4. Die Mithörgesellschaft – Wie Facebook und Co. die Vertraulichkeit der Kommunikation abschaffen
Eines Abends konnten Freunde von Thomas und Sabine einen herzzerreißenden Dialog bei Facebook verfolgen:
Thomas: »Baby, biiiittte, lass uns die Sache in Ordnung bringen. «
Sabine: »Nein, ich habe es dir gesagt, es ist vorbei. Wir bleiben besser nur gute Freunde.«
Thomas: »Baby, Sabine, bitte, ich will mit dir zusammen sein.«
Sabine: »Thomas, wir waren drei Wochen zusammen … Das ist kein so großes Ding, du musst das nicht so schwer nehmen. Wir können gute Freunde bleiben.«
Thomas: »BABY, BITTE GIB MIR EINE CHANCE. ICH KANN DAS ALLES WIEDER GUT MACHEN!!!! BABY, DU SAGST VERRÜCKTE DINGE, LASS MICH RÜBERKOMMEN.«
Sabine: »Nein Thomas, wir reden morgen in der Schule.«
Thomas: »BABY, ICH BEKOMME PANIKATTACKEN!! DAS WEISST DU! ICH WILL VORBEIKOMMEN. BITTE ! ! ! !«
Sabine: »N.E.I.N. NEIN! Wir reden MORGEN!!
Thomas: »Baby, bitte, ich will vorbeikommen …«
Sabine: »NEIN! MEIN VATER IST HIER UND SAGT, DASS ES ZU SPÄT IST UND AUSSERDEM GANZ EINFACH : NEIN!!!!«
Thomas: »BABY, BITTE!«
Thomas: »GEH ANS TELEFON!!!!«
Thomas: »Baby, bitte!!«
Sabine: »Nein!«
Soziale Netzwerke haben die Welt verändert. Millionen Teenager haben entschieden, ihr Medium der Wahl seien nicht mehr Briefe oder Tagebücher. Stattdessen schreiben sie alles ins Netz, fotografieren oder kommentieren per Handy-kamera in kleinen Videospots. Die Nichtigkeiten, die Dummheiten, Liebe und Frust. Sie machen Notizen über erfahrenes Unrecht und erlebten Sex, sie sind gemein, überschwänglich, liebevoll, tränendrüsig, romantisch, verletzend, im Stakkato – und lassen in Sozialen Netzwerken andere mitlesen. In den Kreis der Mitleser aufgenommen zu werden, das geht ziemlich schnell. Dafür tauscht man eine kurze Nachricht aus. »Willst Du mein Freund sein?«, steht darin, und die andere Person klickt kurz »o.k.«, und fortgeschrittene Besucher können noch ein paar Extra-Einstellungen vornehmen, damit nicht alle alles mitlesen können. Eigentlich.
Doch auch, was die Benutzer nur mit wenigen teilen wollen, bleibt durch technisches Versagen oder durch Schnüffelei nicht mehr zuverlässig vertraulich.
Facebook, das größte und erfolgreichste Soziale Netzwerk der Welt, hat mehr als 500 Millionen aktive Mitglieder, und das Unternehmen drängt die Menschen aus Überzeugung und kühler Berechnung dazu, ein öffentlicheres Leben zu leben. Aber Facebook ist eben nicht bloß eine Plattform für den kleinen Narzissten, sondern auch eine sehr effektive Möglichkeit, um Kontakt zu vielen Menschen zu halten, vor allem zu denen, die man selten sieht. Es ist hervorragend geeignet, um sich zu organisieren, und damit hat, wenn man so will, die zweite große Phase in der Entwicklung des Sozialen Netzwerks begonnen. Politische Aktivisten in vielen Ländern Nordafrikas benutzen die Software heute ganz selbstverständlich, weil sich Informationen bei Facebook so kaskadenartig ausbreiten. Auf einmal ist Facebook ein Werkzeug für Revolutionäre. Und deshalb stellt sich, je mehr Facebook und Co. zur zentralen Kommunikationsplattform im Internet werden, die Frage: Werden Firmen wie Facebook ihrer Verantwortung gerecht?
Man muss sich die Software zunächst als weißen leeren Bildschirm vorstellen, auf dem einige Grundfunktionen festgelegt sind (Foto, Angaben zur Person, Liste der Freunde, eine Box, in der die Nachrichten von Freunden eingehen). Darüber hinaus kann ein Mitglied seine Seite mit einer persönlichen Auswahl an Funktionen anreichern: mit einer öffentlichen Pinnwand oder kleinen Computerspielen oder einem Spendenaufruf und hundert anderen Dingen mehr; man kann Gruppen bilden und Fan-Seiten gründen.
Facebook ist ein Kommunikationsmittel für jedermann geworden. Es ist die populärste, in sich geschlossene Kommunikationsplattform der Welt und steckt noch mitten in der Entwicklung, weil es so viele Arten und Weisen gibt, es zu benutzen. Die einen schreiben, anstatt zu telefonieren, die nächsten ersetzen damit einen Karteikasten, in dem sie bis dahin die Visitenkarten ihrer Geschäftspartner gespeichert haben. Wieder andere benutzen es als gemeinsame Pinnwand für die Familie, als zentralen Ort, um sich im Freundeskreis zu verabreden – oder eben um einen Diktator zu stürzen. Und damit ist das Soziale Netzwerk nicht nur zu einer riesigen Datenbank des Geschmacks und der Gefühle, sondern auch der Beziehungen und der politischen Einstellungen geworden. Im Buch The Facebook Effect beziffert der Autor David Kirkpatrick die Zahl der monatlichen Einträge und Nachrichten auf zwanzig Milliarden.
Um das Ausmaß der Entwicklung zu begreifen, hilft ein Vergleich. Derzeit haben ungefähr zwei Milliarden Menschen, das ist fast ein Drittel aller Menschen, einen Internetzugang. Und fast ein Drittel davon ist wiederum Mitglied von Facebook. Nun überträgt man dieses Größenverhältnis auf ein altes Medium, das Telefon. Dann würde praktisch jeder dritte Mensch auf der Erde, der ein Telefon besitzt, ein und dieselbe Telefongesellschaft benutzen.
Darin, dass Rechner von Facebook und vergleichbaren Unternehmen jedes Wort speichern, jedes Foto und jedes Video, liegt eine der großen Zeitbomben des Internet – wenn diese Daten nicht sicher sind. Wer Zugriff auf die Daten hat, kann alles nachlesen und zurückverfolgen. Was nicht aktiv gelöscht wird, geht nicht verloren. Nichts wird vergessen.
Inzwischen geht es also nicht mehr nur darum, ob man Menschen in die Öffentlichkeit drängen sollte, wie Facebook es tut, sondern ob solche Plattformen die Vertraulichkeit da gewährleisten, wo die Mitglieder es wollen oder existenziell brauchen. Ist die Vertraulichkeit der Kommunikation in diesen Fällen nicht gewährleistet, ist das ein Problem ersten Ranges: für politisch Andersdenkende in vielen Regionen der Welt, aber auch für jeden Bürger in den westlichen Staaten. In einer Zeit, in der Menschen mehr Freundschaften und Beziehungen, Arbeitsgemeinschaften und intellektuelle Bünde über größere Entfernungen schließen als je zuvor, sind vertrauenswürdige Kommunikationsplattformen ein wichtiger Baustein der Globalisierung. Der Demokratisierung. Der bürgerlichen Gesellschaft.
Wenn etwas öffentlich wird, was nicht öffentlich werden sollte, ist das oft peinlich – manchmal fatal.
Für Thomas und Sabine wurde es (nur) peinlich: Unter ihren Freunden war zumindest einer, der einen riesigen Spaß an dem Trennungsdialog hatte – und den, fand er, sollten andere auch haben, also kopierte er ihn einfach und veröffentlichte das Teenagerdrama für jedermann einsehbar im Internet. Mehr als dreißig Leuten, die sich hinter Spitznamen verbargen, diskutierten dann bei www.lamebook.com über Thomas, wie er da so öffentlich bettelt, fleht und droht:
deadvices schrieb: »Los Thomas, … bekommst eine Eins fürs Anstrengen.«
Miss Shegas: »Stalker werden immer stalken. Zum Glück war dieses arme Mädchen klug genug, diesen Spinner so schnell abzuschießen. Gruselfaktor 11.«
Maggie: »Ich denke, Thomas sollte einfach schwul werden. Er wäre dann die Frau in der Beziehung.«
Quest4cb: »Thomas erinnert mich an meinen ersten Mann. SCHAUDER!«
Vermutlich wird Thomas das verkraften, und seine Ex-Freundin auch, aber trotzdem illustriert dieses Beispiel ziemlich gut, dass Nachrichten, die jemand auf Facebook hinterlässt, erstaunliche Wege zurücklegen. Dass man sich nicht darauf verlassen sollte, dass nur diejenigen eine Kommunikation auf Facebook verfolgen, die man dazu eingeladen hat.
Zu Recht wurde in den vergangenen Jahren diskutiert, welche sozialen Folgen Facebook hat. Wie man damit umgeht, wenn Kinder dort nicht nur Freunde finden, sondern auch gemobbt und Arbeitskollegen angeschwärzt werden. Aber inzwischen erreichen die Nebenwirkungen eine andere Dimension. Sind uns die Folgen schon so richtig klar?
Wenn Diktatoren heimlich lauschen
Der Sicherheitschef von Facebook, Joe Sullivan, bekam in den Weihnachtstagen des Jahres 2010 beunruhigende Nachrichten. Angeblich sollten die Facebook-Seiten von politisch aktiven Tunesiern gekapert und teilweise gelöscht worden sein. Sullivan dachte zunächst, das könne gar nicht sein, erzählt er dem amerikanischen Magazin The Atlantic. Doch dann fanden er und seine Kollegen nach zehn Tagen intensiver Analyse einen Beweis, der sie schaudern ließ: Die tunesischen Telekomfirmen und Internetzugangsanbieter hatten auf ihren Computern, den großen Knotenpunkten des tunesischen Internet, ein Spionageprogramm installiert. So versuchten sie, nach und nach alle Passwörter des ganzen Landes auszuspähen und die Bürger, die im Internet surften, zu überwachen.
»Wir hatten bisher mit Internetzugangsanbietern zu tun, die versucht haben, unsere Seite zu blocken oder herauszufiltern«, sagt Facebook-Mann Sullivan. »In diesem Fall aber waren wir damit konfrontiert, dass die Internetzugangsanbieter etwas bis dahin Beispielloses taten, in dem sie versuchten, aktiv Nutzerdaten abzufangen.«
Nach Presseberichten verwendete die staatliche Telekom-Aufsicht des Landes die erspähten Passwörter unmittelbar, um mehr als hundert Foren zu schließen, in denen sich Gegner des damaligen Präsidenten austauschten und Protestkundgebungen organisierten.
Grundsätzlich war lange bekannt, dass die tunesische Regierung das Internet streng kontrolliert. Alle Internetzugangsanbieter mieten ihre technische Infrastruktur über die staatliche Aufsichtsbehörde, die wiederum die staatliche Infrastruktur, also die zentralen Leitungen, kontrolliert. Deshalb konnte der Staat auch, jenseits des speziellen Passwort-Diebstahls, vor langem eine Internet-Filtersoftware namens Smartfilter von der US-amerikanischen Firma Secure Computing einsetzen. Als missliebig betrachtete Internetseiten wurden auf diese Weise gesperrt.
Facebook reagierte auf den Fischzug der tunesischen Behörden und Unternehmen schnell und in dem klaren Bemühen, seine Nutzer zu schützen. Erstens lenkte das Team um Sullivan alle Versuche aus Tunesien, das Soziale Netzwerk zu erreichen, auf einen sogenannten https-Server um. Der verschlüsselt jede Kommunikation zwischen Nutzer und Internetseite. In einem zweiten Schritt führte Facebook für alle Tunesier eine weitere Sicherheitshürde ein. Wer sich einloggen wollte, dem wurden die Gesichter von mehreren Freunden aus seinem Netzwerk gezeigt. Wer die Namen nicht kannte, durfte nicht auf das Nutzerkonto zugreifen.
So wogte der technische Wettkampf zwischen Facebook und den tunesischen Staats-Hackern hin und her. Menschenrechtsgruppen aus der Region berichten, der sichere https-Zugang sei zwischenzeitlich geblockt worden. Facebook selbst räumt ein, dass der tunesische Staat in der Lage gewesen wäre, die Firma zu zwingen, die Verschlüsselung fallen zu lassen – oder eben den Zugang zu Facebook abzuschneiden.
Sicher ist: Facebook-Nutzerkonten wurden gehackt. Vom tunesischen Repressionsapparat missbraucht. Politische Aktivisten gerieten dadurch ins Visier der Polizei und der Geheimdienste, und das geschah nach Berichten der technisch versierten amerikanischen Organisation für Bürgerrechte im Internet, der Electronic Frontier Foundation, auch mit Nutzern von Internetdiensten wie Yahoo!, Google und dem Kurznachrichtendienst Twitter. Dass die Sache für die Tunesier, soweit bekannt ist, glimpflich ausgegangen ist, liegt am ehesten daran, dass Diktator Ben Ali schon wenige Tage nach dieser Aktion, Mitte Januar 2011, ins Exil nach Saudi-Arabien floh.
Die einen werden von ihren Freunden bloßgestellt. Die anderen durch staatliche Behörden verfolgt. Für die einen wird es peinlich, für die anderen geht es um Freiheit und Revolution oder Repression, Gefängnis und Folter.
Kommunikationsplattformen wie Facebook sind ambivalent, so viel ist auch in Ägypten klar geworden. Der politische Sturz von Präsident Hosni Mubarak durch Demonstranten bekam den Namen »Facebook-Revolution«. Nach anfänglichem Zögern, unterstützt durch die Armee, organisierten sich die Demonstranten Anfang 2011 vor allem über Facebook. Dort wurden Nachrichten weitergereicht, Fotos verbreitet, zu neuen Demonstrationen aufgerufen. »Facebook war schon vorher populär«, sagt die Journalistin und Bloggerin Amira al Hussaini aus Bahrein. Sie beobachtet seit Jahren die Internetszene und die Entwicklung der Zivilgesellschaft in Nordafrika sowie im arabischen Raum. Als internationale Expertin für diese Themen war sie von der Deutschen Welle, dem deutschen Auslandsrundfunk der ARD, im Jahr 2011 gebeten worden, die weltweit besten Blogger zu küren. Al Hussaini sagt über die Bedeutung von Facebook im arabischen Raum und in Nordafrika: »Das Leben dort findet normalerweise innerhalb der Mauern der Familie statt. Facebook gab den Menschen die Gelegenheit, mit anderen in Kontakt zu kommen, zu sehen, wie andere leben, neue Bekanntschaften zu schließen. Oft haben sich die Menschen dafür allerdings falsche Namen zugelegt.« Aus diesem Grund sei Facebook schon seit Längerem sehr populär in der Region. Allerdings, darauf weist Amira al Hussaini auch hin, sei Facebook häufig eine Quelle für die Geheimdienste. Wenige Jahre vor dem Sturz Hosni Mubaraks hatten politische Aktivisten versucht, via Facebook einen Generalstreik in Ägypten zu organisieren. Die Initiatoren seien später anhand ihrer Facebook-Aktivitäten identifiziert, gefangen, misshandelt und eingesperrt worden.
Zwei Männer haben die Stärken und Schwächen von Sozialen Netzwerken in Revolutionen intensiv diskutiert, unter anderem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung : Der amerikanische Medienwissenschaftler Clay Shirky von der New York University glaubt, dass Facebook und Co. »die soziale Koordination« in Entwicklungs- und Schwellenländern so sehr verbessern, dass sie ernsthaft dazu beitragen, deren Regime unter Druck zu setzen. »Haben diese Regime Recht, sich (davor) zu fürchten? Ich glaube, ja.« Er nennt Beispiele aus Burma, Moldawien und der Ukraine und glaubt, dass sich »diese Staaten von Bedingungen bedroht fühlten, unter denen sich eine Öffentlichkeit mit sich selbst identifizieren und sich miteinander abstimmen kann«. Aus diesem Grund hätten sie Kommunikationsplattformen wie Facebook und Twitter geblockt.
Evgeny Morozov, Herausgeber des amerikanischen Magazins Foreign Policy, ist hier eher Pessimist – unter anderem mit Blick auf den Iran. »Ich glaube, die iranischen Behörden (sehen) einen enormen Gewinn darin [...], regierungsfeindliche Iraner bei der Koordination ihrer Aktionen zu beobachten: bei der öffentlichen Koordination auf Facebook und Twitter.« Nach den großen Demonstrationen wurden viele Wortführer verhaftet. Wie man sie aus der Masse herausgefiltert hat? Das ist in vielen Fällen nicht bekannt.
Bei Facebook selbst ist ein Wandel zu beobachten. In den Jahren 2008 und 2009 feierte man in der Zentrale im kalifornischen Palo Alto die Tatsache, dass sich politische Bewegungen mithilfe des Sozialen Netzwerks organisierten. Inzwischen versucht das Management, politische Aktivisten zu schulen: wie sie sich in geschlossenen Gruppen auf Facebook treffen können, die nur für deren Mitglieder sichtbar und auffindbar sind. Außerdem scheint es so zu sein, als blockiere das Netzwerk nicht mehr überall, wenn Nutzer unter falschem Namen agieren – sofern die Gründe plausibel erscheinen. Diese Themen treiben die Macher bei Facebook um, und dabei geht es nicht um Werbedollar, sondern um die Überzeugung, wie wichtig das Recht auf freie Meinungsäußerung ist. Sonst würde es solche Hilfestellungen mit Sicherheit nicht geben. Aus diesem Verhalten lässt sich aber auch schließen, dass Facebook sich der Sollbruchstellen in der eigenen Software bewusst ist. Dass auch in der Firma darüber debattiert wird, wie viel Öffentlichkeit gut ist.
In all dem manifestiert sich eine für alle Kommunikationsmittel geltende Dualität: Teils fördern sie Freiheit und Demokratie – teils sind sie Kontrollinstrumente des Staates. Facebook ist aus eigenem Antrieb die wichtigste Plattform für Kommunikation im Internet geworden. Was bei Facebook gilt, setzt Standards. Deshalb diskutiert die westliche Welt anhand dieser Firma stellvertretend für alle großen Internetunternehmen die Frage, unter welchen Bedingungen Kommunikation im digitalen Raum stattfindet. Wie man einen wirksamen Sichtschutz einbaut. Wie man das Recht auf freie Meinungsäußerungen gewährleistet und ob man es in Staaten gewährleisten kann, die keine Skrupel haben, Andersdenkenden hinterherzuspionieren. Kann man digitale Plattformen entwickeln, die nicht durchlässig sind oder verwanzt, wie früher die Wohnungen von Dissidenten verwanzt waren? An Facebook entscheidet sich inzwischen in erheblichem Maße, wie viel Privatsphäre sich die Menschen bewahren können – und wollen. Aber die Sache zieht noch größere Kreise: Ein vor allen Zugriffen geschützter Raum war über Jahrhunderte die Basis einer bürgerlichen Existenz. Hier konnte sich der Einzelne ungestört entfalten – und dazu gehörte vor allem, sich in Ruhe eine politische Meinung zu bilden. Dieser Raum ist in Deutschland per Grundgesetz geschützt, und das daraus abgeleitete Grundrecht erstreckt sich auch auf die unbeobachtete Kommunikation mithilfe technischer Systeme wie dem Telefon. Facebook fällt mehr und mehr in die gleiche Kategorie.
Wir stehen vor einer entscheidenden Frage: Eine Handvoll Firmen ist gerade dabei, die menschliche Kommunikation auf den Kopf zu stellen, auf der ganzen Welt Servertürme fürs globale Schwatzen zu errichten und kein Wort des Gesagten mehr zu vergessen. Können wir uns wirklich in ihre Hand begeben?
Der scheue Mark
Der junge Mann, der von anderen so viel Offenheit fordert, der glaubt, wenn die Menschen offener seien, wäre die Welt ein besserer Ort, bleibt selbst ein verschlossener und in der Öffentlichkeit unsicherer Mensch. Mark Zuckerberg liegt seine öffentliche Rolle nicht, und es ist gar nicht so lange her, dass ihm bei einem halbstündigen Fernsehinterview angesichts kritischer Fragen der Schweiß in Strömen vom Gesicht lief. Er ist eben nicht nur Mitte zwanzig. Er ist auch außergewöhnlich introvertiert.
Stellvertretend für die Frage, wie er selbst mit der Öffentlichkeit umgeht, kann auch ein Treffen in Berlin im Jahr 2009 mit dem ZEIT-Magazin stehen. Der Fotograf hat für Zuckerberg eine kleine Garderobe zusammenstellen lassen, Anzüge, Hemden. Mark Zuckerberg taucht in einer Fleecejacke, Jeans und Turnschuhen auf, immer umgeben von einer Gruppe Berater, die beim Anblick der Anzüge protestieren. »This is not Mark!«, ruft eine Mitarbeiterin und zieht ein knallblaues Facebook-T-Shirt aus der Tüte, drückt es Zuckerberg in die Hand: »Hier, Mark, zieh mal lieber das an.« Er nickt zunächst und streift es sich über. »Seht ihr, das ist Mark!«, ruft die Mitarbeiterin wie eine Mutter. Er selbst schweigt. Dann diskutieren die Berater, was zu Mark passt und was nicht. Mark steht daneben, beteiligt sich scheinbar nicht. Plötzlich zieht er das Facebook-T-Shirt wieder aus und entscheidet sich für ein dezenteres in Grau. Und er schlüpft in ein dunkles, eng geschnittenes Sakko. Unsicher beobachtet er sich im Spiegel. Das Sakko sitzt. Wen sieht er jetzt, den erwachsenen Mark? Das Sakko gefällt ihm offenbar. Er behält es an.
Wie würde er sich jemandem beschreiben, der ihn nicht kennt? Auf die Frage schweigt Mark Zuckerberg zunächst. Er selbst sagt von sich, er sei awkward, ungelenk, und das trifft zweifellos zu. Auch in jenem Moment in Berlin weiß er spontan nicht, wie er sich verhalten soll. Also lässt er sich zu keiner Gefühlsregung hinreißen, blickt seinen Gegenüber an und doch zugleich vorbei. Dann stellt er eine Gegenfrage : »Warum stellen Sie mir so eine psychologisierende Frage zu meiner Person?« Einer der Berater warnt ihn: »Mark, die wollen ein Psychogramm zeichnen.« Zuckerberg sagt nur kurz »mmh«, mehr nicht. Es geht um die Frage von Privatleben und Öffentlichkeit. Wie schützt er seine Privatsphäre ? Zuckerberg lacht, sieht verlegen zu seinen Beratern, einer antwortet für ihn: »Indem wir sie privat halten. Nächste Frage bitte.« Trotzdem weiß inzwischen jeder, der sich mit dem Unternehmen beschäftigt, dass Zuckerberg einen mittelgroßen, unauffälligen Wagen fährt, vor kurzem für ein paar Millionen Dollar eine Villa nahe der neuen Firmenzentrale gekauft hat und seit Jahren die gleiche feste Freundin hat. »Wenn es um Facebook geht, habe ich mit öffentlichen Auftritten kein Problem. Aber es gibt bestimmt Menschen, die so etwas mehr genießen als ich«, sagt Mark Zuckerberg dazu, jener Mensch also, der mit seinem Programm dafür sorgt, dass Millionen Menschen bei Facebook ständig ihre kleinen Auftritte zelebrieren.
Die Welt erobern – das hat er dagegen schon früher gerne gemacht. Seinen ersten Computer bekam er mit zehn Jahren von seinen Eltern geschenkt, einen Quantex 486DX. Ein Schulfreund hatte einen, also wollte er auch einen haben. Was hat er damit gespielt? »Oh, Computerspiele haben mich nie sonderlich interessiert. Ich wollte nicht spielen, ich wollte etwas mit dem Computer machen, etwas Größeres.« Er brachte sich das Programmieren mithilfe einiger Bücher selbst bei, und sein Vater besorgte ihm, als er dessen Talent sah, einen privaten Lehrer. Bald darauf programmierte Zuckerberg zum Beispiel einen Instant-Messaging-Nachrichtendienst für die Zahnarztpraxis seines Vaters und später einmal eine Computerversion des Brettspiels »Risiko«. »Rivalisierende Truppen, die darum kämpfen, die Welt zu beherrschen, das hat Spaß gemacht«, sagt er. Später, als Student in Harvard, entwickelte er die erste Version von Facebook. Die Idee war entstanden, weil es den Studenten auf die Nerven ging, dass das offizielle Jahrbuch der Universität nur einmal im Jahr erschien, also nicht ständig aktualisiert werden konnte – und natürlich auch, weil man dort nichts darüber erfuhr, was junge Studenten über ihre Kommilitonen wirklich wissen wollen: Bist du Single?
»Ich habe Facebook nicht gegründet, weil ich mit einer Firma schnell viel Geld verdienen wollte«, sagt Zuckerberg. »Mein Antrieb war ein anderer. Ich wollte einfach nur beweisen, dass es funktioniert. Deshalb habe ich das Programm damals in meiner Studentenbude geschrieben.« Wird aus Mark Zuckerberg der Bill Gates seiner Generation? »Er ist cool«, sagt Zuckerberg, der sein Sohn sein könnte. »Es interessiert mich, was er denkt, aber ich habe bei Microsoft mehr mit den Leuten zu tun, die noch im Geschäft sind. Und ich bin nicht Bill, ich bin Mark.«
Die Fehler von Facebook
Wenn es eine Sache gibt, in der sich Bill Gates und Mark Zuckerberg ähneln, dann ist es der unbedingte Wille, die eigene Firma zum Erfolg zu führen. Doch die Kosten für so viel Erfolgshunger sind hoch.
Gates hat ein weltweites, rigoroses Vertriebssystem aufgebaut und Konkurrenten durch Exklusivverträge mit Computerherstellern verdrängt. Damit hat Microsoft viele Innovationen verhindert – und seine eigene Software nicht ausreichend fortentwickelt. Insofern war Microsoft Office lange Zeit unbestritten die erfolgreichste, aber nicht die beste Software fürs Büro.
Zuckerberg richtet all sein Streben in eine andere Richtung. Er hat eine weltumspannende Plattform für Kommunikationen im Internet aufgebaut – und dies mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Zugleich hat Facebook ernste Schwächen und Sollbruchstellen. Einige davon sind oben beschrieben und systemimmanent. Andere sind durch technische Fehler beim Aufbau des Unternehmens entstanden. Wieder andere Mängel hat Zuckerberg jedoch durch die von ihm geprägte Unternehmenskultur, durch seine Geisteshaltung heraufbeschworen.
Kardinalfehler 1: Facebook hat Datenlecks, Identitätsklau und andere Delikte nicht verhindern können.
Facebook hat rund zweitausend Angestellte; so genau gibt die Firma darüber keine Auskunft. Software-Ingenieure beschäftigt die Firma vielleicht tausend. Wie viele davon für Datensicherheit zuständig sind, ist nicht bekannt. Die Daten fließen in große, firmeneigene oder angemietete Rechenzentren. Es sind Lagerhallen, in denen Tausende von Rechnern stehen, die miteinander verbunden sind und gigantische Speicher bilden. Diese Rechenzentren von Facebook standen in den ersten Jahren ausschließlich in den USA. Inzwischen soll es auch welche in Großbritannien geben. Das Unternehmen schweigt dazu ebenso wie zu den Sicherheitsstandards oder dem Aufwand, den es betreibt, um Datenlecks zu verhindern. Tatsächlich aber hat es in den vergangenen Jahren jede Menge Datenlecks gegeben:
Im Jahr 2009 berichtet Sophos, eine Internet-Sicherheitsfirma, dass Hackerangriffe und Spam bei Facebook deutlich zugenommen haben. Es sei massenhaft Schadsoftware an Facebook-Mitglieder verschickt worden, um die Rechner derjenigen, die diese Schadsoftware heruntergeladen haben, aus der Ferne in Besitz zu nehmen und sie zu großen Botnetzwerken zusammenzuführen, mit denen Cyberkriminelle ihre Spam-Industrie aufziehen (siehe 1. Kapitel).
Im März 2010 waren einige Stunden lang alle privaten E-Mail-Adressen von Facebook-Mitgliedern öffentlich zugänglich.
Im Mai 2010 konnten Facebook-Nutzer private Chats ihrer Freunde mitlesen und sogar deren Kontaktanfragen bearbeiten.
Die Stanford-Informatikerin Aleksandra Korolova fand im Sommer 2010 eine Datenschutzlücke im Werbe-System von Facebook. Dabei ging es um sogenanntes Targeting, das dem Werbungtreibenden erlaubt, seine Reklame nur an solche Nutzer zu schicken, die bestimmte Eigenschaften haben. Hier war es für Korolova nun möglich, herauszufinden, ob Facebook-Nutzer schwul oder lesbisch sind. Auch Alter, politische und religiöse Einstellungen einzelner Personen konnte sie mithilfe des Werbe-Werkzeugs von Facebook herausfinden.
Die Wirtschaftszeitung Wall Street Journal berichtete im Herbst 2010, dass Informationen von Facebook-Mitgliedern an Dutzende von Werbeunternehmen weitergeleitet worden waren.
Im Frühjahr 2011 erfassten erneute große Spam-Wellen das Soziale Netzwerk. Viren infizierten Zehntausende von Profilen und verschickten Hinweise an die Netzwerke der betroffenen Nutzer. Wer auf den Hinweis klickte, infizierte nicht nur sein Facebook-Profil, sondern auch seinen heimischen Rechner.
Erfahrende Datenschützer sagen immer: Man solle nie zu viele Dinge an einem Ort speichern. Das biete die meiste Sicherheit.
Kardinalfehler 2: Fast alles wird in den USA gespeichert.
Praktisch alle Daten deutscher Mitglieder verlassen in dem Moment, in dem sie eingetippt werden, deutschen Boden, und von da an unterliegen sie nicht mehr dem Schutz, den das Grundgesetz verspricht. Was bedeutet in der Facebook-Ära eine kurzzeitige Sympathie für eine radikale linke Gruppierung? Die halbe deutsche Elite war in Studentenjahren in sozialistischen oder kommunistischen Vereinigungen. Irgendwann sind sie einfach nicht mehr hingegangen und haben ein bürgerliches Leben begonnen. Haben Karriere gemacht. Wie laut, wie öffentlich und wie lange muss man künftig widerrufen? Wer von ihnen könnte heute noch Beamter, Wissenschaftler, Bundesminister werden? Hinzu kommt, dass diese Daten im Ausland lagern und nach den dortigen Gesetzen ausgewertet werden können: Wie oft US-amerikanische Polizisten und andere Ermittlungsbehörden in Soziale Netzwerke Einblick nehmen, ist unbekannt. Dass sie es tun, ist unbestritten. Das US-Recht erlaubt es ihnen, ohne dass sie sich eine richterliche Anordnung besorgen müssten. Ein sogenannter National Security Letter reicht aus, und um ihn auszustellen, muss der Ermittler den Zugriff nur als relevant erachten. Zahlen sind lediglich für die Jahre 2003 bis 2006 bekannt. In diesem Zeitraum wurden mehr als 190.000 National Security Letters in den USA verschickt, um Auskunft von allen möglichen Institutionen zu erlangen. Die Leichtigkeit, mit der dies vonstatten geht, gehört zu den Folgen der Terroranschläge vom 11. September 2001. Nach diesem Ereignis wurden die staatlichen Ermittlungsbefugnisse mit dem Patriot Act extrem ausgedehnt. Anfangs diente er nur dazu, Terroristen aufzuspüren. Inzwischen haben aber auch andere staatliche Behörden leichten Zugriff und benutzen diese Möglichkeit für die ganz normale Polizeiarbeit.
Was das im Einzelnen heißt, legt Facebook nicht offen. Aber in dieser Hinsicht unterliegen alle amerikanischen Internetunternehmen den gleichen Regeln. Der Verwaltungsratsvorsitzende von Google, Eric Schmidt, hat dazu einmal gesagt : »Wir unterliegen in den USA alle dem Patriot Act. Es ist also möglich, dass Informationen (der Nutzer) den Behörden zugänglich gemacht werden.« Um die Dimensionen klarzumachen, veröffentlicht Google inzwischen, wie oft Behörden einzelner Länder in den vorausgegangenen sechs Monaten verlangt haben, dass Daten gelöscht werden. Daneben gibt es noch eine zweite Kategorie – »Other Requests« –, und dahinter dürfte sich verbergen, wie oft Google um die Herausgabe persönlicher Nutzerdaten gebeten wurde. Über Facebook ist bekannt, dass auch Zuckerberg in seiner Firma schon Besuch vom FBI bekommen hat.
Kardinalfehler 3: Die aggressive Haltung zur Privatsphäre
Facebook hat in nur sieben Jahren Standards für die Kommunikation im Internet gesetzt. Das ist eine große Leistung. Anders gesagt: Mehr als 500 Millionen Menschen ordnen sich den Grundregeln unter, die das Unternehmen aufstellt. Und weil diese Regeln in Software gegossen wurden, sind sie bindender als ein Knigge und die Moralvorstellungen der Kirche. Menschen können fünf gerade sein lassen. Software kann es nicht.
Das ist an sich nichts Ungewöhnliches. Alle Unternehmen, zum Beispiel Autokonzerne, setzen die technischen Möglichkeiten fest und bestimmen, wie ihr Produkt aussieht und welche Eigenschaften es besitzt. Nur geht es in seinem Fall eben um Persönlichkeitsrechte, Privatsphäre, Datenschutz – und nicht um die Frage, wie die Sitze eines neuen Mercedes beschaffen sind. Facebook maßt sich hier vor allem eines an: Es drängt die Nutzer zu maximaler Offenheit, indem es die Liste der persönlichen Daten, die per Facebook-Dekret erstmal öffentlich werden, mehr und mehr verlängert. Wer das nicht will, muss aktiv werden und die Einstellungen seines Kontos wieder ändern.
Warum eigentlich? Würde man nicht erwarten, dass zunächst alles privat ist und es dann am Einzelnen liegt, was er in größerer Runde teilen möchte? Aber Facebook drängt seine Nutzer in die Gegenrichtung. Das jüngste Beispiel dafür ist die automatische Gesichtserkennung. Schon lange markieren Nutzer per Hand einzelne Fotos und ordnen den Gesichtern ihrer Freunde den Namen zu. Doch seit Sommer 2011 »unterstützt« Facebook dies automatisiert, in dem es im Hintergrund eine machtvolle Gesichtserkennungssoftware laufen lässt. Abstellen? Kann man sie nicht. Wurden die Nutzer gefragt ? Nein. Keiner hat die Liste fortschreitender Grenzverletzungen so ausführlich dokumentiert wie Matt McKeon ... Zunächst seien, erklärt Matt McKeon, ein Programmierer aus der Abteilung Visual Communication im IBM Forschungszentrum für Social Software in Cambridge (Massachusetts), nur Name, Geschlecht, die Gruppe, der jemand sich zugehörig fühlte, und ein Bild für alle Facebook-Nutzer sichtbar gewesen. Dann wurden, im November 2009, auch alle Freunde einer Person innerhalb von Facebook sichtbar, per »default«, wie es so schön heißt. Als Grundeinstellung. Zugleich öffnete sich Facebook dem gesamten Internet. Wer diese Veränderung nicht aktiv abstellte, war seither mit Name und Bild als Facebook-Mitglied im Internet zu finden. Nur einen Monat später erweiterte Facebook diese Funktion noch einmal enorm und zeigt nun auch die Namen der Freunde einer Person und seine Vorlieben öffentlich im Internet – wenn es der Einzelne nicht in den Privatsphäre-Einstellungen verhindert. Und seit April 2010 sind auch alle Fotos und Profildaten per »default« erst mal öffentlich. Wurden die Nutzer gefragt? Nein. Facebook verkaufte die Änderungen als Fortschritt, weil nun jeder bis in feinste Details bestimmen könne, was privat sei – nachdem erst einmal alles öffentlich geworden war. Kurz bevor Facebook die automatische Gesichtserkennung einführte, kritisierte die amerikanische Nicht-Regierungsorganisation EPIC auch den Ortungsdienst von Facebook. Er heißt »Places« und gibt Nutzern die Möglichkeit, ihrem Netzwerk zu zeigen, wo sie sich aufhalten. Um das abzuschalten, muss man vier verschiedene Optionen in den Privatsphäre-Einstellungen ändern.
Ein Unternehmen, das in Sachen Datensicherheit auch nicht viel besser ist als andere, das aber eine zentrale Stellung in der globalen Internetkommunikation hat – drängt es die Menschen auch deshalb so sehr in die Öffentlichkeit, weil es seiner eigenen Software nicht zutraut, Kommunikation vertraulich zu halten?
Wer eine so bedeutende Rolle in der globalen Kommunikation einnimmt wie Facebook, der muss seine Methoden, seine Arbeitsweise und seine Unternehmenskultur seiner Verantwortung anpassen – aber dafür macht Facebook sehr viele Fehler.
Nur Investoren hat das bisher nicht gestört.
Sieben Jahre alt. Und schon 80 Milliarden Dollar wert?
Im Sommer 2011 (und damit nach Andruck dieses Buches) ist Facebook wieder einmal umgezogen. Die neuen Bürogebäude an der San Francisco Bay gehörten ehemals der Firma Sun, aus deren Netzwerkrechnern ein Teil der Internet-Infrastruktur gebaut wurde. Sun wurde jedoch vom Softwareunternehmen Oracle übernommen und benötigt seinen Campus nicht mehr. Facebook dagegen braucht mehr Platz.
Bis zu dem Umzug hatte das Soziale Netzwerk seine Zentrale ein paar Kilometer entfernt in einer ehemaligen Medizingerätefabrik in Palo Alto nahe der Stanford Universität aufgeschlagen, und man bekam dort einen guten Eindruck von der Arbeitskultur, von der eigenen Mischung aus Professionalität und Experimentierfreude, die im Unternehmen herrscht. Ein Rundgang durch die beiden weitläufigen, offenen Etagen wirkte wie der Besuch in einer arbeitenden Wohngemeinschaft, in der Menschen zusammenkommen, die mit niemandem in ihrem Leben so viel Zeit verbringen wie mit ihren Kollegen. Verstreute Habseligkeiten der Mitarbeiter erinnerten noch an Zeiten, als Facebook nicht viel mehr war als das Zimmer eines männlichen Jugendlichen, der seine Zeit am Computer verbringt, aber seine Stofftiere und Monsterfiguren noch nicht auf den Dachboden geräumt hat. Zugleich hatten die Programmierer auf mehreren tausend Quadratmetern ordentliche Tischreihen gebildet, es gab ein Bootcamp für die neuen, die eingearbeitet werden mussten, und eine große Kantine, in der sich alle Mitarbeiter freitags zur kurzen Vollversammlung einfanden. Facebook ist eine Firma der kurzen Wege und flachen Hierarchien geblieben. In der unteren Etage saßen viele Mitarbeiter noch in Rufweite von Zuckerberg, denn abgesehen von kleinen Besprechungskammern war die Facebook-Zentrale ein offener Raum.
Zuckerberg ist heute CEO (Chief Executiv Officer, d. h. alleiniger Geschäftsführer), aber vor ein paar Jahren war er nur ein begnadeter junger Programmierer, der im Sommer 2004 sein Studium an der Universität Harvard unterbrach, um mit aller Energie und großer Willenskraft einer Idee zu folgen, von der er selbst noch nicht wusste, wohin sie ihn tragen würde. Er zog mit einigen Freunden nach Kalifornien. Ihre Partys feierten sie mit Bier und – so wird erzählt – mit ein bisschen Haschisch. Fotos aus dieser Zeit zeigen junge Kerle, die um einen Tisch sitzen. Vor sich hatte jeder von ihnen einen aufgeklappten Laptop und darum herum lagen die Reste schlechter Ernährung: Cola-Dosen und Pizzakartons. Vom Kamin aus sollen sie irgendwann sogar ein Seil zu einem Telefonmasten gezogen haben, der hinter dem Swimmingpool im Garten stand, weil sie sich so direkt abseilen und in den Pool fallen lassen konnten. Am Ende des Sommers war der Wasserfilter des Pools voller Glasscherben, und auch das Apartment musste erst einmal renoviert werden, schreibt Firmenbiograph David Kirkpatrick.
Zuckerberg war eben nicht nur ein Computergenie, sondern auch ein ziemlich unreifer Mensch, wie auch E-Mails belegen, die im Umfeld von juristischen Auseinandersetzungen aufgetaucht sind und die sich um die Gründungszeit von Facebook drehen. Aufsichtsratsmitglieder von Facebook haben gegenüber dem US-Magazin New Yorker ihre Echtheit bestätigt. Einige Nachrichten an einen nicht genannten Bekannten lauten:
Zuckerberg: »Klar, wenn Du irgendwann mal Informationen über irgendjemanden in Harvard suchst.«
Zuckerberg: »Frag einfach.«
Zuckerberg: »Ich habe mehr als viertausend E-Mail-Adressen, Bilder und Wohnadressen.«
Unbekannter: »Was!? Wie hast Du das geschafft?«
Zuckerberg: »Die Leute haben es einfach eingetragen.«
Zuckerberg: »Ich weiß auch nicht, warum.«
Zuckerberg: »Sie ›vertrauen‹ mir.«
Zuckerberg: »Dumb fucks – verdammte Idioten.«
Jahrelang hat sich Zuckerberg nicht zu diesen E-Mails geäußert, doch im Sommer 2010 sagte er dem New Yorker: »Wenn man damit weitermachen will, ein Angebot aufzubauen, das einflussreich ist und auf das sich viele Menschen verlassen, dann muss man sich erwachsen verhalten, richtig? Ich denke, ich bin erwachsen geworden und habe eine Menge gelernt.« Wer Zuckerberg länger verfolgt, ihn getroffen und die über ihn erschienenen Bücher gelesen hat, wird zu dem Schluss kommen, dass er in beeindruckender Weise mit seinen Aufgaben wächst – aber zugleich noch einen langen Weg vor sich hat.
Zuckerberg war klug genug, für dieses Ziel einige erfahrene und exzellente Manager um sich zu scharen: Kommunikations- und Lobbymanager Elliot Schrage, den Werbestrategen Dan Rose – und die frühere Google-Managerin Sheryl Sandberg. Sie ist Chief Operating Officer und leitet das Tagesgeschäft in der Firma. Ihr Schreibtisch stand im Erdgeschoss der alten Zentrale und bildete einen Dreierblock mit dem von Mark Zuckerberg und ihrer gemeinsamen Sekretärin.
Zu einem Treffen im April 2010 kommt Sandberg mit langen Schritten aus einem Besprechungsraum gestürmt, grüßt, rennt weiter. »Muss in die Kantine«, ruft sie, verteilt auf dem Weg noch Arbeit, um Minuten später mit einem Bündel Bananen zurückzukommen. Eine reißt sie auf, die anderen schiebt sie über den Tisch. »Möchte jemand?« Das ist Sandberg. Seit bald vier Jahren verwandelt sie die wild wuchernde Internetfirma in einen Konzern. Sie sagt: »Als ich kam, hatten wir vierhundertfünfzig Mitarbeiter.« Jetzt sind es mehr als zweitausend. Ihre Aufgabe ist es, die abertausend Alltagsfragen zu lösen, damit aus dem Startup ein richtiges Unternehmen wird. Sie sagt: »Ich laufe den ganzen Tag mit meinem Klebeband herum, bisher ist nichts auseinandergefallen. «
Ergebnisse zu liefern, hat sie früh gelernt. Ihr Doktorvater in Harvard war Larry Summers, der später Wirtschaftsberater von Präsident Barack Obama wurde. Nacheinander ging sie zur Weltbank, wurde Stabschefin im Washingtoner Finanzministerium, wechselte zu Google, baute dort das Werbegeschäft auf und wurde in den Vorstand befördert. Bis Mark Zuckerberg sie abwarb. Nun erledigt Sandberg für Facebook stets drei Dinge zugleich, egal, wen man fragt, so wird sie beschrieben, und keiner versäumt zu erwähnen, dass die Überfrau über alldem andere Menschen nicht vergesse. So wie bei den Bananen: eine Staude für die Mannschaft.
Nur, der tägliche Ansturm schafft manchmal selbst die Superfrau. Ende April 2010 ist so ein Tag, sie sieht nach wenig Schlaf aus, und das künstliche Licht im Besprechungsraum macht sie noch blasser. Wie ihr heutiger Tag werde? »Grauenhaft«, sagt sie. An jenem Tag, den Sandberg als grauenhaft einstuft, haben vier US-Senatoren offiziell gegen Facebook Stellung bezogen. Unter ihnen Charles Schumer, einer der einflussreichsten Senatoren überhaupt. Er verlangte schriftlich, das Unternehmen müsse den Umgang mit der Privatsphäre seiner Nutzer ändern: »Bringen Sie das in Ordnung!« In jenem Frühjahr hat Facebook seinen Status als junges, unschuldiges Unternehmen verloren – und wird in Washington seither als ernstzunehmender Konzern behandelt. Mehrere amerikanische Gesetzgebungsverfahren versuchen inzwischen die Privatsphäre im Internet zu stärken und widmen sich der Frage, wie Nutzer besseren Zugriff auf ihre Daten bekommen können. Facebook war einer der Auslöser.
Trotzdem wird das Unternehmen inzwischen mit 50 bis 60 Milliarden Dollar bewertet.
Solange das Unternehmen nicht an der Börse notiert ist, wird das ein Näherungswert bleiben, sicher ist nur: Die Wertentwicklung seit dem Herbst 2010 ist atemberaubend. Das Wirtschaftsmagazin Forbes schätzte den Wert zunächst auf 23 Milliarden Dollar. Im November gab dann einer der bis dahin größten Anteilseigner von Facebook, der Wagniskapitalgeber Accel Partners, einen Teil seiner Facebook-Aktien an willige Investoren ab, angeblich bei einer Bewertung von 35 Milliarden Dollar. Als die US-Investmentbank Goldman Sachs im Dezember 2010 knapp 450 Millionen Dollar für knapp ein Prozent der Facebook-Anteile zahlt, ist das Soziale Netzwerk rechnerisch 50 Milliarden Dollar wert. Facebook-Aktien wurden auch seit Längerem auf dem Graumarkt gehandelt. Dort verkaufen Angestellte und frühe Investoren ihre Anteile über Handelshäuser wie Secondary Markets, Sharepost und Second Market. Den Meldedaten dieser Firmen und Medienberichten zufolge liegt der Wert von Facebook sogar bei knapp 60 Milliarden Dollar, wobei die Erfahrung zeigt: Die Graumarkt-Preise liegen ein Stück weit über den Aktienkursen bei einem späteren Börsengang.
Und wann kommt der Börsengang? Manches deutet auf das Jahr 2012 hin. Setzt Facebook seine Entwicklung fort, wird das Unternehmen Ende 2011 vielleicht mehr als drei Milliarden Dollar Umsatz machen. Eine ähnliche Größenordnung hatte der Suchmaschinenbetreiber Google, als der 2004 an die Börse ging. Google wuchs seinerzeit allerdings schneller und war nach allem, was man heute über Facebook weiß, von Anfang an deutlich profitabler.
Wieso also ist Facebook so viel wert? Das hat mehrere Gründe. Erstens erwarten die Investoren offenbar, dass Facebook auf den politischen Druck reagiert und in der Lage ist, technische Antworten auf die angesprochenen Probleme zu finden.
Zweitens gehen eigentlich alle davon aus, dass Facebook die Aufmerksamkeit der Nutzer in Werbemilliarden ummünzen kann. Werbe- und Marketingmanager bestätigen das: »Es ist ein ziemlich guter Weg, um seine Botschaften zum Konsumenten zu schaffen«, sagt etwa Marc Pritchard, Markenmanager beim Konsumgüterkonzern Procter & Gamble; und der Digitalstratege der internationalen PR-Agentur Ketchum, Richard Ouyang, sagt: »Etwas mit Facebook zu machen ist heute Standard.«
Und drittens herrscht die Überzeugung, dass der überwiegende Teil der Facebook-Nutzung von einem gesellschaftlichen und mentalen Wandel getragen wird, der permanent ist.
Alles Selbstdarsteller und Narzissten!
»Connection is attention«, Kontakt bringt Aufmerksamkeit, liefert ein kleines Glückserlebnis, so erklärt die kalifornische Wissenschaftlerin Kit Yarrow einen wesentlichen Erfolgsfaktor von Facebook. Sie lehrt Psychologie an der Golden-State-Universität, hat einen Bestseller über das Konsumverhalten junger Menschen geschrieben und ist eine begehrte Rednerin bei Unternehmen und auf Kongressen. Ihr Argument lautet: Facebook besteht aus Nachrichten, Werbebotschaften und kurzen Kontakten zu anderen Menschen. Die Seite ist so angelegt, dass stets mehrere Dinge gleichzeitig geschehen. Man sieht, welche Freunde online sind, man sieht die privaten Nachrichten der vergangenen Minuten und Stunden, Facebook schlägt automatisch vor, sich bei einem Bekannten mal wieder zu melden und zeigt dessen Bild. Dazwischen steht ein kleines Werbebanner, unauffällig, es sieht genauso aus wie andere Elemente auf der Seite. Connection is attention. Facebook bedient diese Bedürfnisse im Internet erfolgreicher als andere, und Yarrow meint, die Oberfläche des Sozialen Netzwerks sei ein Spiegelbild der Lebenswelten, die sie in den Einkaufszentren erforsche. Die Softwareingenieure bei Facebook hätten die Menschen ziemlich gut verstanden.
Kit Yarrow lädt zu einem Rundgang in ein Einkaufszentrum in Hillsdale nahe San Francisco. Wo soll sie anfangen? Sie dreht sich auf dem glatten Steinboden langsam um die eigene Achse. Ihr Revier hat mehr als 100.000 Quadratmeter. Ein perfekter Ort sei das, sagt Yarrow, um zu verstehen, wie Jugendliche und junge Erwachsene ticken. Sie erklärt: »Seit Langem halten amerikanische Eltern das Einkaufszentrum für einen sicheren Ort, in dem sie ihren Kindern freien Lauf lassen können«, beginnt sie. Verglichen mit Bushaltestellen oder Bars, gelten Einkaufszentren als sauber und familienfreundlich. »Viele Kinder wachsen hier praktisch auf. Hier treten Marken in ihren Alltag, bevor sie ihr erstes Wort sprechen. Und später treffen sie hier ihre Freunde.« Im Einkaufszentrum zu sein heißt aber auch, einem Strom von Eindrücken ausgesetzt zu sein. Waren, Werbebotschaften, Menschen: Sie ziehen vorbei. Und manchmal kommt man ins Gespräch.
Yarrow geht ein paar Schritte und bleibt in der Tür eines Modegeschäfts stehen. »Forever 21« heißt es, nie älter als 21 Jahre alt werden. Mit einer Mischung aus mitfühlender Wärme und wissenschaftlicher Kälte mustert sie die jungen Frauen, die sich, teilweise gemeinsam mit ihren Müttern, Kleiderberge aufladen. Im Privatleben hat sie das selbst getan. Sie ist 50 Jahre alt, ihre Tochter ein Teenager. Dann betritt Yarrow den Laden und streunt umher wie eine Ethnologin durch ein Urwalddorf. Sie bleibt hier stehen und dort, befühlt einen Stoff, greift einen Gürtel. »Forever 21« stattet junge Frauen schon ab 20 Dollar mit T-Shirt, Hose, Gürtel und Kette aus. Bei solchen Preisen könnten sich viele Städter jeden Monat neu einkleiden. Yarrow sagt dazu: »Diese Generation schätzt schnelle und häufige Kontakte mit Menschen wie mit Marken, auch weil ihre Aufmerksamkeitsspanne so gering ist. Gleichzeitig ist ihr Bedürfnis nach Stimulation sehr groß.«
Yarrows Beobachtungen ergänzen sich mit denen der Psychologen Jean M. Twenge und W. Keith Campbell. Die beiden sprechen davon, das eine Narzissmus-Epidemie vor allem die amerikanische, aber letztlich alle entwickelten Gesellschaften erfasst habe (The Narcism Epidemic. Living in the Age of Entitlement ). Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist die Tatsache, dass amerikanische Kinder seit Jahrzehnten in der Schule darauf getrimmt werden, selbstbewusst zu sein. Für jede Leistung gibt es einen Pokal, für durchschnittliche Leistung immer noch eine Plakette. Die Autoren beschreiben eine Welt, für die sich statistisch nachweisen lässt, dass mehr Menschen überhöhte persönliche Ansprüche haben. Verstärkt werde diese Haltung nach Ansicht der Autoren durch den allgegenwärtigen Materialismus, billige Kredite, Kreditkarten, Reality-Fernsehshows, Schönheitschirurgie und den alltäglichen Star-Kult. So entsteht eine Welt, in der viele Menschen über ihre Verhältnisse leben, alles tun, um 30 Sekunden Ruhm zu ergattern – und meinen, das stünde ihnen zu.
Die technologische Entwicklung beschleunige nun diesen Trend weiter, argumentieren Twenge und Campbell. Denn in Sozialen Netzwerken gebe es den sozialen Druck, eine Dynamik, das eigene Ego aufzupusten und sich mit möglichst vielen Freunden und möglichst vielen, Aufmerksamkeit erregenden Taten und Nachrichten einen hohen sozialen Status in seiner Gruppe zu sichern. Der Narzisst sei vielfach der Normalo geworden.
In Sozialen Netzwerk schauen alle gleichermaßen zu und entscheiden darüber, was sie von sich zeigen – wenn alle die Regeln einhalten. Wie Jose Antonio Vargas im amerikanischen Magazin New Yorker nach einer Tiefenrecherche über Facebook und seinen Gründer so treffend schrieb: »Zuckerbergs Geschäftsmodell hängt von unserer sich verändernden Haltung zu Privatsphäre, Entblößung und reiner Selbstdarstellung ab.« Er kommt zu den gleichen Erkenntnissen wie die Psychologen Yarrow, Twenge und Campbell.
Wer sagt, dann sollen die Leute doch auf eine Mitgliedschaft verzichten, der hat die soziale Dynamik noch nicht ganz begriffen. Eine Untersuchung der gemeinnützigen Pew Foundation in Boston aus dem Frühjahr 2010 besagt, dass in den USA die 73 Prozent der Jugendlichen, die im Internet surfen, Mitglied in mindestens einem Sozialen Netzwerk sind. Bei den 17- bis 29-Jährigen sind es 72 Prozent – und von denen, die älter als 30 sind, inzwischen schon fast 40 Prozent. Was noch beeindruckender ist und die zentrale Rolle von Facebook an dieser Stelle begründet, ist die Tatsache, dass drei Viertel aller Amerikaner, die ein Soziales Netzwerk nutzen, eine Facebook-Mitgliedschaft besitzen. Gab es Anfang 2008 »nur« etwa 70 Millionen Mitglieder, ging es seither steil bergauf. Mehr als 150 Millionen Menschen sind allein im Jahr 2010 dazugekommen.
In Deutschland ist es zwar noch nicht ganz so weit. Aber auch hierzulande hat Facebook inzwischen mehr als 18 Millionen aktive Mitglieder.
Da werden die sozialen Kosten für diejenigen langsam hoch, die nicht bei Facebook sind, und an dieser Stelle geht es nicht mehr um die Attraktivität des Internetangebots allein. Es geht darum, dass man beinahe Mitglied werden muss, um nicht den Anschluss zu verlieren.
Facebook-Gründer Mark Zuckerberg sagte einmal über den Drang vieler Menschen, persönliche Dinge bei Facebook zu veröffentlichen: »Wir haben das nicht geschaffen – die Gesellschaft war bereit dafür. Ich denke, es ist lediglich Teil eines generellen Trends, die Gesellschaft wird offener, und ich denke, das ist gut.« Nein, man kann so einen Trend nicht schaffen, wohl aber beschleunigen und formen.
Was kann man dagegen tun?
Facebook hat eine großartige Software entwickelt, einen wirklich unglaublichen Erfolg bei Nutzern überall auf der Welt – und Zuckerberg ist ein junger Unternehmer, wie es wenige auf der Erde gibt. Doch das Soziale Netzwerk hat Sollbruchstellen, die vitale Bedürfnisse und Grundrechte vieler Menschen betreffen, und das wird eben umso deutlicher, je mehr Menschen bei Facebook sind.
Was kann heute privat und wirklich vertraulich bleiben? Was dürfen Menschen über andere öffentlich schreiben? Wie setzt man deutsche Vorstellungen von Privatsphäre und das Grundrecht auf vertrauliche Kommunikation gegen Firmen aus anderen Ländern durch? Die Menschen brauchen auch im Netz einen nicht-öffentlichen Bereich, in dem sie unbehelligt von äußeren Einflüssen ihre Persönlichkeit frei entfalten können. Das Recht auf Privatsphäre und Vertraulichkeit der Kommunikation (Post und Telekommunikation) ist dafür existenziell und im deutschen Grundgesetz verbrieft. Aber wenn dem so ist, dann braucht es Softwarewerkzeuge und andere Rahmenbedingungen, um dieses Grundrecht auch in IT-Systemen zu gewährleisten – wo Vertraulichkeit zugesagt wird. Das gilt unabhängig von der momentanen Neigung vieler Menschen, eine Menge von sich zu erzählen und zu zeigen.
Was könnte daraus folgen?
Erstens: Alle Einstellungen, die relevant für die Privatsphäre sind, sollten zunächst auf »geschlossen und privat« gesetzt sein. Danach kann dann jeder Einzelne entscheiden, was er preisgeben will. Dann würde man ja sehen, wie narzisstisch diese Gesellschaft wirklich ist.
Zweitens: Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg den Propheten holen lassen, so ungefähr lautet ein biblisches Sprichwort. Staaten sind nun einmal nur begrenzt in der Lage, ihre eigenen Rechtsvorstellungen am anderen Ende der Welt durchzusetzen. Und deshalb sehen sich Facebook und andere Internetunternehmen mit der Idee konfrontiert, Rechenzentren zu regionalisieren. Dann würden die Daten von Europäern in Europa gespeichert und verarbeitet. Folglich würde europäisches Recht gelten, weil die Daten auch physisch dort lagern. Anfragen US-amerikanischer Ermittler nach deutschen Bürgern müssten nach hiesigem Recht beschieden werden – und nicht nach dem Patriot Act.
Drittens: Was kann Facebook für Dissidenten tun? Als ein Element einer insgesamt verstärkten Datensicherheit könnte man sich eine extra-verschlüsselte Kommunikationsmöglichkeit innerhalb von Facebook vorstellen. So etwas würde die geschlossenen Gruppen, die nur von Mitgliedern gefunden werden können, ergänzen. Zwar würden damit auch Ermittlungen in westlichen Staaten erschwert. Aber die müssen ja ohnehin den vorgeschriebenen Rechtsweg gehen.
Eine weitere Idee für mehr Nutzer-Autonomie entwickelt das nächste Kapitel.