13
E-Mail

Die E-Mail-Adresse des Absenders lautete walkueren@hotmail.com. Die Adresse des Empfängers war magnus@minus.is.

 

Die erste Nachricht wurde kurz vor Mitternacht von einem Laptop abgeschickt. Der Fahrer saß mit dem Laptop auf den Knien im Auto, das er auf einem Hotspot vor einem Café mit unentgeltlichem drahtlosem Internetzugang in der Pósthússtræti geparkt hatte.

Der Text der E-Mail lautete folgendermaßen:

 

Herr Magnús Magnússon.

In meiner Obhut befindet sich DAS EINZIGE EXEMPLAR eines interessanten Buchmanuskripts von Freyja Hilmarsdóttir mit dem Titel WALKÜREN. Es beginnt so:

 

»Frauen fungieren seit Menschengedenken als Konsumgüter der Männer. Natürlich hat es zu allen Zeiten Männer gegeben, die Frauen als gleichberechtigte Mitmenschen betrachteten. Aber das Anliegen dieses Buches ist nicht, über die Ausnahmen, sondern über die Regel zu sprechen, nicht den Erfolg im Kampf um die Gleichstellung der Geschlechter zu rühmen, sondern die antiquierten Gepflogenheiten und primitiven Denkweisen, die in der heuti gen Gesellschaft immer noch verbreitet sind, aufzuzeigen.

In der Dritten Welt werden Frauen bis zum heutigen Tag wie Vieh gehandelt, im Tausch mit Kühen, Schafen, Ziegen oder ein paar Münzen. Eltern, die einen gewissen Wohlstand erlangt haben, versuchen, die Zukunft ihrer Töchter durch Mitgiften zu sichern und sie so für Männer aus ›reicheren‹ Familien, die ihren Besitz vergrößern möchten, attraktiver zu machen. Derartige Mitgiften sind sogar in westlichen Ländern bei Töchtern aus wohlhabenden Familien noch üblich.

In den Wohlstandsgesellschaften nehmen Eltern heute keinen Einfluss mehr auf die Eheschließungen ihrer Kinder. Stattdessen bestimmen Begierde und Wettstreit um Statussymbole in beträchtlichem Maße die Wahl des Ehepartners. Frauen, die nach der jeweils geltenden Mode als schön angesehen werden, sind begehrte Statussymbole und versinnbildlichen die Potenz und die Fähigkeit eines Mannes, sich das begehrenswerteste Exemplar aus der Herde zu suchen.

Die Gesellschaft schärft Frauen von Kindesbeinen an ein, danach zu streben, ein in den Augen der Männer möglichst begehrenswertes Produkt zu werden. Ihre Aufgabe ist es, sich zu vermarkten und den besten Käufer zu finden. Bewertet werden sie nach ihrem Aussehen, nicht nach ihrem Charakter. Gefragt sind ihre Jugend und Schönheit; die Zukunft besteht für sie darin, Lustobjekte, Sexsklavinnen und Statussymbole ihrer Ehemänner sowie Mütter und Ansprechpartner für ihre Kinder zu sein.

Der Wert einer Frau ist während der ersten Phase ihrer Geschlechtsreife am höchsten, und wie bei jeder anderen Ware sinkt er mit zunehmendem Verschleiß, sodass sie als Eigentum und Statussymbol mit Erreichen der Wechseljahre vollständig abgeschrieben ist. Möchte der Mann sein Selbstbild und sein Image von Stärke aufrechterhalten, ist es dann für ihn an der Zeit, Sexpartnerin und Statussymbol zu erneuern – mit anderen Worten, sich von seiner Ehefrau zu trennen und sich eine jüngere Ausgabe zu suchen.

Dieser gängige Ritus mehrerer aufeinanderfolgender Ehen ist die Antwort westlicher Männer auf die Polygamie wohlhabender Muslime, ebenso wie die Liberalität und Promiskuität, die seit Jahrhunderten verbreitet ist und es dem westlichen Mann gestattet, seine Ehefrau zu betrügen und längere oder kürzere sexuelle Beziehungen mit Konkubinen oder Prostituierten einzugehen.

In diesem Buch behandle ich die angesprochenen Themen nicht unter moralischen Gesichtspunkten. Stattdessen beschreibe ich die herrschenden Zustände anhand von Beispielen aus dem Leben zweier isländischer Frauen, beide in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geboren. Freundlicherweise sind sie meinem Gesuch nachgekommen, ihre Erfahrungen mit der Ehe und der Einstellung von Männern zu Frauen zu schildern – nicht als Lebenspartnerinnen und Gleichgesinnte, sondern als austauschbares Konsumgut mit begrenzter Haltbarkeit.

Die Lebenserwartung von Frauen in Island beträgt heute etwa achtzig Jahre. In unserer von männlicher Denkweise geprägten Gesellschaft können Frauen ihren Marktwert etwa zwanzig Jahre lang halten. Mit anderen Worten: Die Abschreibungszeit von Frauen beträgt zwei Jahrzehnte.

Die beiden Frauen, die ihre Lebenserfahrung in diesem Buch mit den Leserinnen und Lesern teilen, heißen Brynhildur Njarðardóttir und Svava Baldursdóttir.

Ihnen gelang es, das höchste Gütesiegel zu erzielen und Männer zu ehelichen, die durch ihren Wohlstand und Einfluss im ganzen Land bekannt waren oder es wurden. Der Beitrag dieser Frauen zum materiellen Reichtum ihrer Männer wurde, wie es meistens der Fall ist, nie gewürdigt. Als ihre jugendliche Schönheit verblasste, fiel ihr Wert auf dem Fleischmarkt. Sie wurden entsorgt wie Waren, deren Haltbarkeitsdatum überschritten ist, und ihre Ehemänner begaben sich erneut auf den Markt und suchten sich einen frischeren, schlankeren und begehrenswerteren Happen.

Jene Ehemänner und Konsumenten heißen Magnús Magnússon, Geschäftsmann, und Kjartan A. Hansen, Botschafter und ehemaliger Minister.«

 

So beginnt dieses, gelinde gesagt, unverblümte Buch, das sich nun in meinen Händen befindet. Darin wirst du an vielen Stellen erwähnt. Falls du das folgende Angebot annimmst, kann ich dir gerne weitere Textbeispiele zukommen lassen. Autorin des Buches ist Freyja Hilmarsdóttir, die beabsichtigte, es zu veröffentlichen. Es ist davon auszugehen, dass das Buch das Interesse und die Neugier einer Vielzahl von Lesern wecken wird und somit ein höchst profitables Produkt ist.

Es hat mich einiges gekostet, das Manuskript in meinen Besitz zu bringen. Eine Möglichkeit, meine Kosten und Mühen sowie ein gewisses Risiko zu kompensieren, wäre, es auf dem freien Markt herauszugeben. Aber unter Rücksichtnahme darauf, dass eine Veröffentlichung des Buches einigen Personen, beispielsweise dir, Kummer, Rufschädigung oder gar konkrete finanzielle Verluste zufügen könnte, möchte ich eruieren, ob deinerseits Interesse daran besteht, mich finanziell zu unterstützen, sodass ich auf eine Veröffentlichung des Werks verzichten kann. Dabei denke ich an einen Betrag von einer Million Euro, zahlbar innerhalb einer Woche gemäß weiterer Anweisungen, die ich dir zukommen lassen werde, falls deine Antwort positiv ist.

Sämtliche Versuche, den Absender dieser E-Mail aufzuspüren, machen das Angebot ungültig und führen dazu, dass das Manuskript umgehend der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.

Hochachtungsvoll,

Odin

 

Die Empfängeradresse der zweiten E-Mail lautete kjartan.a.hansen@ausw-amt.is, und die Forderung betrug fünfhunderttausend Euro.

Eine Grundregel im Wirtschaftsleben besagt, dass man den Wert einer Ware der Kaufkraft des Marktes anpassen muss.

Als die beiden E-Mails im Netz waren, schaltete der Fahrer den Laptop aus, steckte ihn in eine Tasche auf dem Beifahrersitz und fuhr nach Hause.

14
Morgenwerk

Eine befriedigte Frau strahlt.

Deshalb pflegte Hanna Dís (genauer: Jóhanna Snædís Snæbjörnsdóttir) an Werktagen frühmorgens Geschlechtsverkehr zu haben, bevor sie zur Morgentalkshow bei Plus-TV aufbrach, dem Fernsehsender, den Magnús ihr zuliebe gekauft hatte, obwohl das Fernsehgeschäft in Island nicht unbedingt gewinnbringend war.

»Sag mal, müssen wir denn unbedingt immer in derselben Stellung bumsen? Hältst du dich für einen Missionar, oder was? Ich fass es nicht. Was glaubst du, wofür deine Zunge gut ist?«

Dusche, Müsli, einen Magermilchjoghurt, eine halbe Pampelmuse, Orgasmus. In dieser Reihenfolge.

Dann Klamotten, Make-up und direkt ins Studio.

»Ich wünschte, ich wäre wie du«, sagte sie. »Hast schon einen Orgasmus, wenn du nur die Hose ausziehst. So wäre ich auch gerne. Das würde so viel Zeit sparen.«

Frühzeitiger Samenerguss, das war sein Problem. Er bekam meist innerhalb von einer Minute einen Orgasmus, es sei denn, er war betrunken; in dem Fall konnte er zwar wesentlich länger, doch dann ließ sie ihn unter keinen Umständen ran.

Aber es stimmte – die Zunge war für viele Dinge zu gebrauchen.

Am Anfang war Magnús’ Zunge noch ganz ungelenk gewesen. Er hatte kaum Luft bekommen, wenn ihr Hintern auf seine Nase drückte, aber mit der Zeit und regelmäßigem Üben ging es immer besser, und jetzt freute er sich geradezu auf das Morgenwerk, lag im Bett, erregt und ungeduldig, und wartete darauf, dass das Wasser in der Dusche abgedreht wurde, wartete darauf, das Öffnen und Schließen des Kühlschranks zu hören, wartete auf das Tapsen ihrer nackten Füße.

Er bekam nie genug von diesem schlanken, festen Körper.

Sie war federleicht, selbst wenn sie auf seinem Gesicht saß, stöhnte und keuchte und schrie, während seine Zunge zwischen ihren Beinen hin- und herschnellte.

Sie war voller Energie, dynamischer als er, obwohl er doppelt so schwer war wie sie.

Er wog hundertundein Kilo, morgens, bevor er gefrühstückt und nachdem er auf die Toilette gegangen war. Er hatte einmal hunderteinundzwanzig Kilo gewogen, aber sie hatte ihm geholfen, abzunehmen. Nicht, indem sie ihn hungern ließ, sondern indem sie ihn dazu brachte, öfter und weniger auf einmal zu essen.

Sie war gegen Diäten. Sie brachte ihm bei, seinen Lebensstil zu ändern.

Sie wog siebenundvierzig Kilo.

Außerdem war er gut doppelt so alt wie sie, siebenundfünfzig.

Sie war siebenundzwanzig. Ein Altersunterschied von dreißig Jahren. Trotzdem konnte sie unglaublich viel, was er nicht konnte.

Er konnte im Grunde nur arbeiten.

Sie konnte das Leben genießen, interessierte sich für alle möglichen und unmöglichen Dinge – Klamotten, Musik, Mode, Reisen, Bücher, Fitness, Yoga.

Er kannte sich mit Geld und Geschäften aus.

Sie war gebildet und weit gereist. Mit sechzehn war sie ein Jahr als Austauschschülerin in Argentinien gewesen, anschließend sechs Monate durch Südamerika gereist und hatte Portugiesisch in Brasilien gelernt. Sie sprach fließend Englisch und hatte einen Masterabschluss in Medienwissenschaften von der University of California. Außerdem konnte sie Französisch, Spanisch und Deutsch.

Er konnte sich mit Mühe und Not auf Englisch verständigen und beherrschte ein paar Worte Dänisch.

Sie war das Abenteuer seines Lebens.

Er fühlte sich wie neugeboren, zwar im selben alten Körper, aber seine Seele war grundsaniert. Hanna Dís hatte ihm ein neues Sehvermögen geschenkt. Jetzt betrachtete er seine Umgebung mit ihren Augen und achtete auf Dinge, die er nie zuvor registriert hatte. Gleichzeitig verfügte er über seine Erfahrungen. Er konnte innerhalb von Sekunden erkennen, ob ein Geschäft – oder im Grunde jede nur denkbare Firma – gut geführt wurde, sich im Aufschwung oder Niedergang befand.

Er war ein Geschäftsmann von Gottes Gnaden. Gute Preise und freundlicher Service. Das war das Geheimnis. Vielleicht noch etwas Finanzsinn. Und vor allem Fleiß.

 

Magnús Magnússons berufliche Laufbahn begann im Njörður-Laden im Vitastigur, als er gerade einmal zwölf Jahre alt war. Er fing dort im Frühjahr als Botenjunge an und arbeitete den ganzen Tag. Mit seinem Fleiß und seinem Engagement fiel er sofort auf. Wenn er gerade keinen Botengang zu erledigen hatte, räumte er das Lager im Keller auf oder stapelte Waren in die Regale im Laden. Während der Wintermonate, in denen er noch schulpflichtig war, arbeitete er nach dem Unterricht, und sobald er mit vierzehn seinen Schulabschluss hatte, wurde er fest im Laden angestellt, nicht als Botenjunge, sondern als ebenbürtiger Verkäufer mit demselben Lohn wie die Erwachsenen.

Njörður Bernharðsson, der Ladeninhaber, war schon Ende fünfzig und erkannte nicht, dass die Zeiten sich änderten, dass die Kunden ein vielfältigeres Warenangebot forderten und überall Selbstbedienungsläden aus dem Boden schossen. Njörður pflegte zu sagen, diese Selbstbedienungsläden würden nie zu einer Konkurrenz für den Kaufladen an der Ecke werden, denn dorthin kämen die Kunden, die wüssten, was sie bräuchten, und eine persönliche Bedienung wünschten.

Magnús war vollkommen anderer Meinung, aber Njörður wollte nichts ändern. Dann ereilte Magnús’ Arbeitgeber am Heiligabend ein Hirnschlag. Es war in dem Jahr, als Magnús neunzehn wurde. Njörður war halbseitig gelähmt und konnte nicht mehr sprechen. Zweieinhalb Jahre war er bettlägerig, bis er endlich seinen Frieden fand.

Es galt als couragiert, dass Sigurveig, Njörðurs Frau, die mit einem gelähmten Ehemann und vier Töchtern zwischen siebzehn und vierunddreißig dasaß, den jungen Mann zum Geschäftsführer machte und ihm die Führung der Firma überließ. Aber Sigurveig ließ sich davon nicht abbringen. Auch wenn sie es nicht erwähnte, so spekulierte sie doch darauf, dass die Firma in der Familie bleiben würde. Sie hatte nämlich bemerkt, dass die jüngste Tochter, Brynhildur, fleißig im Laden mithalf und zu Hause oft davon erzählte, wie tüchtig und ideenreich der junge Geschäftsführer sei. Dennoch überraschte es Sigurveig, als die jüngste Tochter ihr mitteilte, sie habe sich heimlich mit Magnús verlobt – und sei außerdem von ihm schwanger.

Magnús widmete sich voll und ganz dem Geschäft. Er führte Neuerungen ein, verkaufte mittags günstige warme Mahlzeiten und stellte den Laden auf Selbstbedienung um. Obwohl er ein Mann der Zukunft und der neuen Marktbedingungen war, wurde er dennoch ein bisschen wehmütig, als die Handwerker die alte Verkaufstheke entsorgten. Just unter dieser Theke war das Kind gezeugt worden, das seine Verlobte Brynhildur im Bauch trug.

Das Geschäft lief gut. Als Njörður starb, kaufte Magnús der Witwe den Laden ab. Zwei Jahre später war es an der Zeit, zu expandieren, und Magnús eröffnete einen zweiten Laden in Seltjarnarnes und später im selben Jahr noch einen im Árbærviertel. Seine Idee war der Betrieb kleiner Selbstbedienungsläden und die Ablösung der Kaufläden an der Ecke in den meisten Stadtvierteln. Es wurden sieben Filialen. Je mehr Läden er besaß, desto stärker konnte Magnús den Betrieb rationalisieren und desto bessere Konditionen bekam er bei den Großhändlern. Die Njörður-Läden waren beliebt; hier kaufte man gerne ein. Dennoch warfen sie nicht genug ab, denn die Kunden strömten immer häufiger in die Hagkaup-Läden, wo man mehr Wert auf niedrige Preise als auf guten Service legte.

Als Magnús beschloss, etwas zu verändern, war es zu spät. Die Schulden hatten sich in astronomischer Geschwindigkeit angehäuft, und weder Banken noch Gläubiger hatten Verständnis dafür, dass er Spielraum brauchte, um den Konkurrenzkampf mit dem Riesen Hagkaup aufnehmen zu können. Die Leute wollten offenkundig lieber gute Preise als guten Service. Der Konkurs war unvermeidlich.

Zu jener Zeit waren schon drei Kinder auf der Welt. Der Älteste war der zwölfjährige Njörður, Sigurveig war neun und Elfar sieben Jahre alt. Brynhildur kümmerte sich um Haus und Kinder. Sie lebten zusammen, waren aber nicht miteinander verheiratet; dafür hatte immer die Zeit gefehlt. Durch den Konkurs verloren sie ihr gesamtes Hab und Gut und mussten aus dem neuen Einfamilienhaus, das Magnús auf einem sündhaft teuren Grundstück in Stigahlíð gebaut hatte, ausziehen. Zwar hätten sie die Möglichkeit gehabt, in die Kellerwohnung zur Schwiegermutter zu ziehen, aber das kam für Brynhildur nicht in Frage. So mieteten sie auf ihren Namen eine Wohnung in der Snorrabraut; Brynhildur arbeitete als Tagesmutter, und die Wohnung füllte sich mit Kleinkindern. Magnús war nach dem Konkurs monatelang arbeitslos, bis er endlich seinen Stolz hinunterschluckte und stellvertretender Geschäftsleiter in einer Hagkaup-Filiale wurde – bei der Konkurrenz, die ihn in die Knie gezwungen hatte.

Drei Jahre dauerte die Zeit der Erniedrigung. Dann bekam Magnús wieder Aufwind. Er mietete einen Laden in Seltjarnarnes, ursprünglich ein ausgedientes Kühlhaus, und importierte Waren von einer billigen Supermarktkette aus Deutschland, die er als Handelspartner hatte gewinnen können. Die Geschäftsidee war einfach – die niedrigsten Preise am Markt anzubieten – und sie schlug ein. Ein Jahr später eröffnete er einen zweiten Mínus-Laden in Akureyri. Die Zeiten waren gut, und die Leute schienen Unmengen von Geld zur Verfügung zu haben. Die Sparsamen kauften bei Mínus ein, die anderen gingen in die Hagkaup- oder Nóatún-Läden.

Nicht nur Magnús hatte herausgefunden, dass die Allgemeinheit dort einkaufen wollte, wo es am billigsten war. Bónus, Krónan, Nettó, Europris – aber Mínus war Marktführer. Im ganzen Land entstanden immer neue Filialen. Der Import wurde billiger und der Profit wuchs. Im Jahr 2000 kaufte Magnús die Geschäftsanteile seiner deutschen Partner, wurde alleiniger Eigentümer des Mínus-Imperiums und der Investmentgesellschaft Mínus Group. Der Wohlstand im Land war inzwischen so stark angewachsen, dass die Nachfrage nach Aktienanteilen fast so groß war wie die nach Lebensmitteln. Magnús brachte seine Firma an die isländische Börse, verkaufte 40% der Firmenanteile und investierte die daraus gewonnenen Milliarden in andere Firmen, beispielsweise Icelandair. Außerdem profitierte er von der Privatisierung der Banken, deren Wert sich vervielfachte, als ihre Aktienanteile auf den Markt geschmissen wurden.

Neben Haraldur Rúriksson, der in Russland Geld gemacht und dann die Volksbank für einen günstigen Preis gekauft hatte, war Magnús einer der beiden wohlhabendsten Männer Islands geworden. Im Volksmund wurde er nach seinem Geschäftsimperium stets Magnús Mínus genannt, was er als Ehrentitel ansah.

 

Das Erste, was Magnús tat, als er um halb acht sein Büro in dem Neubau betrat, in dem die Mínus Group ihren Hauptsitz hatte, war, den Computer einzuschalten. Obwohl er es nicht zugeben wollte, war ihm dieses Gerät nicht ganz geheuer. Er verstand nicht so recht, wie es funktionierte, konnte aber seine E-Mails öffnen und einfache Schreibdateien anlegen. Mehr musste er letztlich nicht können. Sein Motto: Man muss nicht alles selbst können; man muss andere, die über die notwendigen Kenntnisse verfügen, für sich arbeiten lassen.

In seinem Computer erwarteten ihn zweiunddreißig ungelesene Nachrichten. Einige auf Isländisch, andere auf Englisch. Er bekam nicht gerne E-Mails in ausländischen Sprachen. Er glaubte, sich einmal zum Idioten gemacht zu haben, als er seine Sekretärin gebeten hatte, ihm eine eingegangene Nachricht zu übersetzen, die er immer wieder zugeschickt bekam, obwohl er nie darauf geantwortet hatte und den Absender nicht kannte. Seine Sekretärin hatte ihm kichernd erklärt, es handle sich um ein exklusives Angebot für ein spezielles Verfahren, mit dem man seinen Penis vergrößern konnte. Ein Angebot für eine Schwanzvergrößerung, hatte sie gesagt und ihn angeschaut, als habe sie den Verdacht, er könnte so etwas brauchen. Seither hütete er sich davor, Anhänge von unbekannten Absendern zu öffnen.

Jetzt weckte eine Mail mit der Betreffzeile VER-TRAULICH seine Aufmerksamkeit. Der Absender hieß walkueren@hotmail.com und war ihm unbekannt, aber die Neugier war stärker als die Vernunft, und Magnús öffnete die Nachricht:

 

Herr Magnús Magnússon.

In meiner Obhut befindet sich DAS EINZIGE EXEMPLAR eines interessanten Buchmanuskripts von Freyja Hilmarsdóttir mit dem Titel WALKÜREN. Es beginnt so:

 

»Frauen fungieren seit Menschengedenken als Konsumgüter der Männer …«

 

Magnús las die Nachricht vom Anfang bis zum Ende. Zweimal.

 

… Aber unter Rücksichtnahme darauf, dass eine Veröffentlichung des Buches einigen Personen, beispielsweise dir, Kummer, Rufschädigung oder gar konkrete finanzielle Verluste zufügen könnte …

… einer Million Euro, zahlbar innerhalb einer Woche …

Sämtliche Versuche, den Absender dieser E-Mail aufzuspüren … führen dazu, dass das Manuskript umgehend der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.

 

Er las die Nachricht ein drittes Mal und hielt einen Moment inne. Dann stand er auf, ging ins Vorzimmer und sagte zu seiner Sekretärin:

»Es gibt da eine Sache, über die ich nachdenken muss. Bitte bis auf weiteres keine Störungen.«

Dann setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch und schaute gedankenversunken aus dem Fenster. Er griff in seine Brusttasche, zog ein kleines Telefonbüchlein hervor, suchte nach einer Nummer und führte ein Telefonat.

Von seinem Handy, nicht über die Zentrale.

Eine Million Euro, das waren fast neunzig Millionen Isländische Kronen. Eine ziemlich hohe Summe für ein Buch, dessen Inhalt man nicht kennt.

 

Auf dem Flachbildschirm an der Bürowand sah Magnús, dass die Morgentalkshow bei Plus-TV begonnen hatte. Der Ton war ausgeschaltet, aber er konnte sehen, wie Hanna Dís mit irgendwelchen Frauen plauderte, die neben ihr wie Kartoffelsäcke aussahen.

Es ging ein Glanz von ihr aus.

Sie strahlte.

15
Wohnungsdurchsuchung

Guðrún ging nicht nach vorn, obwohl sie hörte, dass Bergþór und die Mädchen in der Küche frühstückten. Sie wartete, bis sie die Haustür ins Schloss fallen und den Diesel-Jeep wegfahren hörte. Dann gab sie sich einen Ruck, sprang kurz unter die Dusche, trocknete sich das Haar und unterzog ihr Gesicht den allernotwendigsten Wiederbelebungsmaßnahmen. Sie betrachtete sich im Spiegel und stellte fest, dass ihre Anstrengungen dies mal nicht sonderlich von Erfolg gekrönt waren. Aus irgendeinem Grund fiel ihr das Wort »Leichenschminke« ein, als sie ihre finstere Miene im Spiegel sah. Nein, so schlimm war es nun auch wieder nicht. Sie presste ein Lächeln hervor. Kein wirklich fröhliches, aber immerhin ein Lächeln.

Anstatt direkt zur Arbeit zu fahren, machte sie einen Umweg. Irgendwann am vergangenen Abend oder in der Nacht hatte sie den Entschluss gefasst, vor dem Morgenmeeting zu Freyja Hilmarsdóttirs Wohnung in Álfheimar zu fahren. Sie hatte das Gefühl, etwas übersehen zu haben, als sie sich mit Terje am Tag zuvor in der Wohnung umgesehen hatte. Natürlich war das nur dummes Zeug, aber als Víkingur dann anrief, hatte sich ihr vager Verdacht, Freyja sei keines natürlichen Todes gestorben, in die Gewissheit verwandelt, dass es sich um Mord handelte. Sie war die Erste gewesen, die ein Verbrechen vermutet hatte, und sie würde der Sache auf den Grund gehen.

Unterwegs schoss ihr Bergþór immer wieder durch den Kopf. Wie ein Stück Scheiße, das sich nicht runterspülen ließ, dachte sie. Nein. Nicht so verbittert. Nicht so negativ. Trotzdem fand sie den Vergleich recht amüsant. Er hatte sich ihr gegenüber wie ein Mistkerl verhalten. Sie sah ihn vor sich, wie er sich verschwitzt mit der Silikonschlampe herumwälzte, beide mit beginnendem Bauchansatz. Vielleicht war das auch gar nicht sein einziger Seitensprung. Vielleicht betrog er sie schon seit Jahren. Ein beschissenes Hobby. Ein beschissener Kerl. Scheiße in der Kloschüssel. Kein sehr poetischer Vergleich, aber sie war ja auch keine Dichterin, sondern Hausfrau. Hausfrau und Polizistin. Oder war sie zuerst Polizistin und dann Hausfrau?

Ich bin keines von beidem, dachte sie, und beides gleichzeitig. Ich bin ich. Ich bin so, wie ich sein will. Ich gehöre mir. Morgens Polizistin. Abends Rachegöttin.

Was wäre ich lieber: Polizistin oder Hausfrau?

Polizistin, keine Frage.

Wäre ich lieber Polizistin oder Mutter? Polizistin oder Ehefrau? Warum muss das eine das andere ausschließen?

Ach, so ein Quatsch. Es wird sich schon alles ergeben.

 

Sie parkte den Wagen auf dem Parkplatz vor dem Wohnblock in Álfheimar und schaute auf die Uhr im Armaturenbrett. 8:42 Uhr. Das Morgenmeeting begann normalerweise um zehn nach neun. Am besten, sie gäbe kurz Bescheid.

Sie rief Terje an.

»Hallo.«

»Bist du das, Terje?«

»Nein, das ist mein automatischer Anrufbeantworter.«

»Ach komm, lass stecken. Hör zu, ich komme vielleicht ein bisschen später. Ich war schon auf dem Weg ins Büro, und da kam mir die Idee, mal kurz in Álfheimar vorbeizufahren und mich dort noch mal genauer umzusehen.«

»Du willst dich in Álfheimar umsehen?«

»In der Wohnung. Du weißt schon.«

»Die wir gestern untersucht haben?«

»Ja«, sagte sie und fand, dass das irgendwie albern klang. »Hast du damit ein Problem?«

»Nein, nein«, entgegnete er. »Aber ist mit dir alles in Ordnung?«

Die Frage überraschte sie.

»Mit mir? Doch. Klar.«

»Okay«, sagte Terje.

»Okay, also sag bitte den anderen Bescheid.«

»Wenn ich dran denke«, sagte Terje und legte auf.

Warum fragte er, ob alles in Ordnung sei? War sie zum Gesprächsthema der Wache geworden? Alle müssen nett zu Guðrún sein, weil ihr Mann sie satthat und sich eine andere geangelt hat? Und wisst ihr was? Seine Geliebte ist nicht mal jünger als seine Ehefrau! Habt ihr so was schon mal gehört? Wer hatte wohl über sie hergezogen? Víkingur? Theódór? Blödsinn. Sie war schon paranoid.

Als Guðrún den Schlüssel ins Schloss steckte, entdeckte sie Kratzer am Türrahmen. Gestern hatte sie keinerlei Spuren an der Tür bemerkt. Aber da war Terje vorgegangen. Er hatte aufgeschlossen. Er hatte die Schlüssel gehabt.

Als sie den Flur betrat, hatte sie sofort das Gefühl, nicht allein in der Wohnung zu sein. Ich bin tatsächlich hysterisch, dachte sie. Paranoid, überreizt, nervenschwach.

Trotz alledem konnte sie nicht an sich halten und durchbrach die Stille, indem sie gepresst rief:

»Hallo? Ist da wer?«

Die Antwort entsprach nicht dem, was sie erwartet hatte. Sie hörte hinter sich aus dem Schlafzimmer ein Rascheln, aber bevor sie sich umdrehen konnte, wurde sie von einem schweren Gegenstand am Kopf getroffen und sah nur noch Sternchen. Dann wurde alles schwarz.

 

Sonderbarerweise war Randver ziemlich ungehalten, als Terje ihm mitteilte, Guðrún käme wahrscheinlich später zum Meeting, da sie auf dem Weg zur Arbeit in Freyjas Wohnung vorbeischauen wolle.

»Wo kämen wir denn da hin, wenn alle in der Gegend rumfahren würden, um alles, was ihnen gerade in den Sinn kommt, auf eigene Faust auszukundschaften?«, sagte Randver. »Vielleicht ist es ja bei den Kollegen von der Technischen Abteilung üblich, dass jeder nach seinen eigenen Vorstellungen arbeitet, aber wir hier bei der Kripo gehen anders vor. Hier arbeitet man im Team.«

Terje versuchte, dem Assistenten des Hauptkommissars zu erklären, Víkingur habe Guðrún am Tag zuvor beauftragt, der Kripo in diesem speziellen Fall zur Hand zu gehen, »oder so«.

»Da gibt’s kein ›oder so‹«, erwiderte Randver. »Wir halten uns hier an die Vorschriften und nicht an irgendein dummes Zeug, das man im Fernsehen sieht. Und was eine Wohnungsdurchsuchung betrifft, da geht man zu zweit hin. Deshalb wirst du jetzt losfahren und sie bei ihren Nachforschungen überraschen, mein Freund. Meinetwegen kannst du ruhig anklopfen und sie erschrecken. Hauptsache, sie lernt, dass man bei den Ermittlungsarbeiten von Kapitalverbrechen nicht allein unterwegs ist. Selbst Sherlock Holmes hatte immer Watson dabei, und der war bestimmt nicht regeltreu. Sag ihr das.«

 

Um in den Hausflur zu gelangen, drückte Terje auf sämtliche Klingelknöpfe, außer auf Freyja Hilmarsdóttirs. Niemand sprach durch die Gegensprechanlage, aber er hörte ein Summen, und die Haustür öffnete sich. Terje rannte die Treppe hinauf. Die Wohnungstür war geschlossen, also befolgte er Randvers Anweisung und klopfte. Kräftig.

Terje legte sein Ohr an die Tür und lauschte auf Geräusche aus der Wohnung. Es war totenstill, daher klopfte er noch einmal, diesmal bedeutend energischer als beim ersten Mal. Er wartete einen Moment und legte wieder sein Ohr an die Tür.

Von drinnen hörte er ein Geräusch. Stöhnen? Rascheln?

Er klopfte wieder und rief:

»Mach auf, Guðrún, ich bin’s, Terje.«

Er erschrak, als die Tür aufging und sie vor ihm stand. Eine Hälfte ihres Gesichts war blutverschmiert, die andere leichenblass. Hinter ihr auf dem Fußboden waren Blutspritzer. Blut tropfte ihr ins Auge. Sie versuchte, es wegzuwischen, und wunderte sich, als sie sah, dass ihre Hand rot war.

»Was ist passiert?«, fragte Terje. »Bist du in Ohnmacht gefallen?«

»Jemand war hier, als ich reingekommen bin«, antwortete sie. »Ich hab’s gespürt. Er stand hinter mir und hat mich niedergeschlagen.«

»Komm mit«, sagte Terje und führte sie ins Badezimmer, wo er sie auf den Klodeckel setzte. »Warte, ich hole was, um das Blut abzuwischen.«

»Nein«, erwiderte sie, »du darfst nichts berühren. Wir müssen hier noch weitersuchen.«

Terje reagierte nicht. Er öffnete einen Schrank im Flur. Darin lagen zwar keine Handtücher, aber er griff sich irgendein Laken.

»Du bist außerordentlich zuvorkommend«, sagte sie. »Für ein Trampeltier.«

»Ein Trampeltier?«, fragte er. »Wo kommst du denn her? Bei uns nennt man so was einen tollen Hecht.«

Sie musste lächeln und spürte im selben Augenblick einen stechenden Kopfschmerz.

»Mein Kopf tut weh«, sagte sie.

»Wundert mich nicht«, entgegnete er und wühlte in dem Spiegelschrank im Bad. »Hier sind vier Aspirin. Nimm die, auch wenn sie bei echten Kopfschmerzen nicht viel bringen. Vielleicht haben sie ja eine psychologische Wirkung. Warte, ich hol dir ein Glas Wasser.«

Er ging in die Küche und kam mit einem Glas Wasser und einem Tablett mit Eiswürfeln wieder, die er im Tiefkühlfach gefunden hatte.

Sie stöhnte, als sie daran dachte, dass er überall Fingerabdrücke hinterließ.

»Das ist gut gegen die Kopfschmerzen«, sagte er in der Annahme, sie stöhne wegen der Kopfverletzung. Dann zog er ein Taschenmesser hervor, schnitt das Laken ein, riss ein Stück heraus, wickelte es um die Eiswürfel und legte sie auf die Wunde.

»Kannst du das so festhalten?«

»Jetzt fällt’s mir wieder ein!«, sagte sie.

»Wer dich niedergeschlagen hat?«

»Nein, aber ich weiß wieder, was ich hier gesehen habe.«

»Was denn?«

»Ein Taschenmesser.«

»Ich rufe den Einsatztrupp raus«, sagte Terje. »Soll ich dich in die Notaufnahme fahren oder einen Krankenwagen bestellen?«

»Es geht schon«, sagte sie. »Ich muss nicht in die Notaufnahme. Es blutet schon gar nicht mehr.«

Als Beweis nahm sie den Beutel mit den Eiswürfeln von der Wunde, und sofort begann die Wunde wieder zu bluten.

»Das muss genäht werden, du brauchst gar nicht zu protestieren«, sagte Terje. »Gehen wir.«

Im Flur sahen sie, was als Waffe verwendet worden war: ein schwarzer Spazierstock mit einem silbernen Knauf.

»Da muss wohl der Großvater wiederauferstanden sein«, bemerkte Terje. »Es war bestimmt nicht so angenehm, diesen Silberklumpen auf den Kopf zu kriegen.«

»Warte mal«, bat Guðrún und drehte sich im Flur einmal um sich selbst. Neben der Garderobe stand eine kleine Telefonbank mit einem Tischchen, auf dem sich eine Tonschale mit einem Überzug aus Lavastein befand.

»Sieh mal«, sagte Guðrún und zeigte darauf.

»Was?«, fragte Terje. »Die Schale?«

»Ja.«

»Du kannst froh sein, dass er dich mit dem Stock und nicht mit der Schale getroffen hat. Sonst wärst du bestimmt nicht wieder aufgestanden.«

»Warum sagst du ›er‹?«

»Ich habe den Eindruck, dass hier ein Kerl am Werk war«, erklärte Terje.

»Ich hab nicht gesehen, wer es war«, sagte Guðrún. »Ich hab ins Wohnzimmer geschaut. Er kam von hinten.«

»Er?«, fragte Terje.

»Oder sie. Der Täter oder die Täterin. Aber sieh doch mal, die Schale ist leer.«

»Ja, das sehe ich«, sagte Terje. »Na und?«

»Ich könnte schwören, dass da gestern noch was dringelegen hat. Ich glaube, es war ein Taschenmesser. Es lag etwas in der Wohnung, was überhaupt nicht hergepasst hat, aber ich konnte mich erst nicht mehr daran erinnern, was es war. Es muss ein Taschenmesser gewesen sein. Ein großes Taschenmesser.«

»Dann muss es sich ja um ein bemerkenswertes Taschenmesser handeln, wenn jemand deswegen hier eingebrochen ist. Und dann ihr ganzes Arbeitszimmer und das Schlafzimmer auf den Kopf gestellt hat.«

»Jemand hat das Manuskript gesucht.«

»Langsam bin ich wirklich neugierig auf dieses Manuskript«, sagte Terje. »Ich habe gestern Abend in ihrem Buch gelesen, dieses Buch über die Bettfreuden, und ich muss sagen, da wird wirklich kein Blatt vor den Mund genommen. Ich habe die Männer, die mit ihr im Bett waren, wirklich bemitleidet, und die Frauen genau genommen auch. Alles mit Namen und Datum versehen. Wirklich knallhart; sie hat nicht die geringste Rücksicht auf deren Privatsphäre genommen.«

»Deiner Meinung nach ist es also in Ordnung, wenn Männer über Sex schreiben, aber wenn Frauen das tun, ist es pornografisch?«

»Was soll der Unsinn?«, sagte Terje verärgert. »Was ein Mann und eine Frau im Bett tun, war bis jetzt ihre Privatangelegenheit und geht niemanden was an. Wie fändest du es denn, wenn dein Mann ein Buch darüber schreiben würde, wie er dich im Bett findet? Nein. Das war falsch gefragt: Was glaubst du, wie dein Mann es fände, wenn du ein Buch mit ausführlichen Auskünften über seine Fähigkeiten im Bett herausgeben wolltest?«

»Ein interessanter Gedanke«, entgegnete Guðrún. »Ich zweifle allerdings an einem größeren Publikumsinteresse.«

»So. Und jetzt pass mal auf«, sagte Terje.

»Ja?«

»Wir fahren sofort zur Notaufnahme. Hoffentlich ist gerade eine talentierte Schneiderin im Dienst.«

Er sah Guðrúns Gesichtsausdruck und beeilte sich, hinzuzufügen: »Oder ein Schneider. Männer können auch sehr geschickte Hände haben.«

 

Das Personal von der Nachtschicht, das die abendlichen und nächtlichen Wunden in der Notaufnahme verbun den hatte, war längst nach Hause gegangen. Die Tagesschicht kümmerte sich in den Morgenstunden hauptsächlich um Patienten, die zur Kontrolle kamen.

Ein Lieferwagen parkte in Türnähe, und ein junger Mann in Handwerkerkluft stand daneben und beobachtete, wie sich Guðrún und Terje näherten. Die Wunde blutete noch immer. Guðrún hielt den Eisbeutel in der einen Hand und ein blutverschmiertes Tuch in der anderen.

Der Mann starrte die beiden unverhohlen an, und als sie an ihm vorbeigingen, rief er Terje hinterher: »Sag bloß, deine Frau hat sich an einer Tür gestoßen?«

Daraufhin setzte er sich in den Wagen und fuhr davon, bevor Terje ein Wort erwidern konnte.

Das Wartezimmer und der Empfang waren leer. Terje klopfte geräuschvoll mit dem Autoschlüssel gegen die Glasscheibe.

»Die Frau hat einen Schlag auf den Kopf bekommen. Sie hat eine Platzwunde, die genäht werden muss«, sagte er, als sich eine hochgewachsene blonde Frau im Kittel der Glaswand am Empfang näherte.

Um die Dringlichkeit der Angelegenheit zu verdeutlichen, hielt Terje seinen Polizeiausweis an die Scheibe.

»Sie arbeitet bei der Polizei«, fügte er hinzu, um neuerliche Missverständnisse zu vermeiden.

Die blonde Krankenschwester schien unbeeindruckt. Sie setzte sich an den Computer hinter dem Tresen, schaute auf und sagte:

»Name und Adresse?«

»Kann man das nicht hinterher aufnehmen?«

»Doch, das wäre sicher möglich«, antwortete die Krankenschwester. »Aber die Frau ist ja bei Bewusstsein, also können wir uns an die Regeln halten. Wie heißt sie?«

»Sie heißt Guðrún.« Terje zögerte, denn er konnte sich beim besten Willen nicht an den Nachnamen seiner Kollegin erinnern.

»Hallsdóttir«, ergänzte Guðrún.

Die Krankenschwester tippte den Namen ein. Dann sah sie sich die Patientin an, die sich, so gut es ging, das Blut aus dem Gesicht gewischt hatte und jetzt ihre Lederjacke untersuchte, die glücklicherweise rot und wahrscheinlich unversehrt war.

Guðrún leierte ihre Identifikationsnummer herunter, trat an die Glasscheibe, und ihr Blick fiel auf das Namensschild der Schwester über der linken Brust: ÁSDÍS, Oberschwester.

Ásdís? Oberschwester in der Notaufnahme? Das glaube ich jetzt nicht! Blond und sorgfältig hergerichtet wie ein Regierungsgebäude. Künstliche Wimpern, künstliche Fingernägel und mit Sicherheit ein Wonderbra. Am frühen Morgen! Sämtliche Köder ausgelegt. Keine andere als die Silikonschlampe, die die Institution der Ehe nicht akzeptierte und sich nicht darum kümmerte, in welchen Gewässern sie fischte.

»Und die Adresse?«, fragte die Silikonschlampe, ohne mit der Wimper zu zucken.

Guðrún stand schweigend da. Terje sah sie an und befürchtete, sie würde jeden Moment in Ohnmacht fallen. Daher war er unglaublich froh, als sich die Stationstür öffnete, Bergþór herauskam und hastig zur Tat schritt.

»Adresse!«, insistierte die Silikonschlampe, ohne aufzuschauen.

Bergþór eilte mit fliegenden Kittelschößen durch die Tür des Patientenempfangs. Er sah Guðrún und Terje. Er sah auch, wer am Empfang saß, und war mit einem Satz bei ihnen. Er fasste seine Frau bei den Schultern.

»Um Himmels willen, wie siehst du denn aus?«, sagte er. »Komm rein. Ich hab schon mit dem Stationsarzt gesprochen. Er wird sich persönlich um dich kümmern. Ich komme dann gleich wieder«, sagte er zu Terje. »Danke, dass du angerufen hast.«

»Keine Ursache«, entgegnete Terje. »Ich setze mich solange hier hin und werfe einen Blick in die Zeitschriften.«

Nachdem Bergþór mit seiner Frau in der Patientenaufnahme verschwunden war, wollte sich Terje gerade hinsetzen, als ihm einfiel, dass die Frage nach Guðrúns Adresse immer noch unbeantwortet war. Er wusste haargenau, wo im Breiðholtviertel sie wohnte, erinnerte sich aber nicht an den Straßennamen. Der würde bestimmt im Computer erscheinen, wenn man die Identifikationsnummer eingab. Er trat an die Glasscheibe und wollte mit der blonden Krankenschwester sprechen, aber sie war verschwunden, mitsamt allem Botox und Silikon wie vom Erdboden verschluckt. Die Adresse schien plötzlich keine Rolle mehr zu spielen.

Obwohl Terje nicht besonders sensibel auf Schwingungen in seiner Umgebung reagierte, spürte er: Hier läuft irgendwas. War dieser unscheinbare Arzt etwa hinter den Krankenschwestern her? Die Dame hatte ja einen ziemlichen Vorbau.

Er setzte sich und griff nach einer monatealten Klatschzeitschrift mit einem Bericht über einen Fernsehstar mittleren Alters, der nach Thailand gezogen war und dort sein Glück gefunden hatte.

Vielleicht sollte man nach Thailand ziehen, dachte Terje. Da muss man bestimmt keine ewige Liebe und Treue und Ehe versprechen, um eine Frau rumzukriegen.

Terje war Single. Als Scheidungskind glaubte er nur bedingt an ein reibungsloses Funktionieren des Zusammenlebens von Mann und Frau. Andererseits hatte er Spaß an Sex und hätte für seinen Teil nichts dagegen einzuwenden gehabt, nicht mehr so viel Freizeit damit vergeuden zu müssen, jemanden dafür zu ergattern – mit, gelinde gesagt, mäßigem Erfolg.

16
E-Mail

Kjartan A. Hansen, ehemaliger Finanzminister und inzwischen isländischer Botschafter in Kanada, war schlecht gelaunt, als er den Computer in seinem Büro in der Botschaft in Ottawa einschaltete. Der Morgen war nicht seine Zeit. Morgens herrschte Katerstimmung – der Teil des gesellschaftlichen Lebens, den er am wenigsten schätzte.

Seiner Meinung nach spielte Kanada im Vergleich mit den Vereinigten Staaten ungefähr dieselbe Rolle in der westlichen Hemisphäre wie Sibirien im Vergleich zu Russland im Osten. Endlos weite Flächen, Tundra und Wald.

Er war hereingelegt worden. So einfach war das. Ministerpräsident Jökull Pétursson hatte ihn aus der Politik vertreiben wollen, und Kjartan war während seiner Zeit als Finanzminister auch Generalsekretär der Demokratischen Partei gewesen. Deshalb hatte Jökull den Außenminister veranlasst, Kjartan einen Botschafterposten zu verschaffen.

»Beim nächsten Parteitag wird sich bekanntermaßen alles um die Neuwahl des Generalsekretärpostens drehen«, erklärte Jökull. »Die Frauenriege drängt auf eine Repräsentantin in der Parteiführung, und Jórunn Halla bekommt viel Unterstützung. Niemand weiß, wie diese Wahl ausgehen wird. Wahlen sind ja grundsätzlich eine feine Sache, aber man sollte sie, wenn möglich, umgehen. Es sei denn, man ist sich sicher, zu gewinnen. Diesmal werden wir die Regierung ein wenig umbilden, die Weiber jammern ja andauernd, sie würden übergangen.«

»Es gibt doch wirklich keinen Grund, sich das ewige Gemaule dieser irren Frauenrechtlerinnen anzuhören«, sagte Kjartan. »Jede vernünftige Frau würde eher in die Prostitution als in die Politik gehen. Politik ist ein Sport, den Männer für Männer erfunden haben. Frauenpolitik ist wie Frauenfußball – ein Witz, den sich nur Perverse und Lesben angucken.«

»Tja, so ist das nun mal«, entgegnete der Ministerpräsident. »Aber das ist auch nicht der Hauptgrund. Wir stehen kurz vor der Privatisierung der Banken und verschiedener Staatsbetriebe, und soweit ich weiß, besitzt deine Familie beträchtliche Anteile an den meisten Aktiengesellschaften, die als Käufer in Frage kommen. Es macht gar keinen guten Eindruck, wenn du ausgerechnet jetzt Finanzminister bleibst.«

»Aber nach China gehe ich auf keinen Fall«, protestierte Kjartan A. Hansen. »Ich ertrage es nicht, mit Leuten zu verkehren, die kein Besteck in den Händen halten können.«

»In Asien haben sie eine ziemlich alte Kultur«, sagte der Ministerpräsident, »obwohl ich dir Recht geben muss: Es sieht nicht besonders elegant aus, wie sie ihr Essen traktieren.«

»Kultur?«, fragte Kjartan A. Hansen. »Das sind doch Kommunisten. Eine Diktatur, die die Weltmacht anstrebt. Ich für meinen Teil verstehe nicht, warum ein erstklassiger Mann wie Bush solche Wirrköpfe wie diesen Saddam verfolgt, der überhaupt keine Rolle spielt, statt die wirkliche Bedrohung der Weltordnung zu bekämpfen. Schon möglich, dass Saddam ein paar Kurden umgelegt hat, aber das haben andere ja auch getan, zum Beispiel die Türken, und denen wird jetzt eine Mitgliedschaft in der EU angeboten, und sie dürfen als feine Herren in Brüssel herumstolzieren. Die Kommunisten sind das Problem, und die sitzen in China.«

»Aber sie haben sich westliche Wirtschaftsprinzipien angeeignet.«

»Dann werden sie erst recht gefährlich.«

»Und Kommunisten gibt es auch auf Kuba«, sagte Ministerpräsident Jökull, der den Theorien seines Kollegen im Großen und Ganzen zustimmte, selbst aber auch einen Aspekt beisteuern wollte.

»Das ist doch nicht vergleichbar«, meinte Kjartan. »Der alte Castro bedroht ja nicht mehr den Weltfrieden.«

»Tjajaja«, sagte Jökull. »Ich hab das mit dem Botschafterposten jedenfalls schon mit der Koalition abgesprochen.«

»Und was ist dabei herausgekommen?«

»In der letzten Zeit wurde einem Idioten nach dem anderen ein Botschafterposten verschafft, völlig gleichgültig, ob überhaupt irgendwelche Botschaften vakant waren«, erklärte Jökull. »Deshalb konnte der Außenminister nicht viel dagegen sagen, als ich ihm mitgeteilt habe, du wollest etwas kürzertreten. Wir haben das per Handschlag geregelt. Du brauchst keine Befürchtungen wegen China oder Russland zu haben. Der Außenminister hat wortwörtlich zu mir gesagt: Ich schicke ihn in den Westen.«

»In den Westen?«

»Ja.«

»Nach Amerika?«

»Ja.«

»Washington?«

»Das liegt in Amerika.«

»Ein solches Angebot kann man nicht ausschlagen«, entgegnete Kjartan A. Hansen, und das waren seine letzten Worte in der isländischen Politik.

In der darauffolgenden Woche begab er sich ins Außenministerium, um aus den Händen des persönlichen Referenten des Außenministers seine Weisung entgegenzunehmen. Der Außenminister war zu einem wichtigen Treffen mit Expräsident Nelson Mandela, Bob Geldof und internationalen Popstars nach Südafrika geflogen, wo ein Konzert zur Unterstützung der hungernden Menschen in der Welt stattfinden sollte.

Als Kjartan A. Hansen den Weisungsbrief überflog, entglitt ihm sein angeborener blasierter Upperclass-Gesichtsausdruck. Dort stand, er solle Botschafter der Republik Island in Ottawa werden.

»Da muss ein Missverständnis vorliegen, das muss korrigiert werden«, sagte Kjartan zu dem Referenten, einem Jungspund aus der Medien- oder Werbebranche. »Der Ministerpräsident hat mir mitgeteilt, es sei vereinbart worden, dass ich nach Amerika gehe.«

»Kanada ist in Amerika«, erwiderte der Jungspund, der sauer war, weil er mit der Drecksarbeit zu Hause saß und nicht zum Konzert fahren und Mandela treffen durfte.

»Ich weiß, wo Kanada liegt.«

»Kanada ist das größte Land in Amerika«, fuhr der Jungspund, ohne mit der Wimper zu zucken, fort. »Größer als die USA oder Brasilien.«

»Es wurde vereinbart, dass ich in den Westen gehe«, sagte Kjartan mit eiskalter Verachtung. »Der Ministerpräsident hat mir gesagt, die Sache sei per Handschlag besiegelt und in die Wege geleitet worden.«

»Ich war Zeuge dieses Gesprächs«, erklärte der Referent des Außenministers. »Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Uneinigkeit darüber herrscht, in welcher Himmelsrichtung Kanada liegt. Die Herren verwendeten die Formulierung ›in den Westen‹. Aber in dem Gespräch war weder von Kanada noch von den USA die Rede.«

Kjartan sagte nichts mehr. Er war lange genug in der Politik, um zu begreifen, dass er kaltgestellt worden war. Erst vom Ministerpräsidenten, dann vom Außenminister, und beide hatten erreicht, was sie wollten.

Von diesem Moment an dachte er vor allem darüber nach, wie er seine Rückkehr in die isländische Politik vorbereiten und organisieren könnte. Er verfolgte die isländischen Nachrichten aufmerksam und freute sich jeden Morgen darauf, den Computer einzuschalten und sich an den Fehlern seiner Exkollegen zu ergötzen.

Das Büro des Botschafters befand sich im selben Gebäude wie sein Wohnsitz. Wenn Kjartan morgens nicht ausschlief, um sich von den Amtspflichten des vergangenen Abends zu erholen, schlüpfte er einfach nur in Bademantel und Hausschuhe und rief seine E-Mails und die isländischen Nachrichtenseiten auf.

Er öffnete die E-Mails der Reihe nach und leitete die meisten weiter an die Botschaftssekretärin, die sich morgens um alles kümmerte, während die Aktivitäten des Botschafters sich eher über die Nachmittags- und Abendstunden erstreckten. Gerade wollte er eine Mail mit dem Betreff VERTRAULICH weiterleiten, stutzte jedoch im letzten Moment und las die Nachricht Wort für Wort, auch wenn der Anfang bloß dummes Gewäsch war.

 

»Frauen fungieren seit Menschengedenken als Konsumgüter der Männer … Bewertet werden sie nach ihrem Aussehen, nicht nach ihrem Charakter … Lustobjekte, Sexsklavinnen und Statussymbole ihrer Ehemänner … für ihn an der Zeit, Sexpartnerin und Statussymbol zu erneuern – mit anderen Worten, sich von seiner Ehefrau zu trennen und sich eine jüngere Ausgabe zu suchen.

Jene Ehemänner und Konsumenten heißen Magnús Magnússon, Geschäftsmann, und Kjartan A. Hansen, Botschafter und ehemaliger Minister.«

… Aber unter Rücksichtnahme darauf, dass eine Veröffentlichung des Buches einigen Personen, beispielsweise dir, Kummer, Rufschädigung oder gar konkrete finanzielle Verluste zufügen könnte … fünfhunderttausend Euro, zahlbar innerhalb einer Woche …

Sämtliche Versuche, den Absender dieser E-Mail aufzuspüren, machen das Angebot ungültig und führen dazu, dass das Manuskript umgehend der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.

 

Obwohl Kjartan A. Hansens wichtigster Lebens- und Arbeitsgrundsatz war, vor dem Mittagessen nichts zu trinken, erhob er sich von seinem Stuhl, ging zur Anrichte und schenkte sich einen Wodka ein. Er leerte das Glas in einem Zug, schenkte erneut ein, ging mit dem Glas in der einen und der Flasche in der anderen Hand zu seinem Schreibtisch und stellte beides auf den Tisch neben seinen Computer.

Die Mail von walkueren@hotmail.com leitete er weiter an die Adresse daniel.dadason@justizmin.is. Anschließend griff er nach dem Haustelefon.

»Hallo. Verbinde mich mit dem Justizminister, es ist dringend. Sehr dringend.«

»Mit dem isländischen Justizminister?«, fragte die Sekretärin.

»Nein, mit dem von der Elfenbeinküste«, entgegnete Kjartan A. Hansen. »Was ist das für eine dämliche Frage? Selbstverständlich will ich mit Daniel Daðason, dem isländischen Justizminister, sprechen. Gibt’s hier noch irgendjemanden mit einem Funken Verstand?«

Dann legte er auf und wartete auf die Verbindung mit Daniel.

Sie waren Cousins.

17
Dringliches Meeting

Justizminister Daniel Daðason benutzte das Wort »Meeting« für nahezu jeglichen zwischenmenschlichen Kontakt während der Arbeitszeit. Auch wenn er mit seinem Assistenten zu einem Plausch beisammensaß, hieß es, er befinde sich in einem »Meeting«. Bereits nach wenigen Wochen Amtszeit war es ihm gelungen, sämtlichen Mitarbeitern des Ministeriums anzugewöhnen, ihn mit »Herr Minister« anzusprechen. Den Intelligentesten unter ihnen brachte er bei, dies in der dritten Person zu tun: »Darf ich den Herrn Minister fragen? Ich stimme dem Herrn Minister zu!« Daniel war der festen Überzeugung, dass es keineswegs ausgeschlossen sei, den Isländern Manieren beizubringen – wie anderen Nationen auch –, wenn man es nur richtig anpackte.

Der Justizminister war arbeitsam und betrachtete seine Zeit als äußerst kostbar, weshalb er ausschließlich »dringliche Meetings« abhielt; weniger dringende Angelegenheiten überließ er seinen Mitarbeitern, bis sie entweder vergessen oder so dringend geworden waren, dass er sie selbst klärte.

Kein Mensch im Ministerium wäre je auf die Idee gekommen, ohne eine eindeutige Anweisung des Justizministers eine Entscheidung zu treffen, am besten eine schriftliche Anweisung, denn es gab Beispiele dafür, dass sich der Minister nicht daran erinnern konnte, eine Entscheidung getroffen zu haben, es sei denn, sie war schriftlich dokumentiert oder von ihm unterschrieben oder zumindest mit seinem Kürzel versehen. Dieser Unterschriftenwahn der Mitarbeiter führte dazu, dass Daniel anstrebte, das Justizministerium zu einem »papierfreien Büro« zu machen, denn er hatte sich schon früh für Computer und die damit verbundenen neuen Perspektiven interessiert. Dazu zählte auch die Möglichkeit, sich in einem Blog zu äußern, ohne Einmischung eines Redakteurs und ohne Druckerschwärze seine Meinung kundzutun, ohne in körperlicher Anwesenheit mit allen möglichen Dummköpfen hadern oder die Hände völlig fremder Menschen schütteln zu müssen, auf denen es von Bakterien nur so wimmelte, die es aber als ihr besonderes Privileg ansahen, mit dem Minister zu verkehren, weil sie in derselben Partei waren.

Jeden Abend, bevor er zu Bett ging, rief der Minister seine Blogseite auf und schrieb mit großer Sachkenntnis sowohl über internationale Politik, in der er sich durch die Lektüre amerikanischer Tageszeitungen hervorragend auskannte, als auch über innenpolitische Themen, die sowieso allen bekannt waren. Darüber hinaus bereitete es ihm Vergnügen, kurze Aufsätze historischen Inhalts zu schreiben, in denen es meist um Kriminalität und die Boshaftigkeit des Kommunismus ging. Außerdem war es Daniel ein besonderes Anliegen, vor der heimtückischen Propaganda im öffentlich-rechtlichen Radio zu warnen, denn ihm war schon vor langer Zeit klar geworden, dass diese Institution eine Brutstätte unsozialer Ansichten und eine Propagandamaschine heimlicher Kommunisten unter dem Deckmäntelchen von Liberalität und freier Gesinnung war.

Die Blogseite des Ministers hatte den Vorteil, dass nichts leichter war, als einen veralteten Text im Internet zu verändern, einen Text, der Zeuge seiner Zeit gewesen war, vor dem Hintergrund neuer Tatsachen zu bearbeiten, sodass Historiker kommender Generationen den täglichen Blog des Ministers studieren und beeindruckt sein würden von seinem Weitblick, seiner politischen Intuition und seinen weisen Prophezeiungen.

Zum ersten Meeting an jenem Morgen hatte der Justizminister die beiden Polizeichefs geladen – die Landespolizeichefin und den Reykjavíker Polizeidirektor – sowie deren engste Mitarbeiter. Der Minister freute sich normalerweise nicht besonders auf diese Meetings, denn der Reykjavíker Polizeidirektor war einer der wenigen Menschen, denen Daniel misstraute, und leider einer der wenigen, mit denen er von Amts wegen ab und an verkehren musste, ob er wollte oder nicht. Aber diesmal hatte Daniel schlechte Nachrichten für den Polizeidirektor; deshalb lächelte er, als seine Sekretärin um Punkt zehn an die Tür klopfte und ihren Kopf ins Büro steckte.

»Landespolizeichefin Elín Óskarsdóttir und ihr Assistent Eysteinn Brandsson sind eingetroffen und warten. Lúðvík und sein Assistent sind allerdings immer noch nicht da. Sollen die beiden draußen warten oder möchte der Herr Minister mit dem Meeting beginnen, auch wenn noch nicht alle vollzählig sind?«

»Die Zeit vergeht und wartet auf niemanden«, sagte der Minister und beschloss, sich diesen Satz zu notieren und ihn bei Gelegenheit beim Bloggen zu benutzen. »Das Meeting beginnt pünktlich.«

Er notierte den Satz: Die Zeit wartet auf keinen Menschen. Das klang besser. Oder vielleicht »auf keinen Mann«? Wobei er natürlich die Frauen nicht ausgrenzen wollte; Frauen waren schließlich auch Menschen. Er erhob sich von seinem Schreibtisch und ging zur Tür, um die Landespolizeichefin in Empfang zu nehmen. Er kannte sie seit ihrer Geburt – sie war die Tochter von Óskar Oddleifsson, des mittlerweile verstorbenen Leiters der staatlichen Alkoholläden, welcher wiederum der Bruder von Gestur, dem Parlamentarischen Geschäftsführer der Demokratischen Partei, war. Deshalb setzte Daniel sein legendäres, freudloses Lächeln auf, entblößte beide Zahnreihen und reichte ihr die Hand.

»Landespolizeichefin.«

»Guten Tag, Herr Minister. Danke für die Einladung.«

»Es ist mir ein Vergnügen«, sagte er. »Ich wünschte, alle meine Gäste wären so willkommen wie du.«

»Darf ich dem Herrn Minister vorstellen?«, sagte Elín. »Das ist Eysteinn Brandsson, mit landespolizeilichen Sonderaufgaben betraut. Er ist Harvard-MBA. Ich habe dir schon von ihm erzählt.«

»Freut mich«, sagte der junge, hochgewachsene Mann, der die Landespolizeichefin begleitete, und streckte seine Hand aus. Sie war trocken und weich.

Daniel gefiel der Mann sofort. Auch wenn der Minister nicht besonders gesellig war, traf er gern Menschen mit guten Manieren, und über die verfügte der Mann. Er verbeugte sich sogar gekonnt: ein bisschen mehr als nur ein Kopfnicken, ohne jedoch eine übertriebene oder gezwungene Haltung einzunehmen. Das Haupt neigen, sagte man dazu. Dieser Mann musste aus guter Familie stammen. Seltsam, dass der Minister nichts über seine Verwandtschaftsverhältnisse gehört hatte.

Der Justizminister warf einen raschen Blick auf den Sekundenzeiger an der Wanduhr. Pünktlichkeit zählte zu seinen Leidenschaften.

»Was ist eigentlich los? Ist Lúðvík immer noch nicht da? Ich verstehe das nicht.«

Als der Minister gerade die Tür schließen wollte, sah er, dass seine Sekretärin aufgesprungen war, mit entsetztem Gesicht den Telefonhörer in der Hand hielt und ihm mit der anderen Hand zuwinkte.

»Moment, wartet mal«, raunte die Sekretärin ins Telefon, riss sich dann zusammen und sagte: »Das ist der Empfang. Anscheinend haben sie Polizeidirektor Lúðvík nicht hereingelassen. Er konnte sich nicht ausweisen.«

18
Das Tribunal der Straße

Genau genommen wunderte sich Magnús Mínus nicht über Brynhildurs Unmut über die Scheidung, obwohl er der Meinung gewesen war, sie anständig behandelt zu haben, zumindest finanziell, und was ihr Privatleben betraf: das war ohnehin nicht besonders turbulent gewesen. Um größere Auseinandersetzungen zu vermeiden, war er nur selten zu Hause gewesen. Er hatte sich um die Geschäfte gekümmert, sie um ihr Zuhause. Fairer konnte eine Arbeitsteilung gar nicht sein, und es bestand kein Zweifel daran, wer von ihnen mehr gearbeitet und mehr Besitz angehäuft hatte.

Nun waren sie geschieden, und sie konnte sich nicht mehr länger über ihn beschweren. Ihm persönlich war es völlig gleichgültig, welche Klatschgeschichten die Leute in die Welt setzten, aber leider konnten auch Dinge, die einen selbst nicht sonderlich interessierten, verheerende wirtschaftliche Folgen haben.

Die Geschäfte liefen gut. Aber der Wettbewerb war härter als je zuvor. Um im Preiskampf der Supermarktketten bestehen zu können, wurden alle Register gezogen: Bónus, Nettó, Krónan, Europris – lauter hartgesottene, gefährliche Konkurrenten im Buhlen um die Gunst der Kundschaft. Meistens entschieden die Frauen, wo der Familieneinkauf getätigt werden sollte, und Magnús wusste aus Erfahrung, dass Frauen eben oft die Läden mit den niedrigsten Preisen bevorzugten.

Bei Imageverlust, Klatsch und Verleumdung musste er einfach nur kräftig die Preise senken, um die Kundschaft zu halten. Niedrigere Preise bedeuteten weniger Gewinn. Eine beachtliche Preissenkung bedeutete noch weniger Gewinn.

Eigentlich war es ein Schnäppchen, sich für eine Million Euro freizukaufen und damit den Firmenwert zu bewahren. Würde sich die Kundschaft von ihm abwenden, müsste er die Preise um 10 % senken, oder vielleicht auch nur um 5 %, um sie wieder anzulocken. 5 % des Umsatzes war keine geringe Summe. Und das nicht nur ein Jahr lang. Würde er die Preise erheblich senken, würden die anderen Supermarktketten nachziehen, und natürliche Preiserhöhungen wären für eine unbestimmte Zeit undenkbar. Vielleicht sogar über mehrere Jahre. Der Firmenwert der Läden war doch höher, als er im ersten Moment überschlagen hatte.

Eine andere Sache war es, jemandem, den er nicht kannte, eine Million Euro zu zahlen für etwas, das er ebenso wenig kannte wie den Empfänger des Geldes. Und eine noch andere Sache war es, sich geschäftlich in die Enge treiben zu lassen.

Seine Lage sah so aus: Jemand hatte ein Buchmanuskript in der Hand, das ihm bestenfalls persönlichen Imageverlust und schlimmstenfalls wirtschaftlichen Schaden zufügen konnte. Nur ließ sich schwer einschätzen, wie realistisch derartige Schäden eintreten würden, und wenn ja, wie groß sie wären.

Der E-Mail nach zu schließen, die er am Morgen bekommen hatte, bestand kein Zweifel daran, dass der Absender tatsächlich über das Manuskript verfügte. Es begann mit dem üblichen Emanzipationsquatsch, hysterischen Analysen über die Rolle der Frau als Ware.

Er hatte Brynhildur seinerzeit keineswegs gekauft. Er hatte im Laden ihres Vaters gearbeitet und konnte sich kaum selbst über Wasser halten, besaß nichts als seinen Fleiß und Disziplin.

Er war nicht derjenige gewesen, der sich beklagt hatte und die Ehe annullieren wollte.

Er war nicht in ein eigenes Schlafzimmer gezogen.

Er hatte sich nicht geweigert, das Haus zu verlassen und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

Sie hatte die Trennung und die Scheidung gefordert.

Nicht er.

Aber solche Argumente über Schuld und Unschuld möchte niemand hören. Das Tribunal der Straße verzichtet auf eine faire Untersuchung des Falls, braucht keine Zeugenaussagen. Es urteilt auf der Basis von Klatsch, Gerüchten, übler Nachrede und begründet sein Urteil mit leidenschaftlichem Gerechtigkeitsempfinden. Es urteilt nicht nach Indizien, sondern nach der gesellschaftlichen Stellung der Beteiligten, und misstraut den Starken, Reichen und Mächtigen, die durch ihre Taten sprechen. Das Tribunal der Straße solidarisiert sich mit der Eifersucht, dem Hass und der Verbitterung der Neider von Wohlstand, Mut und Fleiß.

Wer vor das Tribunal der Straße gezerrt wird, hat keinen Anspruch auf einen Verteidiger. Wem einmal der Nachttopf über dem Kopf ausgeleert wurde, dem haftet Uringeruch an, ungeachtet seiner Schuld oder Unschuld.

Plötzlich hörte er hinter sich Vogelgezwitscher. Magnús erschrak bei dem Geräusch. Es konnte sich wohl kaum ein Vogel durchs Fenster verirrt haben. Mitten im Winter. Nur langsam schaltete er. Es war das Klingeln seines Handys in seiner Jackentasche. Hanna Dís änderte ständig die Klingeltöne in seinem Handy. Sie beteuerte, ein normaler Klingelton sei lächerlich, und klassische Musik, wie etwa die Ouvertüre aus Wilhelm Teil, die er anregend und hübsch fand, sei noch geschmackloser.

Magnús fischte das Handy aus seiner Jackentasche.

»Magnús«, antwortete er, ohne auf die Nummer des Anrufers zu achten. Das war er nicht gewöhnt. Nur wenige kannten seine Privatnummer.

»Die Sache ist nicht so einfach«, sagte die Stimme am Telefon.

»Wie?«

»Es ist nicht auffindbar, und wir suchen schon …«

Magnús schnitt seinem Gesprächspartner das Wort ab und sagte: »Ich möchte nicht wissen, wo ihr gesucht habt und was ihr gemacht habt. Die Sache läuft nicht in meinem Auftrag oder auf meine Verantwortung. Ich will es nur haben, und fertig. Kein weiteres Wort darüber.«

»Ich bezweifle langsam, ob sie es wirklich schon geschrieben hat.«

»Da gibt’s nichts zu zweifeln. Ich hab einen Auszug per E-Mail bekommen.«

»Per E-Mail?«

»Ja. Heute Morgen. Lässt sich so was rückverfolgen?«

»In den meisten Fällen ist das sicher möglich – es sei denn, es wurden spezielle Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Ich kann dir einen Jungen vorbeischicken, ein Computergenie, wenn auch ein bisschen weltfremd.«

»Schick ihn sofort her.«

»Vor heute Abend läuft da gar nichts.«

»Nicht später als fünf«, sagte Magnús und legte auf. Er kannte jede Menge Leute und hatte viele Kontakte.

Es sah nicht gut aus. Er öffnete die E-Mail noch einmal, klickte auf »Antworten« und schrieb die folgende Nachricht an den Absender mit der Adresse walkueren@hotmail.com:

 

Falls es wirklich möglich ist, zu verhindern, dass sich meine Exfrau öffentlich lächerlich macht, bin ich bereit, das Angebot in Erwägung zu ziehen. MM

19
Besser spät als nie

Terje quälte sich gerade durch einen Artikel in einem abgegriffenen dänischen ›Hjemmet‹-Heft, in dem eiskalt behauptet wurde, der dänische Thronfolger habe mit einem australischen Mädchen angebandelt, als Guðrún wieder auftauchte. Er hatte erwartet, sie leichenblass und mit verbundenem Kopf zu sehen, aber überraschenderweise wirkte sie fast fröhlich, und die Wunde unter dem hautfarbenen Pflaster am Haaransatz war unauffällig.

»Wartest du etwa auf mich?«, fragte sie und machte ein erstauntes Gesicht.

»Ja, auf wen denn sonst?«, antwortete er.

»Ich hab gar nicht gewusst, dass du so ritterlich bist«, sagte sie. »Vielen Dank, aber ich hätte natürlich auch ein Taxi nehmen können.«

»Eben war ich noch ein Trampeltier. Jetzt bin ich ein Ritter. Wenn das keine Entwicklung ist! Natürlich fahre ich dich nach Hause«, sagte Terje und fügte hinzu: »Wo ist dein Mann?«

»Bergþór ist wieder auf seiner Station, bei seiner Arbeit, und ich gehe jetzt wieder zu meiner Arbeit.«

»Und wenn du eine Gehirnerschütterung hast?«

»Dann möchte ich lieber einen Ritter an meiner Seite haben, als allein zu Hause zu sitzen«, antwortete sie.

»Außerdem halte ich es für sehr unwahrscheinlich, dass ich heute noch einen weiteren Schlag abbekomme.«

»Ich soll zurück nach Álfheimar fahren«, sagte Terje. »Theódór durchsucht die Wohnung. Jón und Marinó befragen die Bewohner des Wohnblocks, ob jemand etwas gesehen hat. Heute Morgen oder vorletzte Nacht oder irgendwann.«

 

Theódór und Erla, die neue Mitarbeiterin aus der Technischen Abteilung, untersuchten Freyjas Wohnung. Sie trugen weiße Overalls und hatten Plastikbänder vor die Türen gespannt, damit niemand ungebeten hineinkommen konnte.

Guðrún war erleichtert, dass Theódór sie nicht darauf ansprach, was sie am Morgen allein hier zu suchen gehabt hatte, sondern sie nur nach ihrem Befinden fragte und die perfekt verarztete Wunde an ihrer Stirn bewunderte.

»Ich hab ja immer gesagt, dass du einen Dickkopf hast«, sagte er. »Du bist eine echte Powerfrau.«

»Soll ich euch helfen?«

»Nein«, antwortete Theódór. »Víkingur und Randver haben heute Morgen bei der Besprechung bekannt gegeben, du seiest zeitweilig von der Technischen Abteilung freigestellt, um dich um die Ermittlung des Todes der Frau, die hier gewohnt hat, zu kümmern. Seit heute wird das wohl als Mordfall angesehen, und dann kam heute Morgen noch Körperverletzung oder vielleicht sogar ein Mordversuch hinzu.«

»Was sagst du da?«, fragte Guðrún. »Körperverletzung und Mordversuch?« Im selben Moment, als sie die Frage gestellt hatte, wurde ihr klar, dass Theódór von ihrem eigenen Zwischenfall am Morgen sprach.

»Ach so, das meinst du«, sagte sie. »Ich glaube, der Angreifer wollte sich nur ungesehen davonmachen. Hast du schon eine Ahnung, wonach er gesucht hat?«

»Schwer zu sagen«, entgegnete Theódór. »Wer aufs Geratewohl einbricht und nach leicht verkäuflichen Wertgegenständen sucht, beginnt meistens im Wohnzimmer. Dieser Einbrecher hat im Arbeitszimmer angefangen. Soweit ich weiß, stand da kein Computer, aber es gibt ein Modem oder einen Router oder wie dieses Gerät für drahtlosen Empfang heißt. Ich weiß nicht, wie viel so was kostet, aber er hat es jedenfalls dagelassen. Überall sind Unterlagen und CDs verstreut; vielleicht hat er davon was mitgenommen. Anschließend hat er das Schlafzimmer durchsucht. Erla verdunkelt gerade die Fenster, und dann werden wir mal schauen, ob wir mit diesen neuen Geräten irgendwelche Fußspuren finden.«

»Ja, heute Morgen war es nass draußen, man müsste Abdrücke der Sohlen sehen können«, sagte Guðrún. Zu ihrer großen Verwunderung war sie auf Erla, die von Theódór unterwiesen und angeleitet wurde, eifersüchtig.

»Jón und Marinó klingeln gerade an allen Wohnungstüren«, erzählte Theódór weiter. »Wie die Zeugen Jehovas. Es ist unglaublich, wie wenig die Leute über ihre Nachbarn wissen. Die Frau, die eine Etage höher wohnt, wusste noch nicht mal, dass Freyja hier gelebt hat. Obwohl ihre Schlafzimmer nur ein paar Zentimeter auseinanderliegen; nur eine Zimmerdecke hat sie voneinander getrennt. Früher auf dem Land kannte jeder jeden, selbst wenn die Höfe weit voneinander entfernt waren und nur im äußersten Notfall das Telefon benutzt wurde.«

»Die Zeiten ändern sich eben«, sagte Guðrún, die froh gewesen war, aus dem Dorf, in dem sie aufgewachsen war, nach Reykjavík ziehen zu können.

»Ja, es nimmt wohl alles seinen Lauf«, sagte Theódór. »Als ich eben auf der Eingangstreppe stand, hab ich gesehen, wie sich in einem Fenster in dem Wohnblock gegenüber jemand bewegt hat. Das war das einzige Lebenszeichen, das ich entdecken konnte. In der letzten Wohnung im zweiten Stock. Der Balkon und ein großes Fenster zeigen in unsere Richtung, wahrscheinlich das Wohnzimmerfenster, falls die Wohnung dieser hier ähnelt.«

»Hast du das Marinó oder Jón erzählt?«, fragte Guðrún.

»Die kümmern sich doch nicht um Hinweise aus der Technischen Abteilung«, antwortete Theódór. »Das sind erfahrene Männer, die ihren Job beherrschen.«

 

Die Haustür öffnete sich nicht gleich. Stattdessen ertönte eine Stimme in der Gegensprechanlage und fragte, wer da sei.

»Guðrún Hallsdóttir von der Kriminalpolizei.«

»Wer sagt mir denn, dass das stimmt?«, fragte die Stimme; eine Frau, bestimmt schon etwas betagter.

»Wenn du mich reinlässt, zeige ich dir meinen Ausweis.«

»Wie kann ich dich denn wohl reinlassen, wenn ich den Ausweis noch gar nicht gesehen habe?«, fragte die Stimme.

Terje konnte sich nicht zurückhalten und lachte laut auf.

»Eine Zwickmühle«, sagte er.

»Hast du einen Mann dabei?«

»Terje Joensen, ich bin auch von der Kripo«, erklärte Terje. »Bitte sei so freundlich und öffne die Tür.«

»Was wollt ihr?«

»Wir möchten nur kurz mit dir sprechen«, sagte Guðrún.

»Mit der Polizei habe ich nichts mehr zu schaffen«, sagte die Stimme. »Vor über zwanzig Jahren habe ich die Polizei mal gerufen, das war an Silvester, und ihr seid nicht gekommen, und seitdem hab ich nichts mehr mit euch zu schaffen.«

»Besser spät als nie. Die Verspätung tut mir leid … nein, aber mal im Ernst«, sagte Guðrún. »Wir sind wegen einer anderen Sache hier. Mir wird langsam kalt, und ich möchte dich bitten, uns hereinzulassen.«

»Es war aber auch an der Zeit, dass sich mal jemand entschuldigt«, sagte die Stimme und seufzte.

Dann ertönte ein elektrisches Summen, und sie traten ein.

Auf dem Weg nach oben tippte sich Terje an die Schläfe und verdrehte die Augen.

»Das kann ja ein aufschlussreiches Gespräch werden«, sagte er.

Als sie den Treppenabsatz im zweiten Stock erreicht hatten, sahen sie durch einen Spalt in der Türöffnung ein wachsames Auge, das sie beobachtete. Als sie näher kamen, erkannten sie, dass der Spalt von einer Sicherheitskette begrenzt wurde, eine in Island seltene Ausstattung, selbst in der Hauptstadt.

»Guten Tag«, sagte Guðrún, als sie an die Tür trat.

»Ja«, sagte die Frau trocken. »Du hast gesagt, du hättest einen Ausweis dabei. Hat der Mann auch einen?«

Sie hielten ihre Polizeiausweise hoch.

»Glaubt ihr, ich könnte die so erkennen?«, fragte die Frau. »Gebt mir die Ausweise, damit ich sie mir ansehen kann.«

Sie steckten die Ausweise durch den Spalt, wo sie von knochigen Fingern entgegengenommen wurden. Dann fiel die Tür ins Schloss.

»Ich muss meine Brille suchen«, klang es laut von drinnen, und schleppende Schritte waren zu hören.

An der Tür hing ein blank poliertes Messingschild:

 

Sigurður Guðmundsson Bürovorsteher
Bára Thomsen

 

»Das funktioniert so nicht. Ohne Brille findet sie ihre Brille bestimmt nicht«, sagte Terje, nachdem sie eine Weile gewartet hatten. »Das funktioniert nicht. Ich klopfe jetzt.«

»Glaubst du, sie wird dann zutraulicher?«, fragte Guðrún. »Das ist eben eine alte Frau. Könnte deine Großmutter sein.«

»Urgroßmutter«, entgegnete Terje.

20
Mutatis mutandis

»Besser spät als nie«, sagte der Justizminister, nachdem er dem Reykjavíker Polizeidirektor einen Platz am Konferenztisch angeboten hatte. »Es tut mir leid, dass das Empfangspersonal dir den Eintritt verweigert hat. Aber dort unten müssen alle ihren Ausweis vorzeigen, und außerdem wurden für dieses Meeting zwei Personen von der Reykjavíker Polizei erwartet, nicht eine.«

»Hauptkommissar Víkingur Gunnarsson ist mit wichtigen Aufgaben beschäftigt. Er lässt grüßen«, sagte Lúðvík. »Sie haben mir nicht den Eintritt verweigert, sie haben mich rausgeschmissen. Diese Gorillas, die du da engagiert hast, sind ganz schön zupackend. Man wird immer so verdammt aufbrausend von diesen Anabolika. Sei froh, wenn die Medien keinen Wind davon bekommen. Ich sehe die Schlagzeilen schon vor mir: Justizministerium in den Händen von Gorillas – oder gar Anabolikagorillas! Journalisten neigen ja zu Übertreibungen. Die Hünen haben hoffentlich keine Schwierigkeiten, dich zu erkennen, wenn du morgens kommst?«

»Nein«, sagte der Minister. »Ich zeige meinen Ausweis, wenn ich komme. Das müssen alle tun, und ich gehe mit gutem Beispiel voran.«

»Der Häuptling regiert die Glieder«, bemerkte Lúðvík. »Äh, der Kopf, meine ich. Wer hat sich dieses System ausgedacht, wenn ich fragen darf? Ich wusste zwar, dass du bei einem Sicherheitsdienst Leibwächter engagiert hast, aber nicht, dass das bei euch so perfekt läuft.«

Der Minister konnte in der Stimme des Polizeidirektors keine Ironie ausmachen, war aber dennoch vorsichtig, denn er reagierte empfindlich auf Spott. Der Mann versucht doch wohl nicht, sich über mich lustig zu machen?, dachte er. Nein, zum Teufel. Er ist nur erschrocken, weil er es mit einem echten Sicherheitsdienst zu tun hatte.

»Man kann das nicht als System bezeichnen«, erklärte Daniel Daðason. »Aber in Zeiten des internationalen Terrorismus fand ich es absurd, dass Hinz und Kunz in diesem Ministerium ein und aus gehen können, ohne sich ausweisen zu müssen. Und weil die Polizei wichtigere Aufgaben hat, als die Regierung zu beschützen, habe ich beschlossen, mich an eine private Firma zu wenden. Das hat bis jetzt gut funktioniert, und wir denken darüber nach, es in allen Ministerien und den wichtigsten öffentlichen Gebäuden zu etablieren.«

»Wenn diese ganzen starken Jungs tagsüber einer geregelten Arbeit nachgehen, gibt es nachts hoffentlich weniger Körperverletzungen und Knochenbrüche«, sagte Lúðvík und lächelte.

»Schön wär’s«, sagte die Landespolizeichefin Elín. »Der Herr Polizeidirektor ist sich hoffentlich darüber im Klaren, dass nächtliche Gewaltverbrechen in der Hauptstadt an Zahl und Intensität zugenommen haben, stärker als an vielen anderen Orten auf der Welt, außer in Kriegsgebieten.«

»Das Bemerkenswerte an den Zuständen in der Reykjavíker Innenstadt ist«, erwiderte Lúðvík, »dass sie noch viel schlimmer sein könnten. Wir haben an den Wochenenden nur siebzehn Polizeibeamte in der Nachtschicht, die Streife fahren und sich um viel mehr Menschen kümmern müssen als bei irgendeinem der vielen Open-Air-Festivals auf dem Land. Im Hauptstadtgebiet leben über 150000 Menschen mit nahezu unbegrenztem Zugang zu Alkohol und Drogen.«

Elín lächelte. Der »Dressman« ging in die Verteidigung. Jetzt konnte das Meeting beginnen.

Es war Elíns Idee gewesen, den Reykjavíker Polizeidirektor »Dressman« zu nennen, denn im Gegensatz zu vielen anderen hochgestellten Beamten scherte er sich nur wenig um seine Kleidung.

Aber Lúðvík war noch nicht fertig: »Es ist mir seit langem ein Trost, dass wir trotz aller Vergehen immer noch eines der wenigen Länder der Welt sind, in dem eine so offene Demokratie herrscht, dass sich die Allgemeinheit den von ihr gewählten Repräsentanten nähern kann, ohne vorher mit einem Metalldetektor abgesucht zu werden. Ich weiß nicht, ob sich die Zeiten ändern und die Menschen mit ihnen oder umgekehrt. Bis jetzt hat uns die Polizei genügt. Warum braucht der Justizminister Leibwächter – während wir zur gleichen Zeit bei der Polizei kein zusätzliches Personal genehmigt bekommen?«

Daniel beschloss, einen leichteren Ton anzuschlagen, damit die beiden Polizeivorsteher nicht sofort aneinandergerieten.

»Es heißt zwar immer, die Polizei braucht mehr Personal«, sagte er. »Aber möchten wir das wirklich?«

Da niemand antwortete, als der Justizminister in die Runde blickte, fuhr er fort: »Nein, das möchten wir natürlich nicht. Wir sind eine Demokratie und möchten nicht in einem Polizeistaat leben.«

»Entschuldige, dass ich so schwer von Begriff bin«, entgegnete Lúðvík, »aber meint der Herr Minister, die Polizei würde die Demokratie bedrohen?«

Der Justizminister schaute den Polizeidirektor erschöpft an. Dieser erwiderte seinen Blick. Beide dachten genau dasselbe von ihrem jeweiligen Gegenüber:

Wie war dieser Mann nur in dieses Amt gekommen?

 

Wer nichts tut, macht auch keine Fehler. Das wissen alle Politiker und die meisten Beamten.

Obwohl Polizeidirektor Lúðvík Ásmundsson Beamter war, hatte er diese Grundregel eines jeden Verwaltungsapparats offenbar vergessen.

Als die Besprechung zwischen dem Justizminister, der Landespolizeichefin und dem Reykjavíker Polizeidirektor beendet war, erkannte Lúðvík, dass es ein Fehler gewesen war, das Memo vorzulegen. An und für sich stand darin nichts, was bei ihren Meetings nicht schon lang und breit besprochen worden war, aber die Vorgehensweise, eine schriftliche Zusammenfassung vorzulegen, verlangte nach Reaktionen. Und selbst wenn diese Reaktionen in der Luft gelegen haben mochten, war es ein Fehler von ihm gewesen, sie zu provozieren. Auf dem Memo stand Folgendes:

 

Es ist lediglich eine Frage der Zeit, wann das organisierte Verbrechen, wie wir es aus dem Ausland kennen, auch in Island an Boden gewinnen wird; dafür gibt es genügend Beispiele in Ost- und Südeuropa, auf dem Balkan und in den Vereinigten Staaten von Amerika. Kennzeichen dieser Machenschaften sind Prostitution, Drogenschmuggel und -handel, Geldwäsche, Wirtschaftskriminalität sowie bewaffnete Gewalt und brutale Verbrechen gegen Leib und Leben.

Die herkömmlichen Arbeitsmethoden der Polizei sind ineffektiv und unzulänglich für die Aufklärung und den Nachweis solcher Delikte. Die Polizei kann die Sicherheit der Bürger, die von kriminellen Vereinigungen bedroht werden, sowie von etwaigen Zeugen nicht länger gewährleisten. Wir brauchen neue Instrumente und neue Arbeitsmethoden zur Bekämpfung neuer Gefahren, denen unsere Gesellschaft jetzt und in Zukunft ausgesetzt ist bzw. sein wird.

Die notwendigen Instrumente sind politische Entscheidungen und eine Gesetzgebung, die neue Arbeitsmethoden ermöglicht. Seit Jahren zögern die Politiker eine Stellungnahme zur Erweiterung der polizeilichen Befugnisse für Telefonüberwachungen hinaus. Seit Jahren fordert die Polizei ein Zeugenschutzgesetz. Seit Jahren wartet die Polizei auf eine Genehmigung für Undercover-Ermittlungen, um kriminelle Vereinigungen und geplante Verbrechen rechtzeitig aufdecken zu können.

Selbstverständlich muss die Notwendigkeit einer entsprechenden Gesetzgebung sorgfältig abgewogen werden gegenüber der Gefahr der Beeinträchtigung unbescholtener Mitbürger und deren Privatsphäre.

Selbstverständlich müssen einer derartigen Gesetzgebung Missbrauchsrichtlinien und Bestimmungen zugrunde liegen, die die Anwendung nur im Fall absoluter Notwendigkeit regeln. In einer Demokratie stellt die Polizei indes keine Bedrohung für unbescholtene Bürger und deren Privatsphäre dar, sondern sie versucht, deren Sicherheit zu gewährleisten und die Gemeinschaft zu schützen.

Die isländische Gesetzgebung muss unverzüglich zur Situation und künftigen Ausrichtung der Polizei Stellung nehmen und es ihr ermöglichen, mit harten Mitteln gegen organisierte Kriminalität vorzugehen. Die Gesellschaft muss zeigen, dass sie stärker ist als die Kräfte, die die Eckpfeiler unseres Rechtssystems bedrohen.

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass es der Polizei hierbei nicht um größere finanzielle Mittel geht, sondern um erweiterte Befugnisse, um in einer immer komplizierter werdenden Gesellschaft ihren Pflichten gerecht werden zu können.

 

Als Lúðvík den Text vorgelesen hatte, blickte er in die Runde. Alle schwiegen. Lúðvík hatte zwar nicht mit Applaus gerechnet, aber die völlige Stille schmerzte ihn in den Ohren.

»Also«, sagte der Justizminister endlich. »Möchte jemand etwas anmerken? Die Landespolizeichefin vielleicht?«

Elín ließ sich nicht lange bitten. Sie räusperte sich und sagte:

»An und für sich muss man den meisten Punkten zustimmen. Aber aus meiner Perspektive scheint es fragwürdig, dass der Reykjavíker Polizeidirektor, der zweifelsohne für die Polizei im Hauptstadtgebiet zuständig ist, sich bemüßigt fühlt, die Initiative zu ergreifen und den Justizminister um eine Gesetzesänderung zu ersuchen, die das gesamte Land betrifft und nicht nur seinen Amtsbereich. Ich hätte vollstes Verständnis dafür, wenn der Polizeidirektor Vorschläge für mögliche Änderungen der Polizeiverordnung in Reykjavík machen würde, aber in diesem Fall hat er sich, mit Verlaub, weit über seinen Zuständigkeitsbereich hinausbewegt.«

Elín lächelte, so als wollte sie ihre Reaktion abschwächen, aber ihr höfliches Entgegenkommen erreichte Lúðvík nicht, denn er hatte die Augen halb geschlossen und den Kopf auf seine Hand gestützt. Schlief der Mann etwa?

»Außerdem bin ich der Meinung«, fuhr Elín fort, »dass es vielmehr Aufgabe der Polizei ist, die geltenden Gesetze durchzusetzen. Selbstverständlich kann sie auch bei der Ausarbeitung neuer Gesetze beratend zur Seite stehen – falls dies gewünscht wird.«

»Das ist der Kern der Sache«, sagte der Justizminister und schaute die Landespolizeichefin liebenswürdig an. »Es ist zwar nicht gerade unmoralisch, wenn die Polizeiführung Gesetzesänderungen wünscht, aber die Grundregel jedweder Demokratie besagt doch, dass das gesetzgebende Organ, das Althing, seiner wichtigen Arbeit unbeeinflusst von Interessenverbänden und der Verwaltung nachgehen muss.«

»Entschuldigt bitte«, sagte Lúðvík, ohne die Augen zu öffnen. »Aber nichts liegt mir ferner, als das hochgeschätzte Althing zu behelligen. Andererseits ist es meine Amtspflicht, meinen Vorgesetzten, den Herrn Justizminister, der sowohl dem Althing als auch dem Volk verpflichtet ist, über die Entwicklung und die sich verändernde Lage in meinem Amtsbereich zu informieren.«

Nun öffnete Lúðvík die Augen und schaute erst den Justizminister, dann Elín an, erwiderte ihr Lächeln – von dem sie dachte, er hätte es nicht gesehen – und sprach weiter: »Der Kommentar der Landespolizeichefin, ich würde meinen Kompetenz- oder Amtsbereich überschreiten, scheint auf einem Missverständnis zu beruhen. Dazu möchte ich Folgendes sagen: Die Reykjavíker Polizei hält den größten Amtsbereich im ganzen Land, auch wenn die Landespolizeidirektion in der letzten Zeit sehr bereitwillig die meisten unserer Aufgaben übernommen hat. Die ganze Nation kennt unseren Leitsatz, wie schon in der ›Njáls saga‹ geschrieben: Durch Gesetze wird unser Land erbaut. Dies gilt für ganz Island, nicht nur für Reykjavík. Und nach diesem Leitsatz arbeiten wir, bis wir andere Vorschriften bekommen.«

Nimmt dieses verdammte Gezänk um die Zuständigkeitsbereiche denn nie ein Ende?, dachte der Justizminister. Er hatte schon lange die Nase voll von dem Kompetenzgerangel der beiden. Laut sagte er: »Im Großen und Ganzen kann ich vielem, was hier gesagt wurde, zustimmen und die Standpunkte beider Amtsbereiche sehr gut nachvollziehen. Ich danke dem Reykjavíker Polizeidirektor für das vorliegende Papier, das ich selbstverständlich überdenken werde. Wie jedem vernunftbegabten Menschen bereitet mir die zunehmende Kriminalität in der heutigen Zeit natürlich Sorgen. Aber so war es schon immer. Die Verbrechen, die du schilderst, Lúðvík, sind nicht neu. Mich beunruhigen ganz andere Dinge. Was mich am meisten ängstigt, ist der nationale Extremismus, nicht unbedingt ausländische Terroristen, Islamisten und so weiter, sondern antidemokratische Bestrebungen im Inland von Leuten, die eine rechtmäßig gewählte Regierung nicht akzeptieren. Davor müssen wir auf der Hut sein. Zunächst möchte ich vor allzu hohen Erwartungen warnen, dass tiefgreifende Gesetzesänderungen unsere Arbeit in absehbarer Zeit erleichtern werden. Es hat sich schon oft gezeigt, dass neue Gesetze nicht zwingend besser sind als die alten. Hinzu kommen die unglaublichen Schwierigkeiten, die notwendigen Gesetzesänderungen durch das Althing zu bringen. Die Opposition misstraut grundsätzlich sämtlichen Vorschlägen, und die Medien tun alles, um die Regierung zu untergraben, indem sie unsere Verordnungen gern falsch interpretieren und ad absurdum führen. Könnt ihr euch vorstellen, was morgen im Althing und in den Medien los wäre, wenn ich vorschlagen würde, die Befugnisse für Telefonüberwachungen zu erweitern?«

Bei diesen Worten breitete der Minister am Ende des Tisches seine Arme aus, um den Anwesenden zu demonstrieren, in welcher Stellung man ihn kreuzigen würde. Er machte eine Pause und musterte seine Zuhörer mit ernstem Gesicht. Lúðvík schien geistig nicht wirklich anwesend zu sein, weshalb die Kreuzigungsmetapher mehr oder minder ihr Ziel verfehlte.

»Wir dürfen nicht ausschließlich auf irgendwelche neuen Gesetze vertrauen«, fuhr Daniel fort. »Intelligenten Männern – und Frauen«, fügte er aus Rücksicht auf Elín hinzu, »stehen immer alternative Wege offen. Wir sollten bedenken, dass alle Gesetze Kinder ihrer Zeit sind, und auch wenn sie nicht geändert werden, ist ihre Auslegung sehr dehnbar«, an dieser Stelle konnte sich der Justizminister nicht zurückhalten, seine Lieblingsformulierung zu verwenden, »also mutatis mutandis.«

Diese Redewendung machte sich immer gut, klang hochgestochen und verhinderte in den meisten Fällen Widersprüche, denn es gab nur wenige Personen im Land, die sie verstanden. Möglicherweise gehörte Lúðvík zu ihnen, aber das tat nichts zur Sache, denn er schien gerade wieder eingeschlafen zu sein. Sehr gut. Der nächste Tagesordnungspunkt waren die neuen Pläne für den Aufbau einer »Polizeilichen Sicherheitstruppe« – die Spaßvögel wahrscheinlich mit PS abkürzen würden.

 

Lúðvík schlief aber nicht. Sobald der Justizminister mit leiser Stimme die Pläne für den Aufbau einer »Sicherheitstruppe« erwähnt hatte, öffnete Lúðvík ein wenig die Augen und fragte: »Welche Pläne? Soweit ich weiß, soll Hauptkommissar Víkingur Gunnarsson die Leitung dieser Abteilung übernehmen, sobald sie offiziell gegründet wurde, und mir ist bekannt, dass Víkingur in den letzten Monaten viel Vorbereitungsarbeit geleistet hat und bereit ist, ein Konzept und Vorschläge vorzulegen, sobald er dazu aufgefordert wird.«

»Er ist nicht hier«, entgegnete der Justizminister.

»Nein«, sagte Lúðvík. »Er ist nicht hier, weil ich keine Ahnung hatte, dass es bei diesem Meeting um den Aufbau der Sicherheitsabteilung gehen sollte. Daher habe ich entschieden, dass er Wichtigeres zu tun hat, als an einer Routinebesprechung teilzunehmen.«

»Routine hin oder her«, sagte Daniel und setzte sein berühmtes Lächeln auf, das zwei Reihen ungewöhnlich kräftiger Zähne entblößte und zu erkennen gab, dass ihm nicht zum Lachen zumute war. »Das ist jetzt schon das dritte Meeting, zu dem der Hauptkommissar nicht erschienen ist. Wir können uns durch seine Abwesenheit nicht länger daran hindern lassen, dringende Themen zu verschieben.«

»Vielleicht werde ich ja langsam senil«, sagte Lúðvík und tat so, als habe er den Denkfehler des Ministers nicht bemerkt. »Aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass irgendwelche Themen bei den letzten Besprechungen aufgrund von Víkingurs Abwesenheit verschoben worden wären. Außerdem wählen Elín und ich die Kollegen, die mit zu den Meetings kommen, jedes Mal selbst aus. Es ist also gar nicht selbstverständlich, davon auszugehen, dass Víkingur an unseren Treffen teilnimmt.«

»Wir sollten uns nicht über bürokratische Petitessen streiten«, sagte der Justizminister. »Es handelt sich hier um formlose Gesprächsrunden, Informationsaustausch, und es werden die Themen diskutiert, die gerade anstehen.« Er dachte darüber nach, den Satz mit einem »mutatis mutandis« abzuschließen, ließ es aber bleiben und fuhr fort: »Übrigens hatte ich kürzlich ein informelles Treffen mit dem Hauptkommissar, unter vier Augen, bei dem ich ihn darauf hingewiesen habe, dass bei den besagten Vorbereitungen möglicherweise unmenschliche Belastungen auf ihn zukämen, die ihn noch mehr unter Druck setzen würden, wenn man bedenkt, dass er erst kürzlich im Dienst verletzt wurde und nicht ganz auf der Höhe ist.«

»Nicht ganz auf der Höhe?«, fragte Lúðvík. »Der Mann ist topfit. Er hat sich letzten Herbst einen Finger gebrochen, als der Russe aus der Volksbank auf ihn geschossen hat. Und er hatte eine Rauchvergiftung. Zwei Tage später war er wieder bei der Arbeit.«

»Gut möglich«, entgegnete der Justizminister. »Aber bezüglich der Beauftragung Víkingur Gunnarssons mit der Leitung der Sicherheitsabteilung mache ich mir weniger Gedanken über seine körperliche Gesundheit als über seine seelische. Dir als seinem Vorgesetzten ist vermutlich bekannt, dass der Hauptkommissar regelmäßig Psychopharmaka einnimmt?«

Polizeidirektor Lúðvík Ásmundsson riss ungläubig die Augen auf.

21
Katzen in der Nacht

Die alte Dame kam wieder zur Tür und löste die Sicherheitskette. Sie schien sich von der Gültigkeit der Ausweise überzeugt zu haben, denn sie öffnete und bat sie hinein.

»Das sind ja nun wirklich keine eindrucksvollen Papiere«, sagte sie, als sie ihnen die Ausweise zurückgab.

»Bist du Bára Thomsen?«, fragte Terje.

»Niemand kann mehr siezen«, sagte die alte Frau. »Als ich seinerzeit unser Heim einrichtete, konnten noch alle siezen, zumindest die Angestellten im öffentlichen Dienst. Mein Mann war Beamter. Bürovorsteher beim Elektrizitätswerk.«

Dann schaute sie Terje an und sagte: »Ja, ich bin Frau Bára Thomsen. Bitte kommt ins Wohnzimmer und nehmt Platz.«

Wie artige Kinder zogen beide ihre Schuhe an der Wohnungstür aus und folgten der alten Dame auf Socken in den Flur.

Die Wände im Flur und im Wohnzimmer waren von Bücherregalen und Gemälden bedeckt. Guðrún, die sich für Kunst interessierte, war begeistert. Dort hingen Gemälde und Zeichnungen von Þorvaldur Skúlason, Kjarval, Ásgrímur, Finnur Jónsson, Svavar Guðnason, Kristján Davíðsson und anderen Meistern der letzten Jahrhunderte.

»Ich habe noch nie eine so großartige Gemäldesammlung in einer Privatwohnung gesehen«, sagte Guðrún. »Das ist ja einmalig.«

»Ja, gute Bilder können viel Freude bereiten«, entgegnete Frau Bára Thomsen und bat sie, auf einem Sofa mit Seidenbezug unter einem großen Þingvellir-Gemälde von Kjarval Platz zu nehmen. »Mein Mann pflegte mir an jedem Hochzeitstag ein Bild zu schenken. 1976 habe ich das letzte Gemälde bekommen. Er verstarb am 3. Oktober.«

Das Wohnzimmer hätte die Kulisse für ein Theaterstück über Wohlstand und Kultur des Bürgertums Mitte des 20. Jahrhunderts sein können.

»Darf ich euch Kaffee anbieten?«, fragte Frau Bára, die neben dem Couchtisch stand und sie musterte.

»Nein, danke«, antwortete Terje. Guðrún fand, dass er das Angebot zu voreilig ablehnte. Sie hatte das Gefühl, die Sache könnte länger dauern.

»Wir sind im Dienst«, erklärte sie entschuldigend, »und haben noch viel zu tun, wir möchten dir keine unnötigen Umstände bereiten.«

Die alte Frau schaute zu dem bequemen Lehnstuhl am Fenster, setzte sich dann aber auf die andere Seite des Couchtischs.

»Eine Rakete wurde durchs Fenster geschossen«, sagte sie. »So etwas tut man nicht, auch nicht an Silvester. Deshalb habe ich bei der Polizei angerufen. Die Gardine hat Feuer gefangen; das hätte schlimm ausgehen können. Aber ich war zu Hause und konnte das Feuer rechtzeitig löschen.«

»Ein Glück«, sagte Guðrún.

»Das hatte ich aber nicht der Polizei zu verdanken«, erwiderte Frau Bára.

»Nein, ich verstehe«, sagte Guðrún. »Aber die Polizei kann nicht immer überall sein. Wir sind wegen einer anderen Sache hier.«

»Das musst du mir nicht erklären«, sagte die alte Frau. »Ich bin zwar schon dreiundneunzig, aber noch gut bei Verstand, was man von vielen Jüngeren nicht behaupten kann.«

Terje wollte etwas sagen, aber Guðrún stieß ihn mit dem Ellbogen an. Sie war fest entschlossen, das Gespräch mit dieser bemerkenswerten Frau selbst in die Hand zu nehmen.

»Wir sind hier, weil wir in einem Todesfall ermitteln. Wir versuchen herauszufinden, wie es dazu gekommen ist. Kennst du eine Frau namens Freyja Hilmarsdóttir?«

»Nein, ich habe sie nicht gekannt«, sagte die alte Frau.

»Aber du weißt, wer sie war?«

»Natürlich weiß ich, wer sie war. Sie wohnte ja in dem Wohnblock hier gegenüber. In der ersten Etage. Sie war eine bekannte Person, über die viel in der Zeitung stand. Sie war sogar im Parlament – was nie hätte passieren dürfen.«

»Warum meinst du das?«

»Weil ihr Auftreten und ihre Ausdrucksweise, die vielleicht zu irgendwelchen Straßenjungs gepasst hätten, beschämend waren. Es gibt zwar vereinzelt Männer, die sich unehrenhaft verhalten, aber Frauen dürfen das nicht. So habe ich es zumindest gelernt.«

»Da sind wir uns einig.« Terje konnte sich seinen Kommentar nicht verkneifen.

Frau Bára schaute ihn mitleidig an.

»Das bezweifle ich«, sagte sie. »Wenn du glaubst, wir seien einer Meinung, dann hast du mich wahrscheinlich falsch verstanden. Wenn du glaubst, ich würde meinen, dass sich die Frau dem Mann unterordnen soll, dann irrst du dich. Ich glaube, dass Frauen den Männern in vielen Bereichen überlegen sind, und dort sollen sie glänzen, anstatt zu versuchen, sich mit den Männern in Kraftausdrücken und Flegelhaftigkeit zu messen. Wir müssen versuchen, die Männer heranzubilden und zur Vernunft zu erziehen, und nicht ihre Dummheiten nachäffen.«

Guðrún merkte, dass Ellbogenstöße jetzt nicht mehr ausreichten, um Terje zum Schweigen zu bringen, weshalb sie versuchte, unauffällig gegen sein Bein zu treten.

»Versuch nicht, den Jungen zum Schweigen zu bringen, meine Liebe«, sagte die alte Dame. »Wenn er etwas sagen möchte, bin ich mir nicht zu fein, ihm zu antworten.«

Terje ließ sich auch gar nicht abbringen: »Da stimme ich ebenfalls voll und ganz mit dir überein.«

»Das ist schön, mein Lieber«, sagte die alte Dame. »Aber vielleicht solltest du die junge Frau jetzt trotzdem reden lassen.« Dann wandte sie sich an Guðrún und sagte: »Ich habe im Radio gehört, dass diese Freyja verstorben ist, und jetzt erzählst du, es würde in einem Todesfall ermittelt. Was heißt das denn genau?«

»Das ist eigentlich vertraulich«, sagte Guðrún. »Aber unter uns kann ich dir sagen, dass zuerst alles nach einem Selbstmord aussah, aber dann ist das eine oder andere ans Licht gekommen, sodass wir den Fall nun genauer untersuchen müssen.«

»Ich habe sie vorgestern Abend aus dem Haus gehen sehen. Danach ist sie wohl nicht mehr nach Hause gekommen. Ihr Auto hat auch nicht mehr auf dem Parkplatz gestanden. Sie hat immer direkt vor der Treppe geparkt. Manche Leute tun einfach keinen Schritt zu viel.«

Diese präzise Antwort überraschte sie beide.

»Weißt du vielleicht, wie spät es war, als du sie hinausgehen sehen hast?«, fragte Terje.

»Natürlich weiß ich das«, antwortete die alte Frau. »Es war kurz nach Mitternacht. Ich schätze, zehn oder fünfzehn Minuten nach zwölf. Ich fand das eine ungewöhnliche Zeit für eine Reise.«

»Wieso?«

Die alte Frau stöhnte über die dumme Frage und antwortete: »Wer verreist denn um zwölf Uhr nachts?«

»Ich meine, warum dachtest du, sie würde verreisen?«

»Weil der Mann neben ihr eine große Tasche getragen hat. Kein normaler Koffer, wie man sie früher hatte, sondern so ein großer Beutel.«

»Ein Mann war bei ihr?«

»Ja. Habe ich doch gesagt.«

»Und hast du den Mann gesehen?«, warf Terje ein.

»Sonst hätte ich euch wohl kaum von ihm erzählen können«, erklärte Frau Bára. »Glaubst du vielleicht, ich würde Geschichten über meine Nachbarn erfinden?«

»Nein, keineswegs«, beeilte er sich zu sagen. »Ich meine, hast du ihn so genau gesehen, dass du ihn beschreiben könntest?«

»Das kommt darauf an, was du unter genau verstehst«, sagte die alte Dame. »Ich habe ihn genau genug gesehen, um zu erkennen, dass es ein Mann war, aber nicht gut genug, um sein Äußeres exakt beschreiben zu können. Es war dunkel, aber bis tief in die Nacht hinein sternenklar. Gegen Morgen hat es sich dann zugezogen.«

»Aber du bist dir sicher, dass es ein Mann war?«

»Ja, eigentlich schon.« Bára Thomsen dachte nach. »Das konnte man leicht an seiner Haltung erkennen. Es war ein großer Mann, ziemlich schlank. Er trug eine dunkle Jacke, ungefähr hüftlang, mit einer dünnen Kapuze, und entweder einen Schal darunter oder einen Rollkragenpullover, sodass ich sein Gesicht nicht richtig sehen konnte. Aber er war zweifellos stark und hat sich wie ein junger Mann bewegt.«

»Wie konntest du sehen, dass er stark war?«

»Er hatte ja in der einen Hand die Tasche. Ich weiß natürlich nicht, ob sie leicht oder schwer war, aber mit der anderen Hand hielt er die Frau umfasst und trug sie beinahe. Sie konnte sich nicht richtig auf den Beinen halten, die Arme. Ich hab sie vorher noch nie in einem solchen Zustand gesehen. Ich dachte, sie sei betrunken, aber als ich gehört habe, dass sie tot ist, habe ich begriffen, dass sie wohl krank gewesen sein muss.«

»Wo warst du, als du das beobachtet hast?«, fragte Guðrún Sólveig.

»Ich hab auf meinem üblichen Platz auf dem Stuhl da am Fenster gesessen. Da sitze ich meistens abends und morgens und lese oder versuche, Radio zu hören. Ich brauche nicht mehr so viel Schlaf. Normalerweise reichen mir nachts ein paar Stündchen, und meistens lege ich mich nach den Mittagsnachrichten noch einmal hin und versuche, zwei, drei Stunden zu schlafen.«

»Hast du gesehen, ob sie dich bemerkt haben? Haben sie hochgeschaut?«

»Ja, der Mann hat sich mehrmals umgeschaut, aber ich war zu müde zum Lesen und hatte das Licht ausgeschaltet. Ich sitze gern im Dämmerlicht.«

»Kannst du noch mal ganz genau beschreiben, was du gesehen hast?«

»Ich habe gehört, wie jemand durch die Haustür im Wohnblock gegenüber gegangen ist, und als ich aus dem Fenster geschaut habe, habe ich sie zum Auto gehen sehen. Der Mann hat die Tasche abgestellt und die Frau gestützt, die Wagentür geöffnet und sie ins Auto gesetzt. Dann hat er die Tür zugemacht. Nicht mit übermäßig viel Lärm, wie es viele tun. Dann ist er um das Auto herumgegangen, hat die Fahrerseite geöffnet und die Tasche auf den Rücksitz gestellt, und dann ist er weggefahren.«

»Würdest du den Mann wiedererkennen, wenn du ihn sehen würdest?«

»Nein, das glaube ich nicht. Nachts sind alle Katzen grau. Aber es sind dennoch Katzen.«

»Hattest du deine Brille auf?«, fragte Terje. »Die Brille, die du holen musstest, um dir unsere Ausweise anzuschauen?«

»Ich benutze keine Lesebrille, um aus dem Fenster zu gucken, mein Lieber«, antwortete die alte Dame und warf Guðrún einen teilnahmsvollen Blick zu, weil sie mit einem solchen Dummkopf zusammenarbeiten musste. »Dich habe ich auch gesehen, meine Liebe, als du heute Morgen hier warst. Hast du den Mann auf der Treppe getroffen?«

»Welchen Mann?«

»Na, den, der aus dem Haus gerannt kam, nachdem du hineingegangen warst. Draußen wartete ein Auto auf ihn. Ich dachte, er sei zu spät zum Training unterwegs. Soweit ich sehen konnte, hatte er eine Sporttasche dabei.«

»War das derselbe Mann wie der, den du vorgestern Abend gesehen hast?«, fragte Guðrún.

»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Bára Thomsen. »Es war noch nicht hell. Und nachts …«

»… sind alle Katzen grau«, ergänzte Terje.

»Aber du hast mich doch auch erkannt«, insistierte Guðrún.

»Das ist ja nicht schwer, bei diesem schönen Haar.«

»Hör zu«, sagte Guðrún. »Ich hätte jetzt liebend gerne einen Kaffee, falls es nicht zu viele Umstände macht.«

22
Keine Geheimnisse

Als das Meeting beendet war, verabschiedete sich der Justizminister von seinen Gästen, bat aber die Landespolizeichefin, noch einen Moment zu bleiben. »Es gibt da eine delikate Angelegenheit, die ich mit dir besprechen möchte«, sagte er. »Hat überhaupt nichts mit unserem Meeting zu tun. Ich habe eine sehr beunruhigende E-Mail erhalten.«

 

Eysteinn Brandsson wartete eine ganze Weile im Auto auf seine Vorgesetzte. Als Elín in der Tür des Ministeriums erschien, stieg er aus und öffnete ihr die Beifahrertür.

Immerhin pflegte sie sich nach vorn zu setzen, anstatt

sich in voller Montur auf dem Rücksitz breitzumachen. Sie war natürlich seine Vorgesetzte, und deshalb gehörte es zu seinen Aufgaben, den Wagen zu fahren. Das war ärgerlich, und er bedauerte es, nicht irgendeinen Polizeibeamten als Fahrer zugeteilt bekommen zu haben. Dann hätten sie wie Gleichberechtigte nebeneinander auf der Rückbank sitzen können.

Als Elín ins Auto stieg, sah Eysteinn, wie sich die schwarze Hose über ihren Schenkeln spannte. Sie wurde langsam rundlich. War aber trotzdem hübsch. Mehr als das – eine Frau in ihrer Spätsommerblüte, achtunddreißig Jahre alt.

Er streifte ihr die Hose hinunter (in seiner Fantasie ging das sehr schnell); darunter trug sie schwarze Netzstrümpfe. Die Uniformjacke, schwarz, aus hauchdünnem Wollstoff, hatte genau die richtige Länge, reichte exakt bis zur Mitte ihrer straffen, appetitlichen Pobacken.

Sie war sehr modebewusst und hatte diese prachtvollste Uniformjacke im ganzen Land selbst entworfen – goldene, mit Sternen verzierte Schulterklappen, Goldknöpfe mit dem wachsamen Polizeiauge, die Ärmel an den Ellbogen mit einer goldbestickten Bordüre.

Eysteinn sah, wie sich die Brustwarzen ihrer schweren, vorstehenden Brüste unter der Jacke abzeichneten, als die Landespolizeichefin es sich im Sitz bequem machte und ihre langen Beine übereinanderschlug, sodass die Netzstrümpfe knisterten.

Ihre glänzenden Fingernägel hatten dieselbe karminrote Farbe wie ihre vollen Lippen, und Eysteinn wurde steif, als er sich vorstellte, wie Elín ihre linke Hand zwischen seine Beine führte und sich an seinem Reißverschluss zu schaffen machte, während sie mit der rechten Hand den Autositz zurückstellte.

»Woran denkst du?«, fragte sie und schaute ihn an, während sie versuchte, irgendeinen Krümel aus ihrem Augenwinkel zu entfernen. Sie verwendete farblosen Nagellack.

Eysteinn ließ den Motor an und setzte zurück.

»An dasselbe wie du, nehme ich an«, antwortete er.

»Aha«, sagte sie und lächelte. »Und woran denke ich?«

»Man denkt an so vieles«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob es angebracht ist, das laut zu äußern.«

»Bis jetzt konnten wir uns doch alles anvertrauen«, entgegnete sie.

Er zögerte mit einer Antwort und tat so, als konzentrierte er sich voll und ganz auf den Verkehr, während er im Geiste damit beschäftigt war, einen Pornofilm mit Elín und sich selbst in den Hauptrollen zu drehen.

In dem Moment, als er vom Parkplatz gefahren war, hatte sie ihre prallen Hüften angehoben und ihren roten Slip, nein, ihren String-Tanga abgestreift und um ihren Zeigefinger gewickelt. Sie deutete verführerisch in Großaufnahme mit dem Finger auf Eysteinn.

»Keine Geheimnisse«, sagte sie leise.

Eysteinn stoppte den Film in seinem Kopf abrupt und schaute sie an.

»Ich finde, dass Lúðvík …«

»Dressman.«

»Ja, Dressman. Ich fand es ungeschickt vom Polizeidirektor, dieses Memo vorzulegen.«

»Das fand ich auch«, sagte Elín. »Der Justizminister war ja auch nicht gerade erfreut, ein Bestellformular für zweifelhafte und unpopuläre Gesetze ausgehändigt zu bekommen. Er hatte übrigens schon vor diesem Meeting beschlossen, mir die Sicherheitsabteilung zu übergeben, es war also nicht überraschend für mich.«

»Ja«, sagte Eysteinn. »Gut möglich, dass die Reykjavíker Polizei Gesetze braucht, aber für eine Sicherheitspolizei braucht man nun mal keine. Eine Geheimpolizei ist keine Kriminalpolizei, und was die Geheimpolizei tut, ist, wie der Name schon sagt, geheim. Dann wäre es höchst widersprüchlich, Regeln aufzustellen, die ihre Arbeit transparent machen.«

»Genau«, sagte Elín, stemmte sich kurz in ihrem Sitz hoch und strich mit den Händen über die Unterseite ihrer Oberschenkel, damit die Bügelfalten in ihrer Hose nicht zerknitterten. »Das Ganze ist natürlich mit sehr viel Verantwortung verbunden, und ich möchte nicht, dass irgendetwas ohne mein Wissen geschieht. Nur dass das von Anfang an klar ist.«

»Selbstverständlich«, entgegnete Eysteinn. Die Spannung war verflogen, und seine Erektion verschwand in dem Moment, wo seine Vorgesetzte ihn so von »oben« ansprach.

Er verstand überhaupt nicht, was er manchmal in ihr sah. Sie war nicht mehr die Jüngste und hatte an Hüften und Oberschenkeln beträchtlich zugelegt, sie war auf dem besten Wege, füllig zu werden, wie man so sagte.

Es war albern, sie sich in Netzstrümpfen vorzustellen. Wahrscheinlich hatte sie Orangenhaut.

Vielleicht war es gar nicht ihre Persönlichkeit, die diesen Einfluss auf ihn ausübte, sondern nur ihr aufreizender Lippenstift?

Oder die dichten Augenbrauen, die über der Nase fast zusammengewachsen waren?

»Und übrigens«, sagte sie. »Ich habe nicht an dasselbe gedacht wie du.«

»Wie bitte?«

»Ja, du hast gesagt, wir hätten an dasselbe gedacht.«

»Das war nur so dahergesagt.«

»Ich habe nicht an Dressman gedacht. Ich habe daran gedacht, dass du keine Uniform trägst«, sagte Elín. »Das müssen wir bei Gelegenheit ändern.«

Aus Leder, dachte Eysteinn. Meinte sie wirklich eine Uniform? Oder vielleicht etwas ganz anderes? Laut sagte er:

»Ich brauche keine Uniform.«

»Wir werden sehen«, entgegnete sie.

Wie war das, konnten manche Leute Gedanken lesen? Nein, zum Teufel.

Er schaute ihr versuchsweise kurz in die Augen und lächelte, während er ihr gleichzeitig wieder die Hose herunterstreifte.

Welches Parfüm sie wohl benutzte?

Sie erwiderte sein Lächeln. Er war ein attraktiver Mann, unverheiratet und nicht liiert. Er hatte Stil.

Ob er schwul war?

23
Überheblichkeit?

Der Psychologe Hinrik Pálsson fertigte häufig psychiatrische Gutachten für die Polizei und das Gericht an. An diesem Morgen sprach er mit Sveinbjörn Ragnarsson, der unter Verdacht stand, seine Frau mit einem Brecheisen totgeschlagen zu haben. Sveinbjörn war schlecht gelaunt und beschwerte sich: Es sei erniedrigend, zu einem Gespräch mit einem Psychologen gezwungen zu werden. Er behauptete, seelisch kerngesund zu sein, obwohl es ihn natürlich sehr belaste, unter Mordverdacht zu stehen. Er schlafe schlecht und brauche Beruhigungsmittel. Als das Gespräch beendet war, ging Hinrik zum Büro von Randver Andrésson, dem Assistenten des Hauptkommissars, wo er auch auf Kriminalkommissarin Dagný Axelsdóttir sowie Sveinbjörns Rechtsanwalt Guðbjartur Sveinsson traf.

»Meiner Meinung nach gibt es keine seelischen oder körperlichen Anzeichen dafür, dass die Gesundheit des Mannes gefährdet sein könnte, wenn er die üblichen Vernehmungen durchläuft«, sagte der Psychologe. »Ich werde natürlich noch intensiver mit ihm sprechen und ein psychiatrisches Gutachten in unverständlichem Medizinerlatein einreichen, aber dieser Gedächtnisverlust, von dem er spricht, ist Simulation, also größtenteils oder komplett erfunden. Er versucht einfach, sich die Dinge zu seinem Vorteil zurechtzubiegen, indem er sich selbst als Opfer darstellt. Er behauptet, sich an so gut wie gar nichts im Zusammenhang mit seiner Familie erinnern zu können, aber dann zählt er komplizierte lateinische Namen von Medikamenten auf und versucht, Beruhigungsmittel von mir zu schnorren. Er wird euch bei den Vernehmungen noch in Erstaunen versetzen.«

»Bei einer Anklage geht es in erster Linie um die Zurechnungsfähigkeit«, sagte Guðbjartur.

»Im Moment habe ich den Eindruck, dass er psychische Krankheit und Gedächtnisverlust simuliert«, sagte Hinrik. »Ich muss mir natürlich noch ein genaueres Bild machen, aber im Augenblick bin ich mir sehr sicher, dass ihm vollkommen klar ist, dass man Menschen nicht misshandeln oder umbringen darf.«

»Glaubst du, dass er noch weiß, was er mit der Leiche der Frau gemacht hat?«, fragte Randver.

»Ja, ich denke, das war sogar für ihn ein ziemlich einschneidendes Erlebnis«, antwortete der Psychologe. »Ich weiß nicht, wie genau er sich an die Details erinnern kann, aber in groben Zügen weiß er ganz genau, was er getan hat.«

»Nur noch eine Frage«, sagte Randver. »Glaubst du, er möchte es erzählen?«

»Das ist eine gute Frage«, entgegnete Hinrik. »Die Antwort lautet ja und nein. Ja, weil er die Sache hinter sich bringen und zeigen will, dass er die Oberhand behalten kann und ein Mensch ist, den man besser ernst nimmt. Und nein, weil er Angst vor den Konsequenzen seiner Tat hat und die Realität – und vor allem sich selbst – nicht akzeptieren kann.«

 

Rechtsanwalt Guðbjartur Sveinsson war bei der Vernehmung anwesend; ein fülliger Mann um die sechzig, spezialisiert auf jenen schmalen Bereich der Rechtswissenschaften, der sich um die Verteidigung derjenigen dreht, die gegen das Strafgesetz verstoßen. In den allermeisten Fällen war die Schuld seiner Mandanten so offenkundig, dass seine Aufgabe hauptsächlich darin bestand, ihre Interessen zu vertreten und sich um die Inanspruchnahme ihrer rechtlichen Hilfen zu kümmern, falls möglich auf mildernde Umstände zu plädieren und den Richter davon zu überzeugen, dass der Betreffende keinen größeren Wunsch hatte, als ein neues Leben zu beginnen, ohne die Verzögerung, die ein Gefängnisaufenthalt mit sich bringt. Guðbjartur war unter den wenigen isländischen Rechtsanwälten nicht nur für seine Marotte bekannt, sich lieber mit schlecht bezahlten Scherereien und Verbrechern abzugeben, als lukrativen Inkassogeschäften für ehrenhafte Firmen und Privatpersonen nachzugehen.

Außer seinen Kollegen hatte auch die Ärzteschaft ein brennendes Interesse an Guðbjartur. Grund für den medizinischen Eifer war die Bekanntheit des Anwalts dafür, kaum etwas anderes als Fleisch zu sich zu nehmen, oft gebraten oder gekocht, meistens jedoch gegrillt. Das ganze Jahr über stand er auf der Veranda seines Hauses neben dem Gasgrill und bereitete das Abendessen für sich und seine Frau zu – Fleisch, in rauen Mengen. Seine Frau war gertenschlank, gemäß der berühmten Theorie von Dr. Atkins, die besagt, dass kohlenhydratarme Kost der beste Schutz vor Übergewicht sei. Guðbjartur hingegen wurde von Jahr zu Jahr fetter, obwohl er sich ausschließlich von frischen, tierischen Proteinen ernährte.

Die einzige Erklärung der Ärzteschaft für Guðbjarturs anomalen Stoffwechsel war, dass er heimlich trinke und sein Übergewicht vom Alkohol herrühre, den seine leistungsstarke Leber in Fett umgewandelt hatte. Diese Erklärung war jedoch in der Realität kaum haltbar, denn Guðbjartur war ein maßvoller Trinker und konsumierte jeden Abend eine Flasche Rotwein, genau eine Flasche, nicht mehr und nicht weniger, während seine Frau dazu neigte, sich noch mal nachzuschenken. Viele Ärzte träumten davon, den Anwalt zu untersuchen, aber ihr Wunsch wurde nicht erfüllt, denn Guðbjartur mied Medikamente und Ärzte so nachdrücklich, wie es seine Mandanten nach Rauschmitteln verlangte.

Zu Beginn der Vernehmung legte Randver drei Fotos vor dem Angeklagten auf den Tisch. Darauf zu sehen waren dessen Kinder und seine verschwundene Frau.

»Das sind eure Kinder«, erklärte Randver. »Man hat ihnen erzählt, ihre Mutter sei verschwunden. Bist du dir im Klaren darüber, dass du verantwortlich bist, wenn deine Kinder immer glauben werden, ihre Mutter habe sich auf- und davongemacht und sie zurückgelassen? Versuch doch mal, dich in deine Kinder hineinzuversetzen! Meinst du nicht, es ist an der Zeit, die Konsequenzen für dein Tun zu übernehmen? Das wäre für alle das Beste.«

Sveinbjörn hörte aufmerksam zu und lächelte dumpf.

Randver fuhr fort: »Die Ergebnisse der DNA-Untersuchung sind da, ein Abgleich mit dem Haar und dem Blut auf dem Brecheisen; dieselbe DNA wurde auf dem Kopfkissen deiner Frau gefunden. Die Ergebnisse beweisen, dass deine Frau mit diesem Brecheisen geschlagen wurde, und die Fingerabdrücke darauf zeigen, dass du es warst, der es in der Hand hielt.«

Sveinbjörn rutschte auf seinem Stuhl hin und her und blickte zu seinem Rechtsanwalt, der keine Miene verzog. Guðbjartur hatte schon früh gelernt, sich bei Vernehmungen zurückzuhalten und lediglich ab und zu durch höfliches Räuspern an seine juristische Anwesenheit zu erinnern.

»Ich weiß, ihr glaubt mir nicht, dass ich mich an nichts erinnern kann«, sagte Sveinbjörn. »Aber leider ist die Realität manchmal viel unglaublicher als irgendeine Lügengeschichte. Wenn ich zugebe, dass ich diesen Gedächtnisverlust teilweise erfunden habe, würdet ihr mir dann meine Geschichte glauben? Sie ist nämlich wahr. Ihr müsst versuchen, mir zu glauben.«

»Ich glaube dir alles«, entgegnete Randver, »solange es die Wahrheit ist.«

»Glaubst du an Außerirdische?«, fragte Sveinbjörn daraufhin. »Oder bist du so unendlich überheblich zu glauben, es gäbe im Universum kein anderes Leben, außer auf unserem dreckigen, kleinen Planeten?«

24
Informationen

Wenn Polizeidirektor Lúðvík Ásmundsson mit seinen Mitarbeitern sprechen wollte, ging er normalerweise zu ihnen. Er hatte dann die Angewohnheit, über Gott und die Welt zu plaudern, bevor er zum Thema kam. Daher war Víkingur überrascht, als die Sekretärin anrief und ihm mitteilte, der Polizeidirektor erwarte ihn »so bald wie möglich« in seinem Büro.

Noch überraschender war, dass Lúðvík unverzüglich zum Thema kam, nachdem Víkingur Platz genommen hatte.

»Ich komme gerade von diesem Meeting beim Justizminister, und es war entgegen allen Erwartungen interessant. Elín war da, mit diesem Wichtigtuer mit dem tollen Uniabschluss, BMA oder irgend so ein Mist.«

»MBA«, berichtigte ihn Víkingur. »Eysteinn Brandsson; er arbeitet als eine Art Organisations- oder Rationalisierungsmanager.«

»Nicht mehr«, entgegnete Lúðvík. »Mir wurde mitgeteilt, der Justizminister habe sich entschieden, uns die neue Sicherheitsabteilung doch nicht zu übergeben, sondern die Landespolizeichefin mit der Gründung zu beauftragen. Ich habe den Eindruck, dass dieser Eysteinn dahintersteckt.«

»Aha, so so«, sagte Víkingur. »Dann hat Elín ihr Ziel ja erreicht. Ich kann nicht sagen, dass mich das besonders überrascht. Es war von Anfang an ihr Traum, einen Geheimdienst oder eine Spionageabteilung auf die Beine zu stellen. Vor einer guten Woche bin ich zum Justizminister gerufen worden, um ihn über die laufenden Vorbereitungen zu unterrichten, und ich hatte sofort das Gefühl, dass meine Vorschläge ihm nicht in den Kram passten.«

»Das hast du mir ja gar nicht erzählt«, wunderte sich Lúðvík.

»Doch, habe ich«, sagte Víkingur. »Ich hab dir gesagt, dass bei diesem Gespräch nichts Konkretes herausgekommen ist und dass der Minister ein ziemlich geringes Interesse am Fortschreiten der Sache hat.«

»Hör zu«, sagte Lúðvík. »Es ist nicht deine Schuld, wenn diese Sicherheitsabteilung der Landespolizei unterstellt wird. Der Ministerpräsident hat damals gesagt, sie würde unserem Bereich unterstellt, unter deiner Leitung, aber da war er noch im Dankesrausch, weil er glaubte, du hättest ihm und der Volksbank die Russenmafia vom Hals gehalten. Davon ist er aber leider wieder abgekommen. Hier geht es nur um Kompetenzstreitigkeiten und die Machtinteressen der Landespolizeichefin. Sie träumt von einer Abteilung, die ohne rechtliche Grundlage im Geheimen arbeitet und von niemandem kontrolliert wird. Und wer wird wohl dort arbeiten? Das widerspricht doch absolut unseren demokratischen Vorstellungen.«

»Was kann man denn dagegen tun?«, fragte Víkingur.

Lúðvík schaute ihn an und öffnete endlich ganz die Augen.

»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Aber ich weiß, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist. Sie liegt nicht einfach in der Luft. Zumindest nicht im Büro des Justizministers. Aber erzähl mir ein bisschen genauer, worüber ihr bei diesem Treffen gesprochen habt. Habt ihr euch gestritten?«

Víkingur überlegte.

»Nein, nicht direkt.«

»Also dann indirekt?«

»Es ist bestimmt ein Zufall, aber als wir über eine Geheimpolizei und die innere Sicherheit sprachen, erwähnte er etwas, das mir heute Morgen wieder eingefallen ist, als ich eine bestimmte Sache auf dem Tisch hatte.«

»Aha?«, murmelte Lúðvík. »Ich hab mich schon immer für Zufälle interessiert, auch wenn ich nicht besonders esoterisch veranlagt bin.«

»Bei diesem Gespräch über Interessen und die innere Sicherheit erwähnte der Minister eine Meldung, die kürzlich im ›Abendblatt‹ erschienen ist. Ich fand es, wie soll ich sagen, ein bisschen lächerlich. Er sprach davon, dass diese ehemalige Frauenparteilerin, Freyja Hilmarsdóttir, dabei sei, ein Buch über Ehescheidungen oder so zu schreiben – die aber ohnehin in allen Klatschzeitungen breitgetreten werden. Jeder weiß, dass Magnús Mínus und Kjartan A. Hansen sich von ihren Frauen getrennt und etwa zur gleichen Zeit mit Jüngeren angebandelt haben. Aber der Minister betrachtet diese Buchveröffentlichung offenbar als ein Beispiel für eine mögliche Bedrohung der inneren Sicherheit.«

Lúðvík stöhnte.

»Und du hast ihm natürlich widersprochen?«

»Tja, ich habe ihn darauf aufmerksam gemacht, dass es gemäß der in der isländischen Verfassung verankerten Meinungsfreiheit kaum rechtswidrig sein kann, Bücher zu schreiben. Falls es sich um Fälle von Rufmord oder die Verletzung von Persönlichkeitsrechten handelt, regelt die Gesetzgebung entsprechende Strafmaßnahmen – nach der Veröffentlichung. Außerdem sind auch der Meinungsfreiheit gewisse Grenzen gesetzt: Man kann zum Beispiel klagen, wenn man die Herausgabe eines Buches verbieten lassen möchte – vorausgesetzt, es gibt triftige Gründe dafür.«

»Ich hab mir schon gedacht, dass du es dir nicht verkneifen konntest, das mit ihm zu diskutieren«, sagte Lúðvík. »Diskussionen mit Politikern bringen aber überhaupt nichts. Mit denen muss man wie mit Kindern sprechen, wenn man sie überzeugen will. Was solltest du denn seiner Meinung nach in der Sache unternehmen?«

»Er hat nichts vorgeschlagen. Nicht direkt.«

»Und indirekt?«

»So wie ich ihn verstanden habe, ist er der Meinung, es gehöre zu den Aufgaben eines polizeilichen Sicherheitstrupps, zu kontrollieren, dass niemand brisante Bücher schreibt. Ein ›brisantes Buch‹, so hat er das ausgedrückt.«

»Und wie hast du reagiert?«

»Das weiß ich gar nicht mehr so genau.«

»Du hast das Gespräch also nicht besonders wichtig genommen.«

»Könnte man so sagen. Ich hatte es sogar schon vergessen. Es fiel mir erst gestern Morgen wieder ein, als ich hörte, dass Freyja Hilmarsdóttir in der Nacht gestorben war. Man hat sie in ihrem Wagen oben in den Rauðhólar gefunden; die Auspuffgase waren ins Auto geleitet worden. Es sah ganz nach einem Selbstmord aus. Terje und Guðrún waren in der Wohnung der Toten. Sie haben sich gewundert, dass sie dort keine Spur von dem Buch gefunden haben.«

»Das war wohl ein glücklicher Zufall«, sagte Lúðvík. »Bedeutsamer als der, den du eben erwähnt hast.«

»Wieso?«, sagte Víkingur. »Es kann doch auch sein, dass sie gar keines verfasst hatte. Viel merkwürdiger ist das Ergebnis der Obduktion. Dabei hat sich herausgestellt, dass sie kurz vor ihrem Tod eine Augenoperation hatte. Es wäre einem Wunder gleichgekommen, wenn sie im Stockdunkeln mit dem Auto hoch in die Rauðhólar hätte fahren können. Aber wir haben, wie gesagt, gerade erst angefangen, den Fall zu untersuchen.«

»Ja«, sagte Lúðvík. Er schien von irgendetwas draußen auf der Straße abgelenkt zu sein und starrte aus dem Fenster. »Aber es ist wohl an der Zeit, dass ich zum Thema komme. Sag mal, stimmt es, dass du Medikamente nimmst?«

»Worauf willst du hinaus?«, fragte Víkingur entgeistert. »Willst du wissen, ob ich drogenabhängig bin?«

Lúðvík schloss wieder halb die Augen und neigte den Kopf.

»Gibt es dafür deiner Meinung nach irgendwelche Anzeichen?«, fragte Víkingur.

»Schön wär’s«, antwortete Lúðvík und schaute ihn an. »Dann könntest du für zwei, drei Wochen zu einer Therapie nach Amerika fahren und anschließend engelsgleich und strahlend wieder zurückkehren und alle mögliche Unterstützung bekommen.«

»Was ist es dann?«, fragte Víkingur, der im Moment nicht verstand, in welche Richtung sich das Gespräch entwickelte.

Lúðvík schaute wieder aus dem Fenster. »Ich habe nie Medikamente genommen, außer morgens Lebertran und abends Kräuterschnaps«, erklärte er. »Ich bin nämlich in der glücklichen Lage, einen robusten Körper geerbt zu haben, und außerdem habe ich nie bemerkt, dass ich ein Gefühlsleben besitze, was in meinem Job sehr hilfreich sein kann. Aber mir ist schon klar, dass nicht alle so viel Glück haben wie ich. Ich hab schon oft festgestellt, dass Leute mit einem sensiblen Gemüt häufig in unnötigen Schwierigkeiten landen, gegen die auch kein Lebertran hilft.«

Endlich riss sich der Polizeidirektor von dem monotonen Straßenverkehr vor dem Fenster los und sah Víkingur an.

»Der Justizminister hat mir heute Morgen mitgeteilt, er würde dir die Gründung der neuen Sicherheitsabteilung nicht zutrauen, da ihm Informationen über Medikamentenkonsum zugetragen worden seien. Er meinte, dies deute darauf hin, dass du den Ansprüchen an einen Leiter für Sicherheitsfragen der Republik Island nicht gerecht werden könntest. Er war so freundlich, mir als Nachweis eine Apothekenliste über alle Medikamente auszuhändigen, die dir seit Jahresbeginn verschrieben wurden. Hier steht zum Beispiel Seroxat, was seiner Aussage nach ein Psychopharmakon ist. Kennst du das?«

»Ja, natürlich kenne ich das«, entgegnete Víkingur. »Seroxat ist ein Medikament gegen bestimmte Depressionen, die von Ärzten Dysthymie oder neurotische Depression genannt werden. Ich halte sie ihm Zaum, indem ich morgens zwei Tabletten nehme, genauer gesagt vierzig Milligramm. Weißt du eigentlich, wie viele Leute dieses oder ein ähnliches Medikament einnehmen?«

Lúðvík antwortete nicht, sondern schaute auf den Zettel und fuhr fort: »Dann steht hier Sobril, ein Beruhigungsmittel, das mit Diazepam-Pillen verwandt ist. Sie werden manchmal Hausfrauendope genannt und machen süchtig.«

»Ich nehme diese Medikamente selbstverständlich in Absprache mit meinem Psychologen ein. Es gibt viele Arten von Depressionen, und bei mir ist es eine bohrende Angst, die mit Seroxat allein nicht in den Griff zu bekommen ist. Sobril dient der Behandlung von Angstzuständen, und ich nehme morgens zehn Milligramm davon. Das kann man ja wohl kaum als Drogenabhängigkeit oder Medikamentenmissbrauch bezeichnen.«

Lúðvík lächelte erschöpft.

»Niemand spricht von Medikamentenmissbrauch. Wir sprechen von Medikamentenkonsum. Aber hier stehen noch weitere: Stillnox, Rohypnol und Imovane. Ich bin zwar kein Medikamentenexperte, aber ich weiß, dass das Schlafmittel sind.«

Víkingur schaute seinen Vorgesetzten an. Wenn sich jemand anderes erlaubt hätte, dieses Thema anzusprechen, hätte er es ihm übel genommen. Aber zwischen den beiden bestand ein Vertrauensverhältnis, das sich über Jahre hinweg entwickelt hatte und zu etwas geworden war, das man als Freundschaft bezeichnen konnte. Er antwortete: »Natürlich sind das Schlafmittel. Ich nehme sie nicht ständig, aber ich probiere aus, welches mir am besten hilft. Schlafstörungen sind häufig Begleiterscheinungen von Depressionen. Manchmal schlafe ich gut, aber manchmal brauche ich eben Schlaftabletten.«

»Hm«, machte Lúðvík. »Wir sind noch nicht am Ende. Hier steht noch Viagra, über das ich schon viel gelesen habe und das ich manchmal gerne ausprobiert hätte, und dann noch etwas namens Cialis.«

Víkingur spürte, wie sich seine Wangen röteten, ein Gefühl, das er lange nicht mehr gehabt hatte.

»Dieses Gespräch wird ja immer merkwürdiger«, sagte er. »Und persönlicher. Ich habe wirklich nicht damit gerechnet, dass diese Informationen bei dir oder jemand anderem landen.«

»Ich habe sie vom Justizminister«, erklärte Lúðvík. »Woher der sie hat, ist eine andere Sache, über die wir noch sprechen werden. Ich kann nichts Verwerfliches daran finden, dass du Viagra nimmst, wenn du es erquicklich findest. Ich will nur hoffen, dass das, was danach kommt, sich auch lohnt – es ist nämlich sauteuer. Und was ist Cialis?«

»Cialis ist wie Viagra ein Medikament gegen Erektionsstörungen und hat eine ähnliche Wirkung, bleibt aber länger im Blut und ist so gesehen billiger. Eine Pille kann bis zu 24 Stunden wirken. Zu den Nebenwirkungen von Medikamenten wie Seroxat zählt häufig ein verminderter Sexualtrieb. Die sexuelle Empfindung verändert sich, sodass es schwierig oder sogar unmöglich wird, zum Erguss zu kommen. Mit Hilfe dieser Medikamente ist es möglich, vielleicht nicht auf ganz natürliche Weise, aber zumindest möglich, Sex zu haben.«

»Diese Zeiten sind bei mir ja zum Glück schon lange vorbei«, sagte Lúðvík, »und ich bin sehr froh darüber. Aber du bist ja noch relativ jung, deshalb kann ich verstehen, dass du deinen Spaß haben willst, obwohl ich immer fand, dass Sex total überschätzt wird. Kommen wir also wieder zu den Psychopharmaka.«

»Nein«, widersprach Víkingur. »Das tun wir nicht. Seit ich bei der Polizei bin, habe ich keinen einzigen Tag aufgrund der Depressionen, mit denen ich zu kämpfen habe, gefehlt. Das funktioniert nur deshalb, weil es Medikamente gibt, die es einem ermöglichen, ein normales Leben zu führen und ohne Ausfälle zu arbeiten. Trotz dieser Krankheit kann ich mir von jedem Psychologen bestätigen lassen, dass ich mich in seelischem Gleichgewicht befinde und ein ungetrübtes Urteilsvermögen habe, zumal die Art von Depressionen, die mich plagen, nicht als schwerwiegender angesehen werden als zum Beispiel Diabetes. Ich habe keine Ahnung, wie eine genaue Aufstellung meines Medikamentenkonsums ausgerechnet in die Hände des Justizministers fallen konnte, aber ich weiß, dass es gegen Persönlichkeitsrechte und das Recht auf eine unangetastete Privatsphäre verstößt.«

»Das ist aber leider nicht das Wichtigste an der Sache«, warf Lúðvík ein. »Du weißt genauso gut wie ich, dass man an alles Wichtige herankommt, ganz egal, wie gut es geschützt ist. Das gilt sowohl für Informationen als auch für reale Dinge wie Geld. Sogar Landesteile oder Ölquellen kann man sich aneignen, wenn man mächtig genug ist. Da fragt auch niemand, was legal ist und was nicht.

Es werden doch über jeden einzelnen Bürger massenweise Informationen gesammelt: über seine ökonomischen Verhältnisse, Konsumgewohnheiten, Eigenschaften und Vorlieben, und nicht zuletzt über seinen Gesundheitszustand. Es ist doch kindisch, zu glauben, dass diese Daten nur für ehrenhafte, positive Zwecke genutzt werden. Alles, was man nutzen kann, kann man auch missbrauchen. Die Akten, die die Stasi in mühevoller Kleinarbeit für fast jeden DDR-Bürger angelegt hat, sind nahezu lächerlich unvollständig und primitiv im Vergleich zu den Informationen, die heutzutage automatisch über jeden von der Geburt bis zum Tod in Computern erfasst werden.

Seit dem Tag, an dem in unserem Land Identifikationsnummern eingeführt wurden, ist doch jegliches Gerede über den Schutz der Persönlichkeitsrechte und die Unantastbarkeit der Privatsphäre dummes Zeug. Aber noch sind nicht alle Nationen so untertänige Sklaven des Computer- und Informationszeitalters wie wir Isländer. In England gibt es keine Identifikationsnummern, und wahrscheinlich würden die Bürger Englands zu den Waffen greifen, wenn die Politiker ein solches Spionagesystem einführen wollten …«

An dieser Stelle verstummte Lúðvík, runzelte die Stirn und schaute zu Víkingur.

»Was wollte ich eigentlich sagen?«

»Das weiß ich leider auch nicht«, entgegnete Víkingur.

»Nein, es ist hoffnungslos«, sagte Lúðvík. »Ich werde langsam senil. Worüber haben wir eben gesprochen?«

»Du hast gesagt, Persönlichkeitsschutz und Unantastbarkeit des Privatlebens seien nicht das Wichtigste bei dieser Sache.«

»Ja, genau«, sagte der Polizeidirektor, froh, den Faden wiedergefunden zu haben. »Es gibt zwei wichtige Punkte: Erstens hast du nichts getan, was in irgendeiner Weise unnatürlich oder gesetzeswidrig wäre. Ich stärke mich mit einem Kräuterschnaps. Du schluckst eine Pille. Ich kaufe im Alkoholladen ein, du in der Apotheke. Beides ist erlaubt. Zweitens brauchte der Justizminister einen Vorwand, um der Landespolizei die Spionageabteilung zuzuschustern. Niemand redet von Medikamentenmissbrauch, denen genügt offenbar die Einnahme von Medikamenten, um argwöhnisch zu werden. Und das bereitet mir Sorge. Aber wir werden uns in aller Ruhe etwas überlegen. Wenn sie diesen Vorwand nicht gefunden hätten, wäre es eben ein anderer gewesen. Mach dir deshalb keine Gedanken.«

»Leichter gesagt, als getan«, erwiderte Víkingur.

»Ja.« Lúðvík stand auf, um zu signalisieren, dass das Gespräch beendet sei.

Als Víkingur schon an der Tür war, rief Lúðvík ihm hinterher: »Hör mal, Víkingur!«

»Ja?«

»Hast du schon mal drüber nachgedacht, dass es nicht schaden könnte, dieses Seroxat ein bisschen höher zu dosieren, wo du es sowieso einnehmen musst?«

»Nein. Warum?«

»Du wirkst in letzter Zeit ziemlich niedergeschlagen, selten fröhlich.«

»Ich bin immer dann fröhlich, wenn ich einen Grund habe.«

»Da würde ich an deiner Stelle noch mal drüber nachdenken«, sagte der Polizeidirektor. »Ich hab festgestellt, dass diejenigen, die einen speziellen Grund zum Fröhlichsein brauchen, nur äußerst selten fröhlich sind.«

25
 »So wahr ich hier sitze«

Randver hatte nicht vor, die Frage, ob er an Außerirdische glaube, zu beantworten, zumal er sich noch nie ernsthaft Gedanken darüber gemacht hatte.

»Hör zu«, sagte er zu Sveinbjörn. »Ich finde, es macht keinen Unterschied, ob ich an Leben auf anderen Planeten glaube oder nicht. Aber ich weiß, dass dieses Verhör wesentlich besser verlaufen wird, wenn wir uns darauf einigen könnten, dass ich frage und du antwortest.«

»Ich habe ein Recht auf Gleichbehandlung«, sagte Sveinbjörn an seinen Anwalt Guðbjartur gerichtet. »Laut Grundgesetz bin ich berechtigt, über Außerirdische zu sprechen, ohne von Beamten diskriminiert zu werden. Ihr seid euch ja auch nicht zu fein dafür, euch von mir und anderen Steuerzahlern eure Gehälter finanzieren zu lassen.«

Guðbjartur kam nicht darum herum, seinem Mandanten zu antworten. Er räusperte sich und sagte: »Ohne Vorbereitung ist es sehr schwer zu sagen, welche juristische Stellung Außerirdische nach isländischem oder internationalem Recht hätten. Falls Außerirdische in irgendeiner Weise mit der Sache zu tun haben, schlage ich vor, dass du erläuterst, inwiefern dies der Fall ist, und dann sehen wir weiter, wie es sich entwickelt.«

»Sich entwickelt? Was soll das heißen?«, fragte Sveinbjörn und kniff die Augen zusammen.

»Ich meine, wir werden sehen, wie wir weiter vorgehen. Das ist im Augenblick ein wenig unklar.«

»Okay«, sagte Sveinbjörn. »Ich möchte euch liebend gern erzählen, wie es zu alldem gekommen ist, aber eins muss klar sein: Es ist nicht an mir, meine Aussage zu beweisen, sondern Aufgabe der Polizei, sie zu widerlegen. Und damit meine ich widerlegen. Ihr könnt nicht einfach sagen, sie ist unglaubwürdig, und mich dann ins Gefängnis stecken.«

»Ich stecke niemanden ins Gefängnis«, sagte Randver. »Meine Aufgabe ist es, die Wahrheit herauszufinden. Das Gericht urteilt anschließend gemäß der Rechtsprechung.«

»Das hat Pilatus auch gesagt«, erwiderte Sveinbjörn.

»Schon möglich, dass Pilatus kein besonders guter Beamter war«, sagte Randver. »Aber er war nicht bei der Kripo Reykjavík. Und außerdem verhöre ich nicht Jesus Christus, sondern dich. Ich will nichts anderes hören als die Wahrheit, wie fantastisch sie auch sein mag. Wie du ganz richtig bemerkt hast, werde ich von deinen Steuergeldern finanziert, und daher habe ich alle Zeit der Welt, mir anzuhören, was du zu sagen hast.«

Dann kam die Geschichte. Der Anfang ähnelte dem, was Sveinbjörn bereits vor seinem Gedächtnisverlust erzählt hatte.

Obwohl Ásgerður und er sich getrennt hatten, wollten sie sich noch einmal treffen, um über die Zukunft zu sprechen, nicht zuletzt im Hinblick auf ihre Kinder. Ásgerðurs Schwester hatte die Kleinen über Nacht zu sich genommen. Das Gespräch verlief sehr freundschaftlich, und am Ende beschlossen sie, alle alten Streitigkeiten zu begraben und es noch einmal miteinander zu versuchen. Sie waren sich darüber einig, dass sie sich noch liebten. Um die Versöhnung zu besiegeln, wollten sie sich einen schönen Abend machen, zusammen ausgehen und feiern. Sie waren sich allerdings nicht ganz einig darüber, welches Lokal sie aufsuchen sollten. Dies war die Erklärung für die Aussagen der Türsteher in der Glaumbar. Die hatten behauptet, Sveinbjörn habe Ásgerður an den Haaren hinausgeschleift.

»Das ist glatt gelogen«, sagte Sveinbjörn. »Ich hab ihr ganz nett den Arm um die Schultern gelegt und sie gebeten, sich zu beeilen, weil sie rumgetrödelt hat und die Rausschmeißer bitten wollte, ein Taxi zu rufen. Ich hab sie vielleicht ein bisschen gestoßen, aber das war nur Spaß.«

»Danach wurdet ihr im Kringlukrá gesehen«, sagte Randver. »Wie seid ihr dahin gekommen?«

»Mit dem Auto natürlich«, antwortete Sveinbjörn.

»Mit welchem Auto?«

»Mit meinem.«

»Wer ist gefahren?«

»Sie ist gefahren. Ich hatte schon was getrunken.«

»Konnte Ásgerður Auto fahren? Sie hatte keinen Führerschein.«

»Doch, für eine Frau konnte sie ganz gut fahren. Ich hab ihr beigebracht, den Jeep zu fahren.«

»Und sie war nüchtern?«

»Nee, sie war nicht ganz nüchtern. Sie hatte schon ziemlich was intus. Und sie ist auch nicht gefahren, sondern ich. Ich sage euch jetzt die Wahrheit; ihr könnt protokollieren, dass ich gefahren bin, obwohl ich unter leichtem Alkoholeinfluss stand. Vielleicht war es auch ein bisschen zu viel. Ich werde die gerechte Strafe dafür auf mich nehmen.«

»Ihr seid also zum Kringlukrá gefahren?«

»Ja.«

»Und da bist du dann um Viertel nach eins rausgeflogen?«

»Nein, das stimmt ganz und gar nicht. Ich bin freiwillig gegangen, und Ásgerður ist mitgekommen.«

»Nachdem du einen Mann an der Bar angegriffen und ihn bezichtigt hast, ein Verhältnis mit deiner Frau zu haben?«

»Hör zu«, sagte Sveinbjörn. »Ich versuche, euch die Wahrheit zu sagen, aber ich werde ständig unterbrochen und mir werden alle möglichen Lügengeschichten unterstellt. Ich habe keinen Mann im Kringlukrá angegriffen. Ich habe ihn geschubst, um mich zu verteidigen, als er mich angegriffen hat. So war das.«

»Warum hat dich dieser Mann angegriffen?«

»Vollkommen grundlos. Ich hab ihn höflich gebeten, meine Frau nicht zu belästigen.«

»Sie zu belästigen, inwiefern?«

»Er hat sie angemacht, wollte ihr was ausgeben und hat sie sogar gefragt, ob sie mit zu ihm nach Hause kommen würde.«

»Ein völlig unbekannter Mann?«

»Ja, kann man so sagen, ich hatte ihn allerdings vorher schon mal gesehen. Er arbeitet in einer Netzfabrik.«

»Der Mann heißt Ómar Elías Skaptason und beteuert, Ásgerður habe ihn mehr als einmal aufgesucht, weil du sie misshandelt hättest.«

»Er lügt! Dieser Mann ist ein Schmarotzer, der sich von Frauen aushalten lässt, die ihm angeblich leidtun. Er hat sich meiner Frau gegenüber unmöglich benommen. Ich habe sie nach Hause begleitet, um ihn loszuwerden.«

»Die Türsteher sagen, du hättest es so eilig gehabt, dass du sie die Treppe runtergestoßen hättest.«

»Wieder gelogen. Diese verdammten Türsteher haben sich gegen mich verschworen, wahrscheinlich, weil ich ihnen nie einen ausgegeben habe. Ásgerður ist auf der Treppe gestolpert, sie war ziemlich abgefüllt, und ich konnte sie nicht auffangen. Aber ich bin ihr nachgelaufen und hab ihr auf die Beine geholfen und sogar die Wagentür für sie aufgehalten.«

»Wart ihr noch woanders?«

»Nein, wir sind direkt nach Hause gefahren.«

»Wohin nach Hause?«

»Zu uns nach Hause natürlich. Ásgerður hat in unserer Wohnung gewohnt, und wir wollten es ja noch mal miteinander probieren, deshalb sind wir natürlich zu uns nach Hause gefahren.«

»Und was ist dann passiert?«

»Wir sind schlafen gegangen.«

»Ihr seid wohl kaum direkt schlafen gegangen?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Was ist zwischen euch passiert?«

»Das Übliche, was zwischen Ehepartnern passiert«, sagte Sveinbjörn. »Das muss ich ja wohl nicht näher beschreiben. Ich dachte, was in den eigenen vier Wänden geschieht, sei Privatsache.«

»Zier dich nicht so«, sagte Randver. »Du weißt, dass deine Frau verschwunden ist, und die Hintergründe sind keine Privatsache.«

»Das verstehe ich ja«, entgegnete Sveinbjörn. »Und ich helfe euch, so gut ich kann. Aber wir haben nur das gemacht, was ein normales Ehepaar macht, wenn es vom Feiern nach Hause kommt. Wir haben uns unterhalten und sind dann ins Bett gegangen – und wenn du es unbedingt wissen möchtest, haben wir es gemacht, bevor wir eingeschlafen sind; das, was man landläufig Geschlechtsverkehr nennt.«

»Mit ihrem Einverständnis?«

»Um Himmels willen!«, stieß Sveinbjörn aus. »Was will man mir denn noch alles unterstellen? Dass ich meine Frau vergewaltigt habe? Jesses, wie soll man denn seine eigene Frau vergewaltigen?«

»So ähnlich wie andere Frauen auch«, warf Dagný ein.

»Ich hab keine Frauen vergewaltigt«, rief Sveinbjörn. »Du hast dir vorgenommen, mir was anzuhängen, nur, weil ich ein Mann bin.« Dann wandte er sich wieder an seinen Anwalt: »Bin ich verpflichtet, mich von irgendwelchen Lesben verhören zu lassen?«

Guðbjartur räusperte sich.

»Wir sind bisher gut vorangekommen, und mein Mandant war sehr kooperativ. Ich denke, es ist am besten, wenn er bei seinen weiteren Ausführungen so wenig wie möglich unterbrochen wird.«

»Wenn dem nur so wäre«, seufzte Randver. »Wir versuchen nur, seinem Bericht zu folgen. Ihr kamt also nach Hause und habt euch unterhalten. Worüber habt ihr euch unterhalten?«

»Das weiß ich nicht mehr so genau«, antwortete Sveinbjörn. »Über dies und das.«

»Versuch bitte, dich genauer zu erinnern«, sagte Randver. »Es war das letzte Gespräch, das du mit deiner Frau geführt hast. Du musst dich doch daran erinnern können, worüber ihr gesprochen habt. Die Nachbarn meinen jedenfalls, es sei ziemlich laut gewesen.«

»In diesem Haus darf man nicht mal atmen, ohne dass sich die Nachbarn beschweren«, entgegnete Sveinbjörn. »Kann sein, dass wir den Fernseher eine Weile laufen hatten. Den kann man nie leise genug drehen.«

»Was lief im Fernsehen?«

»Weiß ich nicht mehr. Jedenfalls nichts, was mich interessiert hätte. Vielleicht hab ich auch eine DVD angemacht. Ich weiß es einfach nicht mehr, aber es erklärt den Lärm.«

»Welchen Lärm?«

»Na, den die Nachbarn angeblich gehört haben.«

»Sie haben Geschrei und Scheppern gehört. Es wäre also schön, wenn du uns sagen könntest, um welchen Film es sich handelte.«

»Ich hab doch gesagt, ich weiß es nicht mehr. Aber Geschrei und Scheppern kann ich erklären. Die machen aus einer Mücke einen Elefanten. Ich war wie gesagt im Wohnzimmer und hab die Anlage eingeschaltet, während Ása in der Küche war und uns noch einen letzten Drink eingeschenkt hat. Um uns verständigen zu können, mussten wir also rufen. Das war das Geschrei.«

»Und das Knallen und Krachen?«

»Davon weiß ich nichts«, antwortete Sveinbjörn. »Das müssen die sich eingebildet haben. Oder doch, vielleicht als der Stuhl umgefallen ist.«

»Welcher Stuhl?«

»Ach, da stand ein Stuhl im Wohnzimmer; der ist umgefallen, als Ása aus der Küche kam. Sie ist gestolpert und dagegengestoßen, und er ist umgekippt, und möglicherweise hat sie einen Schrei ausgestoßen, und dann hat man vielleicht gehört, wie ich den Stuhl wieder hingestellt habe.«

»Warum ist sie gegen den Stuhl gestoßen?«

»Sie war nicht mehr ganz sicher auf den Beinen. Sie vertrug nicht viel. Und diese hochhackigen Schuhe sind lebensgefährlich.«

»Hat Ásgerður nur das eine Mal geschrien, als sie gegen den Stuhl gestoßen ist?«

»Ja, ich glaube schon. Es kann natürlich sein, dass man sie hören konnte, nachdem wir ins Bett gegangen waren.«

»Vor Schmerz?«

»Schmerz?« Sveinbjörn machte ein verwundertes und beleidigtes Gesicht. »Ich weiß ja nicht, wie das bei euch Lesben ist, aber wenn echte Männer Frauen befriedigen, dann geben die Frauen alle möglichen Geräusche von sich. Ihr verpasst da so einiges.«

»Abgesehen von der Ursache des Lärms«, sagte Randver. »Was passierte dann?«

»Tja, wir sind einfach eingeschlafen.«

»Ihr habt die Sache nicht weiter besprochen?«

»Welche Sache?«

»Eure Sache. Die Trennung und die Zukunft.«

»Nein, das hatten wir wie gesagt alles schon vorher ausdiskutiert. Wir haben beschlossen, uns doch nicht zu trennen, sind rausgegangen und haben gefeiert, das Ganze im Bett noch fortgesetzt und sind dann beide eingeschlafen.«

»Gut und schön«, sagte Randver. »Was geschah am nächsten Morgen, als ihr aufgewacht seid?«

»Nichts geschah am nächsten Morgen. Es geschah in der Nacht«, erklärte Sveinbjörn. »Wie gesagt, ich bin schnell eingeschlafen; ich schlafe normalerweise die ganze Nacht durch, bis ich aufwache, weil ich aufs Klo muss. Unglaublich, ich weiß.«

»Wir hören«, brummelte Randver.

»Diesmal war es anders. Ich bin mitten in der Nacht aufgewacht. Das Licht war ausgeschaltet und es war düster, sodass man gerade noch die Umrisse der Möbel im Dunkeln erkennen konnte. Ich hab sofort gemerkt, dass Ása auch aufgewacht war, und hab sie gefragt, ob sie irgendwas gehört hätte.

›Nein‹, hat sie geantwortet, ›aber ich hab das Gefühl, dass mich jemand anschaut.‹

Normalerweise hätte ich ihr gesagt, sie solle kein dummes Zeug reden, aber das Komische war, dass ich genau dasselbe Gefühl hatte. Als würde mich jemand anschauen. Und dann füllte sich das Zimmer im Handumdrehen mit irgendwelchen Wesen, die waren so grüngelblich, als würden sie von innen strahlen. Sie kamen durch die Außenwände ins Zimmer, einfach so, als würden sie durch Wasser gehen. Ich hab mich natürlich total erschreckt und wollte aus dem Bett stürzen, aber da merke ich, dass ich wie gelähmt bin und mich überhaupt nicht bewegen, ja, noch nicht mal ein Geräusch von mir geben kann. Das Erste, was mir einfällt, ist, dass ich entweder träume oder dass es Geister sind. Als mir klar wird, dass ich wach bin, sehe ich, dass es keine Geister sein können, weil es natürlich in Wirklichkeit keine Geister gibt, und ich begreife, dass es Außerirdische sein müssen. Da hab ich richtig Angst bekommen.«

»Was hast du dann gemacht?«, fragte Dagný.

»Gemacht? Was zum Teufel glaubst du denn, was ich gemacht habe? Was hättest du gemacht? Ich konnte mich nicht bewegen. Ich war komplett gelähmt. Ich hab im Geiste zu Gott gebetet, dass er mir helfen soll, und ich bin fest davon überzeugt, dass mir das das Leben gerettet hat. Obwohl es mir auch nichts bringt, wenn er mich nur von den Außerirdischen befreit hat, damit ich dann bei euch lande.«

»Hör zu«, sagte Randver. »Wir wiederholen das noch mal kurz. Damit ich dich auch ganz bestimmt richtig verstehe. Ihr liegt schlafend im Bett, du und Ásgerður, und dann wacht ihr beide gleichzeitig auf und habt das Gefühl, jemand würde euch anschauen. Als Nächstes füllt sich das Zimmer mit Außerirdischen, die durch die Wand kommen, als würden sie durch Wasser gehen.«

»Haargenau«, bestätigte Sveinbjörn. »So war es.«

»Kannst du diese Außerirdischen näher beschreiben?«

»Man muss sie natürlich selbst sehen. Es ist sehr schwer, sie jemandem zu beschreiben, der sie nicht gesehen hat, wie wenn man den Hottentotten Schnee beschreibt. Diese Wesen sind grünlich, fast durchsichtig, man sieht, wie sich ihre Muskeln und Venen abzeichnen. Sie sind nicht groß. Ich würde sagen, so groß wie ein zehn- oder zwölfjähriges Kind, nur der Kopf ist so groß wie bei einem Erwachsenen. Die Augen waren wie Glühbirnen, ich meine, sie haben hell gestrahlt, wie weißes Licht, und sie waren schräg. Nicht wie bei Chinesen oder Japanern, sondern viel größer, ungefähr wie ein Ei. Ein Ei von der Seite, meine ich.«

»Haben diese Wesen irgendwelche Laute von sich gegeben?«

Sveinbjörn dachte einen Moment nach und sagte dann:

»Ja, ich bin mir sicher, dass sie sich miteinander unterhalten haben. Sie haben ab und zu Geräusche gemacht, die man schwer beschreiben kann. So wie Knacken und Knistern im Radio, wenn man einen Sender sucht. Jedenfalls sind diese Wesen ins Schlafzimmer gekommen, durch die Tür ins Wohnzimmer und wahrscheinlich auch in die Küche gegangen und haben uns angestarrt. Und nicht nur das, sie haben auch die Bettdecke weggezogen – wir lagen unter einer Decke – und weiter gestarrt. Das war sehr unangenehm.«

»Konntest du etwas tun?«

»Nein, ich war vollkommen gelähmt, konnte nur die Augen ein bisschen bewegen. Sie standen im Kreis um uns herum, sogar in der Wand am Kopfende des Bettes. In der Wand, stellt euch das mal vor, sie ragten so halb heraus. Ich konnte nichts tun. Nur vollkommen steif daliegen. Als Nächstes hat mir ein Außerirdischer die Hand auf die Stirn gelegt. Ich hab die Berührung gespürt. Es war nicht wie eine normale Berührung. Mehr wie ein Windzug. Ein kühler Wind. Und als er mich berührt hat, konnte ich nichts mehr sehen, mir wurde schwarz vor Augen. Ich hatte das Gefühl, aus dem Bett zu schweben. Eine Weile hörte ich dieses Knacken um mich herum, wie im Radio, und dann weiß ich nichts mehr. Sie müssen mich hypnotisiert haben. Jedenfalls war ich bewusstlos.«

»Ja, hm«, machte Randver. »Und was ist das Nächste, an das du dich erinnern kannst?«

»Ich kam mir vor wie im Inneren einer Apfelsine. Ich meine, ich war in einem Zimmer mit einer kugelförmigen Decke in der Farbe einer Apfelsinenschale. Es war hell, obwohl es keine Lichter oder Lampen gab. Ich liege auf einer Bahre, und alle Außerirdischen stehen im Kreis um mich herum. Und dann kann ich die Augen bewegen und sehe, dass Ása auf einer anderen Bahre direkt neben mir liegt, und sie traktieren sie mit irgendwelchen Geräten.«

»Was für Geräte?«

»Das konnte ich nicht richtig erkennen. Messer und Zangen und Hämmer und so, nur ganz anders als die, die wir benutzen. Ich konnte sehen, dass sie blutete, aber ich hatte genug mit mir selbst zu tun, denn auf einmal begann einer von ihnen mit bloßen Händen im mir herumzuwühlen.«

»Wie hat er das gemacht?«

»Das kann ich nicht beschreiben, es war, als könnten diese Wesen durch alles hindurchgreifen. Sie sind einfach so durch Wände und Möbel gegangen, und dann haben sie angefangen, meine Eingeweide anzufassen. Einer hat die Lunge aus meiner Brust genommen und ein anderer das Herz hochgehalten. Ich konnte sehen, wie es in seinen Händen schlug. Da dachte ich, meine letzte Stunde sei gekommen. Und neben mir sehe ich, wie Ása blutet, und das war das Letzte, was ich gesehen hab, denn dann hat einer von ihnen kapiert, dass ich wach war, und seine Hand auf meine Stirn gelegt, und dann wurde alles schwarz.«

»Wo befandest du dich, als du wieder bei Bewusstsein warst?«

»Ich bin in meinem Bett aufgewacht und konnte mich an nichts erinnern, also gehe ich aufs Klo, pinkele, trinke einen Schluck Wasser, und als ich ins Wohnzimmer komme, sehe ich, dass Blut auf dem Fußboden ist, sogar Blutspritzer an den Wänden, und ich erschrecke mich und renne wieder ins Schlafzimmer, und Ása ist nicht im Bett, und ich hab keine Ahnung, was passiert ist.«

Sveinbjörn verstummte und musterte seine Zuhörer.

»Ich wusste es. Ich sehe euch an, dass ihr mir nicht glaubt. Es hat überhaupt keinen Sinn, mit euch zu sprechen.«

»Die Geschichte ist noch nicht zu Ende, oder?«, sagte Randver. »Wir sollten sie bis zum Ende durchgehen, bevor wir entscheiden, was wir glauben und was nicht. Wie spät war es, als du aufgewacht bist, und wie ging es dir da?«

»Es ging mir natürlich nicht gut. Ich war ein bisschen verkatert und dachte, ich hätte einen Blackout gehabt. Ich hab versucht, mich zu erinnern, was zwischen mir und Ása passiert war. Dann kam die Erinnerung nach und nach zurück. Ich wusste wieder, dass wir uns am Abend versöhnt und beschlossen hatten, es noch einmal zu versuchen, vor allem wegen der Kinder, und dann kam alles wieder, und ich muss zugeben, dass ich eine Scheißangst hatte, als ich mich an die Außerirdischen erinnerte, wie sie durch die Wand kamen und um uns herumstanden.«

»Wie spät war es, als du aufgewacht bist?«

»Ich hab nicht auf die Uhr geguckt. Ich stand unter schwerem Schock und musste über andere Dinge nachdenken.«

»Über was denn?«

»Darüber, was passiert war. Wo Ása war. Warum das ganze Wohnzimmer voller Blut war. Ob mir jemand glauben würde, dass sie von Außerirdischen entführt worden war.«

»Haben die Außerirdischen auch das blutverschmierte Brecheisen in deinem Auto zurückgelassen?«

»Nein, natürlich nicht. Ich bin selbst damit zum Auto gegangen und hab vergessen, es abzuwaschen.«

»Warum hattest du das Brecheisen überhaupt mit zu Ásgerður genommen?«

»Ich hab es immer dabei, um mich verteidigen zu können. In der Stadt gibt’s alle möglichen seltsamen Typen, und die Polizei beschützt einen ja nicht.«

»Trägst du wegen deiner Drogenschulden eine Waffe bei dir?«

»Nein, keinesfalls. Ich bin so gut wie clean. Man kann auch andere Schulden als Drogenschulden haben. Und man kann einem auch Schulden unterstellen.«

»Was hast du gemacht, bevor du an dem fraglichen Morgen die Wohnung verlassen hast?«

»Ich wusste weder ein noch aus. Ich hatte Angst, was mit Asa passiert sein könnte, und Panik davor, dass die Wesen zurückkommen und mich mitnehmen würden. Dann hab ich darüber nachgedacht, dass es schlecht für mich aussähe, wenn die Wesen Ása nicht wieder zurückbringen würden, wenn sie einfach verschwunden bliebe und überall Blutspuren. Ich weiß genau, wie die Polizei denkt.«

»Und was hast du dann gemacht?«

»Ich hab schnell die Wohnung geputzt, das Blut weggewischt, vom Fußboden und von den Wänden, damit niemand auf die Idee käme, mich dafür verantwortlich zu machen.«

»Hast du aus der Wohnung etwas mitgenommen?«

»Warum hätte ich das tun sollen? Haltet ihr mich für einen Dieb, der bei sich selbst einbricht? Das ist meine Wohnung, verdammt noch mal.«

»Und was ist mit den Zeugen, die behaupten, du hättest gegen halb neun am fraglichen Morgen eine große schwarze Plastiktüte zu deinem Auto geschleppt?«

»Ja, okay, ich geb’s ja zu. Ich hab den Teppich aus dem Wohnzimmer mitgenommen, hab ihn aufgerollt und in eine Plastiktüte gesteckt.«

»Warum?«

»Der Teppich gehörte mir genauso wie Ása.«

»Warum hast du den Teppich mitgenommen?«

»Weil Blut drauf war. Ich wollte ihn zur Reinigung bringen. Das erklärt natürlich auch das Blut, das ihr im Auto und auf dem Brecheisen gefunden habt. Das hab ich nämlich in den Teppich gelegt. Und die Putzsachen, den Wischlappen, den Kehrbesen und den Eimer hab ich auch mitgenommen.«

»Du hast also versucht, sämtliche Spuren zu beseitigen.«

»Ja, das gebe ich zu. Ich hatte tierische Angst. Was hättet ihr denn getan? Ich wusste, wenn Ása nicht zurückkommen würde, wäre man mir auf den Fersen, würde mich dafür verantwortlich machen. Und ich wusste, dass mir niemand glauben würde, wenn ich erzählen würde, was in der Nacht wirklich passiert ist. Aber am meisten Angst hatte ich davor, dass sie zurückkommen und mich holen würden. Sie können durch Wände gehen. Nee, wow, Mann, guck mal, da steht einer hinter dir!«

Randver konnte es sich nicht verkneifen, sich umzudrehen.

Sveinbjörn strahlte über das ganze Gesicht.

»Ha, jetzt hatte ich dich. War nur ein Witz, Mann. Aber dass das klar ist: Ich hab euch die ganze Wahrheit erzählt und mehr weiß ich nicht. Und Gott weiß, dass ich das Ganze am liebsten vergessen würde. Warum geht ihr nicht raus und sucht Ása, anstatt hier zu rumzusitzen und mich zu quälen?«

»Es wurde schon sehr gründlich nach ihr gesucht«, sagte Randver.

»Aber offenbar nicht am richtigen Ort«, entgegnete Sveinbjörn. Dann zog sich ein Lächeln über seine Lippen und er kicherte: »Wie ist das, stehen den Bullen keine Ufos zur Verfügung?«

Randver rechnete fast damit, dass er Dagný packen und davon abhalten müsste, sich auf den Verdächtigen zu stürzen. Aber seine Sorge war unbegründet. Sie sprang einfach auf und rannte zur Tür hinaus.

»Was ist denn mit der Lesbe los?«, fragte Sveinbjörn. »Ich tue das alles doch nur euch zuliebe. Ich hab alles gesagt, was ich zu sagen habe, und auch wenn das vielleicht unglaublich klingt, es ist wahr! Alles! So wahr ich hier sitze.«

26
Auf der Folterbank

Landespolizeichefin Elín Óskarsdóttir war ein penibler, regeltreuer Mensch. Sie war bekannt für ihren großen Ehrgeiz, aber sie war auch gewissenhaft und aufrichtig.

Zwei Dinge konnte sie nicht ausstehen.

Erstens machte ihr das Gerücht zu schaffen, die Landespolizeibehörde sei speziell auf sie zugeschnitten und für sie gegründet worden, damit sie auch irgendwo unterkäme, wenn sie nach ihrem Jurastudium die Zusatzausbildung an der FBI-Academy in Quantico, Virginia, dem Jungfernstaat der USA, absolviert hätte.

Für den Grund ihres Aufstiegs hielt man die Tatsache, dass sie die Nichte Gestur Oddleifssons, des Parlamentarischen Geschäftsführers der Demokratischen Partei war, den manche für den mächtigsten Mann Islands hielten. Elíns Vater Óskar war das schwarze Schaf in der Familie gewesen. Er starb, als Elín aufs Gymnasium kam, ertrank nachts im Þingvallavatn. Er war nach einer Auseinandersetzung mit seiner Frau im familieneigenen Sommerhaus allein mit dem Boot auf den See hinausgefahren. Seine Leiche wurde nie gefunden. Gestur hatte selbst keine Kinder und übernahm für die drei Töchter seines Bruders die Vaterrolle. Elín war die älteste. »Die kleine Mama in der Schar«, pflegte Gestur zu sagen. »Die kleine Mama.«

Selbstverständlich hatte Elín von den Gründungsplänen für die neue Landespolizeibehörde gewusst. Natürlich hatte sie darauf hingearbeitet, das Amt zu bekommen – daher das Spielchen mit der Zusatzausbildung in Strafverfolgung und Betriebsführung beim FBI. Sie war schlicht und ergreifend die qualifizierteste Bewerberin gewesen, und weil sie eine Frau war und Gestur Oddleifsson ihr Onkel, nutzten dessen politische Gegner die Gelegenheit, ließen dies in den Medien durchsickern und erzählten jedem, der es hören wollte, sie sei ein weiteres Beispiel für Nächsten- und vor allem Verwandtenliebe in der isländischen Politik.

Es war schwer, mit diesem boshaften Gerücht zu leben, und Elín hatte einmal einen Mann in einem Restaurant niedergeschlagen, weil er sie als »Polizeichefin der Demokratischen Partei« verhöhnt hatte. Bei diesem Vorkommnis hatte sie auch die Bemerkung fallen lassen, ein am Körper baumelndes Geschlechtsteil sei noch lange kein Zeichen geistiger oder körperlicher Überlegenheit.

Was Elín noch störte, waren Aufschübe. Sie war ungeduldig und betrachtete Aufschübe als dauerhafte Form von Chaos. »Entweder jetzt oder sofort« war ihr Lieblingsspruch. Es nervte sie, wie langsam die meisten ihrer Kollegen arbeiteten. Die einfachsten Dinge dauerten eine Ewigkeit, und die meisten Fälle hatten die Neigung, mit anderen Verbrechen, die während der Ermittlungen geschahen, in Zusammenhang zu stehen und noch mehr Zeit in Anspruch zu nehmen, noch mehr Arbeit, noch mehr Überstunden, noch mehr Personal und unendlich viel Geld.

Während ihrer Ausbildung war sie gar nicht auf die Idee gekommen, dass sie sich als Landespolizeichefin in erster Linie um Finanzen und Personalfragen kümmern müsste. Sie hatte sich vorgestellt, dass es mit den gegebenen polizeilichen Mitteln möglich sei, sämtliche Verstöße gegen das Gesetz zu bekämpfen und die Gesellschaft sicher und friedlich zu machen. Sie war zwar nicht so naiv, zu glauben, dass ein mächtiger Polizeiapparat die menschliche Natur verändern könnte, aber sie hatte gehofft, beweisen zu können, dass sich Verbrechen nicht lohnen. Inzwischen wusste sie, dass sich manche Verbrechen durchaus lohnten. Die Voraussetzung für lohnende Verbrechen war natürlich, dass sie nicht aufflogen. Die schlausten Verbrecher hatten längst begriffen, dass der einfachste Weg war, sich voll und ganz auf solche Verbrechen zu konzentrieren, die von Polizei und Allgemeinheit überhaupt nicht registriert wurden. Der Abteilung für Wirtschaftskriminalität müssten beispielsweise mindestens hundert ausgebildete Wirtschaftsprüfer zur Seite stehen, damit sie die schlimmsten Vergehen aufdecken könnte. Jeder Trottel war in der Lage, einem zugedröhnten Schwachkopf, der eine geklaute Kreditkarte benutzte, auf die Schliche zu kommen, aber ein Direktor oder Geschäftsführer, der auf Kosten der Allgemeinheit Blut aus dem eigenen Unternehmen abzapfte, ließ sich von der Polizei nicht so leicht festnageln. Die Betriebsprüfung der Mínus Group war im Grunde die Bewährungsprobe für die Tauglichkeit der Behörde, anspruchsvolle Aufgaben bewältigen zu können. Elín hoffte, die Sache einwandfrei zu erledigen, wagte es jedoch nicht, auf bahnbrechende Erfolge in naher Zukunft zu hoffen.

Daher war ihre Schlussfolgerung, dass die Polizei im Kampf gegen Gesetzesverstöße jener Gruppe von Menschen, die für gewöhnlich Verbrecher genannt werden, aber überwiegend Alkoholiker oder Junkies sind, hervorragend vorankam. Diese »Verbrecher« verübten derart dumme Diebstähle oder wendeten so unüberlegt Gewalt an, dass ihre Festnahme und Verurteilung eigentlich unvermeidlich war, wie unterbesetzt und stümperhaft die Polizei auch sein mochte. Der Kampf der Polizei gegen jene Verbrechen, die von mehr oder weniger nüchternen Personen vorsätzlich begangen wurden – Wirtschaftsverbrechen, Gewalt in der Familie, Kindesmissbrauch, Drogenhandel –, war hingegen ebenso erfolglos wie die Bemühungen der Priester um die Einhaltung der Zehn Gebote.

Elín fühlte sich einsam an der Spitze der Pyramide. Sie war Leiterin der Behörde und hatte ihre Macht und ihren Einfluss auf die verschiedenen Polizeiinspektionen im Land ausgeweitet. Ihre Vision war eine einzige Polizeibehörde für das ganze Land, die Landespolizeibehörde: zentralisiert, modern, computerisiert und reaktionsschnell. Dann wäre sie von fähigen Abteilungsleitern umgeben, denen sie die Aufsicht über die verschiedenen Fälle übertragen könnte, ganz nach Qualifikation jedes Einzelnen.

Vereint stehen wir, gespalten fallen wir, dachte Elín. Dabei kam ihr natürlich, wie ein unheilverkündendes Omen, Dressman in den Sinn. Keiner hatte so hartnäckig gegen ihre Fusions-, Spar- und Modernisierungspläne angekämpft wie der Reykjavíker Polizeidirektor, der wie ein Hund sein Revier bewachte und verteidigte, wie eine trotzige, blöde Bulldogge, die nicht weiß, dass Wachhunde eine aussterbende Erscheinung sind, denn Bewegungsmelder und Überwachungskameras müssen nie schlafen, brauchen kein Futter, keine Streicheleinheiten und müssen nicht Gassi geführt werden.

Einen Augenblick tauchte das Bild vor ihr auf, wie sie den Laugavegur hinunterging, vor ihr an der Leine tapsend, lächelnd und glücklich, der Polizeidirektor, und die Leute zeigten lachend auf sie, als er sich plötzlich in den Rinnstein hockte und die Hose herunterließ. »Das musst du aber nachher wegmachen«, rief einer der Gaffer. Das Bild verschwand. Die Modernisierung des Polizeiapparats war ihre Mission.

In ihrer Einsamkeit als Vorgesetzte hielt sich Elín an die Devise, ihren Mitarbeitern keine Gelegenheit zu geben, sie näher kennenzulernen. Ihr Kontakt zu ihnen war ein rein beruflicher. Sie stellte sich jedoch vor, dass sich dies in Zukunft ändern würde. Wenn die Landespolizeibehörde für das ganze Land zuständig wäre. Dann könnte sie die Mitarbeiter selbst aussuchen, und das Arbeitsklima würde sich ändern. Sie wäre eine von ihnen. Vorgesetzte und Führungsperson zwar, aber eine Vorgesetzte, der die Mitarbeiter Respekt zollten, weil sie gesehen hatten, dass sie mit anpacken konnte, und wussten, wozu sie fähig war. Sie war knallhart. Kein verzogenes Gör aus der Oberschicht, das auf Staatskosten ein gefährliches Spielzeug in die Hand bekommen hatte.

Der einzige Mitarbeiter, der ganz nach Elíns Geschmack war, arbeitete seit zweieinhalb Jahren in der Behörde. Er trug die Dienstbezeichnung »Spezialist«, weil sein MBA-Titel sich nicht in das veraltete Vergütungssystem der Behörde einfügen ließ – noch nicht. Eysteinn Brandsson traf schnell Entscheidungen. Er übernahm bereitwillig neue Aufgaben. Er trat überzeugend auf und konnte gut reden. Und er hatte Manieren. Was für eine gut erzogene, viel gereiste Frau, die während ihrer Arbeitszeit ansonsten überwiegend von Trantüten oder Fachidioten umgeben war, zweifellos eine Rolle spielte.

Deshalb war Elín unangenehm überrascht, als ein winziger Fall, den Eysteinn nach eigener Aussage bereits geklärt hatte, auf einmal zu einer Erpressermail in den Händen des verstörten Justizministers geworden war. Falls es einen Mann in der Politik gab, mit dem sie sich gutstellen wollte, dann war es Justizminister Daniel Daðason – ungeachtet der abwegigen Ideen, die er manchmal von sich gab.

Sie legte die ausgedruckte E-Mail vor sich auf den Tisch. Es war überflüssig, das Blatt in eine Plastikhülle zu stecken, auf einer E-Mail befanden sich keine Fingerabdrücke des Absenders. Sie betätigte eine interne Telefontaste und sagte zu ihrer Sekretärin:

»Bitte ruf Eysteinn Brandsson an und sag ihm, dass ich mit ihm sprechen möchte. Gleich.«

 

Als Eysteinn eine Sekunde später die Nachricht erhielt, er solle ins Büro der Polizeichefin kommen, war ihm auf Anhieb klar, dass gleich aus ihrem Munde so viel wie 50fort oder auf der Stelle bedeutete. Daher stand er schon auf der Matte, bevor sie sich überhaupt zurechtlegen konnte, was sie ihm zu sagen hatte. Eysteinn machte ein neugieriges Gesicht. Er ging nicht davon aus, dass die Polizeichefin diesen plötzlich anberaumten Termin dazu nutzen wollte, den Entwurf seiner neuen Uniform zu besprechen.

»Nimm bitte Platz«, sagte Elín und deutete auf einen der beiden Holzstühle gegenüber ihrem Schreibtisch. Diese Besucherstühle hatten keine Polster und waren aus Hartholz. Die Mitarbeiter der Behörde, denen dort ein Platz angeboten wurde, erwartete nichts Gutes. Sie nannten sie Folterbänke, denn wenn Elín ihre Mitarbeiter in friedlicher Absicht zu einer Unterredung bestellte, erhob sie sich meist von ihrem Schreibtisch und führte sie in die Sofaecke.

Eysteinn ließ sich auf einer Folterbank nieder.

Elín musterte ihn und musste plötzlich daran denken, wie sehr sie George Clooney vermisst hatte, als er bei ›Emergency Room‹ aufhörte.

Sie sagte nichts, reichte Eysteinn nur den Ausdruck der E-Mail, den ihr der Justizminister gegeben hatte.

Der Empfänger der Nachricht war kjartan.a.hansen@ausw-amt.is.

 

Der Absender hieß walkueren@hotmail.com.

In der Betreffzeile stand VERTRAULICH, und die Mail begann wie folgt:

 

Herr Kjartan A. Hansen.

In meiner Obhut befindet sich DAS EINZIGE EXEMPLAR eines interessanten Buchmanuskripts von Freyja Hilmarsdóttir mit dem Titel WALKÜREN. Es beginnt so:

 

»Frauen fungieren seit Menschengedenken als Konsumgüter der Männer …«

 

Eysteinn las die E-Mail aufmerksam. Als er den Betrag sah, den der Erpresser forderte, stieß er einen leisen Pfiff aus: fünfhunderttausend Euro.

»Über vierzig Millionen Kronen«, sagte er und legte das Blatt auf Elíns Schreibtisch. »Für ein Buch, das nie geschrieben wurde.«

27
Dotcom

Magnús wäre nie auf die Idee gekommen, irgendjemandem seinen Computer anzuvertrauen. Deshalb wich er, als sein Vertrauensmann das Computergenie brachte, nicht von dessen Seite, als der sich an dem Gerät zu schaffen machte. Magnús dachte darüber nach, dass in der gesamten Menschheitsgeschichte noch nie eine Gesellschaftsgruppe so viel Einblick in die Gedankenwelt und das Privatleben der Leute gehabt hatte wie die heutigen Computerfreaks. Jeder Computer enthielt eine Riesenmenge an Informationen über seinen Benutzer. Neben Privatkorrespondenz und Finanzinformationen enthielt er auch die Pfade seines Besitzers durch das Internet; jeder Schritt, den dieser unter eigenem Namen oder dem Schutz eines Pseudonyms im Sündenpfuhl der Computerwelt machte, wurde auf der Festplatte gespeichert.

Im Grunde machte Magnús sich nur wenige Gedanken darüber, dass das Jüngelchen beim Wühlen in den Eingeweiden des Computers auf wichtige Informationen über die Firma oder seine Geschäftspartner stoßen würde. Viel eher befürchtete er, der Junge könnte sich darüber lustig machen, dass Magnús Mínus gern und häufig zu Gast war auf den härtesten Pornoseiten, die das Netz zu bieten hatte. Es war schon seltsam, dass Priester, Ärzte und sogar Anwälte ihren Klienten und Schützlingen gegenüber Schweigepflicht wahren mussten, während Computerfreaks, die auf ihren schmutzigen Turnschuhen bis in die dunkelsten Winkel der menschlichen Seele hineintappen konnten, keinen ethischen Grundsätzen unterstellt waren.

Der Computerfreak tippte und hämmerte eifrig auf die Tastatur ein, leicht zusammengesunken und mit hängenden Schultern. Magnús saß an der Ecke des Schreibtischs und hatte keine Ahnung, was der Junge da tat, hoffte nur, dass er sich aufgrund von Magnús’ Anwesenheit allein darauf konzentrieren würde, herauszufinden, wer sich hinter der E-Mail-Adresse walkueren@hotmail.com verbarg, und seine Neugier ansonsten zügelte.

Endlich schien der Freak genug herumgewerkelt zu haben. Er schob seinen Stuhl zurück und schaute Magnús an.

»Da war totales Chaos bei dir«, sagte er. »Ich hab in 147 Dateien Viren gefunden und sie gelöscht.«

»Welche Dateien hast du gelöscht?«

»Ich hab keine Dateien gelöscht. Ich hab dir nur die Viren vom Hals geschafft. Hast du denn nicht gemerkt, dass dein Computer immer langsamer geworden ist?«

»Da hab ich nicht so drauf geachtet.«

»Du solltest dir einen neuen zulegen«, bemerkte der Freak. »Der hier ist doch schon mindestens zwei Jahre alt.«

»Hör zu, darum geht es nicht«, entgegnete Magnús. »Ich habe dich nicht darum gebeten, nach irgendwelchen Viren zu suchen. Du sollst herausfinden, ob sich diese E-Mail zurückverfolgen lässt, zu walkueren@hotmail. Ich muss wissen, wer sich hinter der Adresse verbirgt.«

»Dotcom«, ergänzte der Freak

Magnús schaute ihn fragend an.

»Dotcom«, wiederholte der Freak, »walkueren@hotmail.com.«

»Ja, hab ich doch gesagt«, erwiderte Magnús.

»Zuerst muss man den Computer auf Viren scannen«, erklärte der Freak, ohne näher auf die E-Mail-Adresse einzugehen. »Du willst doch bestimmt nicht, dass dein Computer auf einmal sämtliche E-Mails, die du bekommen hast, an alle Einträge in deinem Adressbuch verschickt oder so was. Also, es ist kein Problem, rauszukriegen, von wo die Mail abgeschickt wurde, oder ihre IP-Nummer festzustellen. IP steht übrigens für Internet Protocol. Jeder Computer, mit dem man ins Internet geht, hat eine bestimmte IP-Nummer, die sich aus vier Zahlengruppen mit jeweils bis zu drei Ziffern zusammensetzt. Deine IP-Nummer ist zum Beispiel 84.210.53.179, aber sie könnte auch länger sein, zum Beispiel 96.214.174.193, oder noch länger, also eigentlich jede Zahl, die zwölf oder weniger Ziffern hat, unter Berücksichtigung bestimmter Regeln. Es ist kein Problem, die IP-Nummer eines Computers rauszukriegen, wenn er vor einem steht. Eigentlich wie bei einem Fingerabdruck. Das Problem ist, dass man trotz der IP-Nummer keine Ahnung hat, wer den entsprechenden Computer benutzt hat. Verstehst du? Das ist auch wie mit Fingerabdrücken. Es ist eine Sache, die Fingerabdrücke zu finden, aber eine andere, rauszukriegen, wer sie hinterlassen hat, verstehst du?«

»Man kann also nicht zurückverfolgen, von welchem Computer diese Mail stammt?«

»Doch, theoretisch weiß man, woher eine Mail kommt. Man weiß nur nicht, ob der Computerbesitzer sie selbst geschrieben oder irgendein anderer User die Mail abgeschickt hat. Manchmal kann man durchaus sehen, von wo die Mail losgeschickt wurde. Das Problem ist nur, dass es in Reykjavík und in der ganzen Welt unzählige Orte gibt, die kostenlosen Internetzugang anbieten; Hotspots werden die genannt. Ich glaube, auf Isländisch nennt man sie Heiße Felder.«

»Du kannst es also nicht rauskriegen?«

»Eigentlich nicht; ich kann nur sehen, dass die Mail von Hotmail geschickt wurde. Der Absender kann irgendjemand irgendwo gewesen sein.«

»Können wir bei denen nicht nachfragen?«

»Das ist nicht so einfach. Die reagieren nur, wenn sich die Polizei einschaltet. Außerdem kann der Absender auch irgendwo im Auto vor einem Haus mit drahtlosem Netzzugang gesessen haben. Man muss nicht unbedingt in ein Internetcafé gehen, um diesen Service in Anspruch zu nehmen. Hotspots werden nicht von Hauswänden begrenzt; man muss einfach nur mit seinem Laptop in der Nähe sein. Als ich zum letzten Mal gezählt habe, gab es circa achtundzwanzig Hotspots in Reykjavík.«

»Der Eigentümer des Cafés hat also keine Ahnung, wer bei ihm alles das Internet benutzt?«

»Genau.« Der Freak war zufrieden, dass dieser berühmte Mann das Problem des Datenaustauschs im Internet verstanden hatte, obwohl er unbestreitbar nicht mehr der Jüngste war.

»Also gut, mein Junge, so ist es nun mal. Danke für deine Hilfe«, sagte Magnús.

»Kein Problem«, entgegnete der Computerfreak und schob seine CDs in den Rucksack. Zum Abschied sagte er: »Es ist an der Zeit, dass du deinen Computer aufrüstest; der ist tierisch langsam.«

Magnús antwortete nicht. Er hatte über Wichtigeres nachzudenken.

Obwohl sein Besitz einen Wert von mehreren tausend Millionen Kronen hatte, war er jedes Mal genervt, wenn ihm jemand riet, in etwas zu investieren, das man weder gewinnbringend verkaufen noch sonst wie zu Geld machen konnte.

28
 »Ein unwiderrufliches Statement«

Landespolizeichefin Elín betrachtete den verwunderten Gesichtsausdruck ihres Mitarbeiters Eysteinn Brandsson und überlegte, ob dieser adrette Typ am Ende nicht doch nur ein völliger Idiot war.

»Deine Aussagen«, erklärte sie, »haben mich dazu veranlasst, zu glauben, dass dieses Buch nie geschrieben wurde. Und als ich dann erfahren habe, dass diese Freyja Hilmarsdóttir sich das Leben genommen hat, war ich davon überzeugt, dass du Recht hattest. Du hast mir gesagt, sie sei depressiv und bedauere es, sich für diese Sache hergegeben zu haben.«

»Das hat sie mir ja auch erzählt«, sagte Eysteinn. »Es täte ihr wirklich leid, dass sie vorgehabt hätte, sich in die Privatangelegenheiten anderer Leute einzumischen, denn sie habe genug mit sich selbst zu tun. Sie würde sich darum kümmern, dass die Pressemeldungen zu dem Buch dementiert würden. Aber ich bin nicht auf die Idee gekommen, dass sie einen solchen Weg einschlagen würde.«

»Nein«, sagte Elín. »Selbstmord ist ein ziemlich unwiderrufliches Statement.«

»Sie hat mir erzählt, sie hätte sämtliches Material für das Buch, Tonbandaufnahmen, Notizen, Konzepte und so weiter, vernichtet.«

»Dann gibt es zwei Möglichkeiten«, meinte Elín. »Entweder hat sie dich angelogen, oder jemand ist doch an dieses Material gekommen. Vielleicht war sie mit dem Buch schon weiter, als sie dir erzählt hat.«

Eysteinn schwieg einen Moment und sagte dann:

»Es gibt auch noch eine dritte Möglichkeit.«

»Worauf willst du hinaus?«

»Ich glaube erst, dass Freyja mich angelogen hat, wenn ich’s schwarz auf weiß habe. Wir hatten ein sehr gutes Verhältnis. Alles, was in dieser Mail steht, hätte auch jemand anders schreiben können.«

»Und sich die Einleitung und den Titel des Buches ausdenken können?«

»Es war ja bereits bekannt, dass das Buch ›Walküren‹ heißen und wovon es handeln sollte. Man muss kein Prophet sein, um sich ausrechnen zu können, wie Freyja an das Thema herangehen würde.«

»Du meinst also, jemand versucht, sich zu bereichern, indem er behauptet, ein Manuskript zu besitzen, das nie geschrieben wurde? Und damit erpresst er Kjartan A. Hansen? Wer sollte denn auf so eine Idee kommen?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Eysteinn. »Ich hab den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht. Aber zum Beispiel könnten irgendwelche fanatischen Feministinnen auf eine solche Idee kommen.«

Obwohl Elín kaum etwas mit einer fanatischen Feministin gemein hatte, fühlte sie sich angegriffen: »Glaubst du ernsthaft, Feministinnen sind scharf darauf, Leute zu erpressen?«

»Selbstverständlich nicht. Aber ich glaube, am Ende erliegen alle Ismen dieser Welt dem Geld. Wenn man so schlau ist, danach zu fragen, wer von etwas profitiert, dann wird vieles verständlich, was vorher kompliziert aussah.«

»Hm«, murmelte Elín und musterte ihn. »Danke, dass du deine allgemeinen Überlegungen zum Feminismus und zur Philosophie mit mir teilst. Wenn wir uns anschauen, wer in diesem Fall versucht, zu profitieren, dann ist es der Erpresser – einer oder mehrere. Aber das wussten wir schon vorher. Mir ist nicht klar, was diese Spekulationen für einen Sinn haben sollen.«

»Man profitiert nicht nur in Form von Geld«, erwiderte Eysteinn. »Ich will darauf hinaus, dass in allen möglichen Dingen Profit stecken kann. Manche denken nur ans Geld, andere wollen Anhänger für ihre Ideologien gewinnen, wieder andere wollen sich rächen, Aufmerksamkeit erregen oder Verwirrung stiften. Und dann gibt es vollkommen Verrückte, die unvorhersehbare Dinge tun.«

»Widersprichst du dir jetzt nicht selbst?«, fragte Elín. »Hast du nicht eben noch gesagt, dass sich letztendlich alles in der Welt ums Geld dreht?«

»Ja, ich denke halt laut und erwäge verschiedene Möglichkeiten«, antwortete Eysteinn und dachte bei sich: Was soll eigentlich diese Wortklauberei? Glaubt die Frau wirklich, dass sie intelligenter ist als ich, nur weil sie sich meine Vorgesetzte schimpft?

»Es ist ja nicht verkehrt, verschiedene Möglichkeiten zu erwägen, wie du es nennst«, sagte Elín. »Aber die Frage ist doch: Wer verschickt erpresserische E-Mails und unterschreibt sie mit Odin? Wenn wir Odin finden, kommen die anderen Antworten von selbst.«

»Sollen wir die Mail vielleicht so einem Profiler zeigen, damit er analysieren kann, wer der Absender ist?«, fragte Eysteinn mit ironischem Unterton in der Stimme. »Vielleicht deutet Odin ja darauf hin, dass es ein Einäugiger ist. Von denen wird es in Island wohl nicht so viele geben.«

Diesen Versuch, witzig zu sein, hätte sich Eysteinn besser gespart. Elín war nicht sonderlich amüsiert.

»Ich meine ja nur«, lenkte er ein. »Jedenfalls ist klar, dass hier was geschieht, das wir näher untersuchen müssen. Ich für meinen Teil bin davon überzeugt, dass kein Buch mit dem Titel ›Walküren‹ existiert, und wenn es doch existiert, dann hat Freyja es nicht geschrieben. Soll ich der Sache nachgehen?«

»Ja«, antwortete Elín. »Aber du solltest heute noch niemanden davon in Kenntnis setzen. Ich muss darüber nachdenken, wie wir am besten vorgehen.« Sie wusste, dass dieser Fall zu heftigem Kompetenzgerangel mit der Reykjavíker Polizeibehörde führen könnte. Zumindest war es schon mal von Vorteil, dass das Erpressungsopfer in Kanada wohnte. Ottawa fiel wohl kaum in den Zuständigkeitsbereich der Reykjavíker Polizei.

Sie fragt mich noch nicht mal, wo ich eigentlich mit den Recherchen anfangen will, dachte Eysteinn. Amateurin.

»Ich denke, du solltest Kontakt mit Botschafter Kjartan A. Hansen aufnehmen und ihm mitteilen, dass wir an dem Fall dran sind. Er soll auf die E-Mail antworten und weitere Beweise dafür verlangen, dass wirklich ein Buch oder Text existiert, der ihm Unannehmlichkeiten bereiten könnte. Wir müssen alles dransetzen, Zeit zu gewinnen. Wir haben natürlich keine Chance, eine einzige Mail zurückzuverfolgen.«

»Einverstanden«, sagte Eysteinn. Unnötig, sie gegen sich aufzubringen.

»Dann belassen wir es erst mal dabei«, sagte Elín, um das Gespräch zum Ende zu bringen. Eysteinn erhob sich.

»Möchtest du, dass ich ihn anrufe, oder soll ich ihm eine Mail schreiben?«

»Ruf ihn an. Ich schätze, er ist im Augenblick ein bisschen empfindlich, was E-Mails angeht. Außerdem ist es am besten, wenn so wenig Schriftverkehr wie möglich über den Fall existiert, zumindest in der Botschaft.«

»Ich rufe ihn an«, sagte Eysteinn.

Elín nickte zustimmend. Dann vertiefte sie sich in die Unterlagen auf ihrem Schreibtisch und schaute erst wieder auf, als sie hörte, dass Eysteinn die Tür hinter sich zugezogen hatte. Ursprünglich hatte sie ihn bis ins kleinste Detail über seinen Kontakt zu Freyja ausfragen wollen.

Das konnte warten.

29
Schnappmesser

Das Nachmittagsmeeting begann um 18:12 Uhr, als Randver eintraf und sich ans Kopfende des Tisches setzte. Er kam als Letzter, war bei einer Besprechung mit Polizeidirektor Lúðvík, Víkingur und irgendwelchen Erbsenzählern vom Landesrechnungshof gewesen, die beabsichtigten, die Wache einer Betriebsprüfung zu unterziehen. Randver wusste, dass Polizeidirektor Lúðvík davon überzeugt war, der Justizminister hätte ihm das Finanzamt auf den Hals gehetzt, um ihm das Leben schwer zu machen – am liebsten unerträglich.

Marinó nutzte die Zeit vor Beginn des Meetings, um seine Kollegen ein Gesuch an den Polizeidirektor für einen neuen Kaffeeautomaten unterzeichnen zu lassen. Marinó war magenkrank und litt häufig unter Bauchschmerzen und Blähungen. Den Kaffeeautomaten im Flur vor dem Besprechungszimmer hielt er für die Ursache seiner Beschwerden, da dieser eine giftige Brühe produzierte und nicht jenes gesunde, anregende Qualitätsgetränk, das die Gedanken schärft und den Geist belebt.

Alle unterzeichneten bereitwillig, aber Marinós Enttäuschung war groß, als er sich an den Tisch setzte und die Unterschriften seiner Kollegen näher betrachtete. Als Erster hatte Terje mit Sherlock Holmes statt mit Terje Joensen unterschrieben. Dagný war seinem Beispiel gefolgt und hatte mit Annika Bengtzon unterschrieben; auch Jón hatte bei dem Ulk mitgemacht und Hercule Poirot hingekritzelt. Sogar der neue Kollege, Karl Ágústsson, hatte es für angebracht gehalten, sich für Batman zu entscheiden. Was für eine kindische Truppe. Inspector Morse (Theódór) und Steve Carella (Helgi). Und Guðrún? Warum hatte sie sich für Gunvald Larsson entschieden?

Marinó wurde durch das schallende Gelächter am Tisch aus seinen Gedanken gerissen; natürlich glaubte er, man lache auf seine Kosten. Daher begriff er zunächst gar nicht, worum es ging, als Jón ihm erklärte, Dagný habe von den Außerirdischen erzählt.

»Dagný hat Außerirdische gesehen?«, fragte Marinó. Jón erklärte es ihm.

»Und der Mann glaubt das allen Ernstes?«, sagte Marinó, der sich seiner eingeschränkten Humorfähigkeit bewusst war und sich oft darüber wunderte, dass dieses Defizit immer wieder für Heiterkeit bei seinen Kollegen sorgte.

Randver nahm es Terje nicht übel, als der ihn fragte, ob bei der Besprechung beim Polizeidirektor ebenfalls irgendwelche Außerirdischen aufgetaucht seien.

»Nein«, antwortete Randver, »es sei denn, die Typen vom Landesrechnungshof kommen von einem anderen Planeten.«

»Ach, da waren welche vom Landesrechnungshof?«, fragte Marinó. »Hast du das mit dem Kaffeeautomaten angesprochen?«

»Gehen wir kurz durch, was heute passiert ist«, fuhr Randver ungerührt fort. »Dagný hat euch offenbar schon von Sveinbjörns Vernehmung erzählt, deshalb fängst du am besten an, Guðrún.«

Guðrún erzählte: Sie war am Morgen in Freyjas Wohnung gewesen und dort von jemandem überrascht worden. Mit Terje hatte sie dann Frau Bára Thomsen im Wohnblock gegenüber besucht, und die alte Dame sei sich sicher gewesen, einen Mann gesehen zu haben, der Freyja in der Mordnacht auf dem Weg zu ihrem Auto gestützt habe.

»Ich weiß nicht, wie genau sie ihn beschreiben kann«, erklärte Guðrún. »Die Frau ist über neunzig. Aber sie sieht ausgezeichnet. Immerhin hat sie mich durchs Fenster erkannt.«

»Dieses schöne Haar«, feixte Terje.

»Jedenfalls hat Frau Bára gesehen, dass Freyja in der besagten Nacht in Begleitung eines Mannes war.«

»Und andere Nachbarn im Wohnblock oder im näheren Umkreis? Haben die in der Nacht oder in den letzten Tagen etwas gesehen?«, fragte Randver.

Jón fasste kurz zusammen: Marinó und er hatten alle Bewohner des Blocks aufgesucht, aber niemanden gefunden, der in den letzten Tagen oder Nächten etwas von Freyja mitbekommen hätte.

Jón wohnte selbst in einem Wohnblock in Breiðholt und fühlte sich dort wohl, auch wenn seine Frau sich immerzu den Kopf darüber zerbrach, wie erstrebenswert es doch sei, sich für den Rest ihres Lebens zu verschulden und irgendwo ein kleines Reihenhäuschen zu kaufen.

»Meiner Meinung nach zeigt das deutlich«, sagte er vollmundig, »wie abwegig es ist, zu glauben, wer in einem Wohnblock lebt, hätte kein Privatleben, weil alle ständig die Nase in die Angelegenheiten ihrer Nachbarn steckten. In einem Block lebt es sich oft viel unbeobachteter als in einem Einfamilienhaus.« Er konnte es kaum erwarten, diesen Vortrag am Abend zu Hause zu wiederholen, obwohl er wusste, dass Ástríður sich früher oder später durchsetzen würde.

In unterschiedlicher epischer Breite rekapitulierte man den Tag und verteilte grob die Aufgaben für den kommenden. Terje und Guðrún wurden beauftragt, mit den Frauen zu sprechen, von denen das angepriesene, aber unauffindbare Buch handeln sollte.

Kurz vor Ende des Meetings schaute Randver zu Guðrún und sagte: »Was diesen Überfall heute Morgen angeht, möchte ich noch einmal wiederholen, damit das auch allen klar ist: Wir arbeiten bei den Ermittlungen von Kapitalverbrechen alle zusammen. Es ist völlig unsinnig, dass jemand alleine und eigenmächtig irgendwelche Nachforschungen anstellt. So was gibt’s nur im Kino oder in Büchern und geht meistens schief. Ich finde es gut, wenn jemand die Initiative ergreift, aber über allem anderen steht nun mal unsere Teamarbeit.«

Guðrún errötete bei dieser Rüge. Sie wusste, dass sie gerechtfertigt war. Aber Randver war noch nicht fertig.

»Nichtsdestotrotz würde ich doch gern wissen, warum du unbedingt noch mal in die Wohnung wolltest«, sagte er.

»Ich hatte das Gefühl, gestern Morgen etwas übersehen zu haben, als ich mit Terje dort war. Ich wusste nicht, was, hatte nur diese Ahnung. Nur so ein Gefühl.«

»Und bist du jetzt weitergekommen?«

»Ich bin mir natürlich nicht hundertprozentig sicher«, antwortete sie. »Heute Morgen, als ich in die Wohnung kam, war es verschwunden – und es kann ja auch Einbildung gewesen sein, und ich hab es vielleicht gar nicht wirklich gesehen.«

»Was war es denn?«

»Ein Messer«, sagte Guðrún. »Auf der Kommode im Flur steht eine Schale mit Kleinkram. Gestern lag da ein Messer drin. Heute Morgen war es weg. Es war ein Taschenmesser, mit so einer Klinge, die hochschnellt, wenn man eine Feder auslöst, glaube ich. Ein Schnappmesser, heißt das nicht so? Flick Knife. Butterfly Knife oder so ähnlich?«

»Bist du dir sicher?«, fragte Randver.

»Nein«, antwortete Guðrún. »Natürlich bin ich mir nicht sicher. Und gleichzeitig ganz sicher. Warum sollte Freyja ein solches Messer besessen und in dieser Schale aufbewahrt haben? Warum sollte ich auf die Idee kommen, ein solches Messer gesehen zu haben, wenn es gar nicht da war?«

30
Mittel gegen Schlaflosigkeit

Þórhildur ging vor ihm ins Bett. Mit einem Buch, wie üblich. Víkingur schaute noch eine englische Polizeiserie im Fernsehen.

Die abwegigen Vorstellungen mancher Drehbuchautoren von der Polizeiarbeit versetzten ihn in Erstaunen. Warum konnte man den Polizeijob nicht genauso korrekt beschreiben wie andere Berufe? Was würden die Leute wohl sagen, wenn in einer Gärtnerserie behauptet würde, Kartoffeln wüchsen auf Bäumen? Oder wenn bei ›Emergency Room‹ die Ärzte einem Patienten mit der Zange den Blinddarm aus dem Kopf zögen?

Nun denn.

Als er sich neben Þórhildur legte, setzte sie ihre Lesebrille ab und schaute ihn an.

Er gab ihr einen Kuss, strich ihr übers Ohr, zupfte an ihrem Ohrläppchen und sagte dann: »Setz ruhig wieder die Brille auf. Ich bin müde und will schlafen.«

»Vergisst du da nicht was?«

»Kann schon sein«, antwortete er. »Aber wenn ich mich an das, was ich vergessen habe, erinnern würde, hätte ich es ja nicht vergessen.«

»Jeden Abend kommst du nach Hause und erzählst, du hättest einen miesen oder schweren Tag gehabt. Was war denn so mies?«

»Ich hab eine gute und eine schlechte Nachricht – und eine sehr schlechte.«

»Erst die gute Nachricht.«

»Ich bin die Verantwortung für die Gründung dieser neuen Sicherheitsabteilung los, die der Justizminister unbedingt aufbauen möchte. Es versteht ja sowieso niemand, am allerwenigsten ich, wozu die eigentlich dienen soll.«

»Das ist doch prima«, sagte Þórhildur. »Dann kann sich jemand anders mit diesem Unfug rumärgern.«

»Die schlechte Nachricht ist, dass beschlossen wurde, die Landespolizeibehörde mit der Gründung zu beauftragen. Wenn mich nicht alles täuscht, geht damit der Traum des Justizministers von einer isländischen Armee in Erfüllung. Schließlich haben wir schon sogenannte Friedenstruppen im Irak und in Afghanistan, was nur ein harmloseres Wort für bewaffnete Soldaten ist. Angeblich sind sie wegen ihrer hervorragenden Manövrierfähigkeiten in schwierigem Gelände dort. Da schickt man die Jungs nach Afghanistan, damit sie ihren Jeep-Tick ausleben dürfen! Und die Küstenwache wird zur Marine und Luftwaffe umfunktioniert, die neben der Sicherung der Hoheitsgewässer noch auf Terroristenjagd gehen soll. Die Landespolizeichefin hat mittlerweile ein bewaffnetes Sonderkommando mit einem Ableger in Akureyri. Und weil wir ja schon ein bewaffnetes Heer im Ausland haben, ist es selbstverständlich notwendig, auch einen isländischen Verfassungsschutz und Geheimdienst zu gründen.«

»Sei froh, dass du damit nichts zu tun haben wirst«, sagte Þórhildur. »Soweit ich das beurteilen kann, entbehrt die Sache jeglicher gesetzlicher Grundlage. Irgendwann werden die entsprechenden Personen dafür zur Rechenschaft gezogen.«

»Tja, das denkst du«, sagte Víkingur. »Aber du vergisst, dass wir noch lange nicht so weit sind, dass alle Gesetzesbrecher auch bestraft werden. Ganz zu schweigen von den ganzen Schlaumeiern, denen es gelingt, durch irgendwelche Gesetzeslücken zu schlüpfen.«

»Du bist vielleicht pessimistisch«, warf sie ein. »Vielleicht stehen wirklich nur die besten Absichten dahinter. Manche glauben eben, man muss mit Waffen winken können, um sich auf internationalem Parkett bemerkbar zu machen. Die Außenminister armeeloser Länder kommen sich bei NATO-Treffen wahrscheinlich vor wie Vegetarier, die von Menschenfressern umzingelt sind. Die Jungs in Afghanistan sind doch vor allem damit beschäftigt, Teppiche zu kaufen und Wasserpfeife zu rauchen, oder? Das ist doch alles nur Aufschneiderei! Du darfst nicht vergessen, dass die Welt von kleinen Jungs regiert wird.«

»Sagst du«, entgegnete Víkingur.

»Jedenfalls nicht von Mädchen«, sagte Þórhildur.

»Ich bin vielleicht nicht gerade der Cleverste, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Landespolizeichefin kein Junge ist«, sagte Víkingur.

»Aber sie ist ein maskuliner Typ, hätte eigentlich ein Junge werden sollen«, erwiderte Þórhildur. »Und was hat die Landespolizeichefin mit der Sache zu tun? Die hat in dieser Welt ja nun nicht übermäßig viel zu sagen.«

»Der Justizminister hat meinem Chef heute Morgen ein Dokument mit Informationen über mich gezeigt, um ihn davon zu überzeugen, dass man mir keine Bereiche der inneren Sicherheit anvertrauen kann.«

Þórhildur setzte sich im Bett auf und legte ihr Buch beiseite.

»Was für Informationen?«

»Eine Liste der Medikamente, die ich einnehme. Sie haben zwar nichts dazu gesagt, dass ich Viagra nehme, aber die Psychopharmaka, das Sobril und die Schlafmittel missfallen ihnen anscheinend.«

»Wie bitte?«, sagte Þórhildur. »Das ist doch nicht dein Ernst? Wie ist denn das möglich?«

»Alles ist möglich«, sagte Víkingur.

»Und was willst du jetzt tun?«

»Nichts. Erst mal. Meine Medikamente weiternehmen.«

»Also hör mal«, empörte sich Þórhildur. »Das sind ja wirklich denkwürdige Neuigkeiten, Schatz.«

»Ja. Es geschieht so allerlei Denkwürdiges.«

»Ich fürchte, jetzt kann ich nicht mehr einschlafen. Aber ein guter Orgasmus könnte die Sache möglicherweise retten. Glaubst du, du könntest mir dabei behilflich sein?«

»Da gibt’s nur einen Weg, um das rauszufinden«, sagte er und schob seinen Fuß unter ihre Bettdecke.

»Am besten wäre natürlich ein multipler Orgasmus«, sagte sie.

31
Problemgespräch

Für einen glücklich verheirateten Mann wie Bergþór Valþórsson, der eine Chefarztstelle anstrebt, war es überhaupt nicht witzig, des Ehebruchs mit einer älteren Krankenschwester von der benachbarten Station im selben Krankenhaus überführt zu werden, daraufhin in einen Scheidungsprozess und womöglich einen Vormundschaftsstreit zu schlittern. Die Konkurrenz um Chefarztstellen war hart, und Krankenhausklatsch breitete sich schneller aus als jedes Lauffeuer. Ehebruch galt als Zeichen dafür, dass die Karriere, das Fachgebiet und die Patienten nicht an erster Stelle im Leben standen. Da kommt der sexbesessene Arzt, flüsterten die Leute, wenn sie einem auf dem Gang begegneten. Einige drehten sich um und schauten einem nach. Ob er wohl auf dem Weg zu einem Schäferstündchen mit einer Krankenschwester oder gar einer Pflegerin war? War die Putzkolonne aus Asien oder Afrika vor ihm sicher?

Natürlich wusste er nicht, welche Kreise der Klatsch bereits gezogen hatte, aber in letzter Zeit konnte er feststellen, dass die teilnahmslosen, aber freundlichen Gesichter seiner Kollegen zunehmend prüfendere, neugierigere Ausdrücke annahmen. Leute, die ihm nie übermäßig viel Beachtung geschenkt hatten, warfen ihm Blicke zu oder musterten ihn, wenn sie glaubten, er merke es nicht.

Ásdís meinte, es sei ausgeschlossen, dass sich ihr Verhältnis herumgesprochen hätte. Sie waren immer vorsichtig gewesen, außer am Anfang, als sie bei der Arbeit jede Gelegenheit genutzt hatten, um zusammen zu sein. Aber schon bald hatten sie sich ja nur noch außerhalb der Arbeit getroffen. Außer das eine Mal in der Dusche bei der Nachtschicht.

Das hatte vielleicht ausgereicht. Irgendjemand konnte natürlich etwas gesehen haben. Irgendwie war Guðrún jedenfalls dahintergekommen. Ásdís versicherte hoch und heilig, sie hätte niemandem von ihrem Abenteuer erzählt. Niemandem. Noch nicht einmal unter vier Augen. Aber konnte man ihr vertrauen?

Natürlich nicht.

Bergþór war nie auf den Gedanken gekommen, dass er seine Karriere, seine Familie und seine Ehe aufs Spiel setzen könnte. Die Arbeit hatte Vorrang, und eigentlich war er ganz automatisch davon ausgegangen, dass alles, was am Arbeitsplatz geschah, zum Job gehörte, in die diskrete Welt der Medizin. Er lebte in zwei Welten. Job und Familie. Der Job bedeutete Wachzeit: Konzentration, Organisation. Viel Trubel. Die Familie bedeutete Verschnaufpause und Erholung. Ruhe und Frieden.

Allerdings war die Familie nie der Zufluchtsort gewesen, den er sich gewünscht hatte, außer vielleicht im ersten Jahr, als er in England sein Fachstudium absolvierte. Damals war Guðrún zu Hause geblieben und hatte sich um das Nest gekümmert. Dann wollte sie ihr Leben mehr ausfüllen und sich weiterbilden – als sei Laborantin kein guter Beruf für eine Arztgattin. Am Anfang war die Rede davon, nur ein paar Vorlesungen zu besuchen, aber bevor er sich’s versah, war aus einigen Vorlesungen ein komplettes Studium geworden – sie nannte es Spurensicherung oder Forensik: Blutspuren und Fingerabdrücke und andere von Tätern hinterlassene Spuren.

Vielleicht wusste sie ja auch gar nichts. Vielleicht hatte sie nur spekuliert wegen irgendwelcher Spuren: Lippenstift am Kragen. Ein langes Haar auf dem Jackenärmel. Obwohl er vorsichtig gewesen war. Hatte immer hinterher geduscht. Vielleicht hatte sie einen Knutschfleck gesehen? Oder eine Kratzspur? Ásdís war so hemmungslos. Vielleicht hatte Guðrún auch sein Handy kontrolliert. Die SMS-Nachrichten? Überprüft, welche Nummern er gewählt hatte? Kontrolliert, wer ihn angerufen hatte? Sie musste ihm nachspioniert haben. Sich in die Arbeitswelt eingemischt haben, die die Familie nichts anging, die Arbeitswelt, über die sie abends nicht mit ihm reden wollte. Sie interessierte sich nicht für die Machtkämpfe zwischen den Ärzten und der Krankenhausleitung. Tat so, als gingen sie seine Träume von der Chefarztstelle nichts an. Sie fragte ihn nie nach seinem Krankenhausalltag. Sie interessierte sich nur für ihre eigene Arbeit, und trotzdem hatte sie ihm nachspioniert.

Auch das Heim war ihr immer unwichtiger geworden. Sie sprach nicht mehr darüber, dass sie die Möbel ausbessern, die Einrichtung verändern, neue Gardinen kaufen müssten. Sie kümmerte sich um den Einkauf und das Kochen. Den Rest machten die beiden Mädchen, die nachmittags abwechselnd kamen und sich ums Putzen, die Wäsche, den Haushalt kümmerten, obwohl sie noch nicht mal richtig Hemden bügeln konnten.

Guðrún fragte ihn nie um Rat. Sie hatte sogar auf eigene Faust den Zweitwagen verkauft und sich ein neues Auto angeschafft, ohne mit ihm darüber zu sprechen. Hatte den kleinen Renault verkauft und sich stattdessen einen Suzuki-Jeep zugelegt. Den europäischen Wagen verscherbelt und stattdessen eine Reisschüssel gekauft. Diese japanischen Autos hatten doch keinen Stil, außer vielleicht ein Landcruiser. Das war doch nichts für die Gattin eines künftigen Chefarztes! Sie behauptete, ein Auto mit Vierradantrieb zu brauchen, um mobil zu sein. Hinten im Jeep könne sie alles transportieren, was sie für Tatortuntersuchungen benötigte.

Wenn man versuchte, die Sache objektiv zu betrachten, dann war es eigentlich ihre Schuld, dass er überhaupt in diese Affäre im Krankenhaus hineingestolpert war. Vielleicht war es aber auch falsch, ihr die Schuld zu geben; es war sowieso Unsinn, von Schuld oder Unschuld zu sprechen, als handele es sich um ein Verbrechen. Es war kein Vergehen, sondern ein rein menschliches Verhalten. Ursache und Wirkung. Die Ursache war, dass sie, Guðrún, sich verändert hatte. Und er nicht. Sie hatte sich von ihm entfernt. Sich aus ihrem gemeinsamen Heim in ihre eigene Welt zurückgezogen. Sich in ihrem Polizeispiel verwirklicht. So war es, wenn man die Sache emotionslos und rational betrachtete.

Natürlich wusste Bergþór, dass es keinen Sinn hatte, die Sache mit Guðrún emotionslos und rational zu besprechen, auch wenn er hieb- und stichfeste Argumente über Ursache und Wirkung auf den Tisch legen und ihr beweisen könnte, dass die Veränderung in ihrem Leben die Ursache dafür war, dass er sein Verhalten geändert hatte.

Es war zwecklos, das Thema mit Vernunft und Logik anzugehen. Er war ein Mann. Sie war eine Frau. Er musste verantwortlich handeln und die Schuld auf sich nehmen. Die einzige Möglichkeit, die Sache beizulegen, war, sie um Verzeihung zu bitten, sich zu entschuldigen, seinen Fehler einzugestehen und sie zu beschwören, die Kinder davor zu schützen, dass alles auf den Kopf gestellt, die Familie aufgelöst und die gescheiterte Ehe zum Dauergesprächsthema im Krankenhaus werden würde. Das wäre höchst ungut: Es hätte einen schlechten Einfluss auf die unschuldigen Kinder und nicht zuletzt auf ihre beiden Jobs.

Diese Argumentation würde sie schon verstehen. Familie. Kinder – und sogar dieser Job, der ihr offenbar so wichtig war.

Als Bergþór abends nach Hause kam, hatte er sich im Geiste perfekt auf das Gespräch über ihre Zukunft vorbereitet. Er konnte guten Gewissens sagen, dass er Guðrún liebte; sie war die Frau seines Lebens, Ásdís war lediglich ein Zeitvertreib am Arbeitsplatz. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass ihr Verhältnis mehr sein könnte als das Spiel zweier Arbeitskollegen mit dem Feuer. Ein Zeitvertreib.

Er war bereit, alle Schuld auf sich zu nehmen. Er war bereit, sich vor Guðrún zu erniedrigen und um Verzeihung zu bitten.

Irgendwie überstanden sie das Abendessen, und als er die Mädchen ins Bett gebracht hatte, war Guðrún schon im Schlafzimmer verschwunden und hatte sich hingelegt. Er klopfte an die Tür und schaute hinein.

»Also«, fing er an. »Ich möchte dich um Verzeihung bitten und dir sagen, dass es mir wirklich leidtut. Aber es ist keine Lösung, die Probleme zu verdrängen. Wir müssen uns hinsetzen und sie besprechen.«

»Welche Probleme?«, murmelte Guðrún und starrte den Mann, der sich ihr in friedlicher Absicht nähern wollte, wütend an.

»Unsere Probleme«, sagte Bergþór. »Meine Probleme und deine Probleme. Wir müssen miteinander reden.«

»Im Augenblick gibt es nichts, was sich unsere Probleme nennt. Du kannst deine Probleme gern mit der Silikonschlampe besprechen. Meine Probleme gehen dich nichts an.«

»Aber Liebling«, schmeichelte Bergþór. »Ich kann ja gut verstehen, dass du sauer bist, aber mit Wut löst man keine Probleme. Wir müssen jetzt vernünftig sein und miteinander reden.«

»Weißt du«, erwiderte sie, »es kann gut sein, dass ich irgendwann dazu gezwungen sein werde, mit dir zu reden. Aber jetzt habe ich keine Lust dazu. Ich habe nur eine Bitte an dich, und wenn du es nicht für mich tun willst, dann tu es bitte für die Kinder.«

»Natürlich«, antwortete er. »Natürlich bin ich bereit, alles für dich und die Kinder zu tun.«

»Danke«, sagte Guðrún. »Dann bitte ich dich hiermit: Halt’s Maul, verpiss dich und lass mich in Ruhe!«

Wo hatte seine kultivierte Frau nur diese Ausdrucksweise her?

Natürlich von der Polizei.

32
Ladyburn

Ein zielstrebiger Brandstifter sollte sein Hauptaugenmerk darauf richten, nicht schon beim Zündeln erwischt zu werden. Das wusste Konditormeister Guttormur Nielsson sehr gut, er war aber dennoch weit davon entfernt, zielstrebig zu sein. Gewiss hatte er die Tat im Geis te schon viele Male vorbereitet und durchgeführt. Aber als es schließlich so weit war, hatte er so viel Alkohol intus – genauer gesagt, einen der besten Malt Whiskys, die weltweit erhältlich sind, Saint Magdalene (neunzehn Jahre alt, 1979/1988) von einer Brennerei in den schottischen Lowlands –, dass Vorsicht nicht den größten Raum in seinem Kopf einnahm, sondern der Gedanke, dass jetzt, genau jetzt, der richtige Zeitpunkt sei, die Tat durchzuführen. Er hatte die Saint-Magdalene-Flasche mittags geöffnet, und als er sie leer getrunken hatte, war es elf Uhr abends. Mit einer entschlossenen Bewegung stellte er das Glas ab, ging ins Schlafzimmer und zog sich nackt aus. Er war zwar nicht volltrunken, aber eine 700-Milliliter-Flasche Edelwhisky blieb nicht ohne Wirkung.

Neben Kuchenverzierungen waren Whiskysorten Guttormurs liebstes Hobby, vor allem die Marken aus den Lowlands, die wesentlich seltener sind als Highland- oder Inselwhiskys und deren Brennereien am Fluss Spey liegen. Wie dem auch sei, Lowland-Whiskys schmeichelten seinem Gaumen, und er hatte sich ein ansehnliches Sortiment mit nahezu zwanzig Sorten sowie ein paar kleine Abfüllmaschinen zugelegt. Manche sammelten kleine Miniaturfläschchen, aber wirkliche Sammler kauften ihren Whisky in richtigen Flaschen oder sogar Fässern, falls sie das nötige Kleingeld dafür hatten. Guttormur dachte mit Bedauern daran, dass jetzt nur noch eine Flasche Saint Magdalene übrig war. Er könnte zwar weitere erwerben, aber das Angebot war inzwischen sehr eingeschränkt, denn die Brennerei, die dieses Gütegetränk produzierte, hatte 1983 Pleite gemacht und nur noch begrenzte Vorräte am Lager.

Alles in der Welt ist vergänglich, dachte er und ging splitternackt in den Flur und von dort aus in die Garage, wo alles sorgfältig vorbereitet war.

Mitten im Raum stand ein Pappkarton mit den Klamotten, die er anziehen würde. Er wusste, dass sich der Geruch von Rauch und Petroleum in ihnen festsetzen würde, weshalb er vorhatte, nach getaner Arbeit alles auszuziehen und den Karton komplett zu entsorgen. Die kurze Lederjacke von Marco Polo war zwar recht teuer gewesen, aber irgendwie hatte er sich darin nie richtig wohlgefühlt, weshalb er sie ebenso gut benutzen konnte. Schwarze Jeans, eine alte Boss, ein schwarzes T-Shirt von Donna Karan, eine alte Unterhose von Calvin Klein, weiße Sportsocken irgendeiner Billigmarke und alte Turnschuhe von Puma.

Guttormur schlüpfte rasch in die Kleidung, fühlte sich leicht beduselt, als er seine Schuhe zuband, aber was sollte es, mit vierzig vertrug man eben nicht mehr so viel wie mit zwanzig.

Auf dem Boden neben dem Petroleumkanister waren eine Packung Kaminstreichhölzer, ein großer Vorschlaghammer und zwei Fünfliterkanister Benzin. Nach langem Hin- und Herüberlegen hatte er beschlossen, sich an Petroleum zu halten, nicht, um zu sparen, sondern wegen der Explosionsgefahr von Benzin. Der Nachteil von Petroleum war natürlich, dass es nicht so leicht entzündlich war, aber dann musste man sich wenigstens keine Sorgen darum machen, dass einem der Kanister in der Hand explodierte. Und ein bisschen Benzin sollte ausreichen, um das Feuer anzufachen und das Petroleum richtig zu entzünden.

Guttormur nahm die Kaminstreichhölzer und einen der beiden Benzinkanister. Dann faltete er eine neue Mülltüte auseinander und stellte Petroleum- und Benzinkanister hinein. Der Petroleumgestank sollte sich nicht im Auto ausbreiten. Es war schließlich nicht so, dass er nicht an alles gedacht hätte. Anschließend schulterte er die Plastiktüte, nahm den Vorschlaghammer, klopfte seine Hosentaschen nach dem Feuerzeug ab – die Kaminstreichhölzer dienten nur als Reserve – und entschied, durch den Flur hinauszugehen, anstatt das Garagentor zu öffnen.

Die Tüte war schwerer, als er vermutet hatte, und er stellte sie im Flur ab. Er hatte Herzklopfen. Vor Anstrengung? Oder vor Aufregung? Ruhig bleiben. Nur dumm, dass die Flasche leer war. Aber zum Teufel damit! Es war doch genug da. Das einzige Problem beim Alkohol ist, sich für den richtigen zu entscheiden, pflegte er zu sagen.

Er ging ins Whiskyzimmer und schaute sich um. Dort standen sie in alphabetischer Reihenfolge, seine Schätzchen.

Sollte er A, Auchentoshan, oder B, Bladnoch, oder D, Dumbarton Interleven, oder gar Dunglas wählen? Oder sollte er sich zur Feier des Tages für seine Lieblingssorte, Littlemill, entscheiden? Er streckte die Hand aus, nahm die Littlemill-Flasche aber nicht heraus, denn sein Blick fiel auf den Namen der danebenstehenden Marke. Warum war ihm das nicht früher eingefallen? L für Ladyburn. Ladyburn von 1967. Das Jahr, in dem Sigrún geboren wurde.

Es war wie das Zeichen einer höheren Macht. Rache ist gerecht.

Ladyburn.

Lady, burn!

 

Die beiden Jungs, Gussi und Krummi, fuhren einfach nur durch die Stadt und quatschten. Gussi hatte gerade seinen Führerschein zurückbekommen. Der Lappen war einen Tag nach der bestandenen Prüfung wegen erhöhter Geschwindigkeit eingezogen worden, und Gussi wollte ihn so bald nicht wieder verlieren. Sie saßen im Toyota Corolla von Gussis Mutter, die ihnen untersagt hatte, im Wagen zu rauchen. Deshalb hatten sie alle Fensterscheiben heruntergekurbelt und hielten die Zigaretten, so gut es ging, aus dem Fenster.

Als sie durch Síðumúli rollten und aufzählten, wie viele Schwarzweißfilme sie gesehen hatten, entdeckte Gussi durchs Fenster etwas, drosselte das Tempo und starrte in den Rückspiegel.

»Hey, da ist gerade jemand eingebrochen«, sagte er, als Krummi fragte, was los sei. »Er hat mit einem Hammer Glasreste aus der Tür geschlagen.«

»Komm, das checken wir«, sagte Krummi. »Kehr um!«

»Nee, wir drehen eine Runde und fahren dann noch mal dran vorbei«, entgegnete Gussi.

»Sollen wir die Bullen rufen?«, fragte Krummi.

»Nö, lass uns das erst abchecken. Man muss ganz sicher sein«, antwortete Gussi und steuerte mit Vollgas auf die nächste Ecke zu.

Eineinhalb Minuten später waren sie wieder an der Stelle, an der Gussi den Einbrecher gesehen hatte. Sie fuhren im Schneckentempo. Als sie das Haus mit dem großen Schild mit der Aufschrift Altúnga – Buchverlag passierten, sahen sie, dass die Eingangstür aus Glas zersplittert war. Gussi hielt mitten auf der Straße an.

»Er ist da drin«, sagte Gussi. »Ruf die Bullen an.«

»Ein Buchverlag?«, wunderte sich Krummi. »Wer kommt denn auf die Idee, Bücher zu klauen?«

Er hielt sein Handy in der Hand und tippte die 112 ein.

»Warte mal, wie heißt die Straße hier eigentlich?«, fragte er, bevor er die Wähltaste drückte.

»Keine Ahnung«, antwortete Gussi. »Ich dreh noch eine Runde, dann checken wir das Straßenschild.«

 

Feuer entsteht, wenn brennbare Stoffe, meist bestimmte Kohlehydratketten, mit Sauerstoff reagieren. Die chemische Reaktion setzt enorme Energie frei, Wasser (H2O), Kohlendioxid (CO2) sowie diverse Reststoffe (Ruß, Kohlenmonoxid usw.).

Um die Reaktion in Gang zu setzen, muss ein Auslöser, beispielsweise ein Funke oder die Flamme eines Feuerzeugs, mit brennbarem Material in Kontakt kommen und es erhitzen, bis eine chemische Kettenreaktion entsteht.

Zum Entfachen eines Feuers benötigt man drei Dinge: brennbares Material, Sauerstoff und eine gewisse Temperatur.

Guttormur wusste das – auch wenn er es nicht wissenschaftlich erklären konnte.

 

Als die Jungs zum dritten Mal ins Síðumúli einbogen, fiel ihr Blick sofort auf den Buchverlag Altúnga, denn durch die offene Tür drangen schwarze Rauchschwaden und Feuerschein.

Gleichzeitig sahen sie, wie sich ein silberner Mercedes in hohem Tempo vom Haus entfernte.

Das Telefon wurde sofort abgenommen, und Krummi meldete einen Einbruch und Brand in Síðumúli.

»Wir verfolgen ihn«, sagte Gussi und versuchte im selben Moment, als der silberne Mercedes hinter der nächsten Ecke verschwand, einen Kavalierstart hinzulegen.

 

Guttormur Nielsson war fassungslos, als der Mercedes orgelte und nicht anspringen wollte. In der letzten Zeit war er nämlich am Ende immer angesprungen, aber jetzt klang er ungewöhnlich kraftlos, so als hätte die Batterie in diesem Augenblick entschieden, aufzugeben. Guttormur versuchte, ruhig zu atmen und sich darauf zu konzentrieren, Benzin in den Motor zu pumpen, aber das war leichter gesagt als getan, denn er musste wegen des Rauchs husten und bekam kaum Sauerstoff in die Lungen. Im Grunde war nichts schiefgegangen, außer dass das Zündeln wesentlich besser funktioniert hatte, als er es sich in seinen kühnsten Träumen ausgemalt hatte.

Offenbar fand das Feuer dort drinnen genügend Nahrung. Er hatte das Petroleum rasch über die Schreibtische und Bücher und Trennwände gegossen. Zur Sicherheit hatte er Benzin aus dem kleinen Kanister über die Computer gekippt, denn er konnte sich daran erinnern, einmal in der Zeitung gelesen zu haben, dass Festplatten einen Brand mehr oder weniger unbeschadet überstehen können. Deshalb hatte er schon vor langer Zeit beschlossen, alles gründlich vorzubereiten.

Dennoch war er überrascht über die leichte Entzündlichkeit des Petroleums. Er konnte gerade noch das Streichholz fallen lassen, da war das Feuer schon überall. Zum Glück erreichte er die Bürotür, bevor der schwarze Rauch ihm die Sicht versperrte. Obwohl der Kanister nur klein war, hatte das Benzin den Rest erledigt – die Computer explodierten einer nach dem anderen, und irgendein Teil landete auf Guttormurs Arm und erinnerte ihn daran, dass es höchste Zeit war, seine Haut zu retten. Auf einen Schlag wurde es unerträglich heiß, in nur wenigen Sekunden von Zimmertemperatur zum Höllenfeuer. Er musste tatsächlich die Füße in die Hand nehmen.

Guttormur bekam einen heftigen Hustenanfall, trat aber weiterhin das Gaspedal durch, bis der Mercedes ebenfalls hustete, und am Ende glückte es: Während Guttormur nach Luft schnappte, sprang der Mercedes an. Guttormur fuhr los und beeilte sich, um die nächste Ecke zu kommen. Dann drosselte er das Tempo. Es war unnötig, sich wegen erhöhter Geschwindigkeit und Alkohol am Steuer anhalten zu lassen. Was ihn auf die Idee brachte, nach der Ladyburn-Flasche im Handschuhfach zu greifen; Ladyburn war heute Abend seine gute Fee. Er klemmte sie zwischen seine Schenkel und öffnete den Verschluss.

Als Sigrún ihn verlassen hatte, hatte er geheult und sie gefragt, warum sie ihn denn überhaupt geheiratet hätte, wenn sie jetzt behauptete, ihn nie wirklich geliebt zu haben. Ich fand dich immer so angenehm feminin, hatte sie gesagt.

Feminin!

Wie viele Frauen in dieser Welt sammelten schon Malt Whisky? Und wie viele Frauen hätten es gewagt, aus Rache durchs Feuer zu gehen?

 

Das Feuer breitete sich mit rasender Geschwindigkeit aus. Als Polizei und Feuerwehr eintrafen, stand das Erdgeschoss komplett in Flammen. Da war offensichtlich nichts mehr zu retten, aber Feuerwehrleute mit Atemschutzgeräten wurden ins Gebäude geschickt, um sich davon zu überzeugen, dass sich im ersten Stock niemand mehr aufhielt. Dort befand sich eine Praxis für chinesische Medizin mit Massage und Akupunktur. Zum Glück schienen alle Patienten und Angestellten schon längst nach Hause gegangen zu sein.

Da die Einsatzzentrale der Polizei die Information erhalten hatte, es handele sich um Brandstiftung, wurde auch die Bereitschaft der Kripo zum Tatort gerufen: Helgi Filippusson und der neue Mitarbeiter, Karl Ágústsson.

Helgi vertiefte sich eine Weile in das fantastische Schauspiel, ein großes Gebäude in Flammen aufgehen zu sehen. Er beneidete seine Kollegen von der Feuerwehr um ihr routiniertes Auftreten, als sie zum Angriff auf die wütende Naturgewalt bliesen. Karl hingegen saß ruhig im Auto und sprach mit der Einsatzzentrale, erstens, um mitzuteilen, dass Kripobeamte am Tatort eingetroffen seien, und zweitens, um in Erfahrung zu bringen, wie der Brand gemeldet worden war.

 

Karl musste seinen Kollegen wegzerren, damit er sich von dem Anblick des Feuers löste.

»Was soll denn das?«, fragte Helgi. »Ich will mir das hier ansehen.«

Helgi ließ sich widerwillig von Karl zum Auto schleppen, während der gerade versuchte, ihm zu erklären, Zeugen der Brandstiftung hätten den Täter verfolgt und säßen nun im Auto vor einem Haus, in dem dieser verschwunden sei.

»Welche Zeugen?«, fragte Helgi, verärgert darüber, dass er beim Beobachten des spannenden Kampfes der Feuerwehrleute gegen das Feuer gestört worden war.

»Zwei junge Männer haben beobachtet, wie ein Mann ins Erdgeschoss eingebrochen ist. Sie haben die Flammen gesehen und einen wegfahrenden Wagen verfolgt. Deshalb wissen wir, wo sich der Täter aufhält. Wir müssen uns beeilen und ihn festnehmen. Schließlich kommt es nicht oft vor, dass innerhalb von einer halben Stunde der Brandstifter festgenommen und die Tat aufgeklärt wird. Das bringt ein fettes Lob, wenn wir ihn erwischen.«

»Sollten wir nicht lieber einen Streifenwagen hinschicken?«, fragte Helgi, unbeeindruckt von dem fetten Lob, das sein Kollege in Aussicht gestellt hatte. »Oder das Sondereinsatzkommando rufen? Dieser Mann ist offenbar nicht ganz normal.«

»Die Streife hat genug mit der Überwachung des Brandorts zu tun«, entgegnete Karl. »Es sind zwei zusätzliche Wagen unterwegs. Ich rufe kein Sondereinsatzkommando, bevor ich mich nicht davon überzeugt habe, dass wir diesen Typen nicht auch alleine festnehmen können. Beeilen wir uns. Die Jungs sitzen im Auto vor dem Haus und halten Telefonkontakt mit uns.« Er presste sein Handy ans Ohr und rief: »Hallo, hallo, bist du noch dran?«

Krummi erzählte am anderen Ende der Leitung aufgeregt, dass sie gesehen hätten, wie der Mann ins Haus gegangen sei. Aber er musste passen, als Karl ihn nach Straßennamen und Hausnummer fragte. Die Jungs hatten keine Ahnung, wie die Straße hieß. »Das ist irgendwo hier in Breiðholt«, sagte Krummi.

»Oberes oder unteres Breiðholt?«

»Keine Ahnung. Ich wohne in Kópavogur.«

»Wir fahren nach Breiðholt«, sagte Karl zu Helgi, der sich ans Steuer setzte und losfuhr. Dann befahl er Krummi, auszusteigen und auf das nächste Straßenschild zu schauen. »Aber einer von euch bleibt ruhig im Wagen sitzen und beobachtet weiter das Haus. Gib mir Bescheid, wie die Straße heißt, sobald du das Schild gefunden hast. Wir sind unterwegs. Ihr wartet einfach und tut nichts. Und leg nicht auf. Wir müssen in Verbindung bleiben.«

Kurz darauf hatten sie den Namen der Straße und die Hausnummer 14.

»Es ist eins von diesen Reihenhäusern«, erklärte Krummi, »mit Garagen dazwischen.«

Helgi rief bei der Zentrale an und hörte, dass in Haus Nummer 14 nur eine Person gemeldet war: Guttormur Nielsson, Konditormeister.

»Konditormeister?«, fragte Karl. »Ist das nicht so eine Art Bäcker?«

»Ich denke schon«, antwortete Helgi. »Zumindest scheint er einen Haufen Ärger zu backen.«

Karl schaute seinen Kollegen irritiert an. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass Helgi schon einmal einen Scherz gemacht hatte.

»Früher hat man doch mit Feuer gebacken«, erklärte Helgi. »Deshalb hab ich gesagt, er backt Ärger.«

»Ja, ich hab das schon kapiert«, entgegnete Karl. Er hatte von Anfang an vermutet, dass Helgi nicht unbedingt der Schlauste war. Karl war erschüttert, dass dieser Mann ihn anscheinend für so begriffsstutzig hielt, dass man ihm die einfachsten Wortspiele erklären musste.

 

Die Jungen stiegen aus dem Wagen, als die Polizisten angefahren kamen.

»Ihr habt ja lange gebraucht! Ich dachte schon, ihr würdet gar nicht mehr kommen«, begrüßte Gussi sie.

Als die beiden den Polizisten ins Haus folgen wollten, wies Helgi sie an, umzukehren und sich wieder ins Auto zu setzen.

»Von da aus könnt ihr alles mitverfolgen, aber es wird nicht viel zu sehen geben. Wir reden nur kurz mit dem Mann und bitten ihn wahrscheinlich, mit auf die Wache zu kommen.«

Die Jungs machten lange Gesichter, gingen aber gehorsam zurück zum Wagen. Dort blieben sie stehen, anstatt sich hineinzusetzen. Sie würden ganz bestimmt nichts verpassen.

Falls einer der beiden Polizeibeamten Zweifel an dem Hinweis gehabt haben sollte, verflüchtigten die sich, als der Hausherr von Nummer 14 öffnete.

Der Mann bot einen bemerkenswerten Anblick. Sein dünnes, kohlrabenschwarzes Haar stand in alle Richtungen, die Haarspitzen waren angesengt. Er verzog das Gesicht und rieb sich mit dem Handrücken über die Augen, so als sei Seife hineingelangt. Er war vom Scheitel bis zur Sohle klatschnass.

Aber sein Anblick war nichts im Vergleich zu seinem Geruch, einer Mischung aus Alkoholfahne, Benzingestank und Petroleummief.

Bei diesem Mann waren sie wohl an der richtigen Adresse.

»Guttormur Nielsson?«, fragte Helgi. Der Mann nickte.

»Wir sind von der Kriminalpolizei und müssen dich bitten, mit auf die Wache zu kommen.«

»Jetzt sofort?«, fragte der Mann.

»Ja.«

»Warte mal kurz, mein Freund. Ich muss nachsehen, ob du bewaffnet bist«, erklärte Karl, huschte hinter den Rücken des Mannes und schob dessen Arme nach oben, sodass dieser dastand wie bei einer Kreuzigung.

Guttormur widersetzte sich nicht – schließlich hielt er das Zippo-Feuerzeug in der Hand und hatte nichts Strafbares in seiner Kleidung versteckt. Das restliche Benzin aus der Garage hatte er über sich ausgeleert.

Karl tastete ihn geschickt ab und dachte darüber nach, dass es überhaupt nicht lustig wäre, wenn Benzin oder Petroleum an seine Klamotten gelangte. In der rechten Brusttasche der Lederjacke des Mannes ertastete er ein Päckchen.

»Dreh dich zu mir, mein Freund«, sagte Karl, und Guttormur drehte sich lammfromm zu ihm um. »Ich schaue nur mal kurz nach, was du da hast«, fuhr Karl fort und fischte eine große Packung Kaminstreichhölzer aus der Jackentasche. »Die hebe ich wohl besser auf. Du bist so leicht entzündlich, dass du keine Streichhölzer bei dir tragen solltest, nicht wahr?«

»Hm«, machte Guttormur und rieb sich die Augen mit den Knöcheln. Schrecklich, wie das Benzin in den Augen brannte. »Darf ich euch zu einem Malt Whisky einladen?«

Helgi dachte, er hätte sich verhört, und schaute so fragend, dass Guttormur sein Angebot wiederholte.

»Nein danke, jetzt nicht. Jetzt ist kein guter Zeitpunkt, um noch mehr Whisky zu trinken.«

Karl schaute seinen Kollegen fragend an und lüftete seine Jacke, sodass die Handschellen aufblitzten. Helgi schüttelte den Kopf.

»Das wird schon wieder«, sagte er. »Meinst du nicht?«

Die Frage ging völlig an Guttormur vorbei, der nichts mehr sehen konnte. Er rieb sich die Augen mit den Knöcheln, und Tränen liefen ihm über die Wangen.

»Wo sind die Hausschlüssel?«, fragte Helgi.

»Die hängen im Flur«, antwortete Guttormur. »Hier ist alles an seinem Platz.«

Karl holte die Schlüssel und schmiss die Haustür ins Schloss. Sie gingen zum Auto.

Als sie näher kamen, setzten sich die beiden Jungen in den Toyota, mit dem sie gekommen waren. Karl wunderte sich darüber, dass die Neugier der beiden plötzlich verschwunden war, kam dann aber darauf, dass sie vermeiden wollten, dass der Mann, den sie verraten hatten, ihre Gesichter sähe.

Helgi öffnete die hintere Wagentür. Es war ein ziviler Streifenwagen, ein Volvo neueren Baujahrs.

Bevor Guttormur einstieg, zögerte er einen Moment, räusperte sich und sagte:

»Danke, dass ihr mich abgeholt habt …«

»Keine Ursache, mein Freund«, sagte Karl.

»… so schnell«, sagte Guttormur und setzte sich auf den Rücksitz.

Helgi schlug die Tür zu, blickte dann zu seinem lächelnden Kollegen und hielt sich die Nase zu, um seinen Ekel vor dem Benzingestank zum Ausdruck zu bringen. Das Benzin verflog rasch und bildete Gase, die sich blitzschnell im ganzen Auto ausbreiteten. Die Verteilung war allerdings ungleichmäßig; die meisten Gase befanden sich selbstverständlich an der Quelle, also an Guttormur; auf der Oberfläche seiner Kleidung enthielten die Gase über 8 % Benzin, verdünnten sich jedoch, je weiter sie sich von dem Mann entfernten.

Ein winziger Funke genügte, um Benzin zu entzünden. Das wusste Guttormur.

Urplötzlich passierte alles gleichzeitig: Der Insasse auf dem Rücksitz stand in hellen Flammen, bevor die Anwesenden begriffen hatten, was geschehen war. Das Raummaß des Wagens betrug etwa drei Kubikmeter. Leicht entzündbare Gase schwebten durch das Wageninnere. Als sich dieses Gasgemisch durch den Funken eines Feuerzeugs entzündete, entstand eine extrem schnelle chemische Reaktion.

Innerhalb von einer Sekunde entflammten die Benzingase.

In derselben Sekunde fing Guttormurs Kleidung Feuer, und er stand in Flammen. Einen Augenblick später entzündete sich schließlich alles im Auto, was brennen konnte. Die Luft in dem geschlossenen Raum dehnte sich aus und vervielfältigte sich, da die Temperatur in Sekundenschnelle von 11° auf ungefähr 600° Celsius anstieg und gleichzeitig mit gewaltiger Kraft einen Ausweg suchte, sodass die Fahrertür aufschlug und Helgi umschmiss, der sie gerade öffnen und sich ans Steuer setzen wollte.

Als es Karl gelang, die Hintertür des Wagens zu öffnen, war es schon zu spät. Feuerzungen und gewaltige Hitze hinderten ihn daran, zu Guttormur zu gelangen. Helgi lag auf der Straße und hielt seinen Oberschenkel umfasst. Die Jungen in dem Toyota starrten in einigen Metern Entfernung entsetzt aus dem Autofenster. Karl erkannte, dass der Mann nicht zu retten war, und brüllte die Jungen an, sich in Sicherheit zu bringen, aber sie hörten ihn nicht.

»Ich kann nicht aufstehen«, stöhnte Helgi. »Ich glaub, mein Bein ist gebrochen.«

Die Jungen waren aus dem Wagen gestiegen.

»Helft mir mit dem Mann«, schrie Karl. Zu dritt konnten sie Helgi weg von dem brennenden Auto hinter einen LKW schleifen, der in einigermaßen sicherer Entfernung am Straßenrand stand.

Die Explosion des Tanks, mit der Karl rechnete, ließ auf sich warten. Er hatte bereits den Notruf 112 benachrichtigt. Jetzt starrte er in das Flammenmeer im Auto und meinte zu erkennen, wie der Insasse noch versuchte, sich aufzurichten und auf den Fahrersitz zu klettern. Vielleicht war es aber auch nur eine Täuschung. Was hätte er tun sollen? Was hatte er falsch gemacht? Was konnte er jetzt noch tun?

Die Explosion war viel gewaltiger, als sie erwartet hatten. Die eine Hälfte des Dachs wurde vom Auto gerissen und landete auf dem Bürgersteig. Die Frontscheibe des Toyotas, der drei, vier Meter hinter dem Volvo stand, zersplitterte in tausend Stücke, und überall regneten Glassplitter und Autoteile nieder.

Im selben Moment begann es zu schneien.