Nachwort

Zwischen 1947 und 1955 hat Gabriel García Márquez ein Dutzend Kurzgeschichten geschrieben, die ersten fünf in Bogota, die übrigen in Cartagena und Barranquilla, er hat sie aber erst 1976, ein Jahr nach dem Erscheinungsjahr von Der Herbst des Patriarchen, in einem von ihm selbst zusammengestellten Sammelband vorgelegt: Ojos de perro azul - Augen eines blauen Hundes -; die deutsche Ausgabe hat als Titel A noche de los alcaravanes - Die Nacht der Rohrdommeln - gewählt, Isabels Monolog erschien in der Zeitschrift Mito, Die Nacht der Rohrdommeln in Crítica, die übrigen in der Sonntagsbeilage der Tageszeitung El Espectador, alle in Bogotá. Tubal-Caín forja una estrella - Tubal-Kain schmiedet einen Stern -, 1948, gleichfalls in der genannten Zeitung erschienen, hat der Autor hier durch die möglicherweise unveröffentlichte Kurzgeschichte La mujer que llegaba a las seis - Die Frau, die um sechs kam -,1950, ersetzt.

Übrigens wurden Nabo. Der Neger, der die Engel warten ließ und lsabels Monolog beim Betrachten des Regens in Macondo dem deutschen Leser bereits 1974 in Das Leichenbegängnis der Großen Mama vorgelegt. Nachfolgende Anmerkungen mögen rechtfertigen, warum diese Erzählungen dennoch in diesen Band mit aufgenommen wurden.

Zwei Auskünfte des Autors, zwanzig Jahre nach der Niederschrift seiner ersten Erzählung erteilt, sind aufschlußreich für Ausgangspunkt und Arbeitsweise des kolumbianischen Schriftstellers. »Ich könnte keine Geschichte schreiben, die nicht ausschließlich auf persönlicher Erfahrung beruht«, hat er 1967 dem argentinischen Kritiker Luis Harss erklärt. »Ich schreibe nur über Dinge, die ich kenne. Leute, die ich gesehen habe. Ich analysiere nicht.« In der venezolanischen Zeitschrift Papeles schrieb er im gleichen Jahr: »Um 1947, als Jurastudent und eifriger Leser Kafkas, stand mir immer das Problem des Themas vor Augen: ich mußte die Erzählung suchen, um sie schreiben zu können.« Beide Aussagen scheinen sich zu widersprechen, wenn wir an seine Behauptung denken, Hundert Jahre Einsamkeit habe er mit siebzehn Jahren zu schreiben begonnen; seine größte Schwierigkeit sei immer gewesen, einen Ton und eine Sprache zu finden, die das Erzählte glaubwürdig machen.

Wenn wir uns daran erinnern, daß Garcia Márquez Dienstag mittag (1963) für seine beste Geschichte hält, so verwundert es kaum, daß er mit der Buchveröffentlichung dieser ersten Arbeiten, die Mario Vargas Llosa »seine literarische Vorgeschichte« nennt, ein Vierteljahrhundert gewartet hat. Denn hier wird nichts lebendig von der Macondo-Welt, die er einer Mitteilung zufolge fünfzehnjährig - er ist 1928 geboren -, einer anderen nach 1952, also nach Beendigung der ersten zehn Stücke, in seinem Geburtsort Aracataca wiedersah, freilich verwandelt zum Gespensterdorf und darin sein Elternhaus als eine Stätte, in der Tote umgehen. Nichts ist in diesen Erzählungen enthalten von dem »Buch von Macondo«, das er zu schreiben gedenkt, aber doch ein Anklang an das »Buch der Einsamkeit«, das, wie er sagt, gewissermaßen identisch ist mit seinem Romanvorwurf, denn »im Grunde schreibt man nur ein Buch. Schwierig ist allerdings zu wissen, welches Buch es ist, das man gerade schreibt«. Aber auch von >Gabos< berühmter Ingredienz, der »burla«, dem unverwechselbaren Gemisch aus Spott, Scherz, Übertreibung, Posse, Prellerei ist noch nichts zu hören; nichts kündet von dem Reichtum seiner fantastischen Erzählungen wie in Die letzte Reise des Gespensterschiffs, 1968. Seine Anfänge sind beherrscht von fernliegenden Einflüssen, von intellektuellen Kunstgriffen, von schwieriger Selbstbetrachtung. Lesefrüchte (Faulkner, Virginia Woolf, Kafka) verdrängen Bezüge der Familien- und Landesgeschichte, fremde Kulturwerte ersetzen den genius loci, die Erforschung persönlicher Erfahrungen. Offenbar glaubt der beginnende Schriftsteller, nur das Ausgefallene, die erstaunliche Erfindung sei originell, keinesfalls das erlebte, gesehene, gehörte Ereignis. Seine Personen sind Fremdlinge in der eigenen Umwelt. Die Titel seiner Stücke klingen rätselhaft, gesucht - vielleicht um zu verblüffen, zu befremden. Die Themen sind Tod, Tod im Leben, Leben im Tod, Traum im Leben, Leben im Traum, Traum im Traum. Sie spielen außerhalb von Raum und Zeit, eine konkrete Umwelt läßt sich schwerlich erkennen, höchstens ahnen, mit einer Ausnahme: in lsabels Monolog, Der Autor scheint Zeitlosigkeit anzustreben, und die erinnert an ein keimfreies Wortlaboratorium, an die dünne Luft des l’art pour l’art. Wo, so fragen wir, sind die wunderbaren Geschichten der berühmten Großmutter, auf die der Autor sich später als Arsenal seiner Protagonisten berufen wird? All das passiert also vor seiner Auslandstätigkeit als Pariser Korrespondent von El Espectador, vor seinen Reisen als Reporter, vor dem einschneidenden Jahr 1958: dem seiner Ehe mit Mercedes, der Cubanischen Revolution, welche die politische und literarische Perspektive so vieler lateinamerikanischer Schriftsteller, darunter GGM, zu einer Optik kontinentaler Solidarität erweitert, dem Erscheinungsjahr seines ersten, völlig gelungenen Romans: Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt.

Freilich, der Tod ist in Garcia Márquez’ ganzem Werk gegenwärtig, doch nie so drangvoll und überwiegend wie in seinen ersten Arbeiten. In Die dritte Entsagung bebt das Entsetzen vor dem Tod. Das Kind wächst achtzehn Jahre in seinem Sarg: die leichtgewichtige Handlung zerfällt in den Wahrnehmungen des Toten. Die Sprache ist unpersönlich, der Satzbau gewunden. Übrigens kehrt das Thema, die Geschichte einer Leiche, in Das Leichenbegängnis der Großen Mama, auch im Herbst des Patriarchen wieder; die Idee, daß man mitten im Tode sterben kann, begegnet uns in den verschiedenen Toden von Melchiades und Prudencio Aguilar von Hundert Jahre Einsamkeit.

Eva ist in ihrer Katze kommt dem Wesen der ersten Erzählung sehr nahe, die Protagonistin könnte eine blasse Vorläuferin von Remedios sein. Sie »lebt« in Finsternis und ist allgegenwärtig, im »wirklichen« Leben und zugleich im anderen, dem Tod. Die andere Rippe des Todes, versetzt mit Angst und schwarzem Humor, beginnt surreal, als Perspektive eines Menschen im Morgengrauen zwischen Wachen und Träumen.

Zwiesprache des Spiegels setzt Die andere Rippe auf ebenso stofflose Weise wie die vorhergegangene fort; hier scheint Faulkner Pate gestanden zu sein.

Bitterkeit für drei Schlafwandler bildet eine Art Übergang vom Abstrakten zum Konkreten der fiktiven Wirklichkeit. Drei Erzähler rufen die Gegenwart eines Mädchens wach, die aus dem zweiten Stock in einen Innenhof gestürzt ist, umgeben von einer Atmosphäre aus Geheimnis und Bedrohung. Augen eines blauen Hundes, die einfallreiche Erzählung einer schwierigen Traumbeziehung zwischen Mann und Frau, ist die im Aufbau wohl unentschlossenste von allen Erstlingen des Autors. Sieht die Frau wirklich den Erzähler in der »Wirklichkeit«? Daher scheint uns in dieser

Gesellschaft Nabo wichtig. Hier, wie in Bitterkeit, erscheint, Widerhall aus Faulkners »tiefem Süden«, ein stummes Geschöpf, das Grammophonmusik hört, nicht gehen kann und niemanden erkennt, betreut von Nabo, dessen beschädigtes Bewußtsein von keiner Vergangenheit weiß und nur den Hufschlag des Pferdes, seine einzige Erinnerung, umkreist. Diese Geschichte ist überzeugend erzählt, und Nabos Eingeschlossenheit deutet voraus auf den Arzt in Laubsturm.

In Jemand bringt diese Rosen in Unordnung tritt wieder ein Invalide auf den Plan wie in Bitterkeit und Nabo, diesmal ein toter Knabe. Auch der Erzähler ist tot: »Da Sonntag ist und es aufgehört hat zu regnen, denke ich daran, einen Strauß Rosen auf mein Grab zu legen.« Diese vielleicht am besten konstruierte Erzählung hat eine vage Verwandtschaft mit Laubsturm und seinem Erzähler-Enkel.

Die Nacht der Rohrdommeln stellt gewissermaßen die Grenze zwischen Vorgeschichte und Geschichte der fiktiven Realität dar. Sie fußt auf einem Volksglauben der Atlantikküste: daß nämlich die Rohrdommeln dem die Augen ausstechen, der ihren Gesang nachahmt. Die Welt der drei Männer, fortan nur mehr durch Erinnerung, Geruchs- und Tastsinn wahrzunehmen und zu bewältigen, wird fast nur im Dialog sichtbar.

Aus dem Rahmen dieses Bandes fällt Die Frau, die um sechs kam, eine nahezu reine Dialogerzählung der objektiv erlebbaren Welt mit einem greifbaren Drama zwischen Mann und Frau, das den Leser zur Teilnahme und Kritik aufruft. lsabels Monolog beim Betrachten des Regens in Macondo schließlich, eine in Anthologien Lateinamerikas und Europas vertretene Erzählung, leitet über zu GGMs eigentlichem Werk, seiner Macondo-Welt. Der Autor hat sie aus Laubsturm, von dem sie ein Teil war, herausgelöst.

Hier klingen auf einen Schlag alle Motive von GGMs erstem Roman an: Regen als Aktion - in Hundert Jahre Einsamkeit wird es vier Jahre ununterbrochen regnen -, Hitze, Fäulnis, Einsamkeit, Verfall - physisch, historisch, moralisch. Noch herrscht der Monolog als bestes Werkzeug, innere Erfahrungen auszudrücken. Unter Garcia Márquez’ in deutscher Sprache erschienenen Büchern dürfen seine ersten Erzählungen nicht fehlen, besonders nicht für Leser, die seine Meisterwerke kennen. Denn gerade für diese ist es informierend und ermutigend zu sehen, wie dieser Schriftsteller sich von innen nach außen vortastet, wie er geduldig und genau seine Grenzen abschreitet und das eigene Neuland erforscht, um schließlich seinen Kosmos mit sicherer Hand auszubreiten.

Curt Meyer-Clason