Eva ist in ihrer Katze
1948
Plötzlich merkte sie, daß ihre Schönheit abgefallen war, daß diese sie körperlich schmerzte wie eine Geschwulst oder ein Krebsgeschwür. Sie erinnerte sich noch an die Last dieses Vorrechts, das sie während ihrer Jugend auf ihrem Körper getragen und das sie nun fallen gelassen hatte - wer weiß wohin -, mit entsagender Müdigkeit, mit der letzten Gebärde eines entarteten Tiers. Sie konnte diese Last unmöglich noch länger tragen. Sie mußte dieses nutzlose Eigenschaftswort ihrer Persönlichkeit irgendwo abwerfen; dieses Stück ihres eigenen Namens, das vom vielen Betonen überflüssig geworden war. Ja; sie mußte die Schönheit irgendwo zurücklassen; hinter einer Straßenecke, in einem Vorstadtwinkel. Oder sie am Kleiderständer eines zweitrangigen Restaurants wie einen alten unbrauchbaren Mantel aus Versehen hängen lassen. Sie war es müde, Mittelpunkt so vieler Aufmerksamkeiten zu sein, von den aufgerissenen Augen der Männer belagert zu leben. Abends, wenn sie die Nadeln der Schlaflosigkeit auf ihre Lider steckte, wäre sie gerne eine gewöhnliche, reizlose Frau gewesen. In den vier Wänden ihres Zimmers war ihr alles feindlich gesonnen. Verzweifelt fühlte sie, wie die Nachtwache sich unter ihrer Haut, in ihren Kopf hinein verlängerte, und das Fieber nach oben bis in ihre Haarwurzeln stieß. Es war, als hätten sich ihre Arterien mit winzigen heißen Insekten bevölkert, die beim Nahen des Tages erwachten und mit behenden Füßen in einem hemmungslosen subkutanen Abenteuer über dieses sprießende Stück Lehm liefen, in dem sich ihre anatomische Schönheit angesiedelt hatte. Vergeblich kämpfte sie, um jene schrecklichen Tiere zu vertreiben. Sie vermochte es nicht. Sie waren Teil ihres eigenen Organismus. Sie waren da und lebten seit vielen Jahren von ihrer leiblichen Existenz. Sie kamen aus dem Herzen ihres Vaters, der sie in ihren Nächten verzweifelter Einsamkeit schmerzlich genährt hatte. Vielleicht waren sie auch in ihre Arterien durch die Nabelschnur eingemündet, mit der sie seit dem Anbeginn der Welt mit ihrer Mutter verknüpft war. Diese Insekten waren fraglos nicht unmittelbar in ihrem Körper entstanden. Sie wußte, daß sie von weither kamen, daß alle, die ihren Namen trugen, sie ertragen mußten, sie erleiden mußten wie sie, als ihre Schlaflosigkeit sie bis zum Morgengrauen knebelte. Es waren die gleichen Insekten, welche diesen bitteren Anflug, diese untröstliche Traurigkeit auf die Gesichter ihrer Vorfahren malte. Sie hatte jene aus ihrer erloschenen Existenz, aus ihrem alten Portrait herüberblicken sehen, Opfer dieser selben Angst. Noch immer erinnerte sie sich an das beunruhigende Gesicht der Urgroßmutter, die von ihrer altersschwachen Leinwand herunter um eine Minute des Ausruhens bat, um eine Sekunde des Friedens von diesen Insekten, die dort in den Kanälen ihres Bluts sie noch immer peinigten und unbarmherzig verschönten. Nein; diese Insekten waren nicht die ihren. Sie überlieferten sich von Generation zu Generation und hielten mit ihrem winzigen Panzer all das Prestige einer erwählten, schmerzlich erwählten Rasse hoch. Diese Insekten waren im Bauch der ersten Mutter entstanden, die eine schöne Tochter geboren hatte. Doch es war unbedingt notwendig, dieser Erbschaft Einhalt zu gebieten. Jemand mußte darauf verzichten, diese künstliche Schönheit weiterzutragen. Es nutzte den Frauen ihrer Klasse nichts, nach der Rückkehr vom Spiegel über sich selbst zu staunen, wenn während der Nächte diese Tiere ihre langsame, wirksame, unermüdliche Arbeit mit einer Beharrlichkeit von Jahrhunderten verrichteten. Das war schon keine Schönheit mehr, es war eine Krankheit, der es Einhalt zu gebieten, die es energisch und radikal zu kupieren galt.
Sie erinnerte sich noch an die nicht enden wollenden Stunden in ihrem von heißen Nadeln übersäten Bett. An jene Nächte, in denen sie die Zeit voranzutreiben suchte, damit diese Tiere bei Tagesanbruch nicht mehr schmerzten. Wozu nutzte eine Schönheit wie diese? Nacht für Nacht, in ihrer Verzweiflung versunken, dachte sie, es hätte ihr mehr genutzt, wenn sie eine gewöhnliche Frau oder ein Mann gewesen wäre, statt diese nutzlose Tugend zu besitzen, genährt von Insekten ferner Ursprünge, welche die unwiderrufliche Ankunft des Todes für sie beschleunigten. Vielleicht würde sie glücklich sein, wenn sie ebenso plump, ebenso trostlos häßlich wäre wie ihre tschechische Freundin, die einen Hundenamen besaß. Es hätte ihr mehr genutzt, häßlich zu sein, um friedlich schlafen zu können wie jeder beliebige Christenmensch.
Sie verwünschte ihre Vorfahren. Sie waren schuld an ihrer Schlaflosigkeit. Sie hatten ihr diese unverwechselbare, genaue Schönheit mitgegeben, als schüttelten die Mütter nach ihrem Tod die Köpfe und erneuerten sie, um sie den Rümpfen ihrer Töchter aufzusetzen. Es war, als habe sich der gleiche Kopf, ein einziger Kopf mit den gleichen Ohren, mit der gleichen Nase, mit identischem Mund, mit seiner schwerfälligen Intelligenz auf alle Frauen übertragen, die ihn unrettbar empfangen mußten, wie ein schmerzliches Erbteil an Schönheit.
Hier, in der Übertragung des Kopfes, war diese ewige Mikrobe, die sich im Verlauf der Generationen durchgesetzt, Persönlichkeit und Kraft gewonnen hatte, bis sie sich in ein unbezwingliches Wesen, in eine unheilbare Krankheit verwandelt hatte, die, als sie bei ihr ankam, nachdem sie einen komplizierten Prozeß der Kontrolle durchlaufen hatte, nicht mehr zu ertragen war und bitter wurde und schmerzhaft ... Genau wie eine Geschwulst oder wie ein Krebsgeschwür.
In diesen Stunden der Schlaflosigkeit erwachte sie aus den unangenehmen Dingen zu ihrer großen Empfindsamkeit. Sie erinnerte sich an diese Gegenstände, die das Weltall der Empfindungen ausmachten, in denen wie in einem chemischen Saft jene beklemmenden Mikroben gezüchtet worden waren. In diesen Nächten ertrug sie mit runden, weitaufgerissenen, verwunderten Augen die Last der Dunkelheit, die auf ihre Schläfen fiel wie flüssiges Blei. Ringsum sie her schliefen alle Dinge. Und von ihrem Winkel aus ließ sie, um ihren Schlaf zu zerstreuen, die Erinnerungen ihrer Kindheit vorüberziehen.
Doch stets endete dies Erinnern mit dem Schrecken vor dem Unbekannten. Stets landete ihr Denken, nachdem es durch die dunklen Ecken des Hauses geirrt war, vor der Angst. Dann begann der Kampf. Der wahre Kampf gegen drei unerschütterliche Feinde. Nie würde sie, niemals würde sie die Angst von ihrem Kopf abschütteln können. An ihre Kehle geklammert, mußte sie sie ertragen. Und nur, weil sie in diesem alten Herrenhaus wohnte, weil sie allein in diesem Winkel schlief, abgesondert von der übrigen Welt.
Immer wanderte ihr Denken durch die feuchten Gänge und schüttelte den mit Spinnweben bedeckten Staub von den Portraits. Dieser beunruhigende, schreckenerregende Staub, der von dem Ort herabfiel, an dem die Gebeine ihrer Vorfahren zerfielen. Unweigerlich erinnerte sie sich an »das Kind«. Dort stellte sie sich es vor, schlafwandelnd, unter der Grasnarbe im Innenhof neben dem Orangenbaum mit einer Handvoll feuchter Erde im Mund. Sie glaubte es in seiner Lehmgrube zu sehen, mit Fingernägeln und Zähnen aufwärts grabend und vor der Kälte fliehend, die ihm im Rücken nagte; durch den kleinen Tunnel, in den man es mit den Schnecken gesteckt hatte, einen Ausweg in den Innenhof suchend. Im Winter hörte sie es, schmutzig von Lehm, vom Regen durchnäßt, leise weinen. Vollkommen sah sie es vor sich. So wie man es vor fünf Jahren in dem mit Wasser angefüllten Loch zurück gelassen hatte. Es wollte ihr nicht in den Kopf, daß es sich zersetzt hätte. Im Gegenteil, es mußte bildschön sein, wie es in dem dickflüssigen Wasser segelte, wie auf einer ausweglosen Reise. Oder sie sah es lebend, jedoch verstört und angstvoll, sich allein und in einem so düsteren Innenhof beerdigt zu fühlen. Sie selbst hatte sich dem Entschluß widersetzt, daß man es unter dem Orangenbaum so nahe am Haus zurückließ. Sie hatte Angst vor ihm. Sie wußte, daß es dies ahnen würde, wenn die Schlaflosigkeit sie nachts heimsuchte. Es würde durch die engen Gänge zurückkommen und sie bitten, es zu begleiten, sie bitten, es gegen die anderen Insekten zu verteidigen, welche die Wurzeln seiner Veilchen abfraßen. Es würde wiederkehren, damit man es an ihrer Seite schlafen ließe wie zu der Zeit, als es am Leben war. Sie hatte Angst davor, es von neuem neben sich zu spüren, nachdem es die Mauer des Todes übersprungen hatte. Sie hatte Angst davor, die Hände zu stehlen, welche »das Kind« immer geschlossen halten würde, um sein Stückchen Eis zu erwärmen. Nachdem sie es zu Zement verwandelt gesehen hatte wie die in den Schlamm gestürzte Statue der Angst, wünschte sie, daß es weit weg geführt werde, damit sie sich seiner nicht des Nachts erinnerte. Dennoch hatte man es da gelassen, wo es unerschütterlich und schmutzig war und wo es sein Blut mit dem Kot der Würmer ernährte. Und sie mußte sich damit abfinden, es aus seiner Höhle der Finsternis zurückkehren zu sehen. Denn immer und unweigerlich, wenn sie schlaflos lag, dachte sie an »das Kind«, das sie sicherlich aus seinem Stückchen Erde rief, damit sie ihm dabei half, diesem ungereimten Tod zu entkommen.
Doch jetzt, in ihrem neuen zeitlichen, unräumlichen Leben war sie ruhiger. Sie wußte, daß dort, außerhalb ihrer Welt, alles im gleichbleibenden Rhythmus von einst weiterging; daß ihr Zimmer noch im Morgengrauen versunken sein mußte und daß ihre Dinge, ihre Möbel, ihre dreizehn Lieblingsbücher noch an Ort und Stelle stehen mußten. Und daß in ihrem unbenutzten Bett der Körpergeruch, der jetzt ihre Leere einer ganzen Frau einnahm, eben erst zu schwinden begann. Aber wie konnte »das« geschehen? Wie hatte sie, nachdem sie eine schöne Frau gewesen war, das Blut von Insekten bevölkert, in der totalen Nacht von Angst verfolgt, den riesigen, schlaflosen Alptraum hinter sich gelassen, um nun in eine seltsame, unbekannte Welt einzutreten, in der alle Größenverhältnisse ausgemerzt waren? Sie besann sich. In jener Nacht - die ihres Übergangs - war es kälter gewesen als gewöhnlich; von Schlaflosigkeit gepeinigt, hatte sie allein im Haus gelegen. Niemand störte die Stille, und der vom Garten aufsteigende Geruch war Angstgeruch gewesen. Der Schweiß drang aus ihrem Körper, als sei das Blut unter dem Druck der Insekten aus ihren Arterien geflossen. Sie hatte gewünscht, daß jemand auf der Straße vorbeiging, daß jemand schrie, die stockende Atmosphäre durchbrach. Daß sich etwas in der Natur bewegte, daß die Erde wieder um die Sonne kreiste. Es war vergebens. Nicht einmal die törichten Männer, die dicht unter ihrem Ohr, in ihrem Kopfkissen, eingeschlafen waren, würden erwachen. Auch sie war regungslos. Die Wände verströmten einen starken Geruch nach frischer Farbe, jenen zähflüssigen überwältigenden Geruch, den man nicht mit dem Geruchssinn, sondern mit dem Magen riecht. Und auf dem Tisch schlug die einzige Uhr mit ihrem tödlichen Werk die Stille. »Die Zeit ... ach, die Zeit ...!« seufzte sie und dachte an den Tod. Und draußen im Innenhof unter dem Orangenbaum weinte noch immer »das Kind«, weinte leise aus der anderen Welt herüber.
Sie nahm Zuflucht zu all ihren Glaubenssätzen. Warum wurde es in diesem Augenblick nicht Tag, oder warum starb man nicht ein für alle Mal? Sie hatte nie geglaubt, daß die Schönheit sie so viele Opfer kosten könne. In jenem Augenblick - wie üblich - tat es ihr über ihre Angst hinaus weh. Und unter der Angst peinigten sie diese unbarmherzigen Insekten. Der Tod klammerte sich an ihr Leben wie eine Spinne, die sie wütend biß, entschlossen, sie zum Erliegen zu bringen. Sie aber zögerte diesen letzten Augenblick hinaus. Ihre Hände, diese Hände, welche die Männer stets mit solch offensichtlicher tierischer Nervosität drückten, waren reglos, gelähmt von der Angst, von dem irrationalen Schrecken, der aus ihrem Innern drang, grundlos und nur weil sie sich in dem alten Haus verlassen wußte. Sie versuchte zu reagieren und vermochte es nicht. Die Angst hatte sie ganz in den Fängen und verharrte dort, starr, hartnäckig, fast körperhaft, als sei sie ein unsichtbarer Mensch, der sich vorgenommen hatte, ihr Zimmer nicht zu verlassen. Noch stärker beunruhigte sie, daß diese Angst nicht die geringste Rechtfertigung besaß, daß es eine einzige, grundlose, unerklärliche Angst war. Dicker Speichel lag auf ihrer Zunge. Quälend war dieses zähflüssige Gummi zwischen den Zähnen, das ihren Gaumen belagerte und floß, ohne daß sie ihm Einhalt gebieten konnte. Es war ein Verlangen, anders als Durst. Ein über alles gehendes Verlangen, das sie zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte. Einen Augenblick lang vergaß sie ihre Schönheit, ihre Schlaflosigkeit und ihre irrationale Angst. Sie kannte sich selber nicht mehr. Einen Augenblick dachte sie, die Mikroben hätten ihren Körper verlassen. Es kam ihr vor, als wären sie im Schlepptau ihres Speichels gekommen. Ja, all das war gut und schön. Schön, daß die Insekten sie entvölkert hatten und sie nun schlafen konnte, doch dazu war es notwendig, daß sie ein Mittel fand, um jenes ihre Zunge verklebende Harz aufzulösen. Wenn es ihr gelänge, bis zur Speisekammer zu gelangen und . Aber woran dachte sie? Sie war baß erstaunt. Nie hatte sie ein »solches Verlangen« verspürt. Die Stärke der Säure hatte sie geschwächt, hatte die Disziplin, der sie soviele Jahre seit dem Tag, an dem »das Kind« beerdigt worden war, getreulich gefolgt war, wertlos gemacht. Es war Torheit, aber sie verspürte Widerwillen, eine Orange zu essen. Sie wußte, daß »das Kind« zu den Orangenblüten emporgeklettert war und daß die Früchte des nächsten Herbstes von seinem Fleisch schwellen, von der ungeheuren Frische seines Todes erfrischt sein würden. Nein. Sie könnte sie nicht essen. Sie wußte, daß unter einem jeden Orangenbaum auf der ganzen Welt ein Kind begraben lag, das die Früchte mit dem Kalk seiner Knochen versüßte. Trotzdem mußte sie jetzt eine Orange essen. Es war die einzige Medizin gegen dieses Gummi, das sie erstickte. Es war Torheit anzunehmen, daß »das Kind« in einer Frucht war. Sie würde diesen Augenblick nutzen, in dem die Schönheit ihr nicht mehr weh tat, um bis zur Speisekammer zu gelangen. Aber . war das nicht sonderbar? Es war das erste Mal in ihrem Leben, daß sie wirkliches Verlangen verspürte, eine Orange zu essen. Sie wurde fröhlich, fröhlich. Ah, welches Vergnügen! Eine Orange zu essen. Sie wußte nicht warum, doch nie hatte sie ein so gebieterisches Verlangen verspürt. Sie würde aufstehen, glücklich, wieder eine normale Frau zu sein, froh singend würde sie in die Speisekammer gelangen, froh singend wie eine junge, jüngst geborene Frau. Sie würde sogar bis in den Innenhof gelangen und ...
Plötzlich riß ihre Erinnerung ab. Sie erinnerte sich, daß sie versucht hatte, aufzustehen und daß sie nicht mehr in ihrem Bett lag, daß ihr Körper verschwunden war, daß ihre dreizehn Lieblingsbücher nicht mehr da waren und daß sie nicht mehr sie war. Jetzt war sie körperlos, schwebend, sie schwamm über einem vollständigen Nichts, verwandelt in einen formlosen, winzigkleinen, richtungslosen Punkt. Sie vermochte das Geschehen nicht genau zu bestimmen. Sie war verwirrt. Sie hatte nur die Empfindung, daß jemand sie in einen Abgrund hinuntergestürzt hatte. Sie fühlte sich in ein abstraktes, imaginäres Wesen verwandelt. Sie fühlte sich in eine körperlose Frau verwandelt, so, als wäre sie mit einemmal in jene hohe unbekannte Welt der reinen Geister eingetreten.
Wieder befiel sie Angst. Doch es war eine vom Augenblick zuvor verschiedene Angst. Es war nicht mehr die Angst vor dem Weinen »des Kindes«. Es war Entsetzen vor dem Seltsamen, dem Geheimnisvollen und Unbekannten ihrer neuen Welt. Und zu denken, daß all das derart harmlos, mit so großer Ahnungslosigkeit ihrerseits vor sich gegangen war! Was würde sie ihrer Mutter sagen, wenn diese nach Hause kam und von dem Ereignis erfuhr? Sie begann an die Aufregung zu denken, die unter den Nachbarn entstehen würde, wenn sie die Tür zu ihrem Zimmer öffneten und entdeckten, daß ihr Bett leer war, daß niemand hatte hereinoder herauskommen können und daß sie dennoch nicht darin war. Sie stellte sich die verzweifelte Gebärde ihrer Mutter vor, die das ganze Zimmer nach ihr durchsuchte, Mutmaßungen anstellte und sich selber fragte, »was aus dem kleinen Mädchen geworden war«. Sie sah die Szene vor sich. Die Nachbarn würden herbeieilen und Meinungen, darunter böswillige Meinungen, über ihr Verschwinden äußern. Ein jeder von ihnen würde der eigenen und für ihn besonderen Denkweise gemäß denken. Ein jeder von ihnen würde versuchen, die logischste, die zumindest annehmbarste Erklärung anzubieten, während ihre Mutter, verzweifelt nach ihr rufend, durch die Gänge des Herrenhauses rennen würde.
Sie würde dabei sein. Würde den Augenblick betrachten, Einzelheit für Einzelheit, aus einer Ecke, von der Decke herab, aus den Mauerritzen, aus irgendeinem Versteck; vom günstigsten Blickwinkel aus, beschirmt von ihrem körperlosen Zustand, von ihrer Raumlosigkeit. Daran zu denken, machte sie unruhig. Nun wurde sie sich ihres Irrtums bewußt. Sie würde keinerlei Erklärung abgeben, nichts aufklären, niemanden trösten können. Kein lebendes Wesen könnte über ihre Verwandlung in Kenntnis gesetzt werden. Nun würde sie vielleicht das einzige Mal, daß sie ihrer bedurfte keinen Mund haben, keine Arme, damit alle erführen, daß sie da war, in ihrem Winkel, durch unrettbare Entfernung von der dreidimensionalen Welt getrennt. Sie war in ihrer neuen Welt abgesondert und wurde vollständig daran gehindert, Sinneswahrnehmungen zu empfangen. Doch etwas zitterte jeden Augenblick in ihr, ein Beben durchlief sie, überschwemmte sie, unterrichtete sie über jenes andere körperliche Weltall, das sich außerhalb ihrer Welt bewegte. Sie hörte nicht, sah nicht, wußte aber von diesem Ton und diesem Bild. Und dort, auf den Höhen ihrer erhabenen Welt, begann sie zu erfahren, daß eine Aura der Angst sie umgab.
Erst vor einer Sekunde - in Übereinstimmung mit unserer zeitlichen Welt - hatte sich der Übergang vollzogen, so daß sie erst jetzt die Eigenarten, die Charakteristiken ihrer neuen Welt kennenzulernen begann. Um sie kreiste tiefste, wurzelhafteste Dunkelheit. Bis wann würde diese Finsternis andauern? Würde sie sich auf ewig daran gewöhnen müssen? Ihre Angst nahm an Intensität zu, als sie sich in diesem dichten, undurchdringlichen Nebel versunken wußte: Ob sie in einer Vorhölle schmachtete? Sie erzitterte. Sie erinnerte sich an alles, was sie über die Vorhölle hatte sagen hören. Wenn sie in Wirklichkeit da war, schwebten neben ihr andere reine Geister von Kindern, die ohne Taufe gestorben waren, die tausend Jahre hindurch dem Tode verfallen waren. Sie versuchte sich diesen Wesen im Schattenreich zu nähern, die so viel reiner, so viel schlichter sein mußten als sie selber. Vollständig getrennt von der physischen Welt, zu einem schlafwandlerischen und ewigen Leben verurteilt. Vielleicht suchte »das Kind« einen Ausgang, um zu seinem Körper zu gelangen.
Doch nein. Warum sollte sie wohl in der Vorhölle sein? War sie etwa tot? Nein. Es war einfach eine Veränderung des Zustands, ein normaler Übergang aus der physischen Welt in eine leichtere, weniger komplizierte Welt, in der alle Dimensionen ausgelöscht worden waren.
Jetzt hatte sie nicht mehr unter den subkutanen Insekten zu leiden. Ihre Schönheit war zerfallen. Jetzt, in dieser Grundsituation, konnte sie glücklich sein. Wenn auch - oh! - nicht vollkommen glücklich, weil ihr größter Wunsch, der Wunsch, eine Orange zu essen, nicht mehr zu verwirklichen war. Es war das einzige, weshalb sie noch gerne in ihrem ersten Leben gewesen wäre. Um das Bedürfnis nach Säure zu befriedigen, das nach dem Übergang noch in ihr wach war. Sie versuchte sich zu orientieren, um in die Speisekammer zu gelangen und wenigstens die frische säuerliche Gesellschaft der Orangen zu spüren. Jetzt entdeckte sie eine neue Eigenart ihrer Welt: sie war im Haus überall, im Hof, auf dem Dach, sogar im Orangenbaum »des Kindes«. Sie war in der ganzen jenseitigen körperlichen Welt. Und doch war sie nirgendwo. Von neuem wurde sie unruhig. Sie hatte die Kontrolle über sich verloren. Sie war einem höheren Willen ausgeliefert, sie war ein unnützes, ungereimtes, unbrauchbares Wesen. Ohne zu wissen warum, wurde sie mit einemmal traurig. Fast begann sie Sehnsucht nach ihrer Schönheit zu leiden: nach der Schönheit, die sie töricht vergeudet hatte.
Doch eine großartige Idee belebte sie wieder. Hatte sie nicht sagen hören, daß die reinen Geister nach Belieben jeden beliebigen Körper durchdringen können? Was konnte sie schließlich verlieren, wenn sie es versuchte? Sie suchte sich daran zu erinnern, welcher der Hausbewohner der Probe unterzogen werden konnte. Wenn es ihr gelang, ihre Absicht durchzuführen, wäre sie befriedigt: sie würde die Orange essen können. Sie erinnerte sich. Zu dieser Stunde waren die Dienstboten für gewöhnlich nicht da. Ihre Mutter war noch nicht gekommen. Doch das Bedürfnis, eine Orange zu essen, nun vereint mit der Neugierde, sich in einen, von dem ihren verschiedenen, Leib verkörpert zu sehen, zwang sie, so rasch wie möglich zu handeln. Doch da war niemand, in den sie sich verkörpern konnte. Als Grund war es trostlos: es war niemand im Haus. Sie würde ewig von der äußeren Welt in ihrer dimensionslosen Welt leben müssen, ohne die erste Orange essen zu können. Und das alles nur wegen einer Torheit. Es wäre besser gewesen, wenn sie noch ein paar Jahre diese feindselige Schönheit ertragen und sich nicht für immer ausgelöscht, sich wie ein besiegtes Tier unbrauchbar gemacht hätte. Doch es war bereits zu spät.
Sie wollte sich enttäuscht in eine ferne Region des Weltalls zurückziehen, in eine Gegend, wo sie alle ihre verflossenen irdischen Wunsche vergessen konnte. Doch etwas ließ sie plötzlich davon Abstand nehmen. In ihrer unbekannten Gegend eröffnete sich ihr die Verheißung einer besseren Zukunft. Ja, es war jemand im Haus, dessen Leib sie annehmen konnte: die Katze! Doch schon zögerte sie. Es war schwierig, sich damit abzufinden, in einem Tier zu leben. Sie würde das weiche weiße Fell der Katze haben, in ihren Muskeln würde große Sprungkraft wohnen. Nachts würde sie ihre Augen im Dunkeln wie grüne Glut funkeln fühlen. Sie würde weiße scharfe Zähne haben, um ihrer Mutter aus ihrem Raubkatzenherzen mit breitem guten Tierlächeln zuzulächeln. Doch nein! Es durfte nicht sein. Sie stellte sich plötzlich vor, wie sie in dem Katzenkörper durch die Flure des Hauses strich und ihre unbequemen vier Pfoten gebrauchte, und ihr Schweif würde sich zügellos bewegen, ohne Rhythmus, ihrem Willen fremd. Wie würde das Leben in diesen grünen leuchtenden Augen sein? Nachts würde sie zum Himmel aufmiauen, damit er nicht seinen Mondzement auf das Gesicht »des Kindes« verschütte, das auf dem Rücken Tau trank. Vielleicht würde sie in ihrem Zustand einer Katze auch Angst haben. Schließlich würde sie vielleicht mit diesem fleischfressenden Katzenmaul nicht die Orange essen können. Ein gerade entstandener, aus der Wurzel ihres Geistes auftauchender Kälteschauer zitterte in ihrer Erinnerung. Nein. Es war unmöglich, sich in den Leib einer Katze zu verwandeln. Sie hatte Angst vor dem Gedanken, eines Tages im Gaumen, in der Kehle, in ihrem vierfüßigen Organismus das unwiderrufliche Verlangen zu spüren, eine Maus zu essen. Doch sobald ihr Geist den Katzenkörper bevölkerte, würde sie vermutlich kein Verlangen mehr nach einer Orange, sondern das widerwärtige lebendige Verlangen nach einer Maus verspüren. Sie erzitterte bei der Vorstellung, daß das Tier nach beendeter Jagd zwischen ihren Zähnen zappeln würde. Sie fühlte, wie es sich im letzten Fluchtversuch wehrte und sich zu befreien suchte, um wieder in sein Loch zu gelangen. Nein. Alles, nur das nicht. Sie zog vor, ewig und immer in dieser fernen geheimnisvollen Welt der reinen Geister zu bleiben.
Und doch war es schwer, sich mit einem auf immer vergessenen Leben abzufinden. Warum sollte sie Verlangen verspüren, eine Maus zu sehen? Wer würde den Vorrang in dieser Synthese aus Frau und Katze haben? Würde es der primitive Tierinstinkt des Körpers sein oder der reine Wille einer Frau? Die Antwort war kristallklar. Sie brauchte nichts zu fürchten. Sie würde in den Leib einer Katze schlüpfen und ihre ersehnte Orange essen. Überdies würde sie ein seltsames Wesen sein, eine Katze mit der Intelligenz einer schönen Frau. Wieder würde sie der Mittelpunkt aller Aufmerksamkeiten sein ... Und nun begriff sie zum ersten Mal, daß ihre Eitelkeit einer metaphysischen Frau sich über alle ihre Tugenden erhob. Wie ein Insekt mit ausgestreckten Fühlern richtete sie ihre ganze Energie darauf aus, die Katze im Haus zu suchen. Zu dieser Stunde träumte sie vermutlich auf dem Ofen davon, mit einem Baldrianzweig zwischen den Zähnen zu erwachen.
Doch sie war nicht da. Von neuem machte sie sich auf die Suche, doch sie fand den Ofen nicht mehr. Die Küche war nicht dieselbe. Die Winkel des Hauses waren ihr fremd; es waren nicht mehr die mit Spinnweben überzogenen dunklen Winkel. Die Katze war nirgendwo. Sie suchte auf den Dächern, auf den Bäumen, in den Kanälen, unter dem Hell, in der Anrichte. Sie fand alles in vollkommener Verwirrung. Wo sie geglaubt hatte, die Porträts ihrer Ahnen zu finden, stieß sie nur auf eine Flasche mit Arsen. Fortan fand sie Arsen im ganzen Haus, die Katze indes war verschwunden. Das Haus war nicht mehr dasselbe wie vorher. Was war aus ihren Sachen geworden? Warum waren ihre dreizehn Lieblingsbücher mit einer dichten Schicht Arsen überzogen? Sie erinnerte sich an den Orangenbaum des Innenhofs. Sie suchte ihn und schaute auch wieder nach »dem Kind« in seinem Wasserloch. Doch der Orangenbaum stand nicht an seinem Platz, und »das Kind« war nur mehr eine Handvoll Arsen und Asche unter einer schweren Betonplatte. Und jetzt schlief es endgültig. Alles war anders. Und das Haus verströmte einen starken Geruch nach Arsen, der wie aus einer Drogerie an ihre Nüstern schlug.
Erst jetzt begriff sie, daß seit dem Tag, da sie das Verlangen verspürt hatte, die erste Orange zu essen, dreitausend Jahre vergangen waren.