6. Die Grenzen der Globalisierung – Wie die Abhängigkeit vom Netz unseren Wohlstand bedroht

Wer in der Morgendämmerung über die achtspurige Stadtautobahn von Seattle fährt, ein Labyrinth von Tunneln und geschwungenen Brücken zwischen Bürotürmen aus Stahl und Glas, erhascht an einigen Stellen einen spektakulären Blick auf den Seaport. Die Hauptstadt des Bundesstaates Washington ist um eine Reihe Buchten herum gebaut, und ihr verwinkelter Seehafen gehört zu den größten Containerumschlagplätzen der Welt. So früh am Morgen spiegeln sich im Wasser die Lichter der Hafengebäude und Schiffe; grellrot gestrichene Ladekräne thronen am fernen Ufer über Stapeln von Containern.

So sehen Knotenpunkte der Globalisierung aus – der alten Art. In der Wirtschaftsentwicklung der vergangenen dreißig Jahre, der Ära der »Turboglobalisierung«, spielten solche Häfen eine ganz wesentliche Rolle. Die Transportpreise fielen zeitweise drastisch, was nicht zuletzt an der rasanten Fortentwicklung der Containertechnik lag, an automatischen Verladekränen und Logistiksystemen. Auch Transportflüge wurden billiger, das Fernmeldewesen machte schnelle Fortschritte, gesetzliche Handelsschranken fielen und vieles mehr. Produkte und Zwischenprodukte werden seither wie auf einem Karussell um die ganze Welt verschifft. An Knotenpunkten wie dem Seaport of Seattle läuft alles zusammen.

Doch wie gesagt: Das ist die alte Art der Globalisierung. Seattle ist ein Ort, an dem sich auch die neue Art des weltweiten Wirtschaftens besichtigen lässt. Zehn Minuten die Stadtautobahn 99 entlang, und man landet in einem Viertel voller ehemaliger Lagergebäude. Ein großes Stoffschild an einem Gebäude wirbt für »Kreative Workspaces«, man kann sie mieten. Ein karg dekoriertes Café verkauft zwischen Backsteinwänden Prosciutto-Feigen-Sandwiches an eine verschlafene Yuppie-Klientel in Turnschuhen.

Gegenüber: Der Eingang zum Konzerngebäude von Amazon. com. Das ist der größte Onlinebuchhändler der Welt, den man aber nicht mehr so nennen sollte. Amazon verkauft längst nicht mehr nur Bücher, sondern auch Filme, Musik, Autoteile, Elektronik, Medizin, Kleidung und überhaupt so ziemlich alles, was in den Häfen der Welt angelandet wird. »Willkommen, Amazonier«, steht auf dem Schild. Blanke Glühbirnen hängen im Empfangssaal herab, ein Zeichen sowohl für rauen Chic wie für Sparsamkeit. Man sitzt auf Hartschaumwürfeln in schwarz und rot, bis das vereinbarte Treffen beginnt.

Es geht bei dem Gespräch um ein wenig bekanntes Vorhaben von Amazon: Der Großhandelskonzern will nebenbei auch noch eine Revolution der Weltwirtschaft auslösen. Er möchte sich selber zum Knotenpunkt einer neuen Ära der Globalisierung machen, die noch flexibler und noch profitabler ist, als die Turboglobalisierung es je war.

Es geht darum, dass ohne eine effiziente Datenverwaltung, ohne die gewaltige Rechenleistung in Computerzentralen, nichts mehr geht in der heutigen Wirtschaft. Manche Großkonzerne, die sehr viel mit Daten umgehen, zum Beispiel Versicherungen oder Internetprovider oder Supermarktketten mit ihrem aus aller Welt herangeschafften Warenangebot, unterhalten heute wahre Monster von Rechenzentren – mit eigenen Kraftwerken, Kühlanlagen, Transformatoren, Wasserkreisläufen. Digitale Heiligtümer. Zentrale Quelle des Geschäftserfolges. Für viele Unternehmen Existenzgrundlage.

Die Sache ist aber auch sehr teuer. Bei Amazon sagen sie deshalb, so ein Rechenzentrum zu betreiben, das sei für viele Firmen viel zu teuer und unflexibel und obendrein noch schädlich für die Umwelt. Amazon, das selber gigantische Rechenzentralen an größtenteils geheimen Orten betreibt (siehe Kapitel 5), hat deshalb seinen neuen Dienst begründet: AWS. Amazon Web Services. Jeder Unternehmer und überhaupt jeder Mensch mit einer Kreditkarte kann heutzutage Rechenleistung und Speicherplatz bei Amazon anmieten. Vom Speicherplatz, der auf einer kleinen Festplatte unterzubringen wäre, bis hin zum Supercomputer à la NASA oder einem Rechenzentrum, das für Großkonzerne ausreicht.

Mit anderen Worten: Amazon stellt die Knotenpunkte der neuen Wirtschaftsordnung bereit – schlüsselfertig und zum Mieten. Die Sache ist schon heute ein Erfolg. Amazon berichtet, dass der neue Geschäftsbereich explosionsartig wachse. »Hunderttausende von Kunden«, und Analysten schätzen den Umsatz mit diesen Diensten auf 750 Millionen Dollar im Jahr, mit rasant steigender Tendenz. Eine ganze Reihe bekannter Unternehmen käme ohne die Dienste von AWS nicht mehr aus: Dazu gehört die in den USA beliebte Videoverleihfirma Netflix, bei der man Filme leihen kann, die das Unternehmen dann bei Bedarf übers Internet ins Wohnzimmer beamt. Washingtoner Behörden nutzen die virtuellen Großrechner von Amazon. Biotech-Firmen, die für die Entschlüsselung von DNA-Sequenzen sehr viel Rechenpower benötigen, sind dabei. Wall-Street-Banken, die auf den Servern von Amazon ihre gesamten Kundendaten ablegen. Die spanische Bankengruppe Bankinter und der Telefontechniklieferant Ericsson, die britische Guardian-Mediengruppe und die European Space Agency (ESA). Und Hunderte kleiner Internetstartupfirmen vom Silicon Valley bis Berlin.

»Dreißig bis vierzig Jahre lang hat die Menschheit ihre Informationsverarbeitung nach dem immer gleichen Modell erledigt«, sagt Adam Selipsky, der bei AWS für das Produktmanagement zuständig ist. »Jetzt entsteht ein ziemlich radikal neues Modell.«

Selipsky hat dunkle schwarze Locken, holt beim Sprechen weit mit beiden Armen aus und trägt ein reichlich irritierendes Hemd aus lauter unterschiedlichen blauen und blauschwarzen Streifen. Wahrscheinlich fällt das nur deshalb so ins Auge, weil es in dem kargen Konferenzraum sonst nichts anzuschauen gibt. Man sitzt an einem endlos langen Tisch, fast leer, auf dem unerklärlicherweise eine Kiste Kleenex und ein Stück Seife stehen. Am anderen Ende sitzt Kay Kinton, die Pressesprecherin, und tippt abwesend in ihr Blackberry. Auf dem Tisch steht außerdem noch ein Ufo-förmiges Telefon. Das Ding wird eingeschaltet, und am anderen Ende meldet sich Stephen Schmidt, ein wichtiger Mann bei AWS. Er ist der Chief Information Security Officer, also zuständig dafür, dass die vielen Kundendaten auf den Amazon-Computern sicher abgelegt und nicht ausgespäht werden können. Schmidt war früher einmal beim FBI.

Aber erstmal redet Silipsky einfach weiter. Warum sich Firmen darauf einlassen, anderen Leuten die Kontrolle über ihre Daten und ihre Rechner zu übergeben? »Weil wir IT-Manager in Helden verwandeln können«, sagt Selipsky. »Mit unserer Hilfe schaffen sie mehr Leistung mit weniger Aufwand. Einer unserer Kunden ist eine große Chemiefirma. Wenn deren Forscher früher kamen und sagten, wir wollen einen Supercomputer für ein paar Tests, dann sagten die: In zehn Wochen habt ihr ihn. Und heute? Da sagen sie: Klar – in zehn Minuten habt ihr ihn!«

Und das soll zuverlässig funktionieren? Stephen Schmidt ist dran. Er räuspert sich, beziehungsweise das Ufo auf der Tischplatte räuspert sich, und seine Stimme sagt aus dem Lautsprecher: »Die Leute verlagern ihre Daten zu Amazon, weil es bei uns sicherer ist als auf den Servern im eigenen Unternehmen. « Durchs Telefon hält er einen Vortrag über API-Calls, kryptografisch sichere Prozesse, ISO-Sicherheitsnormen und verschlüsselte Tunnel. Als der Reporter zugibt, dass er davon jetzt nur ein paar Prozent verstanden hat, lachen alle herzlich. Die Pressesprecherin sagt, dass es ihnen hier auch immer so gehe, wenn Stephen redet, aber das ist natürlich ein Scherz. »Katastrophale Ausfälle sind immer möglich«, gibt Schmidt zum Ende des Gespräches zu. Wie überall, nicht nur bei Amazons Datendiensten. Aber solche Ausfälle seien extrem, extrem, extrem unwahrscheinlich.

All das könnte ein reines Spezialthema für Computerfreaks sein, wenn nicht ein solch gewaltiges ökonomisches Versprechen dahinterstünde. Neben Amazon versuchen auch Google, Microsoft und IBM mit schwerelosen Datencentern ganz groß ins Geschäft zu kommen. Und längst nicht nur in Amerika: Im Herbst 2010 startete Microsoft auch in Deutschland seine »Go Cloud-Initiative für die deutsche IT-Industrie«, und ein Mitglied der deutschen Microsoft-Geschäftsführung erklärte: »Deutsche Unternehmen stehen heute nicht mehr vor der Frage, ob sie das nutzen, sondern wie und in welchem Umfang.«

Das Versprechen besteht nicht einfach darin, ein paar Kosten zu sparen, weil ausgelagerte Computerdienstleistungen billiger sind. Das Versprechen besteht tatsächlich in einer neuen Art zu wirtschaften.

Der Traum, den Amazon & Co. verkaufen, lautet: Neue Knotenpunkte der Weltwirtschaft, ja komplett neue Arten, Geschäfte zu betreiben, könnten über Nacht entstehen. Man erfindet einen neuen Service und kann ihn blitzschnell im großen Stil auf der ganzen Welt anbieten. Rechenleistung? Kein Problem. Wenn die Sache ein Erfolg wird, genügen ein paar Klicks auf der AWS-Webseite, und man besitzt die zehnfache Menge virtueller Computer, bei Bedarf gleich in mehreren Kontinenten. Wenn die Sache scheitert, bestellt man die virtuellen Computer wieder ab.

Einfach mal probieren: Die neue Experimentierwirtschaft

Es ist noch gar nicht so lange her, da verkündeten ernst zu nehmende Wirtschaftswissenschaftler: Die ganze Flut von Computern und Unternehmensnetzwerken bringt der Wirtschaft unterm Strich überhaupt nichts.

Mitten im euphorischen Internetboom der neunziger Jahre verkündeten diese Herrschaften solche sauertöpfischen Thesen. Sie mochten nicht an die Verheißungen einer »New Economy« glauben. Angefangen hatte Robert Solow, der große amerikanische Wachstumstheoretiker, indem er bereits ganz früh im Jahre 1987 das »Solow-Paradox« aufstellte: Warum waren neuerdings überall Computer zu sehen, »bloß nicht in den Produktivitätsstatistiken«? Studien kamen zu dem Ergebnis, dass diese Kisten und Drahtgeflechte für das Bruttoinlandsprodukt unterm Strich eher nutzlos seien.

Das hat sich aber tüchtig geändert. Kein ernst zu nehmender Ökonom zweifelt heute noch an den segensreichen Wirkungen des Internet. Heutzutage weisen die ökonomischen Studien nach, dass Unternehmen und ihre Angestellten mehr schaffen als je zuvor, wenn ihnen Computer und das Netz dabei helfen – besonders in Wirtschaftsbereichen, wo viele Informationen verarbeitet werden. Angebot und Nachfrage kommen besser zueinander, ob am Markt für Produkte oder am Markt für Fachkräfte. Zeit wird gespart, Kosten sinken. Es hat nur alles ein bisschen gedauert.

Aber jetzt? Wie geht es weiter? Was kommt als Nächstes?

Spekulieren kann man ja viel, aber der MIT-Ökonom Erik Brynjolfsson glaubt, dass er eine ganz grundlegende Antwort auf diese Frage gefunden hat. Eine unerhört optimistische Antwort gar: Nach Jahrhunderten der technischen Innovation sei die Menschheit gerade auf dem Sprung, das Erfinden und Erneuern selber zu automatisieren.

»Soll man Innovation auf Steroiden sagen?«, fragt sich der Professor. Solle man lieber »Innovation in Warpgeschwindigkeit« sagen? Ob »die Innovation rapider Innovation« wohl ein Wort sei, das den Leuten etwas sage? Man muss gleich hinzufügen, dass Brynjolfsson sonst überhaupt nicht so überschwänglich redet. Es hat ihn nur ziemlich schwer erwischt.

»Innovation, die früher Monate dauerte und riesige Budgets verschlang, kann jetzt manchmal in ein paar Sekunden gestartet werden und nur ein paar Cent kosten«, will Brynjolfsson festgestellt haben. Neue Produkte, neue Geschäftsmodelle, neue Weltsichten kämen mit einer Geschwindigkeit in die Welt, wie sie die Menschheit noch nie erlebt habe. »Die nächste Dekade der Innovationen am globalen Markt wird noch tumultartiger verlaufen als die letzte«, sagt Brynjolfsson. Vor allem werde sie uns viel, viel wohlhabender machen.

Es gibt wirklich tausende solcher Beispiele. Durch computergestütztes Herumprobieren wird Neues entdeckt. Probierverfahren machen es möglich, ein komplett neuartiges Produkt oder eine völlig neue Dienstleistung zu testen und in den Markt einzuführen. David Newkirk, der frühere Chef der internationalen Unternehmensberatungsfirma Booz Allen Hamilton, sagt: »Die allgegenwärtige Verbindung mit dem Internet hat eine wahre Flut von Experimenten mit Business-Modellen beginnen lassen.« Man könne jetzt ganz neue Arten von Geschäften oder Business-Konzepten ausprobieren.

Im Silicon Valley reden sie vom Modell des »Instant Entrepreneurs«. Das kommt den Vorstellungen des MIT-Professors ziemlich nahe: Gemeint ist der Macher in einem Heimbüro oder einer Garage oder auch in einem Konzern, der eine zündende Idee entwickelt oder aufschnappt – und dann einfach mal ausprobiert. Es ist in Mode gekommen, diese Kurzentschlossenheit mit der Kultur zu erklären. Die Kalifornier machten so etwas eben. Im Silicon Valley liege das in der Luft. So viele Erfolgsgeschichten, so viele Vorbilder.

Doch eine andere Erklärung ist, dass wir diese Art der Innovation in einem Hightech-Paradies als erstes beobachten, weil techniknahe Menschen eben auch die neue, technikgestützte Kunst des Erneuerns als erste nutzen. Großer Kapitalaufwand ist für Unternehmen dieser Branchen gar nicht nötig, häufig sind die Produkte nicht einmal etwas zum Anfassen, sondern Software. Also kann man auf die Schnelle ein Unternehmen gründen und etwas ausprobieren. Ein Büro zu mieten und Computer und Pizza hineinzustellen und ein paar Programmierer mit Versprechen auf Firmenanteile bei Laune zu halten – das kostet nicht so viel. Neuerdings braucht man ja nicht einmal mehr ein Rechenzentrum, weil Amazon welche vermietet.

Die Internetwirtschaft ist für solches Probieren auch deshalb gut geeignet, weil ein Unternehmer schnell erfahren kann, ob die Sache bei den Kunden gut ankommt oder nicht. Bei Dienstleistungen im Internet fällt es meistens leicht, Ergebnisse zu kontrollieren. Man kann den Zuspruch der Kunden genau messen, und ihre Ablehnung ebenso.

Und was wird probiert?

Zum Beispiel neue Verkaufsmethoden. Für einige Zeit war es im Silicon Valley groß in Mode, Produkte von Kleidern bis zu Reisen in ausgetüftelten Auktionsverfahren übers Internet zu verkaufen – und dann zu schauen, wann das den Kunden den meisten Spaß machte, wann es die größten Umsätze brachte. Und wer hätte gedacht, dass internetorganisierte Gruppenkäufe, wie sie die Firma Groupon im Netz organisiert, innerhalb weniger Monate zu einem weltweiten Massenphänomen würden und die Erfinder Milliardäre?

Oder persönlich zugeschnittene Dienstleistungen. Internet-Entrepreneure finden ständig neue Tricks, alle möglichen Nischenmärkte zu befriedigen, von seltenen antiquarischen Büchern bis hin zum am Bildschirm selbstgemischten Müsli. Auch hier ist das Ausprobieren der beste Weg, ein erfolgreiches Geschäft aufzubauen.

Konkret? Vielleicht ist der Suchmaschinen-Konzern Google das ultimative Beispiel für Innovation durch Experimente. Google war von Beginn an bei seinen Benutzern beliebt, weil zwei kalifornische Studenten eine nützliche Dienstleistung entwickelt hatten: eine besonders gut funktionierende Suchmaschine für das Netz. Ein gutes Geschäft war das aber nicht. Die Google-Gründer Sergey Brin und Larry Page boten die Dienste ihrer Suchmaschine kostenlos an und hatten nicht den leisesten Schimmer, wie sie mit ihrem Unternehmen Geld verdienen sollten. Jahrelang brachten sie stattdessen das Geld ihrer frühen Investoren durch. Aber sie experimentierten nebenbei auch – mit allen erdenklichen Zusatzangeboten.

Google wäre niemals zum Konzerngiganten mit einem Börsenwert von 160 Milliarden Dollar geworden, wenn seine Macher – neben zahllosen anderen Dingen – nicht irgendwann eine exzentrische, neuartige Werbeform für das Netz ausprobiert hätten: kleine Textanzeigen am Seitenrand, unauffällig und alles andere als marktschreierisch, die möglichst gut auf die Inhalte der gerade angeschauten Internetseiten und zu den Interessen des jeweiligen Internetsurfers passen sollten. Geld nimmt Google von seinen Anzeigenkunden nur, wenn ein Besucher der Seite auf die Anzeige »klickt«. Die zahlenden Inserenten können sogar selber laufend nachprüfen, wie viele Leute ihre Inserate anschauen und wie häufig darauf geklickt wird.

So wie die Google Boys hatte noch niemand zuvor über Werbung nachgedacht. Aber es hat funktioniert, und so haben sie weitergemacht und sind Multimilliardäre geworden. Und wenn man genau hinschaut, haben es die anderen Internetriesen der Stunde – die soziale Netzwerkseite Facebook, die schließlich von Microsoft übernommene Internettelefongesellschaft Skype, der Business-Kontaktdienst LinkedIn, die Rabattaktions-Zentrale Groupon – mit ihren sich ständig wandelnden Angeboten und Geschäftsmodellen ganz ähnlich getrieben.

Unternehmen ohne Grenzen

Eine Masse von Computern und Computerprogrammen wirkt da zusammen, verbunden über das Internet, und was entsteht, ist eine neue Wirtschaft. Langsam, aber scheinbar unaufhaltsam.

Es liegt in der Natur solcher Neuerungen, dass man ihre Konturen nicht recht erkennen kann, wenn man gerade darin steckt. Adam Smith zum Beispiel, als er 1776 seinen »Wohlstand der Nationen« veröffentlichte und darin die moderne Volkswirtschaftslehre begründete, hatte nicht die geringste Vorstellung davon, dass draußen im Lande gerade die industrielle Revolution begonnen hatte.

Immerhin: Diesmal versuchen sich einige Forscher daran, vorab ein Bild des neuen Zeitalters zu malen. Shoshana Zuboff ist eine von ihnen, eine emeritierte Professorin der Betriebswirtschaftslehre von der Harvard Business School. Sie hat ein Leben lang über die Informationsrevolution geforscht, über die Rolle von Computern im Leben der Menschen und schon vor Jahrzehnten Bücher geschrieben wie »Das Zeitalter der schlauen Maschine«.

Zuboff hat ein Wort gefunden, um die neuen Entwicklungen dieser Tage zusammenzufassen: »Distributed Capitalism. « Verteilter Kapitalismus. »Produktion und Konsum werden zunehmend von verteilten Gütern, verteilten Informationen, verteilten Sozial- und Managementsystemen abhängen«, glaubt die Professorin. Wegen der ganzen neuen Technik. Zuboff spricht da unter anderem ganz konkret von den vielen iPhone-Telefonen und iPad-Tablettcomputern und Blackberrys und sonstigen mobilen Geräten in der Hand von Managern, Wissensarbeitern und Verbrauchern. Nie zuvor hätten die einzelnen Wirtschaftssubjekte so verzögerungsfrei, so umfangreich miteinander kommunizieren können – egal ob sie nun in einem einzigen Konzern zusammen sitzen oder in verschiedenen Unternehmen auf ganz unterschiedlichen Kontinenten.

Okay: Das klingt noch etwas wolkig. Wie es sich für große Visionen gehört. Doch wenn man genauer auf die Wirtschaft des Jahres 2011 schaut, wird die Sache vielerorts bereits konkret. Da hängen Arbeitsplätze dran. Investorengelder. Chefkarrieren.

Eine konkrete Folge: Die direkte Rücksprache der Unternehmen mit ihren Kunden nimmt zu. Sie ist ja neuerdings technisch möglich, also wird das auch genutzt. »Man fragt (als Unternehmer) künftig nicht mehr: Was haben wir anzubieten, das wir Ihnen verkaufen könnten? Man fragt zuerst: Wer sind Sie? Was brauchen Sie? Wie können wir helfen?«, glaubt Zuboff. Mit anderen Worten: In dieser nächsten Phase der globalen Wirtschaft reden Konsumenten und Geschäftspartner zunehmend den Produktentwicklern in ihre Arbeit hinein.

Eine weitere konkrete Folge: Auch Mitarbeiter, das fordern viele Unternehmensberater unter Verweis auf die ganze neue Technik, könnten jetzt über die Hierarchiegrenzen und Fachbereiche hinweg mehr miteinander reden und gemeinsam neue Ideen ausbrüten. Als wäre das nicht genug, umgeben sich Unternehmen auch noch mit einen Dickicht von Zulieferbetrieben und Beratungsfirmen und spezialisierten Einzelkämpfern, die alle zusammen irgendwie erfolgreich wirtschaften sollen. »Föderationen« von Unternehmen tun sich zusammen, um sich an Ausschreibungen zu beteiligen oder um branchenweite Großprojekte wie einen neuen Videodisk-Standard gemeinsam zu entwickeln. Beim nächsten Projekt gibt es dann wieder eine Föderation, in anderer Zusammensetzung.

Niemand weiß unter diesen Umständen noch genau zu sagen, wo die Grenzen eines Unternehmens verlaufen, wer drinnen ist und wer draußen. Zu den traditionellen Angestellten stößt eine wachsende Schar Kollegen, die freie Mitarbeiter, Berater und Mitarbeiter anderer Firmen sind, mit denen man aber gerade projektweise zusammenarbeitet. Nur einen Teil dieser bunt zusammengewürfelten Gesamtbelegschaft findet man allerdings im Büro beziehungsweise an der Werkstraße. Ein anderer Teil sitzt irgendwo vor einem Bildschirm im Heimbüro oder am Flughafen oder in Peking oder im Starbucks um die Ecke, mischt sich aber ständig per E-Mail und Videokonferenz und Telefon ein. Und richtig: Weil in dieser neuen Wirtschaft so viel experimentiert wird, kommt es häufig vor, dass die Teams über Nacht neu zusammengesetzt werden.

Wer, um alles in der Welt, soll da den Überblick bewahren? Die Antwort lautet auch hier: die Technik. Das Internet, Mobilcomputer und Mobiltelefone erlauben die Kommunikation der vielen Beschäftigten miteinander, auch wenn sich die Unternehmensstrukturen und der Aufenthaltsort der einzelnen Teammitglieder laufend ändern. Sie schaffen also insofern Ordnung, als es egal ist, wo sich die jeweilige Person gerade befindet. Natürlich reicht das alleine nicht. Und so lautet die andere Antwort:

Nun, wir suchen gerade nach einer.

Unternehmen, Berater und Technikfirmen haben in der vergangenen Dekade fieberhaft nach neuen Wegen gefahndet, viele unterschiedliche Projektbeteiligte miteinander kommunizieren zu lassen, ohne dass sie in der Datenflut ertrinken. Blogs waren eine frühe Antwort: Webseiten einzelner Experten, Mitarbeiter, Partner oder Berater, auf denen sich die Kollegen darüber informieren konnten, was anderen Kollegen so in den Sinn kam. Wikis waren eine andere Antwort: Webseiten innerhalb von Konzernen oder für die große Öffentlichkeit, gleichzeitig gestaltet und ständig aktualisiert von einer ganzen Gruppe relevanter Leute, zum Zweck der gegenseitigen Informierung. Amerikanische Konzerne probierten sogar Systeme aus, die automatisch die Festplatten der Beschäftigten auf nützliche Informationen durchforsteten und ebenso automatisch nach geeigneten Empfängern für diese Infos im Konzern suchten – das allerdings ist in Europa aus Datenschutzgründen verboten. Der große Durchbruch war all das noch nicht.

Einige Firmen bieten inzwischen sogenannte »Business-Rule-Management-Systeme« an: eine Art computerbewachter Organisationsstruktur, die in den neuartigen, zersplitterten Unternehmungen dieser Tage die richtigen Leute über die richtigen Dinge zu informieren versucht. Der Computer im Hintergrund kann darüber wachen, dass die Mitarbeiter in der einen Unternehmensabteilung auch Kundendaten aus einem völlig anderen Unternehmensbereich bekommen, wenn diese plötzlich für ihre Arbeit relevant werden. Der Computer weiß auch, dass beim Handel mit bestimmten Wertpapieren im Unternehmen bestimmte Gesetze eingehalten werden müssen und warnt die frisch dazugestoßenen Mitarbeiter oder Partner weit draußen im Unternehmensverbund, wenn sie dagegen zu verstoßen drohen. Der Computer im Hintergrund sortiert Terminkalender, Leistungsziele für einzelne Mitarbeiter und Hotelbuchungen um, wenn plötzlich ein harscher Wintereinbruch kommt und am Flughafen eines wichtigen Standortes keine Flugzeuge mehr abheben können.

Das ist immerhin eine Idee: Der Computer übernimmt die Kontrolle über die Datenflut – und darüber, was die einzelnen Mitarbeiter bitteschön machen sollen. Kürzlich hat der Computerriese IBM die französische ILOG-Gruppe übernommen, einen Pionier für »Business-Rule-Management-Systeme«. Der ILOG-Gründer Pierre Haren hat mehrfach erklärt, dass seine Erfindung »das Äquivalent der industriellen Revolution für Büroarbeiter« sei. Mal sehen.

Was auf jeden Fall schon eingetreten ist, ist eine andere, sehr viel weniger wünschenswerte Veränderung: Weil neuerdings alle mit ihren neuartigen Geräten mit neu kennengelernten Businesspartnern reden, schwappt eine gewaltige Datenflug durch die Welt der Wirtschaft, mitsamt Geschäftsgeheimnissen, Kreditkarteninfos, persönlichen Daten, Blaupausen und Nachrichten.

Durchs Internet. Mit wenig ausgereifter Technik. Über Firmengrenzen hinweg, weil das ja neuerdings so gewollt ist. Ziemlich offen und ziemlich ungeschützt.

In den besten Händen? Die Jagd auf heiße Daten

Es gibt Leute, die legen überdurchschnittlich viel Wert auf Datenschutz. Sie wollen ihre Daten auf Computern und im Internet vor fremden Spähern schützen, koste es, was es wolle. Wenn man sich in der Szene der Hacker und Krypto-Experten danach umhört, wie man so etwas am besten schafft, fällt nach einiger Zeit ein Name: Venkat. Das ist nur ein Vorname. Ein Nachname ist nicht zu erfahren, und wer weiß schon, ob »Venkat« der richtige Name ist.

Venkat unterhält eine Webseite, auf der merkwürdige Dinge stehen: »Wenn Sie uns als Vertreter einer Strafvollzugsbehörde kontaktieren sollten, geben Sie uns bitte Ihren vollen Namen, Ihren von der Regierung ausgestellten Ausweis, Ihre Polizeimarke, Kontaktinformationen über Sie selber und Ihre Abteilung und eine notariell beglaubigte beeidigte Erklärung darüber, dass Sie die vollen Kosten für eventuelle geschäftsschädigende Folgen Ihres Auskunftsersuchens tragen, sowie Beweise für jedwede Beschuldigung, die Sie erheben.«

Vor allem aber stehen auf dieser Webseite lauter Angebote für Leute, die es richtig ernst damit meinen, dass sie ihre Daten geheim halten wollen. »Als Unternehmer brauchen Sie sichere Kommunikationswege für sich selber und für Ihre Belegschaft, die Flexibilität, von irgendwo auf der Welt zu arbeiten, ... sichere Anrufe zu Ihren Mitarbeitern und sicheren Text-Chat, ... ein sicheres internes Firmennetzwerk, um Ihre Daten und Ihre Webseite zu schützen und eine Methode, Ihr Firmenkapital in Gold zu sichern. Sie brauchen das – und wir liefern das.«

Die Dienstleistungen im Einzelnen: Telefone zum verschlüsselten Telefonieren, wobei angeblich nicht einmal die Geheimdienste der Welt mitlauschen können. Computerserver draußen im Netz, auf denen man seine Daten verschlüsselt ablegen kann, und die angeblich sogar massiven Angriffen organisierter osteuropäischer Banden standhalten können. Ein von Venkat und seinen Leuten maßgefertigtes Laptop, das »Crypto Toughbook«, das sicher ist vor Regen, Eis, Pfefferspray, Stürzen und Gewehrschüssen, und das außerdem sämtliche Daten ganz extrem verschlüsselt. Allein das Softwarepaket für dieses Ding kostet über 3000 Euro. Venkat wirbt damit, dass die Rechner auch »uniformierten Schlägertypen« standhalten, was böswillige Leser als eine unfreundliche Umschreibung für Polizisten verstehen könnten.

Beim Besuch dieser Webseite und im Gespräch mit dem wortkargen Venkat – der eine Geschäftsadresse in der Schweiz angibt, Wurzeln in New York hat, aber über eine Telefonnummer in Panama erreichbar ist – bekommt man keinen ganz klaren Eindruck: Entweder blickt man da in das Hirn eines paranoiden Wahnsinnigen, der zu viel Zeit vor einem Rechner verbracht hat – oder Venkat beliefert irgendwelche James-Bond-Typen oder internationale Verbrecher. Eine Kundenschar, die eine ganze Menge zu verbergen hat.

In der normalen Geschäftswelt ist so etwas natürlich keine Praxis. Das ist ja auch nicht nötig, oder?

Man muss in diesem Fall zugeben: Leser der Wirtschaftswoche wissen mehr. Seit 2007. Das Wirtschaftsmagazin aus Düsseldorf machte sich damals einen (bitteren) Spaß daraus, den Computersicherheitsexperten Nils Magnus in den ICE von Köln nach Frankfurt zu setzen, in die Business-Lounge am Frankfurter Flughafen, in das Foyer des Berliner Hotels Adlon und so weiter. Magnus ist auf Datenjagd, und seine Opfer sind unbedarfte deutsche Manager.

Bewaffnet mit einem Laptop und einem Satz öffentlich zugänglicher Spionageprogramme, die jeder gute Hacker bei sich führt, drang Magnus damals publikumswirksam und beunruhigend in die Rechner, Handys und Blackberrys reisender Geschäftsleute ein. Er stieß auf die unterschriftsreifen Verträge des Vorstands eines Maschinenbau-Unternehmens. Die Privatfotos und den E-Mail-Verkehr eines deutschen Topmanagers aus der Mobilfunkbranche. Und so weiter. »Der technische Aufwand ist gering«, hat der gemietete Hacker damals den Journalisten erzählt. Jedenfalls erscheint Venkat plötzlich gar nicht mehr verrückt. Die Daten, von denen das Wohlergehen von Unternehmen und der ganzen Wirtschaft zunehmend abhängt, können offenbar ziemlich leicht abhanden kommen.

Behörden wie das Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln und das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik in Bonn, Selbsthilfeorganisationen wie die Arbeitsgemeinschaft für Sicherheit der Wirtschaft und private Sicherheitsfirmen mahnen von Jahr zu Jahr: Deutsche sichern ihre Computer nicht genug. Sie veranstalten Erweckungsseminare zur Sicherheitstechnik, die zum Beispiel »IT-Grundschutztag« heißen, die sich um die »Abwehr von Cyberrisiken für Unternehmen« drehen oder »Schlüsseltechnologien vor Spionage schützen«.

Dummerweise gibt es quasi keine verlässlichen Zahlen darüber, in welchem Umfang deutsche Unternehmen von solchen Hackern ausgespäht werden. Wenn so etwas passiert und es auch noch jemand bemerkt, dann meldet man es selten der Polizei und erst recht nicht dem Statistischen Bundesamt.

Also muss man sich auf das große Raunen verlassen: Auf die Leute aus der Sicherheitsindustrie, die natürlich ihre Sicherheits-Lösungen zu verkaufen haben; auf Background-Briefings beim Bundesverfassungsschutz, wo man allerdings als Journalist vor dem Eintritt unterschreibt, dass man nichts darüber berichten werde; auf anekdotische Leidensgeschichten bestohlener Unternehmer und Triumphmeldungen von Hackern aus dem Untergrund. Umfragen, wenn anonym erhoben, sind ebenfalls interessant: So meldete das unabhängig forschende Ponemon Institute im amerikanischen Michigan, dass 83 Prozent aller befragten multinationalen Unternehmen »in den vergangenen zwölf Monaten« Opfer einer Cyberattacke geworden seien.

Trotzdem ergibt sich ein ungefähres Bild. Alex Gostev, der Chefsicherheitsexperte bei der russischen Antivirenfirma Kaspersky, fasst es ganz gut zusammen: »Insgesamt wenden sich Attacken immer häufiger gegen Unternehmen anstatt gegen Privatpersonen«, sagt er im Gespräch. »Die Onlinekriminellen sind sich zunehmend des Werts sensibler Informationen bewusst, und die Summen, die potenziell am Diebstahl solcher Daten zu verdienen sind, machen das Ganze nur noch attraktiver.« Zugleich sind viele Unternehmen – in Deutschland und auf der Welt – inzwischen aufgewacht und sichern ihre Computersysteme sowie die tragbaren Geräte ihrer Mitarbeiter besser denn je. »Unternehmen stehen vor einer hartnäckigen, technisch hochstehenden Bedrohung«, sagt Mark Goudie, ein Sicherheitsbeauftragter beim amerikanischen Telekom-Konzern Verizon, der Anfang 2011 gemeinsam mit dem amerikanischen Secret Service die wohl größte Auswertung von Hacker-Attacken auf Unternehmen durchgeführt hat. Hunderte solcher Angriffe hat sein Team untersucht. Ergebnis: Die Zahl der Angriffsversuche steigt, die Zahl der erfolgreichen Angriffe ist aber gesunken – was dafür sprechen könnte, dass etliche Unternehmen bessere Sicherheitsvorkehrungen treffen. Oder aber, dass sie die Einbrüche gar nicht mehr bemerken.

Das Innovationstempo ist schnell. Ein schon 2009 in den USA erschienenes Buch namens »Hacking«, das eigentlich zur Aufklärung von drei ausgewiesenen Sicherheitsexperten geschrieben wurde, liest sich wie eine Schritt-für-Schritt-Anleitung zum Eindringen in Unternehmen – und das Erschreckende ist, wie leicht man das nachmachen könnte. Die beliebtesten Tricks: Unternehmen hacken, indem man die Laptops von Mitarbeitern unter Kontrolle bringt, die gerade zum Kaffeetrinken in einem Starbucks sitzen und über WLAN im Internet surfen. Oder abends im Hotel über das Hotelnetzwerk. Das Ausspähen sozialer Netzwerke, etwa privater Facebook-Einträge, um sich das Vertrauen von Schlüsselpersonen in Betrieben zu erschleichen oder um ganz gezielte, aber mit Viren infizierte E-Mails zu schicken.

Und auch hier ist das Problem ein Vertrautes: Ein wirklich Hacker-sicheres System hat noch niemand entwickelt. Es gibt auch keinen ernst zu nehmenden Experten, der behauptet, man könne das Katz-und-Maus-Rennen jemals mit technischen Mitteln beenden. Zumindest nicht, solange man es mit dem Internet zu tun hat.

Wird schon klappen! Oder: Die größte Wette der Welt

Und lange Zeit konnte man mit gewissem Recht einwenden: Na und? Die Schäden durch Datenklau und Datenverluste waren in aller Regel überschaubar.

Doch das ändert sich in einer Wirtschaftswelt, die immer mehr auf Daten und Computer setzt. Es ist eine Überlebensfrage für Unternehmen, bei denen der Inhalt bestimmter Festplatten das größte oder einzige Kapital darstellt. Sie sind längst da: Die Fälle, in denen Unternehmen schließen mussten, weil jemand sie übers Internet hereingelegt hatte.

Der Sicherheitsberater Götz Schartner aus Neustadt berichtet von einem ehemaligen Kunden, einem deutschen Steuerberater. Der hätte eines Tages eine Drohung, verbunden mit einer gewaltigen Geldforderung, in einer E-Mail gefunden: Wenn er nicht zahle, würden die Steuerdaten aller seiner Kunden im World Wide Web veröffentlicht, sichtbar für die ganze Welt. Der Mann hat gezahlt. Vorher, so berichtet es Schartner, hätte er die offenbar argentinischen Hacker noch gefragt: Wer garantiert mir, dass ihr nicht weiter hackt, wenn ich zahle? »Daraufhin bekam er dann eine Liste anderer gehackter Steuerberater zugeschickt«, sagt Schartner. »Referenzen sozusagen, bei denen er sich über die Verlässlichkeit seiner Erpresser hätte informieren können.«

Im Mai 2011 wurde ein britische Hacker namens »Colonel Root« zu 400 Stunden Sozialarbeit verurteilt, was manchen Beobachtern als eine ziemlich milde Strafe erschien: Er hatte nämlich ein Unternehmen in den Ruin getrieben. 2009 stürmten Polizisten die Wohnung des 19-Jährigen im englischen Brighton. Sie wiesen nach, dass er hinter dem selbstgewählten Onlinehandel »Colonel Root« steckte, der sich ganz willkürlich 2009 eine Internetdienstleistungsfirma namens »Punkyhosting« herausgegriffen hatte, um sie zu drangsalieren. So wurden Besucher der Webseiten von Kirchen – Kunden jener Dienstleistungsfirma – automatisch auf pornografische Angebote umgelenkt, und es gab derlei Jugendspäße mehr – an denen die Firma schließlich zerbrach. Die Polizei fand damals auch Hinweise auf tausende gestohlene Kreditkartendaten bei dem jungen Mann und seinem mitverhafteten 18-jährigen Kollegen.

In den Polizeistatistiken gibt es hunderte solcher Ereignisse, und das BKA vermutet, dass die Dunkelziffer riesengroß sei. Existenzgefährdende Hackerangriffe sind auch nicht auf kleine Unternehmen beschränkt. Im April 2011 wurde ein Netzwerk der Firma Sony gehackt, das die »Playstation«-Spielecomputer der Firma übers Internet miteinander verband und wo auch Kundendaten, einschließlich der Kreditkarteninformationen von mehr als 100 Millionen Sony-Kunden, abgelegt waren. Ein »technisch extrem gut vorbereiteter Angriff« sei das gewesen, erklärte Sony, wohingegen man in Hackerkreisen über das »Unterlassen ganz grundlegender Sicherheitsvorkehrungen« bei Sony lästerte.

Jedenfalls blieb das Playstation-Network in der Folge wochenlang abgeschaltet, etliche Sony-Spiele waren damit unbenutzbar, und Banken rieten ihren Kunden: Wenn sie ihre Kreditkarteninformationen jemals in diesem Netzwerk eingegeben hätten, sollten sie wohl sicherheitshalber neue Karten anfordern. Sony-Chef Howard Stringer musste sich öffentlich entschuldigen, und er erklärte gegenüber dem Wall Street Journal, vielleicht sei im Internet sowieso niemand »zu 100 Prozent sicher«. Der Reputationsschaden war gewaltig. Es könnte Sammelklagen auf Schadenersatz geben.

Das öffentliche Interesse an solchen Fällen ist erwacht. Die Schlagzeilen und damit die Reputationsschäden werden größer. Besonders in den USA, wo gigantische Schadenersatzklagen üblich sind, steigt die Zahl der Prozesse gegen Firmen, die Kundendaten verloren haben. 2010 musste der Zahlungsabwickler Heartland, der 2008 etwa 130 Millionen Kredit- und Bankkartendaten verloren hatte, die sagenhafte Summe von 140 Millionen Dollar zahlen. Die Firma überlebte trotzdem. Im März 2011 traf es den Konzern Epsilon, der offenbar Millionen von Kundendaten verlor, die er im Auftrag einer ganzen Serie wohlbekannter amerikanischer Konzerne verwaltete: der Hotelkette Hilton und der Großbanken Citi und JP Morgan Chase, des Filmaufzeichnungsdienstes TiVo und des Unterhaltungskonzerns Disney, der Drogeriekette Walgreens, des TV-Verkaufskanals Home Shopping Network und vieler mehr. Ob Epsilon den Datenskandal überlebt? Zum Redaktionsschluss war es unklar.

Nachtrag

Im April 2011 ging nichts mehr im großen Datenhafen von Amazon. Ein großer Teil der Dienste von AWS fiel aus – fast vier Tage lang. Zu den betroffenen Unternehmen, bei denen in dieser Zeit alles stillstand, gehörten einige der großen Namen der amerikanischen Wirtschaft. Und auch RegierungsWebseiten wie beispielsweise die des Energieministeriums konnten nicht erreicht werden.

Amazon erklärt, dass wenigstens die Kundendaten in einer überwältigenden Mehrheit der Fälle nicht verloren gegangen seien. Der amerikanische Internetexperte Henry Blodget zitierte aber aus einer E-Mail, die AWS nach seinen Angaben einem großen Kunden hatte zukommen lassen: »Es tut uns leid, aber am Ende waren unsere Bemühungen, Ihre Daten manuell wiederherzustellen, nicht erfolgreich.… Wir entschuldigen uns für diesen Datenverlust und für jedwede Beeinträchtigung Ihrer Geschäfte.«