26. Kapitel
Roselynne war aus der ersten Ohnmacht, die halb vom Schock, halb vom Schmerz verursacht worden war, in eine Welt der Qual zurückgekehrt. Sie klammerte sich mit aller Kraft an Sophia-Roses schmale Hände und fragte ihre Schwester mit dem winzigen bisschen Luft, das ihr zwischen zwei Wehen blieb: »War es ... bei dir ... auch so grässlich ... aaah ...«
Der Baronin von Aylesbury blieb die Antwort erspart, denn Roselynne konnte sie ohnehin nicht mehr hören. Die viel zu schmächtige Gestalt wand sich vor Pein auf ihrem Lager. Ihr Zittern übertrug sich auf die leichte Decke, die Lady Liliana über sie gebreitet hatte, nachdem sie Roselynne gemeinsam aus ihren feuchten Kleidern befreit und in ein loses, sauberes Hemd gehüllt hatten. Inzwischen klebte dieses Kleidungsstück schweißfeucht auf ihrer Haut.
Nein, so war es bei ihr nie gewesen, erinnerte sich Sophia-Rose bedrückt. Schmerzvoll, langwierig, anstrengend und manchmal auch bis an die Grenzen ihrer Kräfte gehend, aber nie so bedrohlich und offensichtlich lebensgefährlich wie bei Roselynne. Dieses Kind, das alle Welt in solche Aufregung versetzte, schien sich ebenso wie seine Mutter nicht entscheiden zu können, ob es nun leben wollte oder nicht.
Sie konnte Justin d'Amonceux nicht zürnen, wie ihr Vater das tat; in ihr war immer noch ein Rest der Zuneigung, die sie für ihn empfunden hatte. Trotzdem wünschte sie, er könnte sehen, was er ihrer kleinen Schwester angetan hatte. Dann würde er vielleicht den Unterschied zwischen verletztem Stolz und echtem Leid erkennen.
Sie war auf reine Vermutungen angewiesen, wenn es um die Bande ging, die Roselynne an den normannischen Edelmann fesselten. Ihre Schwester selbst hatte ihn mit keinem Wort erwähnt, und den Dingen, die ihr Gemahl verriet, misstraute sie ein wenig, da sie um seine verständliche Eifersucht wusste.
Aber Handlungen aus verletztem Stolz heraus passten durchaus zu dem Edelmann, dem sie einmal versprochen gewesen war, hingegen nicht die blinde Leidenschaft oder die dummen Fehler, die gewöhnliche Menschen begingen, wenn sie sich ausweglos in die Liebe verstrickten. Dazu war er zu distanziert, zu überzeugt vom eigenen Wert und der eigenen Würde.
Sie hatte ihm gewünscht, dass er eine Frau finden möge, die ihn den Unterschied zwischen Freundschaft und Liebe lehrte. Allein, sie hatte nicht geahnt, dass diese Frau die eigene Schwester sein würde und dass das arme Geschöpf diese Lehrstunde vielleicht sogar mit seinem Leben bezahlen musste.
Sie erinnerte sich an eine ferne Auseinandersetzung mit ihrer Schwester, als jene ihr Vorwürfe machte, weil sie Justin d'Amonceux davon schickte. »Du bist uns fremd geworden!«, hatte sie damals geklagt, und nun war sie es, die ihrer großen Schwester fremd geworden war. Aus der Kleinen mit den schwärmerischen Augen war eine leidende Frau geworden, die ihre Geheimnisse nicht einmal mit ihrer Schwester teilen wollte.
»Schscht!« Sie tupfte Roselynne die Stirn mit kühlem Lavendelwasser ab. »Es geht vorbei, du wirst es sehen. Du darfst dich nicht so sehr dagegen wehren, kleine Schwester! Lass es geschehen ...«
»Ich darf nicht. Es ... es ist zu früh ...«, keuchte die Schwangere und rang nach Luft.
»Du musst der Natur ihren Lauf lassen. Du kannst nichts mehr tun, entspann dich. Du gefährdest dich und dein Kind mit dem, was du tust!«
Die Ratschläge trafen auf taube Ohren. Es hatte den Anschein, als wollte Roselynne mit ihrem ganzen Willen die Geburt aufhalten. Sie war nicht mehr fähig, die Gefahr zu erkennen oder nützliche Ratschläge zu befolgen. Sie reagierte instinktiv, von der eigenen Angst getrieben.
Sophia-Rose tauschte einen Blick mit Roselynnes Kammerfrau Maud und der tüchtigen Wehmutter, die auf Befehl ihrer Großmutter schon seit Tagen im Haus wohnte, damit sie nicht erst geholt werden musste. Doch trotz aller Vorsicht hatte keiner von ihnen verhindern können, dass die Geburt zu früh und mitten in einer stürmischen Auseinandersetzung mit Lord Hawkstone eingesetzt hatte.
Die Wehmutter hatte es befürchtet und der erschöpften Schwangeren jede Aufregung und jede Anstrengung streng verboten. Aber davon hatte der Lord nichts wissen können, als er in das Haus geplatzt war, um seine wieder gefundene Tochter in die Arme zu schließen. Die pralle Wölbung ihres hochschwangeren Leibes hatte ihn dabei ebenso unvorbereitet getroffen wie zuvor ihre Mutter und ihre Schwester.
»Das sieht wahrhaftig nicht gut aus, wir sollten beten«, hatte die Hebamme verkündet, als die Wöchnerin endlich in ihrem Alkoven lag, und Lady Liliana hatte sich dem Urteil nur anschließen können. Was immer Geld und Einfluss, Wissen und Können für eine Gebärende tun konnten, stand bereit, aber wenn Roselynne sich weiterhin so hartnäckig dagegen stemmte, dass ihr Kind das Licht der Welt erblickte, würden beide noch diese Nacht sterben!
Sophia-Rose drehte sich nicht um, als die Kammertür hinter ihr aufging. Sie hörte das Rascheln eines Gewandes und das Stöhnen eines Mannes. Ihre Mutter. Der Medicus ...? Jetzt fuhr sie doch herum.
»Justin ...«
Die beiden Silben erstarben auf ihren Lippen. War er es denn überhaupt? Auf den zweiten Blick kamen ihr Zweifel. Sie hatte sich vor Jahren von einem Edelmann getrennt, der in seinem Stolz verletzt und in seiner Männlichkeit gekränkt worden war. Aber sogar in dieser Situation hatte er eine unzerstörbar faszinierende Ausstrahlung von Eleganz und Wohlerzogenheit besessen. Das blendende Aussehen eines hoch gewachsenen, blonden Normannen, dessen nordisches Erbteil über Generationen edelsten Blutes kultiviert und verfeinert worden war.
Der Justin von heute glich einem tollkühnen Wegelagerer mit scharfen Zügen und hässlichen Kriegswunden. Seine Kleider sahen aus, als hätte er sie seit Tagen nicht gewechselt. Er stank nach saurem Wein und üblen Kneipendünsten, wie der geringste Soldat. Seine schönen silberblonden Haare klebten verschwitzt und nachlässig zurückgestrichen an den Schläfen. Nicht einmal die unvergessenen kristallklaren Augen waren die gleichen geblieben. Früher hatten sie amüsiert gefunkelt, ein wenig spöttisch und überheblich, aber mit einem Strahlen, das Sophia-Rose von Anfang an fasziniert hatte.
Erst heute wusste sie, dass dieses Strahlen kalt und sehr selbstsüchtig gewesen war. Das Leben hatte sie gelehrt, mehr zu sehen, als ein 18-jähriges Mädchen entdeckte, wenn es zum ersten Mal geschickt umworben und verehrt wurde. Deswegen sah sie jetzt auch das Unglück in seinen hellen Augen. Erbärmliche Angst, die keine Zeit für Dinge ließ, die sich außerhalb dieses Alkovens abspielten. Seine Wahrnehmung war so ausschließlich auf Roselynne gerichtet, dass Sophia-Rose nicht mehr als ein verschwommener Umriss für ihn blieb. Er stürzte neben Roselynnes Lager auf die Knie, die Stirn auf die Kante des Bettes gelegt, und wagte nicht einmal, nach ihrer Hand zu fassen.
Sophia-Rose sah zu ihrer Mutter, welche die Tür nachdrücklich schloss und die stumme Frage leise beantwortete. »Ich weiß nicht, wo er herkommt. Er ist ins Haus gestürzt, und ich konnte eben noch verhindern, dass euer Vater das Problem auf seine männlich undiplomatische Weise mit dem Schwert löst. Wie es scheint, wusste er nichts davon, dass sie sein Kind erwartet.«
»Roselynne, Mylady ...« Die Stimme des Normannen jagte beiden Frauen einen eisigen Schauer über den Rücken.
Lady Liliana trat an den Alkoven und legte eine Hand auf seine Schulter. »Ich fürchte, sie hört Euch nicht. Aber sprecht trotzdem mit ihr, vielleicht dringt Eure Stimme irgendwann zu ihr durch. Sie muss aufhören, um dieses Kind zu kämpfen. Sie hat Angst, dass es zu früh ist und dass es nicht am Leben bleibt. Freilich wird sie auf diese Weise dafür sorgen, dass es schon in ihrem Leib stirbt und sie mit vergiftet. Könnt Ihr mir sagen, wann ...« Sie brach ab, räusperte sich und schob alle Höflichkeit unwirsch zur Seite.
»Maud behauptet, es war am Tag vor ihrer Entführung, als sie die blutigen Laken in ihrem Bett gefunden hat. Stimmt das oder habt Ihr schon zuvor ...«
Sophia-Rose sah die tiefe Röte, die aus dem Hals des Ritters in seine Wangen kroch, und schwankte trotz aller Sorgen zwischen Belustigung und Mitgefühl. Ein solches Verhör von Seiten der Mutter der Geliebten gehörte sicher nicht auf die Liste der Dinge, die ein Mann erleben wollte.
»Es war das erste Mal, ja ...«, entgegnete er dennoch rau, ohne die Augen von Roselynne zu nehmen, die mit geschlossenen Lidern stöhnte.
»Also sind es im besten Fall knappe vier Wochen zu früh«, murmelte Lady Liliana und tauschte einen viel sagenden Blick mit der Wehmutter, die mit gefalteten Händen am Fußende des Alkovens stand und am Ende ihrer Weisheit zu sein schien.
Dann gab sie sich einen Ruck und bedeutete Justin mit einer Geste, sich zu erheben. »Auf dem Boden könnt Ihr nichts für sie tun.«
»Was aber kann ich für sie tun?«, fragte er verhalten, ohne den Blick von Roselynne zu nehmen.
»Sprecht mit ihr. Sagt ihr endlich die Wahrheit. Sagt Ihr, dass Ihr sie liebt und dass sie leben muss. Für Euch und das Kind. Wenn es Worte gibt, die sie von dem gefährlichen Abgrund zurückholen könnten, auf den sie zu taumelt, dann sind es diese!«
»Wisst Ihr, warum sie mir verschwiegen hat, dass sie ein Kind erwartet?«
Lady Liliana gab ein wenig damenhaftes Schnauben von sich. »Ihr hättet es selbst herausfinden können, wenn Ihr Euch besser um sie gekümmert hättet, statt sie zu Eurer Tante abzuschieben.«
»Ich hatte das Recht verwirkt, an ihrem Leben Anteil zu haben«, entgegnete er knapp. »Sie sollte nicht leiden, sondern endlich den Frieden finden, den sie sich so sehnlichst wünschte.«
»Roselynne wünschte sich keinen Frieden, sondern Liebe«, wisperte Sophia-Rose, die ihre Schwester nur zu gut verstand. »Sie wollte für ihr Kind einen Vater, der ihr von Herzen zugetan ist, und keinen, der nur bei ihr bleibt, weil Sitte und Anstand es von ihm verlangen.«
Der Normanne starrte sie an, ohne sie zu erkennen. Sie war für ihn nur eine Frau, die unangenehme Wahrheiten aussprach. Sein Leben würde nicht reichen, um die Schändlichkeiten zu bereuen, die er seiner Liebsten angetan hatte. Aber dafür war später Zeit. Jetzt galt es zu kämpfen. Für sie und für das Wesen, das eine Liebe krönte, die er so lange verleugnet hatte.
Er zögerte nicht, diesen wichtigsten Kampf seines Lebens aufzunehmen, sondern setzte sich auf die Kante des Alkovens und zog die halb besinnungslose Wöchnerin mit unendlicher Vorsicht in seine Arme. Er stützte sie, trocknete ihre Stirn und hielt ihre Hände, während er ununterbrochen auf sie einsprach. »Lass dir helfen, mein Herz. Du musst keine Angst haben, ich bin bei dir! Nimm meine Kraft und meinen Atem für unser Kind. Der Himmel wird nicht zulassen, dass ihm Böses geschieht, weißt du. Lass es zur Welt kommen, damit wir es lieben und behüten können, so wie ich dich lieben werde, solange noch ein Atemzug in meiner Brust ist ...«
Keine der Frauen konnte sagen, wie viel die halb ohnmächtige junge Mutter von all diesen Worten vernahm, die mit heiserer Stimme an ihr Ohr gemurmelt wurden. Aber im Laufe der Stunden hatte es doch den Anschein, als würde Roselynnes Widerstand schwächer und das tropfende Blut weniger.
Der Medicus kam erst, nachdem sich das Gewitter endlich entladen hatte, und er protestierte sofort heftig gegen die Anwesenheit des Ritters. Gleichwohl konnte er nichts für Roselynne tun, das die Wehmutter nicht ohnehin schon seit Stunden machte. Sie massierte den gespannten Leib mit warmem Öl, erfrischte die blassen Schläfen mit Kräutertinkturen, hielt die Fenster geschlossen, damit keine bösen Geister hereinkamen, und betete ununterbrochen.
»Es hat keinen Sinn«, seufzte der gelehrte Mann. »Holt den Priester, damit sie nicht unvorbereitet ihren letzten Weg antritt.«
»Nein!« Zum ersten Mal seit geraumer Zeit hob Justin den Kopf und nahm zur Kenntnis, was um ihn herum geschah. »Sie wird nicht sterben!«
»Das liegt nicht in Eurer Macht, Seigneur«, entgegnete der Medicus des Herzogs kapp. Es missfiel ihm, wie viel Menschen in dieser Wochenstube Dinge zu wissen glaubten, deren Kenntnis allein ihm zustand. »Die Dame ist erschöpft. Wenn das Kind nicht bald seinen Weg geht, dann ...«
»Hinaus!«
Alle schraken vor diesem einen eiskalten Wort zusammen. Reines Feuer loderte aus den Augen des Ritters, die all ihre leblose Distanz verloren hatten. »Schert Euch hinaus, wenn Ihr nur unken könnt. Dies ist meine Gemahlin, und ich sage Euch, sie wird leben!«
Die bedingungslose Leidenschaft seiner Worte verschlug dem Medicus ebenso die Sprache, wie ihn der Inhalt beleidigte. Er nickte Lady Liliana hoheitsvoll zu und verließ gekränkt die Kammer. Sophia-Rose rang die Hände und sah Justin vorwurfsvoll an.
»Ich würde wünschen, dass du Recht hast, aber wenn du wirklich ...«
»Wenn Ihr zweifelt, dann geht ebenfalls!«, knurrte der Normanne mit einem Grimm, der auch in den scharfen Linien in seinen Mundwinkeln und in der starren Haltung seiner Schultern Ausdruck fand. »Glaubt Ihr, ich würde zulassen, dass ein Unfähiger sie berührt, der sonst die Kriegswunden des Herzogs flickt? Ich bin sicher, Lady Liliana und diese Frau dort können alles für sie tun, was nötig ist, wenn es so weit ist. Bis dahin überlasst sie mir!«
Ohne sich um Sophia-Rose zu kümmern, begann er erneut auf Roselynne einzureden. »Du wirst mir jetzt gehorchen, mein Herz! Du hast deinen Willen gehabt und jetzt bin ich dran. Gib unser Kind frei, damit es leben kann! Hörst du mich? Ich befehle es dir!«
»Gütiger Himmel, er ist noch sturer als sie«, hauchte die Baronin fassungslos, während sie mit anhörte, wie er vom Flehen zu herrischen Befehlen überging. »Meint er wirklich, dass sie in ihrer Qual auf ihn hören wird? Sie ist kaum noch richtig bei Sinnen!«
»Sieh!«
Lady Liliana griff nach Sophias Hand und deutete bebend auf die Schwangere. Roselynne hatte die Augen aufgeschlagen und starrte zum ersten Mal mit einem Hauch von Bewusstsein in das schroffe Antlitz mit der befremdlichen Narbe.
»Du ...«, wisperte sie kaum hörbar. »Ich wollte so stark sein, aber ich glaube, ich kann's nicht länger ...«
Roselynne wusste nicht, ob sie das alles nur träumte, aber es tat so gut, die Last, die sie die ganze Zeit empfunden hatte, in seine Hände zu legen.
»Schscht! Kümmer dich nicht. Ich bin stark genug für uns beide ...«, hörte sie ihn antworten und verlor schon fast wieder den kurzen Kontakt zur Wirklichkeit.
Allein, da war noch etwas, das sie ihm unbedingt sagen musste, ehe sie dem ruhigen, schönen Licht entgegen ging, das am Rande ihres Blickfeldes so verlockend schimmerte. Sie konnte ihn nicht verlassen, ohne es wenigstens einmal in Worte gefasst zu haben.
»Ich wollte dich noch einmal sehen ... bevor ich gehe ... Ich ... ich liebe dich so unendlich, mein Ritter! Es warst immer nur du, der mein Herz besessen hat. Seit jenem Frühling, als du nach Hawkstone kamst. Ich wollte nicht mehr leben, als du fortgingst ...«
»Ich werde nie wieder gehen, wenn du das möchtest.«
Roselynne erschauerte unter einer neuerlichen Welle des Schmerzes. Es war mehr, als sie ertragen konnte. »Jetzt ... bin ich es, die geht ... Justin ...«
»Du wirst nicht gehen, Roselynne d'Amonceux!«, antwortete Justin mit gepresster Stimme und küsste die trockenen, zitternden Lippen mit unendlicher Zärtlichkeit. »Du kannst mich nicht allein lassen. Ich tauge nichts ohne dich, ich brauche dich. Dich und unser Kind! Wer soll mich denn lehren zu lieben, wenn du nicht mehr da bist ... Bleib bei mir, sonst muss ich dir folgen!«
»Justin ...«
Sophia-Rose schluckte und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Es waren keine Worte, die für fremde Ohren bestimmt waren, und doch .... Es waren wunderschöne Worte, die auch tief in ihr etwas lösten, das seinetwegen noch immer bedrückt und bekümmert gewesen war. Ihre Lippen formten ein Gebet, und ihre Hände falteten sich, ohne dass es ihr bewusst wurde.
»Hilf, heilige Mutter! Hilf diesen beiden Menschen, die so viel gelitten haben!«
Ryan of Hythe kam zu sich, als sein aufgestützter Arm von der Platte des Tisches rutschte und er durch die Wucht der Gewichtsverlagerung fast von der Bank fiel. Im letzten Moment rappelte er sich auf und sah aus brennenden Augen um sich. Die Kerzen waren herabgebrannt. Hinter den Fensterquadraten glomm das erste Ahnen der Morgendämmerung, und gegenüber im großen geschnitzten Stuhl vor dem Kamin saß immer noch der Lord von Hawkstone und starrte reglos ins Nichts.
Die ganze Nacht hatte er so dagesessen, während der Medicus kam und ging, der Priester umsonst darauf wartete, vorgelassen zu werden, und die Mägde nach frischem Wasser, sauberen Tüchern und Kräuterölen liefen. Irgendwann weit nach Mitternacht war auch dann Dame Elisabetta in ihr Gemach verschwunden, aber ihr jüngster Sohn war geblieben und mit ihm der Baron.
Jetzt reckte sich Ryan und bewegte die Schultern, ehe er nach einem herzhaften Gähnen mit allen zehn Fingern durch die blonden Strähnen seines wirren Schopfes fuhr. Ein tiefer Atemzug weitete seine Lungen, dann wandte er sich an den Lord, der aussah, als wäre er in den vergangenen Stunden zu Stein geworden.
»Der Morgen ist da, Vater ...«
Plötzlich hörte er Schritte und die Tür schwang auf. Er entdeckte seine Gemahlin im selben Augenblick wie sie ihn. Sophia-Rose lief einfach los und warf sich mit einem trockenen Aufschluchzen in seine ausgebreiteten Arme.
»Um Gottes willen«, murmelte der Baron bestürzt. »Du willst doch nicht etwa sagen, dass ...«
Die Worte fehlten ihm, und Raynal de Cambremer stemmte sich schwerfällig aus seinem Sitz hoch.
»Bei Gott, Sophia, hör auf zu flennen und sag uns, was geschehen ist«, fuhr er sie barsch an.
Sie hob den Kopf und schenkte beiden Männern endlich ein zitterndes Lächeln. Ihre schönen grünen Augen schwammen in Tränen, und die vergangenen Stunden hatten tiefe Schatten der Erschöpfung unter ihre Augen gelegt. Dennoch sah sie nicht aus wie eine Frau, die ihre Schwester betrauerte.
»Es ist vorbei«, stammelte sie. »Roselynne hat eine Tochter geboren, wie sie es vorhergesagt hat. Ein winziges Dingelchen, aber kräftig genug, um mörderisch zu schreien. Man kann noch nicht viel sagen, aber es sieht so aus, als könnten wir sie mit ein bisschen Glück am Leben erhalten. Sie trinkt, und das ist viel wert....«
»Und Roselynne?«
»Schwächer als ihre Tochter, zu Tode erschöpft, aber sie atmet. Wenn sie nicht noch einmal zu bluten anfängt, können wir auch für sie hoffen.«
»Dem Himmel sei Dank«, ächzte der Lord und war schon halb aus dem Raum, ehe Sophia-Rose ihm nachrufen konnte: »Sie schläft, sei behutsam und leise. Sie braucht diesen Schlaf!«
»Lass ihn«, murmelte Ryan und küsste die Stirn seiner Gemahlin. »Er muss sie sehen, damit er es glaubt. Es waren schlimme Stunden für ihn.«
»Wem sagst du das«, seufzte Sophia-Rose. »Ich habe noch nie eine solche Nacht erlebt und möchte dergleichen auch kein zweites Mal erleben. Ohne Justin d'Amonceux hätte sie in einer Katastrophe geendet ...«
»Was hat er getan?«
»Ich kann's dir nicht sagen. Er hat auf Roselynne eingeredet, bis ihm die Stimme versagte. Er hat sie angefleht, gescholten, gefordert, gebeten und beschimpft. Er hat sie mit der Gewalt seiner Gefühle am Leben erhalten. Es war seine Kraft, die am Ende dieses Kind gerettet hat. Ohne ihn hätte Roselynne einfach aufgegeben. Keine Frau hätte diese Nacht ohne Hilfe bewältigt.«
»Er liebt sie.«
»Daran gibt es weiß Gott keinen Zweifel«, stimmte seine Gemahlin zu. »Er weigert sich, ihre Seite zu verlassen, bis sie außer Gefahr ist. Ich hoffe nur, Papa nimmt davon Abstand, ihn in der Wochenstube mit seinem dummen Schwert zu durchbohren.«
Was immer der Lord von Hawkstone vorgehabt hatte, die Szene am Alkoven seiner Tochter entwaffnete ihn. Roselynne lag zwischen frischen Kissen, die Augen geschlossen, aber ihre Brust hob und senkte sich regelmäßig. An ihrer Seite saß der Normanne, die Finger seiner Gemahlin in einer schlanken, sehnigen Hand, die Augen ohne Unterlass auf ihr Antlitz gerichtet.
Er machte ein Eindruck eines Mannes, dessen Welt sich auf dieses Gesicht reduziert hatte. Er sah weder auf, noch bewegte er sich, als der Lord an die Seite seiner Gemahlin trat, die eben das Körbchen mit dem Neugeborenen noch näher an das Feuer im Kamin rückte.
»Deine Enkelin braucht Wärme«, flüsterte sie und deutete auf ein winziges Köpfchen, das unter einer Haube förmlich verschwand. Es bestand eigentlich nur aus zusammengekniffenen Falten und einem kaum sichtbaren Stupsnäschen.
»Himmel, wie klein sie ist ...«
»Aber gesund und wohlgestaltet«, beruhigte ihn Lady Liliana. »Im Augenblick können wir sie nur schlafen lassen. Alle beide.«
»Und er?« Die schroffe Kopfbewegung des Lords verriet eine Menge über seine höchst widersprüchlichen Gefühle für den Mann an Roselynnes Bett.
»Lass ihn. Sie scheint es zu spüren, wenn er bei ihr ist. Seine Gegenwart gibt ihr Kraft, und die braucht sie nötiger denn je. Sie hat ihre Wahl getroffen, und wenn du mich fragst, ist es keine schlechte Wahl.«
Raynal de Cambremer zwang sich, nicht zu dem Normannen, sondern in die veilchenblauen Augen seiner Gemahlin zu sehen. Er hatte gelernt, ihrem Instinkt zu vertrauen, auch wenn dieser ihn manchmal dazu zwang, Entscheidungen zu treffen, die seinem geradlinigen männlichen Gefühl ganz und gar nicht entsprachen.