Kapitel

Auf dem Heimweg trafen im Minutentakt WhatsApp-Nachrichten von Jamie auf Nicks Handy ein.

Was ist passiert? Ich mache mir Sorgen!

Nach der siebten Nachricht entschloss Nick sich zu einer halben Notlüge.

So etwas wie eine mittlere Job-Katastrophe. Kann sein, dass ich die nächsten vier Fotoaufträge verliere, wenn ich nicht heute noch mein technisches Problem in den Griff bekomme.

Damit gab Jamie sich zufrieden, schickte Nick den Kontakt zu der Expertin für Datenrettung und wünschte ihm ansonsten viel Glück.

Die Augen des Boten zeigten sich nicht mehr, ebenso wenig wie die Horrorversion des Hochzeitsfotos. Nick stieg in die U-Bahn und wünschte sich die Zeiten zurück, in denen das Mobilnetz hier unten so schlecht gewesen war, dass man kaum je eine vernünftige Verbindung bekam. Vor einiger Zeit war es ausgebaut worden, was ihn bisher eigentlich gefreut hatte – jetzt allerdings wäre er dankbar gewesen für eine Atempause, in der nicht mit schlechten Nachrichten zu rechnen war.

Er rief seine Mails ab – ja, vor einer halben Stunde hatte Cindy sich gemeldet. Sie war begeistert von den Fotos und fragte, ob Nick eventuell noch ein paar schicken konnte? Wenn möglich heute noch? Am besten gleich? Bevor sie zu ihrer Hochzeitsreise aufbrachen?

Nick stieg an seiner Heimatstation Hammersmith aus und hastete die Straßen entlang. Er würde versuchen, in dieser Nacht noch so viele Fotos zurückzugewinnen wie er konnte und vielleicht so etwas wie einen Deal mit Erebos zu schließen. Er wusste, es konnte auch diesmal nicht einfach nur darum gehen, Quests auf dem Computer zu erledigen. Das Spiel verfolgte ein reales Ziel, da musste man sich nichts vormachen. Warum sonst hätte jemand es nach so langer Zeit wieder zum Leben erwecken sollen?

Nachdem er sich in dieser Sache ziemlich sicher war, kam ihm ein neuer Gedanke – was, wenn er vorschlug, seinen Teil sofort beizutragen, im Austausch für sämtliche Fotos? Würde Erebos darauf eingehen?

Er war vor der Haustür angekommen und schloss auf. Stieg die engen Treppen in den zweiten Stock hoch.

Bei näherer Betrachtung war es Irrsinn, dem Spiel ein solches Angebot zu machen. Konnte ja durchaus sein, dass es wieder von ihm verlangen würde, jemanden zu vergiften. Das würde er auch für sämtliche Fotos der Welt nicht tun, also war es besser, sich die Bilder Stück für Stück zurückzuholen und Erebos dann zu verlassen, endgültig und für immer.

Erstaunlich war ja, dass es Spieler rekrutierte, die das Ganze schon einmal durchgemacht und am Ende durchschaut hatten. Warum nicht wieder Jugendliche, die arglos an die Sache rangehen würden?

Er seufzte. Das Handy in seiner Hosentasche fühlte sich schwer und heiß an; er zog es heraus. Keine Augen, keine Warnungen. Das rote E leuchtete ihm entgegen wie eine Kampfansage, ebenfalls rot verfärbt hatte sich die Batterieanzeige. Nur noch elf Prozent, das war wirklich schnell gegangen. Bestens. Er würde das Telefon einfach nicht aufladen, dann konnte das Spiel ihn nicht mehr orten. Erster Punkt für Nick.

Er betrat die winzige Wohnung, in der es aussah, als hätte jemand eine Handgranate geworfen. Er musste wirklich aufräumen, so konnte man weder leben noch vernünftig arbeiten. Zuallererst würde er sich aber etwas zu trinken holen.

Nick stand vor dem offenen Kühlschrank und versuchte, eine Entscheidung zwischen Bier und Cola light zu treffen, als das Handy in seiner Hosentasche wieder zu vibrieren begann.

Sein Puls beschleunigte sich, er griff nach der Colaflasche, schloss die Kühlschranktür und zog das Telefon heraus.

Du bist zu Hause. Wir warten auf dich. Doch wir warten nicht gerne.

Es war aber noch gar nicht zwölf, und das war die vereinbarte Zeit gewesen. Erebos beorderte ihn früher zu sich, einfach nur, weil er schon zurück war. Und weil es das wusste.

Nick bemerkte erst, dass er sich zu fest auf die Lippe gebissen hatte, als er Blut schmeckte. Das Spiel ortete ihn, natürlich tat es das. Also würde er am besten das GPS seines Smartphones deaktivieren und das Gerät dann ganz ausschalten. Für heute.

Doch es funktionierte nicht. Das Display erlosch zwar, erwachte aber umgehend wieder zu neuem Leben.

Das nützt dir nichts, erschien die vertraute rote Schrift. Sorge für Energie.

Er lachte bitter auf. Okay. Erebos hatte also sein Smartphone gekidnappt und konnte es eigenständig einschalten. Ein Netzkabel anstecken konnte es allerdings nicht.

Er beschloss, die Aufforderung zum Aufladen zu ignorieren; einfach so zu tun, als hätte er nicht kapiert, was gemeint war. In spätestens einer halben Stunde würde dem Handy der Saft ausgehen.

Mit dem Gefühl, dem Blick des Boten ein Stück weit entkommen zu sein, setzte er sich vor den Computer. Also gut. Nächste Runde.

Es ist Nacht, und Sarius steht auf einem Felsen. Die Skelette der Riesen liegen in einiger Entfernung auf dem nächtlichen Schlachtfeld; sie leuchten fahl in der Dunkelheit. Krabbelnde Schatten huschen über die Gebeine, Sarius tippt darauf, dass es die verhassten Asseln sind. Mit einer Mischung aus Tatendrang und Widerwillen macht er sich auf den Weg.

Er steuert diesmal das zweite Gerippe an, klettert mühevoll den glatten Schädel hoch und blickt durch eine der Augenhöhlen ins Innere.

Anders als erwartet scheint er alleine zu sein. Innerhalb des Totenkopfs bewegt sich nichts, es ist auch nichts zu hören. Vorsichtig lässt Sarius sich nach unten.

Immer noch alles ruhig. Niemand greift ihn an. Er beginnt in den vertrockneten Blättern zu wühlen, die sich im Lauf der Jahre hier angesammelt haben, und stößt schnell auf das erste Bild. Es ist heil, weder löchrig noch auf schaurige Art verändert, aber es ist trotzdem unbrauchbar. Ein Fehlschuss, der nur verschwommene Hinterköpfe vor einer grünlichen Wand zeigt.

Das nächste. Parkende Autos vor dem Herrenhaus. Das nächste. Das Brautpaar im Pavillon; sie hat die Augen zu, er den Mund offen.

Es ist klar, was hier passiert. Erebos hält sich an die Vereinbarung und signalisiert gleichzeitig Unzufriedenheit. Sarius kann die ganze Nacht lang weitersuchen, er wird nichts weiter als Ausschuss finden.

Oben an einer der Augenhöhlen tut sich etwas. Zwei blasse Beine baumeln herunter, kurz danach taucht ein bläuliches Gesicht dazwischen auf. »Frustriert, Sarius? Nun, das tut mir leid, aber du weißt, dass du es dir selbst zuzuschreiben hast, nicht wahr?«

Ohne lange nachzudenken, zieht Sarius sein Schwert, es wäre eine wahre Wohltat, den Gnom zu zerhäckseln, nur leider kontraproduktiv. Unter dem hämischen Kichern seines Gegenübers steckt er es zurück. »Keine Ahnung, was euch nicht passt«, sagt er. »Ich bin hier. Ich tue, was man von mir verlangt.«

»Nicht so ganz.« Die Miene des Gnoms verfinstert sich. »Das ist dir auch bewusst. Du kannst gerne Widerstand leisten, aber er wird dir selbst am meisten schaden.« Er steht auf, tappt mit patschenden Schritten auf der Oberseite des Schädels herum. »Handle klug, Dunkelelf.« Dann ist nichts mehr von ihm zu hören.

Natürlich weiß Sarius, womit er Erebos gegen sich aufgebracht hat, aber bei dem Gedanken daran, klein beigeben zu müssen, könnte er schreien vor Wut. Was nichts an den Tatsachen ändern würde.

Nachdem er erledigt hat, was zu erledigen war – sorge für Energie –, setzt er seine Suche fort. Zuerst findet er gar nichts, dann einen tropfenförmigen Stein, der erst dunkelblau schimmert, um binnen Sekunden die Farbe von blutigem Matsch anzunehmen. Er wirft ihn zur Seite, wird mit jeder Minute ungeduldiger. Erebos gängelt ihn, zwingt ihm seinen Willen auf, und nun lässt es ihn zappeln. Er kennt das zwar schon, aber mit sechzehn hat er es weitaus besser ertragen.

Nur noch, bis ich habe, was ich brauche, tröstet er sich und stößt im nächsten Moment wieder auf ein Bild. Ein sehr gutes, zum Glück. Zwischen den Zähnen des Schädels finden sich sieben weitere, alle wirklich brauchbar. Sarius’ Stimmung steigt. Als die knöcherne Höhle nichts mehr herzugeben scheint, klettert er nach draußen. In einiger Entfernung sieht er eine Gestalt, die sich als schwarzer Schatten gegen den nachtblauen Himmel abzeichnet. Ein großer Mann, der einen rund gehauenen Steinbrocken auf den Schultern trägt. Hätte Sarius Zeit, würde er ihn sich näher ansehen, aber er hat es eilig. Steine liegen auch hier, er blickt darunter, sucht in den Taschen und unter den Helmen gefallener Krieger – immer wieder wird er fündig. Und es gibt ja auch noch den dritten Riesen, nicht wahr? Mit der Ausbeute dieser Nacht wird er Cindy fürs Erste zufriedenstellen können.

Er hat gerade drei Bilder im offenen Brustkorb eines toten Echsenwesens gefunden, als er den Hufschlag eines Pferdes hört, erst entfernt, dann immer näher. Er weiß, was es bedeutet; weiß, wer da kommt. Hastig nimmt er seinen Fund an sich und richtet sich auf.

Der Reiter und sein Pferd glühen dunkel in der Nacht. Etwas wie Nebel umgibt sie – Dampf aus den Nüstern, Staub, der von Hufen aufgewirbelt wird.

Nur wenige Meter vor Sarius zügelt der Bote sein Tier. Er grüßt nicht, weder mit Worten noch mit Gesten. Mustert ihn nur mit seinen gelben Augen. Ausdruckslos. Im Mondlicht wirkt sein Gesicht milchweiß.

Eine Zeit lang sehen sie einander einfach nur an. Dann ist es Sarius, der das Schweigen bricht. In einem ersten Impuls hätte er dem Boten gerne ein paar Beleidigungen entgegengeschleudert, das hätte sich fantastisch angefühlt. Wäre allerdings dumm gewesen. Es hätte ihn kaum getroffen – wie auch –, aber sicherlich Strafe nach sich gezogen. »Worum geht es diesmal?«, fragt er. Warum nicht gleich zum Kern der Sache kommen?

»Das weißt du, Sarius. Du hast etwas verloren, ich kann dir helfen, es zu finden.«

»Von wegen verloren, ihr habt es mir gestohlen. Aber das meine ich gar nicht. Worum geht es am Ende? Was soll passieren? Wozu das Ganze?«

Der Bote lächelt milde. »Ganz ruhig, eines nach dem anderen. Möchtest du meine Hilfe nicht?«

Nein, tut er nicht, aber er braucht sie. Und nun hat er sich in die dumme Situation gebracht, das auch zugeben zu müssen. »Doch. Danke für das Angebot. Trotzdem will –«

»Was du suchst, ist ganz in der Nähe«, unterbricht ihn der Bote. »Ich kann dir zeigen, wo. Aber du wirst darum kämpfen müssen.«

Es ist ein gemauerter Brunnenschacht, etwa brusthoch. Die Steine sind moosbewachsen, ein dickes Seil hängt über den Rand und verschwindet nach ein paar Metern in der Tiefe. »Dort unten«, sagt der Bote; nicht nur zu Sarius, sondern auch zu den beiden anderen Gestalten, die sich hier eingefunden haben.

Eine Zwergin und eine Katzenfrau, die Sarius vage bekannt vorkommt. Rotes Fell, ein grünlich schillernder Brustpanzer und eine neunschwänzige Peitsche.

Ich kenne sie, denkt Sarius, sie war auch schon einmal hier. Mit einer schnellen Bewegung überprüft er den Namen.

Aurora.

Die Erinnerungen strömen ungeahnt schnell zurück. Aurora, die damals in dem unterirdischen Labyrinth dabei war, als sie gegen riesige Skorpione gekämpft haben. Die er geheilt hat, auf Kosten seiner eigenen Lebensenergie.

Die bis heute anonym geblieben ist.

»Ihr alle wollt haben, was am Grund dieses Brunnens liegt«, sagt der Bote. »Aber nur einer wird es bekommen. Der Sieger steigt in den Schacht. Die Verlierer gehen leer aus.«

Er tritt zurück und verschränkt die Arme vor der Brust, Aurora schwenkt ihre Peitsche. Es wird ein unfairer Kampf werden, Sarius’ Waffe ist im Vergleich ein Spielzeug. Sogar die verbogene Axt der Zwergin wirkt dagegen eindrucksvoll.

Idanna heißt sie. Nie gehört. Muss neu sein, oder sie ist Sarius beim ersten Mal einfach nicht begegnet.

Er bringt sich in Position. Ein Kampf zu dritt ist schwierig, entweder gehen zwei gemeinsam auf einen los, oder es ist ein ungeordnetes Herumprügeln.

Aurora nimmt ihm alle Überlegungen ab, sie läuft mit erhobener Waffe auf ihn zu, während die Zwergin noch bewegungslos dasteht. Sarius weicht aus, der Angriff der Katzenfrau geht ins Leere, aber er schafft es, sie im Vorbeilaufen mit dem Schwert am Oberschenkel zu treffen.

Aus der Wunde strömt dunkles Blut, und als Aurora sich umwendet, hinkt sie. Nun greift Sarius seinerseits an, aber Idanna stürzt sich ebenfalls in den Kampf. Mit ihrer Axt schlägt die Zwergin abwechselnd auf ihre beiden Gegner ein; Sarius gelingt es unter Mühen, die meisten Hiebe mit seinem Schild abzuwehren, aber an Auroras Gürtel ist beinahe kein Rot mehr zu erkennen.

Von ihr droht kaum noch Gefahr, dabei ist sie mit Abstand am besten bewaffnet, hat sie keine Lust? Egal, Sarius wird sich auf Idanna konzentrieren, sie ist bloß stark, nicht besonders geschickt. Er treibt sie zurück, fort von Aurora, bis sie mit dem Rücken gegen den Brunnen stößt.

Es läuft alles besser als erwartet, bis Idanna sich unter einem seiner Hiebe wegduckt und ihm einen Schlag mit ihrer Axt versetzt. Die Schneide gräbt sich knirschend in seine linke Schulter.

Das Kreischen, das sofort einsetzt, schmerzt in den Ohren und im Kopf, und Sarius erinnert sich, dass es noch viel unerträglicher werden kann. Dann, wenn tatsächlich Lebensgefahr besteht, aber so weit darf er es nicht kommen lassen.

Er springt zur Seite, versetzt Idanna einen Tritt, der sie aus dem Gleichgewicht bringt, drischt ihr dann erst den Schild ins Gesicht und stößt danach sein Schwert in ihren Bauch. Sie sinkt zu Boden; unmöglich zu sagen, ob sie tot ist.

Schwer atmend dreht Sarius sich um. Aurora ist wieder auf die Beine gekommen, hält sich aber an einem Baum fest. Sarius marschiert auf sie zu. Er wird die Sache jetzt zu Ende bringen.

Die Katzenfrau schwankt ein wenig, als sie den Baum loslässt, um die Peitsche mit beiden Händen zu packen. Sarius greift an, aber nur mit halber Kraft. Der Verletzungston macht es ihm schwer, sich zu konzentrieren, doch für Aurora muss es schlimmer sein. Obwohl sie Sarius überragt, gelingt ihr kein einziger Treffer, die dornengespickte Peitsche schwingt jedes Mal ins Leere, wie er gleichermaßen erstaunt und verwundert feststellt. Er holt weit aus, ein Hieb in die Seite, und Aurora bricht zusammen. Ist da noch etwas Rotes an ihrem Gürtel, das nicht Blut ist?

Noch bevor Sarius sich zu ihr beugen und genauer nachsehen kann, tritt der Bote zwischen ihn und seine verletzte Gegnerin. »Mein Glückwunsch. Der Sieg ist dein und die Belohnung ebenfalls.« In einer einladenden Geste weist er auf den Brunnen. »Hole sie dir.«

Er wendet sich Aurora zu. »Du erstaunst mich. Von einer kampferprobten Veteranin habe ich mir mehr erwartet. Du weißt schließlich, was auf dem Spiel steht, nicht wahr?« Wieder deutet er in Richtung des Brunnens. »Die Folgen hast du dir selbst zuzuschreiben. Was dort unten liegt, ist für dich verloren. Und nun komm mit mir.« Er zieht Aurora auf die Beine, das ist das Letzte, was Sarius beobachtet, bevor er den Abstieg in den Brunnenschacht beginnt.

Das Seil hält, doch schon nach kurzer Zeit wird es um ihn herum stockdunkel. Wenn er den Kopf hebt, sieht er die Brunnenöffnung als kreisrunde Lichtscheibe, sonst kann er nichts erkennen. Nach einigen Minuten hängt er in völliger Finsternis da, immer noch ohne Boden unter den Füßen. Was, wenn plötzlich das Seil zu Ende ist und er abstürzt? Oder nicht genug Kraft hat, um wieder hinaufzuklettern? Hat er in Wahrheit nicht gesiegt, sondern ist in eine Falle getappt?

Kurz bevor er beschließt, aufzugeben und wieder hochzuklettern, sieht er unter sich etwas flackern. Es ist ein brennender Kerzenstummel in einer Mauernische, nicht weit über dem Grund des Brunnens. Endlich. Sarius lässt das Seil los und sieht sich um. Die Kerze spendet schwaches Licht, das gerade ausreicht, um ihn erkennen zu lassen, dass jemand etwas auf die Brunnenwände geschrieben hat. Mit einem schlammigen Finger, wie es aussieht.

Schweigen ist Silber, Reden ist Tod,

die Wahrheit ein scharfes Schwert.

Er hat keine Ahnung, was damit gemeint ist, aber er hat ohnehin nicht vor, etwas zu sagen. Höchstens vor Freude zu jubeln, denn auf dem matschigen Boden steht eine Truhe mit blank polierten Messingbeschlägen. Seine Belohnung.

Er stürzt sich förmlich darauf, öffnet sie und findet das, worauf er gehofft hat. Bilder, Hunderte davon. Flüchtig fragt er sich, was die Kiste enthalten hätte, wenn Aurora oder Idanna siegreich aus dem Kampf hervorgegangen wären. Schriftstücke? Halb fertiggestellte Arbeit? Das wird er wohl nie erfahren, aber sein Hauptproblem ist ohnehin ein anderes: Mit der Truhe unter dem Arm kann er nicht klettern. Sie in sein Inventar zu stecken, wie er es bei der letzten, kleineren getan hat, klappt nicht.

Er blickt sich um. Dass er aus dem Brunnen rausmuss, ist klar, dass er seinen Siegespreis mitnehmen wird, auch. Doch so oft er es auch versucht, sobald er die Truhe bei sich trägt, gleitet er vom Seil ab.

Der Kerzenstummel in der Nische wird gleich heruntergebrannt sein. Ist das der Plan des Boten? Sarius glauben zu machen, er hätte es endlich geschafft, und ihn dann vor ein unlösbares Problem zu stellen?

Er läuft sein kreisrundes Gefängnis ab, sucht nach einem Hinweis, einer Lösung, doch da ist nichts. Das kann, das darf nicht wahr sein.

Voller Wut tritt er gegen die Mauersteine – und sieht, dass sich einer davon verschiebt. Mit seiner ganzen Kraft drückt er dagegen, und der Stein löst sich, dahinter ist ein Hohlraum und … schwaches Licht.

Nun ist es nur noch eine Frage von Geduld und Anstrengung, bis er sieben Steine aus der Brunnenmauer entfernt hat und das entstandene Loch groß genug zum Durchzwängen ist.

Mit seiner hart erkämpften Belohnung unter dem Arm steht er in einem unterirdischen Gang. An den Wänden brennen Fackeln, über den Steinboden läuft Wasser. Nicht sehr viel, aber es sieht ganz danach aus, als würde es stetig mehr werden.

Sarius begreift. Er hat keine Zeit zu verlieren, bald wird der Gang ein Kanal sein und den Brunnen füllen.

Er beginnt zu laufen, das Wasser umspült bereits seine Knöchel, und es schwimmen durchsichtige, krabbenartige Wesen darin, die versuchen, sich mit ihren Scheren an seine Stiefel zu klammern.

Schnell merkt Sarius, wie seine Ausdauer schwindet. Er kommt voran, aber es wird mit jedem Schritt schwieriger. Zwischendurch muss er anhalten und warten, bis er wieder Luft bekommt; er fragt sich, wie weit es noch ist.

Das Wasser reicht ihm mittlerweile bis zu den Knien, der Widerstand ist kaum noch zu bewältigen, und nun trägt es auch größere Gegenstände mit sich. Holzstücke, einen zerbrochenen Stuhl und … ist das ein Körper, der ihm da entgegentreibt?

Ohne lange nachzudenken greift er mit der Linken nach dem Kopf der Gestalt und zieht ihn über Wasser, hauptsächlich weil er wissen will, ob es jemand ist, den er von früher kennt.

Ist es nicht. Es ist ein kleines, spitzohriges Wesen, wahrscheinlich weiblich, das er auf den ersten Blick keinem der Völker zuordnen könnte. Es sieht ihn aus riesigen Augen an, während es nach Luft schnappt.

Er flucht. Vernünftigerweise müsste er das Geschöpf einfach weitertreiben lassen und zusehen, dass er hier rauskommt, aber es klammert sich so verzweifelt an ihm fest, dass er es nicht abschütteln kann, ohne Gewalt anzuwenden.

Also klemmt er es sich unter den Arm und setzt seinen Weg fort. Was mit jedem Schritt einfacher wird, obwohl das Wasser weiter steigt. Sarius legt an Geschwindigkeit zu, weit vor ihm zeichnet sich nun etwas ab, das ein Ausgang sein könnte.

Er kämpft, beeilt sich. Trägt die Kiste und das spitzohrige Wesen schließlich hinauf, durch die Höhlenöffnung, in Sicherheit. Draußen angelangt lässt er seinen Schützling zu Boden gleiten und öffnet noch einmal die Truhe.

Da sind sie, die Bilder. Sehen unversehrt aus. Im Mondlicht durchblättert er seine Beute; hoffentlich irrt er sich nicht, hoffentlich ist alles da.

Währenddessen ist das kleine Wesen wieder auf die Beine gekommen und wringt Wasser aus seinem langen Haar. Es blickt zu Sarius hoch, in seinen glänzenden Pupillen spiegeln sich die Sterne. »Nicht atmen und nicht schreien«, flüstert es. »Kein Ton.« Die riesigen Augen schließen sich, das Geschöpf dreht sich einmal um die eigene Achse, neigt den Kopf, und die Welt versinkt in Dunkelheit.

Zwei Uhr sieben. Nick lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück, sein blasses Gesicht spiegelte sich matt im dunklen Monitor. Er hatte gefunden, was er suchte. Jetzt mussten die Dateien nur noch unbeschädigt sein. Gleich würde er mehr wissen. Hoffentlich. Bitte.

Ein Tippen auf die Space-Taste, und der Desktophintergrund erschien. Da war der Bilderordner. Öffnen.

Sein Aufatmen hörte sich rau und heiser an. Eintausendsiebenhundertelf Bilder. Alles war wieder da. Hart erkämpft, aber wieder da. Mehr als ein bisschen Zeit hatte Nick nicht verloren. Er würde jetzt die Auswahl treffen, einen Ordner mit den zweihundert besten Fotos online stellen und Cindy den Link schicken. Mit etwas Glück würde er noch zwei Stunden Schlaf bekommen, bevor er morgen Vormittag zur Uni kroch.

Er hatte es geschafft. Es war vorbei. Erebos konnte ihn mal.