Zurück nach Hause?

Nairobi-Mombasa, 9. März 1947

»Die sind doch nicht alle für uns gekommen?«, staunte Regina. »So viele Leute habe ich noch nie hier am Bahnhof gesehen. Ich wusste gar nicht, dass wir so viele Freunde haben.«

»Haben wir auch nicht. Doch in einer Situation, in der es in erster Linie auf Krokodilstränen und Sensationslust ankommt, tun es auch Feinde. Schließlich will sich keiner die Gelegenheit entgehen lassen, dabei zu sein, wenn sich deine Mutter die Kleider vom Leib reißt, weil sie sich von den Fleischtöpfen Ägyptens trennen muss. Zur Befriedigung solcher Schaulust gab es in der guten alten Zeit öffentliche Hinrichtungen.«

»Mach das Kind nicht meschugge«, ärgerte sich Jettel. »Welches?«, fragte Walter.

»Beide, du gottverdammter Narr. Regina ist blass wie die Wand, und Max hat sich gerade in die Hose gemacht.« »Umgekehrt wär’s schlimmer. Du musst endlich lernen, das Beste aus dem Leben zu machen, Jettel. Es ist das erste Mal seit neun Jahren, dass wir zusammen auf eine Reise gehen dürfen. Denk doch nur an den 8. Januar 1938 in Breslau. Wir hätten dem Teufel unsere Seelen verkauft, wenn wir uns nicht voneinander hätten trennen müssen.«

»Dafür hast du ihm jetzt deine Seele verkauft. Sonst würden wir zu Hause im >Hove Court< sitzen, statt auf dem Weg in das Land der Mörder zu sein. Alle sagen, du bist ein hirnverbrannter unverantwortlicher Egoist.«

»Das ist das Wunderbare an dir, Jettel - deine Reaktionen sind genau berechenbar. Du sehnst dich immer nach dem Ort, an dem du gerade nicht bist. Wäre ich doch nur früher auf die Idee gekommen, dass du das >Hove Court< als dein Zuhause empfunden hast! Ich hab dich immer nur Stein und Bein jammern hören.«

»Sei du mal in Nairobi schwanger, wenn der große Regen ausbleibt.«

»Das wird dir nicht mehr passieren. Ehrenwort. Wenn du willst, lasse ich dir von all diesen ehrenhaften Leuten, die gekommen sind, um uns das letzte Geleit zu geben, schriftlich bestätigen, dass ich dir das beim Leben meiner Kinder versprochen habe.«

Regina schob ihren schlafenden Bruder von ihrer rechten auf die linke Hüfte. Er öffnete die Augen und sagte, weil das Wort ihn stets beim Aufwachen entzückte: »Jam-bo«. Mit der freien Hand hielt ihm seine Schwester ein Ohr zu und drückte das andere an ihren Körper. Ihre Pflicht war es, Max vor den Schlachten seiner kriegslüsternen Eltern zu schützen, denn es war gefährlich für den Kopf und das Herz, wenn auch nur der Schatten eines vergifteten Pfeils die Stirn eines Kindes streifte, ehe es auf seinen Beinen stehen konnte. Das hatte Regina von Owuor gelernt, als sie selbst noch ein Kind gewesen war und eine Heimat gehabt hatte. In Ol’ Joro Orok, wo die Erde rot leuchtete und der schwarze Gott Mungu morgens seine Augen mit dem Schnee vom Mount Kenya kühlte.

Seit einem Jahr und drei Tagen waren die Redlichs zu viert. Als Jettel ihrem Mann von ihrer Schwangerschaft erzählte, hatten sie, wie nach dem Tod ihres zweiten Kindes, gemeinsam geweint und bis zum Tag der Erlösung nicht gewagt, die Freude in ihr Herz zu lassen. »Das Einzige, das mir in diesem Land je gelungen ist«, sagte Walter am 6. März 1946, als ihm das Kind der Sehnsucht in die Arme gelegt wurde. »Du wirst kein Refugee mehr sein, mein Sohn. Das schwöre ich dir.«

»Ich werde ihn immer beschützen«, versprach Regina. »Er wird dich beschützen«, widersprach ihr Vater. »Dafür habe ich ihn ja gemacht. Du bist ein so gutmütiges Schaf wie dein Vater. Du kannst dich im Leben nicht wehren.«

»Und ich werde dafür sorgen, dass er nicht Jura studiert«, nahm sich seine Mutter vor. »Die Juristen sind überall auf der Welt verloren.«

»Nur zu Hause nicht, Jettel. Warte nur ab, das kommt

wieder.«

Am Tage seiner Geburt gab es keinen Zweifel, dass das energische Baby Max heißen würde - im Gedenken an seinen Großvater Max Redlich, der ein deutscher Patriot gewesen war und der von einem Mörder in deutscher Uniform erschlagen wurde. Anfang 1946 war in Nairobi ein Brief von einem russischen Lehrer eingetroffen. »Ihr Vater«, hatte der Unbekannte geschrieben, »ist am 17. November 1942 in Tarnopol von einem SS-Mann auf der Straße ermordet worden. Er war sofort tot und hat nicht zu leiden brauchen. Ihre Schwester Liesel hat man mit dem dritten Transport in das Konzentrationslager Belzec deportiert. Eine Woche vor seinem furchtbaren Tod gab mir Ihr Vater Ihre Adresse. Da wusste ich, dass er wollte, dass ich Ihnen schreibe, wenn ihm etwas passiert.«

Max Ronald Paul Redlich, dem das Schicksal die Bürde des Spätgeborenen bestimmt hatte, war ein Kind der Sonne. Umgeben von Rosen, gelb blühenden Kakteen und Zitronenbäumen schlief und spielte er den ganzen Tag unter demselben Baum, in dessen Schatten seine schwangere Mutter die gnadenlose Hitze von Nairobi verflucht hatte. Er griff nicht, wie die Kinder Europas, nach Klappern und Gummienten, sondern nach weißen Schmetterlingen und Vögeln mit kobaltblauem Gefieder. An seinem Kinderwagen ging keiner der Bewohner des »Hove Courts« schweigend vorbei, hatte doch bei den Emigranten, die seit Jahren auf der Suche nach einer neuen Heimat waren, ein in Kenia geborenes Kind von Schicksalsgenossen den gleichen Stellenwert wie die ersehnte Einbürgerung. Das viel beneidete Baby hatte nicht nur Anspruch auf Nahrung und elterlichen Schutz, auf den Zuspruch der Nachbarn, auf ihr Lächeln und ihre Schmeicheleien, sondern vor allem auf einen britischen Pass.

»Du hast gut lachen, mein Sohn«, hielt ihm sein Vater vor und drückte ihm seine Militärmütze auf den Kopf, »deine Leute haben den Krieg gewonnen und sind dabei, die Welt neu aufzuteilen. Die Heimat deines Vater ist jetzt polnisch, und du wirst sie nie kennenlernen.«

Im Gegensatz zu seinen britischen Landsleuten war der kleine Engländer sehr aufgeschlossen für das reiche sprachliche Angebot im Lande seiner Geburt. Allerdings auch ein wenig heikel. Er reagierte viel lebhafter auf die vollen Laute des Suaheli als auf das Deutsch seiner Eltern oder auf die englischen Annäherungsversuche der nach

Assimilation durstenden Nachbarn. Sein erstes Wort war weder Papa, Mama noch hello, sondern »Aja«.

Seine Eltern und seine Schwester bestaunten immer wieder das Wunder, dass es ihn gab. Am Freitagabend wurde, wie einst in Leobschütz, der Tisch für den Sabbat gedeckt und das Brot gesegnet. Es roch nach Hühnerbrühe und ein wenig auch wieder nach dem alten Gottvertrauen. Nach der Geburt seines Sohnes nahm Walter auch wieder die Gewohnheit seiner Jugend auf und ging am Samstagmorgen in die Synagoge. Dem Gott, dem er gezürnt hatte, weil ihm Vater und Schwester, seine geliebte Schwiegermutter und die Schwägerin genommen worden waren, dankte er nun für die Gnade, die ihm widerfahren war, und die Hoffnung, die ihm sein Sohn gebracht hatte.

Regina bezweifelte keinen Moment, dass Gott ausschließlich ihr das Wunderkind geschenkt hatte. In den Ferien saß sie jeden Nachmittag mit ihrem Frohsinn gurgelnden Bruder unter dem süß duftenden Guavenbaum, in dem ursprünglich die englische Wunschfee logiert hatte. Die wurde nun nicht mehr gebraucht und war unbekannt verzogen. Weil Regina unmusikalisch war und keinen Ton richtig singen konnte, las sie ihrem Bruder Romane von Dickens und die Gedichte der englischen Romantiker vor. War er wach genug, um ihn mit seiner Umwelt und Zukunft vertraut zu machen, erklärte sie ihm in drei Sprachen, wie schwer es wäre, Kind in einer Familie zu sein, in der das Wort Heimat ein Synonym für Streit, Trauer und Tod sei. Max allein gestand sie, dass ihre Heimat Afrika war und dass sie eine lähmende Angst vor der geplanten Rückkehr nach Deutschland hätte.

»Kannst du dir vorstellen«, fragte sie den, um den sie jahrelang gebetet hatte, »dass wir dorthin zurückgehen, wo unsere Großeltern ermordet worden sind?«

Max konnte es nicht. Er lutschte an seinem Zeh und rief nach seiner Aja. Sie hieß Chebeti und war eine schöne groß gewachsene Frau von noch nicht einmal dreißig Jahren. Sie trug einen sonnengelben Turban, weite geblümte Röcke und perlenbestickte Lederarmbänder. Chebeti hatte fünf Kinder zu versorgen, ebenso ihre Mutter in Thika, bei der die Kleinen lebten, und eine Schwester, deren Mann ihr im ersten Jahr der Ehe ein Auge ausgeschlagen hatte. Ihren Schützling mit der rosigen Haut mochte die Aja nicht weinen sehen. Obwohl auch sie keinen Grund hatte, die Wirklichkeit zu beschönigen, erzählte die Kinderfrau Max nur Gutes von den Männern. Morgens rieb sie seinen Schnuller mit Honig ein, nach dem Mittagessen mit einem Tropfen Gin. Mit wehmütigen Liedern aus der Zeit, ehe die Weißen ins Land gekommen waren, fütterte sie seine Ohren, und auf ihrem üppigen Busen schaukelte sie ihn in den Schlaf. Wenn ihre Finger keine Ruhe fanden, stahl sie seine hübschen blauen Jäckchen und die gestrickten Schuhe mit den hüpfenden Bommeln für ihr Jüngstes.

Obwohl Owuor die Aja selbst ins Haus gebracht hatte und auch mit ihr schlief, duldete er es nicht, dass das Gleichgewicht der Kräfte im Hause seines Bwana durch eine Frau aus dem Lot gebracht wurde. Während Walter im Camp war, behauptete Owuor seine Vorherrschaft jeden Tag aufs Neue und beanspruchte, wann immer es ihm danach war, den Thronfolger für sich. In einem klappernden Kinderwagen chauffierte er das Königskind auf den Kieswegen des »Hove Court«, und er redete mit ihm, genau wie er es mit Regina auf der Farm getan hatte, immer in Luo, seiner Stammessprache. Es hieß, wer mit einem fremden Kind in der eigenen Sprache redete, würde es für immer an sich ketten. Für die volle Entfaltung dieses Zaubers, von dem nur Regina und Owuor wussten, reichte bei Max allerdings die Zeit nicht. Lachend ließ sich das bilinguale Plappermaul am Tag der Abreise für die erste Safari seines Lebens fertig machen. Owuor mit dem Hund Rummler und Beinen, die ihm nicht gehorchen mochten, und die Aja mit einer noch viertel vollen Flasche Gin und einem gestreiften Schal aus Leobschütz, den die weinende Memsahib ihr zum Abschied geschenkt hatte, waren schon am Vortag aus dem Lebenskreis der Familie Redlich getreten. »Wer an einem Bahnhof >Kwaheri< sagt«, hatte Walter dem Freund seines afrikanischen Lebens erklärt, »dem stirbt das Herz.« Owuor hatte genickt. Mit Abschieden kannte er sich ebenso gut aus wie der Bwana. Zwei Mal schon hatten sie zusammen ein Messer schleifen müssen, um den Lebensfaden zu zerschneiden - in Rongai und in Ol’ Joro Orok. Und nun geschah in Nairobi der letzte Schnitt.

Regina hatte sich oft gewünscht, es ihren wohlhabenden Mitschülerinnen gleichzutun und in den Schulferien mit den Eltern ans Meer nach Mombasa zu fahren. Sie hatte nicht nur von einem Bett in einem Hotel und Getränken mit Eiswürfeln in gekühlten Räumen geträumt, sondern sich noch plastischer die Heimkehr auf die Farm vorgestellt. Mit der Vorfreude der geborenen Geschichtenerzählerin hatte sie sich ausgemalt, wie sie Owuor vom blauen Wasser des Indischen Ozeans, vom weißen Sand und von den Dhaus mit den geblähten Segeln berichten würde. Dass ihr Kindertraum von Meer, Salz und Wind nun Wirklichkeit wurde, sie jedoch bereits am Bahnhof von Nairobi alle Mühe hatte, ihre Augen trocken zu halten und dass es nie mehr einen Owuor geben würde, den sie mit Worten würde satt machen können, verwirrte sie nur im Moment des Begreifens. Regina hatte beizeiten verstanden, dass das Leben für ironische Pointen schwärmt und dass den Menschen die meisten Wünsche zur falschen Zeit erfüllt werden. Ihr Bruder lieferte ihr umgehend einen Beweis. Mit beiden Händen zog er an ihrem Haar und krähte: »Owuor.«

»Zu spät«, erklärte ihm Regina. »Das hätte dir gestern einfallen müssen, mein Lieber. Owuor hat sich so gewünscht, dass du seinen Namen sagen kannst, ehe wir abfahren. Nur ein einziges Mal wollte er ihn aus deinem Mund hören.«

»Aja«, krähte Max.

»Die ist auch nicht mehr da«, seufzte Regina, »ich glaub, du machst das absichtlich.«

Sie sah, wie zwei Frauen sich anschauten und dass beide den Kopf schüttelten, merkte, dass getratscht wurde, und hörte Frau Schlachter, die ihr immer einen Eiswürfel geschenkt hatte, wenn sie an deren Wohnung vorbeiging, »schrecklich« sagen. »Es ist doch ein Verbrechen, das arme Ding hier aus allem so herauszureißen. Sie spricht ja immer nur Englisch mit dem Kleinen. Das sagt doch alles.«

»Oft auch Suaheli«, widersprach Frau Ehrmann. »Die redet wie eine Eingeborene. Das zeigt doch besser als tausend Worte, dass das Mädchen hier ganz tiefe Wurzeln geschlagen hat. Sie soll ja auch so gut in der Schule sein. Wenigstens an seine Kinder hätte doch der famose Doktor Redlich denken können. Man reißt Kinder nicht ohne einen triftigen Grund aus ihrer vertrauten Umgebung heraus. Schon gar nicht, um sie nach Deutschland zu verfrachten. Nach allem, was geschehen ist. Aber mir war der gute Mann schon immer suspekt. Hat kein Schamgefühl. Geht zur Army und singt deutsche Lieder. Mich wundert es, dass sie ihn dort nicht längst rausgeschmissen haben. Er hat sich ja auch geweigert, seine Einbürgerungspapiere einzureichen.«

»Ich hab gehört, die Frau will absolut nicht zurück. Es soll ganz schreckliche Kräche gegeben haben in der Ehe. Die Aja hat meinem Boy erzählt, wie dort die Tassen geflogen sind.«

»Das hat die gnädige Frau nun davon, dass sie sich nicht von ihrem Rosenthal-Service trennen wollte. Ich hab meines längst verkauft. Erinnerungen sind Löcher im Herzen.«

Regina drückte ihre Augen fest zu. Nichts mehr hören und sehen wollte sie. Sich in einer Wolke von Rauch und Feuer auflösen wie die Ritter und Drachentöter, wenn die Gefahr sie umzingelte und sie den Himmel um Rettung anflehen mussten. Bis sie im Zug saß und sich dem Schutz der vorbeifliegenden Bäume und der untergehenden Sonne anvertrauen durfte, sollte sie keiner sehen und niemand mehr ansprechen. Vor allem sollte es keiner noch einmal wagen, von ihrem Vater zu reden, als sei er zugleich ein Narr, der nicht wusste, was er tat, und ein Frevler, der seine Kinder ins Verderben führte.

»Auf einem Besenstiel werde ich durch die Luft fliegen«, flüsterte sie ins linke Ohr ihres schmatzenden Bruders. »Und mit einem Scheuerlappen werde ich allen Leuten den Mund zustopfen, die nur ein böses Wort über unseren Vater sagen. Ich weiß, wie man mit einem Scheuerlappen Leute erstickt.« »Hapana«, spuckte Max und winkte mit einem Schokoladenkeks einem Hund zu.

»Warum lernst du nicht endlich mal >diu< zu sagen? Diu heißt ja. Hörst du, diu, diu, diu.«

»Warum soll er überhaupt noch Suaheli lernen, wo wir doch fortmüssen von hier?«, klagte Jettel mit dem Trotz in der Stimme, den sie in Sekundenschnelle herbeizubefehlen wusste. »Sprich lieber Englisch mit ihm, Regina. Englisch ist eine Weltsprache. Die kann er immer gebrauchen. Das haben wir ja erlebt.«

»Quatsch«, sagte Walter. Er war auf dem Weg, um sich von dem alten Arthur Sedlacek zu verabschieden, der auch aus Oberschlesien stammte und mit dem er sich so gern über Oppeln und Wellwürste unterhalten hatte. Walter gab seiner Tochter einen zärtlichen Klaps auf den Rücken. »Mach meinen Sohn nicht verrückt. Der hat von jetzt an nur ein Vaterland und eine Muttersprache. Englisch braucht er frühestens in der Sexta zu lernen. Aber wahrscheinlich wird er aufs humanistische Gymnasium gehen. Wie sein Vater.«

»Damit er überall auf der Welt ein Trottel ist«, parierte Jettel.

Auf der Stelle in den Zug einsteigen wollte Regina. Der sollte zwar erst in einer halben Stunde abfahren, aber er stand schon seit zehn Minuten da. Ein müder Mann in einer grünen Hose wischte mit einem dreckigen Lappen über die verschmierten Scheiben. Die ersten Bettlerinnen tauchten auf, die Hände schon geöffnet. Allerdings waren ihre Augen noch zu fröhlich. Zwei schwatzten so lebhaft miteinander, als gehörten sie zu dem Kreis, der gekommen war, um Abschied von den Redlichs zu nehmen.

Regina schob ihren Körper in Richtung Bahnsteig. Ihre Mutter sah es, unterbrach ihren vermutlich letzten Disput mit ihrer Nachbarin im »Hove Court« und hielt ihrer Tochter vor: »Wir haben doch noch massig Zeit. Du bist wie dein Vater. Der denkt auch immer, der Zug fährt ohne ihn ab. Hat er schon in Breslau gemacht. Warum setzt du dich nicht auf den braunen Koffer und stellst Max mal auf die Füße? Das wird euch beiden gut tun.«

Jettel sah jung und vornehm aus in dem roten Kleid mit einem tiefen Ausschnitt und passender kurzer Jacke. Der indische Schneider in der Delamare Avenue, von dem alle sagten, er sei weitaus der beste in Nairobi, hatte das Complet eigens für die Reise genäht; im »Hove Court« hatten alle Damen Jettel versichert, das originelle Kleid wäre eine beneidenswerte modische Schöpfung, hinter ihrem Rücken waren sie sich allerdings ausnahmslos einig gewesen, es wäre geschmacklos und instinktlos, ausgerechnet nach Deutschland wie eine »aufgetakelte Carmen« aufzubrechen.

Jettel unterhielt sich gerade mit Frau Kellner, von der sie bei jeder Gelegenheit behauptet hatte, sie wäre eine falsche Schlange, schuld an der Wasserknappheit und ganz bestimmt dafür verantwortlich, dass am Freitagnachmittag niemand außer ihr und ihrem missratenen Sohn zu einem warmen Bad käme. Frau Kellners Wangen waren tief rot.

»Sie Arme«, bedauerte sie gerade, »ich kann mir gut vorstellen, wie Ihnen zumute ist. Mich würden keine zehn Pferde zurück nach Deutschland kriegen. Und meinen Mann schon gar nicht. Der hat mich noch nicht einmal dazu bewegen können, nach Limuru umzuziehen, obwohl man ihm dort ein einmaliges Angebot gemacht hat. Mit

Mitbeteiligung. Ich hab gehört, in Deutschland gibt es nichts, was der Mensch zum Leben braucht. Noch nicht einmal Salz und Brot.«

»Aber Badewasser«, sagte Jettel.

Reginas Körper wurde heiß und steif. Sie hatte drei Jahre lang befürchtet, die Kriege zwischen ihrer temperamentvollen Mutter und der bösartigen Frau Kellner würden zu einer Katastrophe führen. Frau Kellner malte ihre Lippen und Fingernägel blutrot an; sie sah aus wie eine Hexe und braute sich jeden Abend ein Getränk aus Tee, schwarzem Pfeffer und Senfkörnern - zweifellos ein Hexentrunk. Man erzählte sich, sie hätte ihren ersten Mann in den Tod getrieben und würde den zweiten so knechten, dass er es nicht wagte, sich auf einen Stuhl zu setzen, ohne seine Frau um Erlaubnis zu bitten. Regina schaute ihre Mutter flehentlich an. War die auch eine rasende Amazone wie Frau Kellner geworden, oder war sie ihr ausgerechnet am letzten Tag zu Hause in die Falle gegangen? Hatte Owuor denn seiner Memsahib nie erzählt, dass derjenige, der mit verärgerten Ohren auf eine große Safari ging, für immer seine Kräfte verlor? Und sein Lachen. Und nie mehr zurückkommen würde an den Ort, an dem dies geschehen war.

»Mama«, raunte Regina, »der Papa will das nicht.«

»Dein Vater hat mir gar nichts zu wollen. Es reicht schon, wenn er uns nach Deutschland schleppt.«

In diesem Moment geschah das Wunder der Wunder. Eine vertraute, geliebte Stimme rief: »Ich bin ja schon da.« Ein winziger Hund fiepte. Im Himmel über Nairobi spielten die Engel Harfe, die Wolken wurden rosa, die Sonne eine Kugel aus Gold. Stimme und Bellen hatten erst den blau blühenden Jacarandabaum vor dem Bahn-hofsgebäude erreicht, doch in Reginas Ohren schwoll der Jubel sofort zum Donner an. Sie war wieder ein Kind, das seine Wünsche nur der einen anvertraute, deren Phantasie noch die eigene übertraf. Sie hieß Diana Wilkins und war die Feenkönigin, grazil wie eine Gazelle, mit wehenden blonden Haaren und porzellanweißer Haut, melancholisch bei Tag und in der Nacht sprühend vor Lust. Von der schönen Diana behaupteten die Männer aller Nationen und jeden Alters, sie wäre jede Sünde wert, die Frauen nannten sie eine Gestrauchelte und machten es sich zur Aufgabe, ihre heranwachsenden Söhne vor ihr zu warnen. Diana, in Lettland geboren und nirgends daheim, war mit fünfundzwanzig Jahren im vornehmen Norfolk Hotel zu Nairobi zur Witwe geworden - einer ihrer feurigen Liebhaber hatte ihren Mann, einen englischen Captain, im Bett erschossen.

Nach Kenia gekommen war Diana mit einem polnischen Klavierspieler, von dem sie behauptete, er wäre bereits im Zug von Mombasa nach Nairobi entführt worden. Zuvor hätte sie die beste Ballettschule in St. Petersburg besucht. In besonders heißen Nächten fiel ihr ein, sie hätte in Moskau das Bolschoiballett gegründet und wäre von Lenin in einer Sondermission nach Kalkutta geschickt worden. Nach dem sechsten Brandy kam die Geschichte vom Kosaken in Finnland, der in einer Mittsommernacht ihr Kind geraubt und am nächsten Morgen ihr Gedächtnis gestohlen hatte.

Diana hasste die Bolschewisten. Beim Seelenfrieden ihrer verstorbenen Großmutter schwor sie, die »Bolsche-wiki« hätten ihren Onkel, den Zaren, erschlagen und ihr, seiner neunzehnjährigen Nichte, die Smaragde vom Hals und einen Rubin, so groß wie ein Hühnerei, vom Finger gerissen. In einem Schneesturm hätten die Kosakenhorden sie nackt auf einen Schimmel gesetzt und über die Grenze gejagt. Nur Regina glaubte ihr, und weil noch nie einer Diana irgendetwas geglaubt hatte, wurde aus der ersten Begegnung zwischen dem Kind und der Frau eine geheimnisvolle, nie mehr zu vergessende Freundschaft. Zum Abschied trug Diana, wie am Tag des Kennenlernens auf einem verzauberten Rasenstück im »Hove Court«, ein bodenlanges Kleid aus weißem Tüll. Die Diva mit der großen Vergangenheit hatte die rosafarbenen Schuhe an, von denen sie ausschließlich Regina anvertraut hatte, sie hätte in ihnen die Odette in »Schwanensee« getanzt und den Kaiser von China zum Weinen gebracht. Nun hielt Odette, die nur noch tanzte, wenn es keiner sah, ihren winzigen Hund Reppi im Arm. Er hatte Ohren wie eine Fledermaus, roch nach Brandy und dem Rosenparfüm seines Frauchens und holte in kurzen Abständen Geräusche aus seiner Kehle, die Keuchhusten ähnelten. Wie sonst auch um fünf Uhr nachmittags, war Diana nicht mehr nüchtern. Ihre Augen waren glasig, die Beine nicht mehr sicher. Hinter ihr stand der getreue Chepoi, der die Zimmer seiner Memsahib in Ordnung hielt, den Hund versorgte und Diana ins Bett brachte, sobald sie ansetzte, ihre Kleider und ihre letzten Pretiosen zu verschenken. Mit der kleinen Verbeugung, die sie ihm für festliche Okkasionen beigebracht hatte, reichte er ihr eine kleine Kiste aus Mahagoni, die in ein weißes Spitzentuch verpackt war. Diana tauschte Hund gegen Kiste. Behutsam öffnete sie den Deckel. Ihr Lächeln machte sie jung, schön und strahlend. »Die Zarenkrone«, sang sie mit der Stimme eines Troubadours. »Unter Lebensgefahr habe ich sie aus Russland gebracht.«

Es war tatsächlich eine goldene Krone, die die Monarchin aus dem Feenreich der kleinen Kiste entnahm. Besetzt war das glitzernde Schmuckstück mit roten, gelben, grünen und blauen Farbsteinen. In der Mitte strahlte ein goldfarbenes Kreuz. Die Gespräche verstummten. Selbst Reppi, der Fledermaushund, hörte auf zu fiepen. Als er seinen Kopf schüttelte, fiel Regina auf, wie schön auch die vermeintlich hässlichen Tiere sind. »Ich glaube, er ist ein verzauberter Prinz«, vertraute sie ihrem Bruder an.

Das Kind ahmte den Hund auf Chepois Arm nach und schüttelte seinen Kopf.

»So klug ist mein Kleiner«, lachte Königin Diana, »und so stark. Wenn er groß ist, wird er die Bolschewiki alle ins Meer treiben und an die Haie verfüttern.«

Königin Diana hatte meerblaue Augen mit Wimpern aus Seide. Sie leckte ihre korallenroten Lippen und murmelte einige Worte in einer Sprache, die keiner der Anwesenden je gehört hatte. Dann küsste sie die Krone und drückte sie Regina auf den Kopf. Ihrer scheidenden Hofdame gab sie den letzten Kuss. Jede Träne in ihren Augen, Regina wusste es genau, war in Wirklichkeit ein Diamant. Die Juwelen, die in der Krone glänzten, das wussten alle anderen, waren aus Glas, das goldene Kreuz nur bemaltes Blech. Diana, den Hund wieder auf ihrem Arm, schritt zurück zum Jacarandabaum, dessen Blüten im letzten Strahl der Sonne badeten. Wieder war es Regina, die mehr sah als die anderen. Nur ihr ging auf, dass die stolze Monarchin in einen goldenen Himmel mit opalbesetzten Wolken flog.

»Um Himmels willen, Regina, setz das lächerliche Ding ab. Wir sind doch hier nicht auf einem Kostümfest.«

Regina, die sich noch nie getraut hatte, irgendeinem Lebewesen außer dem Hund Rummler zu widersprechen, sagte, weil sie den Kopf ja nicht mehr auf gewohnte Art schütteln konnte, resolut: »Nein. Nicht so lange ich Diana noch riechen kann.«

»Wenn du jetzt auch so hysterisch wirst wie deine Mutter, erschieße ich mich auf der Stelle«, drohte ihr Vater. »Womit?«, fragte Jettel.

Die Lokomotive hörte auf, langsam zu schnaufen und pfiff Entschlossenheit. Der Zug fuhr einige Meter in Richtung Mombasa, dann umgehend wieder zurück. Die Bettler richteten ihre Gesichter auf Arbeit ein, fielen auf die Knie und streckten murmelnd ihre Hände aus. »Einsteigen«, rief der alte Herr Mannheimer, von dem ein jeder wusste, dass er sich zu keinem Zeitpunkt seines Lebens einen schlechten Scherz hatte entgehen lassen, »dies ist der letzte Zug, der heim ins Reich fährt.« »Bravo!«, rief Walter. Er klatschte in die Hände und verneigte sich höhnisch. Es war weder Zufall noch Gewohnheit, dass er das Wort Englisch aussprach, aber das R wie ein soeben ins Land gekommener Refugee rollte, bei dem alle Hoffnung auf Sprachassimilation vergebens sein würde. Die sarkastische Reaktion auf eine bewusste Kränkung, die ihn sehr viel mehr aufwühlte, als es gedankenlose Dummheit getan hätte, war jene Selbstironie, die Walter bei seinen Kameraden beliebt gemacht hatte. »Jerry«, hatte der Sergeantmajor beim Abschied gesagt, »du bist viel zu schade für ein Land, in dem die Leute immer nur lachen können, wenn jemand auf einer Bananenschale ausrutscht oder wenn einer dem anderen eine Sahnetorte ins Gesicht schmeißt.«

»Da sehen Sie, Sir, wie sich manche Dinge durch einen

Krieg zum Guten wenden. In Deutschland gibt es keine Sahnetorte mehr und Bananen erst recht nicht.«

Alle, die gekommen waren, um einen Soldaten in britischer Uniform mit seiner unschuldigen Familie ins Land der Feinde abziehen zu sehen, hatten präzise Vorstellungen, wie sich die letzten Minuten in dem ungewöhnlichen, seit Wochen im »Hove Court« leidenschaftlich diskutierten Drama abspielen würden. Ein Spektakel mit unvergesslichem Höhepunkt war nicht auszuschließen. Zumindest erwartete das gespannte Publikum, Dr. Walter Redlich, der von der Idee besessen war, wieder Rechtsanwalt und Notar in Deutschland und ein respektierter Mann zu werden, würde mit irgendeiner bemerkenswerten Geste das Land verlassen - »das Land, dem er immerhin sein Leben verdankt«, wie kaum einer anzumerken versäumte. Bestimmt würde der Wahnwitzige eines jener deutschen Lieder auf den Lippen haben, die er, ohne sich zu genieren, so oft seinem bedauernswerten Sohn vorgesungen hatte. Bei offenem Fenster und in Uniform!

Walter aber dachte weder an die Lorelei auf ihrem Felsen noch an den Studenten im dritten Semester, der mit seinem Freund Martin Batschinsky in Heidelberg auf einer Brücke gestanden und von großer Zukunft geträumt hatte. Der Rückkehrende ins Land seiner Väter sah keine grauen Burgen und keine Frühlingswiesen. Er stand nicht am Neckar, und er hob sein Weinglas nicht am Rhein; die deutschen Wälder hörte er nicht rauschen, den Kuckuck nicht rufen. Es würde, das wusste er, sein geliebtes Schlesierland am Oderstrand nie mehr wieder sehen. In den letzten Minuten, die Sergeant Redlich in Nairobi verblieben, sah er einzig die blauen Hügel des

Ngong. Sie badeten im Licht der aufgehenden Sonne, am Horizont galoppierte eine Herde Zebras.

Mit Dankbarkeit dachte Walter an seine kecken Kameraden Andy, Harry und George. Sie hatten einen verdorrenden Baum, dem Vandalen die Wurzeln abgeschlagen hatten, wieder aufgerichtet. George, der fröhlichste der drei, hatte sogar die Patience mit den hundertundvier Karten gelernt und sich in einer langen Nacht schildern lassen, wie »Redlichs Hotel« in Sohrau aussah. Er war in Burma gefallen. Zwei Tage vor seinem zweiundzwanzigsten Geburtstag. Walter hatte Andy geholfen, einen Brief an Georges Eltern zu schreiben. Sie lebten auf der Insel Skye, und der Mann aus Deutschland hatte ihnen erklären müssen, wo Burma lag und weshalb ein schottischer Soldat dorthin geschickt wurde.

Weil es ihm nicht gelang, rechtzeitig den Angriff der Wehmut auf seine Vernunft und Haltung zu zügeln, stieg Sergeant Redlich sehr schwerfällig in den Zug nach Mombasa ein. Erst im allerletzten Moment dämmerte ihm, dass die Bewohner des »Hove Court« wenigstens ein kleines Finale von ihm erwarteten. Er nahm seine Mütze ab und hielt seinen Sohn kurz in die Höhe, damit sie ihn noch einmal sehen konnten. Sie winkten versöhnlich und riefen so herzlich »Kwaheri«, als würde ein jeder von ihnen das Ziel der Reise gutheißen.

Andy, Harry und George waren eigensinnig wie immer. Sie weigerten sich hartnäckig, von der Bühne abzutreten. Zunächst summte Walter »My Heart’s in the Highlands« nur leise, doch zum Schluss sang er mit einer Stimme, die so weit zu reisen vermochte wie auf den Schambas von Ol’ Joro Orok, »The hills of the Highlands for ever I love«. Er dachte dabei so intensiv an die Farm im Hochland mit den blau blühenden Flachsfeldern, an Kimani und an Owuor, dass ihm schwindelte.

Kimani hatte sich umgebracht und Owuor, der Kamerad der allerersten afrikanischen Stunde, war unterwegs nach Kisumu am Victoria-See, in eine Heimat, die ihm bestimmt fremd geworden war. Ebenso wie Jettel und Regina nahm Walter von Nairobi durch einen Tränenschleier Abschied. Der durchsichtige graue Vorhang schob sich vor die schwatzenden Menschen, die seinetwegen gekommen waren, vor schöne indische Frauen mit klimpernden Goldreifen am Arm und großäugigen Kindern an der Hand und vor die jammervoll klagenden Bettler mit eiternden Wunden an Kopf und Gliedern. Auf geregte Kikuyufrauen schleppten prall gefüllte Säcke und quetschten protestierende Hühner unter die Achseln. Demütig folgten sie ihren Ehemännern. Die trugen auf Hochglanz polierte Lederschuhe und eilten mit großen Schritten in die westliche Welt.

»Weinst du Papa?«, flüsterte Regina.

»Nur ein ganz kleines bisschen«, gestand der Vater, der von seinem Vater gelernt hatte, dass ein deutscher Junge nicht weinen durfte.

Sie schwiegen, bis der Zug abfuhr. Ein jeder von ihnen zupfte am kleinen Max herum. Jettel knöpfte sein Jäckchen auf und falsch wieder zu, Walter schlug ihm so kräftig auf die Schulter, dass er zur Seite rutschte, und Regina kämmte ihrem Bruder das Haar mit einer silbernen Bürste, auf der ihr Namen eingraviert war, denn die Bürste war ein Geschenk ihrer Großmutter zu ihrem ersten Geburtstag gewesen. Das Abteil war kühl und dunkel. Die, die in ihm Abschied von ihrem afrikanischen Leben zu nehmen hatten, waren die Stille nicht gewohnt und schon gar nicht die Einsamkeit, die ihr innewohnt, wenn die Zeit stillsteht und die Vergangenheit sich in Bilder aufteilt, die das Gemüt quälen.

Ein Blechgong wurde geschlagen. »Chai«, rief eine Männerstimme. Es duftete nach frisch aufgebrühtem Tee und Ingwerkuchen. Reginas Nase erreichte eine Botschaft aus untergegangener Zeit. Sie stand für Aufbruch und Hoffnung. Nach einigen Minuten erinnerte sich die Vierzehnjährige tatsächlich an das ängstliche fünfjährige Mädchen mit dem Plüschaffen Fips und der schwarzen Puppe Josephine. Auch der liebevolle Kellner fiel ihr ein, der ihr im Zug von Mombasa nach Nairobi Tee und Ingwerkuchen auf einem Silbertablett gebracht und ihr im Morgengrauen die Affen und die Giraffen gezeigt hatte.

»Ich finde es schön, dass wir Fips noch haben«, sagte Regina.

»Du bist so sentimental wie dein Vater«, brummte Walter, »du wirst es im Leben nicht weit bringen.«

Der Kind, das vor drei Tagen seinen ersten Geburtstag gefeiert hatte, schlief auf einem der nach Lavendel duftenden weißen Kissen, die schon für die Nacht bereitlagen. Sein Vater, die Mutter und seine Schwester saßen steif auf den gepolsterten Sitzbänken und verkrampften ihre Hände. Sie scheuten sich, einander anzuschauen. Mit Augen, die noch feucht waren, aber doch schon wieder vom Salz der Trauer brannten, starrten sie zum Fenster hinaus. Sie sahen, wie sich die Häuser von Nairobi in dem grauen Abenddunst auflösten, der typisch war für die Stadt.

Nach nur wenigen Minuten öffnete sich die Landschaft. Am Rande großer Maisfelder wuchsen Dornakazien. Buben in zerlumpter Kleidung hüteten das Vieh von Farmern, die sie nicht kannten. Kälber drückten sich an die Mutterkühe, die Bärte der Ziegen waren noch im Dämmerlicht zu erkennen. Erst tauchte ein großes weißes Gebäude auf, das von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben war, bald die runden Hütten der Farmangestellten. Mit ihren geflochtenen Dächern glichen die Hütten denen in Ol’ Joro Orok. Den Bildern, die in Nairobi vergilbt waren wie verdorrte Blätter, gaben sie die Farbe zurück.

Vor den Hütten scharrten Hühner. Feuerstellen glühten. Junge Mädchen mit Eimern auf dem Kopf kamen einen Hügel herauf. Obwohl Reginas Sinne nicht gelernt hatten, in einem fahrenden Zug Beute zu machen, stellte sie sich vor, wie die Frauen bald aus den Hütten herauskommen würden, um in breiten braunen Schüsseln das Ugali für den Abend zu rühren. Eine Zeit lang wehrte sich die kleine Memsahib aus Ol’ Joro Orok gegen die Klauen der Sehnsucht, auf Dauer konnte sie es nicht verhindern, dass sie die Männer jene Schauris des Tages erzählen hörte, aus denen in der Nacht Heldentaten wurden, für die selbst Gott Mungu seine Ohren öffnete.

»Es ist das erste Mal seit Leobschütz«, sagte Walter, »dass die ganze Familie zusammen in einem Zug sitzt. Wir haben lange auf diesen Tag warten müssen.« Seine Stimme war fest, doch er rieb seine Hände aneinander. Waren sie noch kalt von der Spannung der letzten Stunde, oder brannte in ihnen schon wieder das Feuer eines mutigen Mannes, der sich sein Leben lang weigerte, um den Beifall der Mehrheit zu buhlen?

Regina trennte sich von den Hüttenfeuern und den dunklen Silhouetten der Bäume. Sie leckte ihre Lippen feucht, hatte sie doch sehr früh gelernt, auch nach jenen Worten zu greifen, deren Bedeutung ihr nicht auf Anhieb klar wurde, um ein junges Gespräch am Leben zu halten. »An Leobschütz kann ich mich gar nicht mehr richtig erinnern«, sagte sie. »War da nicht etwas mit einem Schaukelpferd?«

»Und ob da was mit einem Schaukelpferd war! Du hast monatelang davon geredet«, hielt ihr Jettel vor. »Meistens, wenn du mit der ganzen Welt böse warst. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie oft ich mir gewünscht habe, wir hätten das verdammte Ding mitgenommen. Aber dein Vater hat wieder einmal alles besser gewusst.«

»Und jetzt weiß ich überhaupt nicht, wie so ein Holzpferd aussieht. Und was ein Kind damit macht.«

»Vielleicht können wir deinem Bruder eins kaufen«, sagte Walter. »Als Symbol, dass wir alle in ein neues Glück reiten.«

»Welches Glück?«, schniefte Jettel. Sie glättete ihr nasses Taschentuch auf dem Schoß.

»Das Glück, dass wir noch einmal von vorn anfangen dürfen.«

»So etwas Dämliches kann nur ein Mann sagen.«

»Tut mir leid, Jettel, du hast nun mal einen Trottel geheiratet. Du hättest auf deinen Onkel Bandmann hören müssen.«

»Das habe ich ja. Er hat gesagt, ich soll dich heiraten, obwohl du ein Trottel bist. Du wärst ein anständiger Kerl.« »Nur die Trottel sind anständig.«

Regina lachte, obwohl sie den Dialog ihrer Eltern seit Jahren kannte. Wort für Wort. Sie kannte jeden Blick und jede Geste. Sie wusste Bescheid. In der Nacht, als sie um den Bruder geweint hatte, der nicht hatte leben dürfen, hatte ihr Owuor das Geheimnis ihrer Eltern verraten. Sie kämpften bei jeder Gelegenheit miteinander wie Kinder ohne Verstand, doch ihre Liebe hielt sie zusammen wie zwei Bäume, deren Wurzeln zusammengewachsen waren.

»Woran denkst du, Regina? Du siehst so vergeistigt aus.« »Lass sie«, sagte Jettel, »es reicht doch, wenn du dich mit mir zankst.«

»An Romeo und Julia.«

»Das sieht meiner klugen Tochter ähnlich. Geht auf große Reise und denkt an Romeo und Julia. Die beiden sind keinen Meter von Verona weggekommen. Und außerdem konnten sie noch nicht einmal eine Nachtigall von einer Lerche unterscheiden.«

»Woher weißt du?«, fragte Regina überrascht.

»Dein Vater ist gar nicht so ungebildet, wie er aussieht. Auch deswegen will er wieder zurück nach Deutschland. Damit ihn seine Kinder nicht als einen Refugee verachten, der nicht bis drei zählen kann.«

»Das habe ich nie getan«, verteidigte sich Regina, »das wäre mir überhaupt nicht eingefallen.«

Sie schämte sich, als sie das sagte, denn sie wusste genau, dass ihr Leben nicht in so glatten Bahnen verlaufen und sie keine Heldin gewesen war. Sie dachte an die Nakuru School und ihre Träume, eines Tages aufzuwachen und eine Mutter zu haben, die karierte Männerhemden trug und mit ihrem Mann auf die Löwenjagd ging, und einen Vater, dessen Zunge nicht über jedes zweite englische Wort stolperte und der wusste, wer Florence Nightingale war. Regina biss sich auf die Lippen. Als Erinnerung und Warnung. Es war eine Provokation, zu viel zu reden, wenn die Gedanken auf Safari gingen.

Walter sollte die Safari seines Kopfes keinen Tag mehr vergessen - sie war die schmerzlichste, zu der er je aufgebrochen war. In all den Jahren der Emigration war er davon ausgegangen, dass er auf der Rückfahrt nach Deutschland nichts als den Jubel des Heimkehrers empfinden würde. Als beseligten Odysseus hatte er sich gesehen, begrüßt von Frau und Hund und Dienerschaft. Doch bereits auf dem Bahnhof in Nairobi hatte der Reisende ein für alle Mal begriffen, dass das Schicksal seiner Geschichte ein anderes Ende zugedacht hatte. Sergeant Walter Redlich, der deutsche Patriot, auf den in Mombasa das britische Militärschiff »Almanzora« wartete, um ihn und die Seinen zurück nach Europa zu bringen, hatte keine Heimat mehr. Heimat, das wären Sohrau und Leobschütz gewesen, die Freunde, die vertraute Sprache, die geliebte Landschaft. Heimat hätte das Wiedersehen mit Vater und Schwester, mit Ina und Käthe bedeutet. Das Wort Heimat stand für Leben, nicht für Tod. Walter hatte zu keinem Zeitpunkt seines Lebens versucht, sich selbst zu täuschen. Er war der Mann der Logik geblieben, der auch die eigenen Empfindungen, Wünsche, Niederlagen und Irrtümer zu analysieren imstande war. Wie ein naives Kind, das nur glaubt, was es glauben will, hatte er sich jahrelang von seinen Illusionen und Hoffnungen blenden lassen und sich geweigert, wissentlich Traum und Hoffnung verloren zu geben. Walter Redlich, geboren in Sohrau, verjagt aus Leobschütz, im letztmöglichen Moment aus Breslau geflüchtet, senkte den Kopf. Er verzichtete auf das letzte Wort und nahm das Urteil an.

Zwischen Nairobi und Mombasa begriff er nicht nur, dass er nie mehr eine Heimat haben würde. Der Richter hatte ihn auch zum lebenslänglichen Schweigen verurteilt.

Den größten Irrtum seines Lebens durfte Walter auch nicht derjenigen gestehen, die seinem Herzen am nächsten war, denn er hatte Regina die Heimat genommen. Noch war ihr reuiger Vater nicht mit den strengen Regeln der Lebenslüge vertraut, schüttelte er doch seinen Kopf wie einer, der nichts zu verbergen hat, und ohne dass er die Stimme senkte, sagte er: »Sie haben’s geschafft.« »Hast du was?«, fragte Jettel. »Du bist ja plötzlich ganz blass.«

»Quatsch. Was soll ich haben? Wo in aller Welt ist meine Tochter? Und wer hat meinen einzigen Sohn entführt?« »Er wurde plötzlich unruhig. Da habe ich Regina mal ein bisschen mit ihm rausgeschickt. Du warst so weit weg und hast so schwer geatmet, dass ich mich erschrocken habe. Da dachte ich, du könntest ein bisschen Ruhe gebrauchen.«

»Ach, Jettel, manchmal glaub ich doch, dass deine Mutter recht hatte. Sie hat immer zu mir gesagt, dass du mich liebst.«

»Komisch, dasselbe hat sie zu mir gesagt. Es war das Letzte, was sie überhaupt zu mir gesagt hat.«

Sie hielten sich an den Händen - wie zwei verängstigte Kinder, die nicht wissen, ob sie je aus dem dunklen Wald herausfinden werden.

Der Zug hielt auf freier Strecke. In der Ferne klagte ein Schakal. Auf dem Gang schaute Max auf die mächtigen schwarzen Bäume im Land seiner Geburt und wusste nicht, was er sah. Er sagte zum ersten Mal »lala«, was auf Suaheli schlafen heißt, und einige Male »Aja«. Dann suckelte er am Daumen seiner Schwester und schlief weiter. Regina versuchte, wenigstens eine ihrer Tränen in einen leuchtenden Stern zu verwandeln, doch sie begriff rasch, dass Owuors wunderbarer Zauber an die Heimat gebunden war.

»Das«, erklärte sie ihrem schlafenden Bruder, »hat nur zu Hause geklappt. Unter dem Baum am Wassertank.«