spähte nach unten.

Dort lag ein weiterer Raum, hell erleuchtet. Zwei der Wände waren mit Regalen vollgestellt, in denen sich Lebensmittelkonserven, Wasserflaschen und Saftpackungen stapelten. Es gab eine Kochnische und einen Kühlschrank, beherrscht wurde der Raum aber von einem Flachbildschirm, der fast eine gesamte Wand einnahm. Auf diesem Bildschirm lieferte sich gerade ein Barbar, der Derek bekannt vorkam, eine heftige Schlacht mit einem grünen, wurmartigen Wesen. Davor saß Cedric, den Gamecontroller in der Hand.

»Er ist hier hergekommen, um zu spielen?« Derek war fassungslos.

»Nicht wirklich. Er wurde hergeschickt, um etwas von hier unten zu holen.« Maia hatte sich neben ihn gesetzt, sie deutete auf eine silbern schimmernde Schatulle, die neben Cedric stand. »Und jetzt muss er sich den Weg aus dem Keller erarbeiten. Ein Rätsel lösen. Was allerdings erst möglich sein wird, wenn … es so weit ist.«

Derek wusste nicht, was er sagen sollte. Er starrte nach unten, wo Cedric mit Feuereifer seine Spielfigur steuerte. »Kann er uns nicht hören?«

»Nein. Weißt du, das hier ist ein Atombunker. Mit Vorräten, die vier Menschen zwei Monate lang überleben lassen. Mit Toilette, Dusche, eigener Belüftungsanlage. Noch zwei weiteren Zimmern, die du von hier nicht sehen kannst. Aber natürlich alles hermetisch nach oben hin verschlossen. Solange wir das Licht nicht anschalten, wird Cedric uns nicht bemerken.«

Derek ließ den Jüngeren nicht aus den Augen. Cedric, bei dem alle Fäden zusammenzulaufen schienen. Er sah ihn triumphierend auflachen, als er den Wurm endlich geschlachtet hatte. Nein, er wirkte nicht, als hätte er Angst. »Warum nennt Erebos ihn einen Prinzen?«

Maias Augen leuchteten in dem spärlichen Licht, das nach oben drang. »Tja. Was macht deiner Meinung nach einen Prinzen aus?«

Es war einmal ein König, der hatte einen Sohn. »Seine Abstammung.«

Sie lächelte. »Genau. Das ist das Schlüsselwort.«

Hier im Halbdunkel spürte Derek mehr und mehr, wie müde er war. Und wie zwiegespalten. Er und Maia saßen an dem Oberlicht, als wäre es ein fahles Lagerfeuer, und endlich sprachen sie miteinander. Es war fast, als würden die Regeln von Erebos auch hier gelten. »Er ist ein netter Kerl. Was wollt ihr von ihm?«

»Von ihm wollen wir gar nichts. Es ist, wie Cameron gesagt hat. Wir haben Fragen, wir wollen Antworten.«

Aber nicht nur, ergänzte Derek stumm. »Ihr seid keine normalen Spieler, nicht wahr? Ihr wisst mehr als wir anderen.«

Sie antwortete nicht, und Derek hakte nach. »Du weißt, wer ich bin, oder?«

Maia zögerte nur kurz. »Ja, du bist Torqan. Hübscher Name, finde ich.«

»Und du Soryana?«

Sie blickte zur Seite. »Wir sollten wieder zu den anderen gehen.«

»Erst, wenn ich ein bisschen klarer sehe.«

Er hörte sie seufzen. »Nein, ich bin nicht Soryana. Aber das ist am Ende alles nicht so wichtig.«

Da war Derek anderer Meinung, schließlich war Soryana der Köder gewesen, mit dem das Spiel ihn hierhergelockt hatte. Und möglicherweise wusste Maia davon. Weil sie wohl ahnte, wie sehr er sie mochte. Er rückte ein Stück von ihr ab. »Warst du es, die Erebos unter die Leute gebracht hat? Geht das alles von dir aus? Von euch?«

Maia lachte. »Schön wär’s, ich wünschte, ich könnte so etwas. Ist aber nicht so.« Sie wurde wieder ernst. »Ich kann dir nicht mehr dazu sagen, nur dass wir die Sache nicht losgetreten haben. Das war jemand anderes.« Sie stand auf. »Wir sollten jetzt wirklich hinaufgehen.«

Derek warf einen Blick durch das Panzerglas nach unten, wo Cedrics Spielfigur eine kleine Holztafel aus einer Höhle voll grün leuchtender Spinnen holte. Auf einem der abstoßend hässlichen Tiere saß ein Gnom mit blauer Haut. Er hob lässig die Hand, und in diesem Moment begriff Derek, dass er genau diesen Gnom schon einmal gesehen hatte. In dem Burgverlies, in dem er die Auswahl für seinen Namenlosen getroffen hatte. Wenn dir das Lachen vergeht, werde ich da sein, hatte er gesagt und recht behalten. Zum Lachen war Derek nicht mehr zumute.

Er folgte Maia nach oben, den Kopf voller schwerer Gedanken. Sie, Cameron und Cora steckten unter einer Decke. Sie wussten mehr als die anderen Spieler, sie genossen offenbar Privilegien …

Und mit einem Mal war es klar. Derek blieb mitten auf der Treppe stehen. Dass er es erst jetzt begriff, schrieb er seiner Müdigkeit zu.

Es gab dieses eine Volk, das überlegen war und das nicht jeden in seine Reihen aufnahm. Maia, Cameron und Cora waren Teil der Gruppe, der Derek sich auch zu gerne angeschlossen hätte, doch Erebos hatte ihn zurückgewiesen. Weil du nicht zu ihnen gehörst, hatte der Gnom gesagt.

Er hätte seine Hand dafür ins Feuer gelegt, dass er recht hatte. Sie waren keine normalen Spieler. Sie waren die Harpyien.

Er präsentierte ihnen seine Erkenntnis, als er wieder oben in der Küche war. Keiner der drei widersprach oder bestätigte seine Theorie. Maia nahm sich ein Stück der erkalteten Pizza, Cameron grinste. Nur Cora funkelte ihn böse an; ihr war seine Anwesenheit spürbar ein Dorn im Auge.

»Wieso ihr?« Er blickte von einem zum nächsten. »Ich habe versucht, Harpyie zu werden, aber ich wurde abgelehnt.«

»Das liegt einfach nur daran, dass du keine bist«, stellte Cameron trocken fest. »Musst du nicht persönlich nehmen.«

»Aha. Aber ihr schon? Was habt ihr, das ich nicht habe?«

Cora schnaubte und wandte sich ab, die beiden anderen reagierten nicht. Maia konzentrierte sich auf ihre Pizza, Cameron betrachtete seine Fingernägel.

»Ernsthaft jetzt!« Er baute sich vor Maia auf. Sie zuckte mit den Schultern.

»Ist das nicht offensichtlich?«

Das fand er nicht, außer es bezog sich auf etwas so Oberflächliches wie die Hautfarbe. Das konnte sie aber nicht gemeint haben, oder? »Du willst mir jetzt nicht erklären, dass man erst ab einem gewissen Hautton Harpyie werden kann, oder?«

Cameron lachte auf. »Na ja, ganz falsch ist es nicht.«

»Doch, ist es«, sagte Maia ernst. »Die Hautfarbe ist nicht der Grund, das weißt du genau.«

Jetzt blickte Derek überhaupt nicht mehr durch. »Was ist es dann?«

Mit einem Mal wirkte Maia sehr müde. »Überleg dir einmal, wie meine Eltern aussehen. Und dann erinnere dich, was du bei Resc/You an die Scheiben geklebt hast.« Sie warf einen Blick auf die elegante Designeruhr an der Wand. »Ich muss ein paar Stunden schlafen. Wer setzt sich hinunter und hat ein Auge auf Cedric?«

»Mache ich«, sagte Cameron. »Ich hoffe, er schläft auch und kriegt nicht irgendwann Panik, weil er das Rätsel nicht lösen kann. Derek, wenn du müde bist, leg dich im grünen Zimmer auf die Couch. Kein Licht anmachen und auch sonst nicht auf dumme Ideen kommen. Cora?«

»Ich passe auf.« Sie lächelte Derek auf eine Weise an, die ihn wünschen ließ, sie wäre bei ihrem grimmigen Blick geblieben.

Die Couch war nicht nur schick, sondern tatsächlich auch bequem. Derek rollte sich ein, in dem schmerzhaften Bewusstsein, dass bei ihm zu Hause heute Nacht wohl niemand schlafen würde. Außer, Erebos hatte für ihn angerufen. Das hoffte er sehr.

Er schloss die Augen. Überleg dir einmal, wie meine Eltern aussehen. Sie waren weiß, Maia musste adoptiert sein, das war Derek schon seit dem Moment vor der Direktion klar. Galt das damit auch für die beiden anderen? Vermutlich. Aber das allein war es ja nicht. Es hatte mit Resc/You zu tun. Die Organisation, bei der Cedrics Vater im Vorstand saß. Für die Cedric Geld sammelte. Deren Glasfassade Derek mit Aufklebern verunstaltet hatte.

54.800 Pfund

Sie wollen ihn nicht noch einmal sehen.

Die Toten sammeln sich und haben Fragen.

Waren die 54.800 Pfund eine Spendensumme? Kaum. Oder doch? Und Cedrics Vater hatte sie in die eigene Tasche gesteckt? Dann waren möglicherweise in dem Aktenordner, den er bei Tate Inc. geklaut hatte, Beweise dafür gewesen. Gut, wenn das stimmte, war es eine ziemliche Schweinerei, aber kein Grund, diesen riesigen Aufwand mit Erebos zu betreiben. Und eine ganze Horde Jugendlicher in die Sache reinzuziehen.

Eine Horde. Ein Heer.

Eine Armee.

Das Lied aus der Schenke spukte ihm wieder durch den Kopf. – Für eine Fee eine ganze Armee, Gewissheit für die Toten …

Die Toten, die immer wieder auftauchten. Sie sammelten sich, sie hatten Fragen, sie wollten Gewissheit –

Mit einem Ruck setzte Derek sich auf der Couch auf. Sie hatten Fragen … und sie wollten Antworten? Das war es doch, was Maia und Cameron gesagt hatten. Trotzdem zog Derek da sicher völlig falsche Schlüsse; denn die beiden waren definitiv nicht tot.

Er legte sich wieder hin und versuchte, das Gedankenkarussell in seinem Kopf zu stoppen. Sie haben Fragen. Sie wollen ihn nicht noch einmal sehen. Wen? Wer will wen nicht mehr sehen? Und was war daran wichtig?

Derek drehte sich auf die andere Seite. Was hatte Maia vorhin gesagt, als er von ihren Eltern gesprochen hatte?

»Welche?«, hatte sie gefragt.

Ja, das war es gewesen. Beschäftigte sie sich gedanklich mit ihren leiblichen Eltern? Das war durchaus verständlich, aber …

Und dann fiel ihm die letzte Zeile des Liedes wieder ein, das der Barde im Schmalen Gürtel gesungen hatte.

Nicht atmen und nicht schrei’n

Kein Ton, dann bist du –

Mit einem Sprung war Derek von der Couch. Wenn es stimmte, was er sich zusammenreimte, dann begriff er, dass Maia Antworten suchte. Für ihn selbst galt das allerdings auch, er würde nicht die ganze Nacht hier herumliegen und sich fragen, ob seine Vermutung richtig war. Aber falls es so war, hatte er sogar eine Erklärung für die 54.800 Pfund, und zwar eine ungeheuerliche.

Er stürzte aus dem Zimmer, an Cora vorbei, die gedöst haben musste, denn sie erwischte ihn erst, als er schon fast in der Küche war. »Du haust jetzt ganz bestimmt nicht ab!«, fauchte sie. »Die Ausgänge sind alle versperrt.«

Derek machte sich aus ihrem Griff los. »Ich will überhaupt nicht abhauen. Ich muss mit Maia sprechen. Jetzt.«

»Sie schläft.«

»Das tut mir dann sehr leid. Ändert aber nichts.« Er lief zur nächsten Tür, riss sie auf und stand im Esszimmer; hier war er falsch. Cora war dicht hinter ihm. »Lass Maia doch in Ruhe.«

Er antwortete nicht. Die nächste Tür öffnete sich in ein lilafarbenes Zimmer, die übernächste in eine Bibliothek. Erst beim darauffolgenden Versuch hatte Derek Glück. Es war ein Schlafzimmer mit riesigem Bett, in dem allerdings niemand lag. Maia saß im Dunkeln auf einem Stuhl beim Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Sie drehte nicht einmal den Kopf, als Derek eintrat.

»Tut mir leid«, murmelte Cora.

»Schon okay. Komm rein, Derek.«

Er nahm sich auch einen Stuhl und stellte ihn neben ihren. »Sorry, dass ich dich störe. Aber das, was du vorhin gesagt hast … dass ich mich daran erinnern soll, was ich bei Resc/You an die Scheiben geklebt habe – ich glaube, ich habe verstanden, was dahintersteckt.« Er sah sie nicht an, blickte ebenfalls hinaus, wo sich windbewegte Äste in der Dunkelheit abzeichneten.

»Wirklich?« Sie stieß ein kurzes Lachen aus. »Gut, das hat er gehofft. Dass man es auch ohne Erklärung versteht.« Nun sah sie ihn doch an. »Obwohl ich dir natürlich schon ziemlich kräftig auf die Sprünge geholfen habe.«

»Ich weiß ja noch nicht einmal, ob ich richtigliege.« Derek hielt inne. »Wer ist er

»Nicht wichtig. Also?«

Er wusste nicht, wie er es formulieren sollte. Es würde auf jeden Fall seltsam klingen. »Seid«, er räusperte sich, »seid ihr die Toten? Die sich sammeln und Fragen haben? Die Gewissheit bekommen sollen?«

Maia drehte sich zu ihm herum; seine Augen hatten sich ausreichend an die Dunkelheit gewöhnt, um ihn die Wachsamkeit in ihrem Blick erkennen zu lassen. »Wieso denkst du das?«

Er holte tief Luft. »Weil – ihr wohl alle adoptiert seid. Resc/You ist eine wohltätige Organisation, die in Entwicklungsländern aktiv ist; vielleicht vermittelt sie auch Kinder zur Adoption.«

»Was ja nicht schlimm wäre«, sagte Maia mit schiefem Lächeln.

»Nein.« Derek blickte über die Schulter zurück, vergewisserte sich, dass Cora gegangen war. »Nicht, wenn die Eltern das Kind zur Adoption freigeben. Oder wenn sie tot sind. Aber ich glaube, das war bei euch nicht so.«

Sie blinzelte. »Woraus schließt du das?«

»Aus einer Liedzeile. Im Spiel kommt ein Barde vor, der immer ein bestimmtes Lied singt. Schweigen ist Silber, Reden ist Tod. Am Ende heißt es dann: Nicht weinen und nicht schrei’n, kein Ton, dann bist du mein.« Er zögerte, dann sprach er weiter. »Ich glaube, es war so: In den Krankenhäusern, die zu Resc/You gehören, sind immer wieder Babys auf die Welt gekommen. Die meisten sind anschließend mit ihren Eltern nach Hause gegangen, aber die, die bei der Geburt nicht geschrien haben … die hat man für tot erklärt. Weggetragen. Nach ein bisschen Tätscheln waren sie dann vielleicht ganz in Ordnung, aber man hat sie den Eltern nicht zurückgegeben. Sondern entsprechende Papiere angefertigt und sie adoptionswilligen Paaren zukommen lassen.« Wieder zögerte er. »Für eine Summe von 54.800 Pfund.«

Maia sagte nichts. Starrte nur zum Fenster hinaus.

»Deshalb auch dieser komische Satz: Sie wollen ihn nicht noch einmal sehen. Für Eltern, die das angeblich tote Kind vielleicht selbst beerdigen wollten. Oder sich verabschieden.« Seine Stimme klang heiser, er räusperte sich. »Ich könnte mir vorstellen, dass es unter der einfachen Bevölkerung noch viele Analphabeten gibt. Und Menschen, die sich leicht einschüchtern lassen. Die hinnehmen, was man ihnen sagt.«

Er unterbrach sich, als ihm das Bild von dem Baum mit den drei Gehenkten wieder einfiel. Sie hingen zu sehr an ihnen –.

Eventuell nahmen manche es doch nicht widerspruchslos hin, aber vielleicht irrte sich Derek auch in diesem Punkt.

»Meine Eltern haben mir oft erzählt, wie froh sie waren, dass sie mich so schnell bekommen haben«, flüsterte Maia. »Ein Waisenmädchen, noch ganz klein. Sie mussten nicht jahrelang warten wie andere Leute. Mum sagt oft, sie hätte es sonst wahrscheinlich aufgegeben. Sie hätte zu wenig Geduld.«

Da war es wieder, das Wort. Geduld. Derek nickte. »Bist du denn sicher, dass es nicht genau so war? Dass du nicht wirklich eine Waise warst?«

Sie blickte weiter starr vor sich hin. »Sieht nicht so aus. Jemand hat Papiere gefunden. Aufzeichnungen über die toten Babys, die dann eben doch nicht tot waren. Und ausgeflogen wurden, hauptsächlich nach Großbritannien. Ein paar auch nach Frankreich. Angeblich gehöre ich mit dazu.«

Derek fragte sich, wie es sich anfühlen musste, so etwas über sich selbst zu erfahren. »Wärst du lieber da geblieben, wo du geboren wurdest?«

Nun sah sie ihn doch an. »Das weiß ich doch nicht. Vielleicht wäre ich dann längst tot, in Somalia ist die Lebenserwartung schließlich nicht hoch. Und ich liebe meine Eltern, ich habe ein tolles Leben – aber wie es aussieht, habe ich auch eine leibliche Familie. Eine Mutter, einen Vater, Geschwister, deren Sprache ich überhaupt nicht spreche.« Sie wischte sich übers Gesicht. »Das sind meine Fragen. Und ich brauche Antworten darauf, auch wenn du das vielleicht nicht verstehst.«

Derek dachte an Rosie. »Doch, das verstehe ich. Deshalb also der ganze Aufwand rund um Erebos? Damit ihr Informationen sammeln könnt? Und alles einfädeln, um Cedric einzusperren, damit sein Vater mit der Wahrheit rausrückt?«

Ein paar Sekunden lang schwieg Maia. »Auch«, sagte sie dann. »Und weil der Barde recht hat. Alles musste heimlich passieren. Reden wäre Tod.«

Das fand Derek nun doch ein Stück zu dramatisch. »Ernsthaft jetzt? Du denkst, jemand würde dich umbringen, wenn du die Sache publik machst? Das glaube ich nicht.«

In Maias Blick lagen zu gleichen Teilen Trauer und Wut. »Ich auch nicht. Aber ich habe auch nicht gesagt, dass es mein Tod wäre.« Sie wandte sich wieder dem Fenster zu, hinter dem der Wind auffrischte.

Nicht ihrer. Um wen ging es dann? Derek presste beide Hände gegen die Schläfen. Immer wieder war vom Tod die Rede; da war ja auch noch der vierte Aufkleber gewesen. Das vierte Banner. Er wartete, bis Maia ihn ansah. »Leben für Leben, Tod für Tod. Ich schätze, du weißt, was das bedeutet?«

»Ja.«

»Sagst du es mir?«

Sie betrachtete ihn nachdenklich. Wandte ihren Blick ab und sah noch einmal aus dem Fenster. Dann stand sie auf und verließ ohne ein Wort den Raum.