Endstation Friedhof

München-Genua, 9. Januar 1938

»Sind wir denn schon raus aus Klapsburg?«, grunzte Gre-schek.

»Coburg«, verbesserte Walter. »Ehe Sie einschliefen, waren Sie klüger. Da hatten Sie sogar von Sachsen-CoburgGotha gehört.«

»Und was soll daran klug sein, Herr Doktor? Aus Gotha beziehe ich meine Kabel und Schalter. Seit Jahren.« Greschek, der Schlips verrutscht und die obersten zwei Knöpfe seines Hemdes offen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schüttelte die Beine aus.

»Mann, leben Sie auf großem Fuß. Das muss hilfreich sein in solchen Situationen, bei denen es auf Kraft und Umfang ankommt.«

»Aber nicht beim Schuhekaufen. Meine muss ich mir immer beim Schuster Zilinsky in Ratibor machen lassen, und glauben Sie mir, der nutzt jede Notlage aus.«

»Wer tut das nicht? Denken Sie nur an Jakob. Der hat die Kurzsichtigkeit seines hungrigen Bruders ausgenutzt und ihn mit einer Schüssel Linsen um sein Erstgeburtsrecht gebracht. Ich kann nie Linsen essen, ohne daran zu denken.«

»Was Sie aber auch alles wissen. Professor hätten Sie werden können, wenn Sie nur gewollt hätten.«

»Und wo wäre ich heute? Auch ein Mann, den man mit einem Tritt in den Hintern aus dem Amt gejagt hat und der im besten Fall unterwegs nach Genua ist. Den jüdischen Professoren ist es besonders früh an den Kragen gegangen. Die hatten ja auch oft Kollegen, die nicht abwarten konnten, sich auf Stühle zu setzen, für die sie nicht geschaffen waren.«

Grescheks Schuhe standen unter dem Sitz, mit den Schnürbändeln aneinandergebunden - wie er es von seinem Bruder Waldemar gelernt hatte, dem einmal beim Baden der linke Stiefel in einen See gefallen war und der dafür statt Mittagessen zwei Ohrfeigen kassiert hatte. Ein halbes Jahr danach war Waldemar in der väterlichen Jauchegrube ertrunken und die Mutter stumm geworden. Josef, der jüngste Bruder, erinnerte sich immer dann an die häusliche Tragödie, wenn seine Schuhe nicht vor dem eigenen Bett standen.

Es gab wahrscheinlich nur wenige Menschen, die beim Aufwachen so ungeniert laut und so unappetitlich gähnten wie Walters Reisebegleiter. Greschek starrte abwechselnd in die sternlose Nacht und zu den Koffern in der Ablage. Er empfand die fahle Deckenbeleuchtung als eine Sparmaßnahme, die den Ruf der gesamten Reichsbahn schädigte. Vor allem erschien sie ihm als Provokation für einen Elektriker, der es so weit gebracht hatte wie er und der in Leobschütz sowohl Lampen als auch Glühbirnen verkaufte, die sich in jedem Geschäft in Breslau hätten sehen lassen können. »In jedem«, murmelte er. Auch fünf Minuten nach dem Wachwerden fühlte sich Greschek wie betäubt. Er konnte sich gerade noch erinnern, dass sich vor einigen Stunden die Landschaft so plötzlich verfinstert hatte wie zu Zeiten von Moses, als

Gott die Ägypter mit der großen Finsternis dafür bestraft hatte, dass sie die Juden quälten. »Vielleicht wiederholt er ausgerechnet heute seinen großen Glückswurf und wir können wieder nach Hause fahren«, hatte Walter gesagt. Weniger klar bewusst war Greschek im Moment des Aufwachens, wie entscheidend der besonders feine Weinbrand aus Frau Inas Korb und der Schlehenschnaps aus Leobschütz den Gemütszustand der Reisenden beeinflusst hatten. Bei Walter hatte die ungewöhnliche Mischung zu einem lang anhaltenden Dämmerzustand geführt, den er im Nachhinein als ein besonderes Geschenk von Morpheus empfand, bei Greschek zu einem bleiernen Abtauchen aus der Wirklichkeit. Trotzdem funktionierte sein Gedächtnis immer noch so gut wie sein Instinkt.

Die Unterhaltung mit Walter war ihm auf alle Fälle so präsent, als wäre er nie eingeschlafen. Bis unmittelbar vor Coburg hatten die beiden über den Ehemann Königin Victorias gesprochen, der ja aus Coburg stammte und der Großvater Kaiser Wilhelms II. war. Greschek hatte es sehr beeindruckt, dass Walter nicht nur über den Mann sprach, als würde er ihn persönlich kennen, sondern dass er so getan hatte, als wäre der Großvater eines Kaisers und der Gatte einer Königin ein ganz gewöhnlicher Mann. »Der arme Tropf«, hatte der Herr Doktor gesagt, »hat ja auch auswandern müssen. Nach England.« »Damals hat es doch noch gar keinen Hitler gegeben«, hatte Greschek eingewandt.

»Der Liebe wegen, Greschek, ist er losgezogen. Seine Heimat für eine Frau aufzugeben muss noch schlimmer sein, als rausgeschmissen zu werden. Denken Sie an den englischen König. Erst vor zwei Jahren hat der den Thron eines Weltreichs gegen ein Bett eingetauscht, in dem jetzt eine geschiedene Amerikanerin hockt.«

Das Gespräch hatte Greschek schon deshalb fasziniert, weil es ihm stets schmeichelte, wenn er mit Themen konfrontiert wurde, die bei einem Mann mehr als einen durchschnittlichen Verstand und eine abgeschlossene Volksschulbildung voraussetzten. Mit dem ungewöhnlich interessanten Ausflug in die Vergangenheit war es jedoch auf einen Schlag vorbei gewesen. In Coburg waren drei junge Männer eingestiegen, zwei davon mit Gamsbart auf ihrem Trachtenhut, der dritte mit einem Kopfverband. Sie hatten eine Sprachfärbung und eine Ausdrucksweise, die einen Mann aus Oberschlesien, der noch nie weiter südlich als bis an den Neckar gekommen war, sehr unsicher machten. Außerdem hatten die drei Bayern ihre Koffer so hingestellt, dass den anderen beiden Reisenden weit weniger Platz blieb, als ihnen zustand. Ebenso dominierend setzten sie ihre Beine und Ellbogen ein.

In der Vorhitlerzeit hätte Walter mit leidlich freundlichem Gruß das Abteil gewechselt, und Greschek hätte gewiss einige bildhaftere Ausdrücke gefunden, um deutlich zu machen, dass er Rücksichtslosigkeit bei der Jugend missbilligte. Unter Gegebenheiten aber, in denen die Minderheit sich nur durch Schweigen vor dem Angriff der herrschenden Klasse schützen konnte, verkrochen sich die Italienreisenden verängstigt in ihre Mäntel. Der eine überlegte, ehe er einschlief, ob die drei stimm-starken Männer von ihren Vätern, so wie doch er selbst in seiner Jugend, nicht auch gelernt hätten, dass Höflichkeit und Achtung vor anderen Menschen Christenpflicht sei. Eher verwundert als wirklich zufrieden dankte Walter dem Schicksal, dass er so schnell die Verhaltensregeln begriffen hatte, die einem verfemten Flüchtling anstanden.

In Augsburg war das lärmende Trio mit dem früh entwickelten Traum vom Lebensraum ausgestiegen. Mithin war das Abteil wieder ein Ort der relativen Freiheit und des nächtlichen Friedens. Walters neue Armbanduhr, ein Geschenk seines Vaters beim Abschiedsbesuch in Sohrau, zeigte an, dass dem 8. Januar 1938, der so erregend begonnen hatte, nur noch zwanzig Minuten beschieden waren. Es waren mithin nur noch neunzehn Minuten bis München. Walter wurde erst schweigsam und danach von lange vergessenen Jugenderinnerungen heimgesucht, die ihn in ihrer Deutlichkeit beklommen machten. Seit seinem zehnten Lebensjahr hatte er sich immer wieder gewünscht, München kennenzulernen. Im Juni 1914 war ein Handelsvertreter aus München in »Redlichs Hotel« abgestiegen, Trachtenstoffe, Bordüren und Hornknöpfe im Gepäck, die das Entzücken der Frauen erregten. Außerdem besaß er drei Packungen weißer Würste. Der ungewöhnliche Gast ließ sie in der Hotelküche wärmen und aß sie mit einem bräunlichen Mostrich, den er in einem Glas mit sich führte und als »süßen Senf« bezeich-nete. Walter hatte es sich in den Kopf gesetzt, von dem Mostrich aus dem fernen deutschen Land zu kosten, doch er bekam nie welchen. Trotzdem gefiel ihm der Bayer mit dem enormen Appetit. Er war stets liebenswürdig und besonders kinderlieb. Sein langer, dichter Bart, die buschigen Augenbrauen und speckigen Lederhosen, die in weißen Strümpfen steckten und den Hosen ähnelten, die im Sommer von den Gutsbesitzern zum Reiten getragen wurden, machten ihn zur Attraktion von Sohrau. In den Abendstunden saß er oft auf der Bank vor dem

Hotel und rauchte eine Pfeife mit einem weißen Kopf, die gleichfalls Aufsehen erregte. Morgens, wenn er in einer gemieteten Droschke loszog, um die Dörfler der Umgebung für Trachtenstoffe und Hornknöpfe zu gewinnen, verabschiedete er sich mit einem herzhaften »Grüß Gott«. Wenn Walter das hörte, stellte er sich vor, die Leute aus München wären auserwählt und würden in unmittelbarer Nähe von Gott wohnen. Auch als er dazu überging, die Menschheit differenzierter zu sehen, blieb der Wunsch, den schönen frommen Gruß einmal an Ort und Stelle zu hören - und endlich einmal ein weißes Würstchen mit bräunlichem, süßlich schmeckenden Mostrich zu essen.

»Grüß Gott«, seufzte er. Seine Stirn pochte. Er kühlte sie an der Fensterscheibe. »Schon wieder eine Gelegenheit, die ich verpasst habe. So schnell werde ich nicht mehr nach München kommen.«

»Ab der Grenze«, tröstete Greschek, »ist München auch nur eine Stadt wie jede andere. Von wegen Hofbräuhaus und Feldherrnhalle und dem ganzen Nazizirkus. Schauen Sie doch lieber mal nach, wann und wo die Grenze überhaupt kommt. Herr Wolf hat uns ja alles genau aufgeschrieben.«

»Das weiß ich auswendig. In einer Stunde und fünfunddreißig Minuten. In Kufstein schert es die Leute einen Dreck, ob sie am deutschen Wesen genesen oder nicht. Und wenn die von einem >Braunen< sprechen, meinen sie einen Kaffee und keinen Nazibonzen. Du glückliches Österreich, heißt es in der Geschichte.«

»Ich weiß oft nicht, wovon Sie reden. Ist es Ihnen nicht langweilig, mit mir zu reisen? Das habe ich mich schon früher gefragt, in Prag und damals in Karlsbad.« »Dafür wissen Sie, wie einer in einer Zeit, in der nur noch der Teufel das Sagen hat, ein Mensch bleibt. Für den Fall, dass mich in Afrika ein Löwe frisst, vergessen Sie nicht, dass ich das gesagt habe. Nie. Ach Greschek, ich wollt, ich wäre zwei Stunden älter. Vielleicht kann ich da schon wieder lachen, dass ich mir vor der Grenze fast in die Hose geschissen habe.«

»Wovor sollen wir denn Angst haben? Die Nazis sagen doch immer, sie sind froh über jeden Juden, der rausgeht aus Deutschland.«

»Und wie wollen Sie Ihre Reise erklären, mein Freund? Sie haben nur einen jüdischen Kopf, und den sieht man Ihnen nicht an. Der Kopf rechtfertigt laut Gesetz auch keine Auswanderung. Im Gegenteil. Wer wie Sie einen Stammbaum mit vier arischen Großeltern vorweisen kann, hat Volk und Führer zu dienen. Bis zum letzten Blutstropfen.«

»Es wird doch nicht verboten sein, sich vorher unsere geliebten italienischen Brüder anzuschauen.«

»Den Wunsch glaubt Ihnen noch nicht einmal Hitler persönlich. Sagen Sie lieber, Sie wollen weiter nach Neapel reisen und dort sterben. Das klingt zwar ebenso unwahrscheinlich, ist aber von Goethe. Von dem haben selbst die Nazis schon mal gehört.«

»Die Nazis und der Josef Greschek. Die Frau Ina wohnt doch in der Goethestraße.«

Die letzten Lichter von München waren noch zu sehen, als ein hagerer Mann mit zwei großen Koffern ins Abteil stolperte. Er atmete, als hätte er rennen müssen, um den Zug zu erreichen, und er klemmte, wie Walter es bei der Abfahrt aus Breslau getan hatte, seine Aktentasche fest unter den Arm. Auf den ersten Blick sah er dem Hand-lungsreisenden aus »Redlichs Hotel« ähnlich - schon wegen des moosgrünen Huts. Einen Bart hatte er zwar nicht, dafür einen Schnurrbart, der sehr großstädtisch wirkte; er lachte mit tiefer Stimme und schmetterte laut »Grüß Gott«. Allerdings bemerkte Walter sofort, dass der Gruß überdeutlich artikuliert war.

Der Gesichtsausdruck war ängstlich, die Augenlider flatterten. Das seltsam klingende »Grüß Gott« und der Umstand, dass der Mann keinen Schmuck an seinem Hut hatte wie die jungen Leute, die in Augsburg ausgestiegen waren, und dass er sofort fragte, ob der Zug Verspätung hätte oder pünktlich in Kufstein sein würde, ließen bei Walter die erste Alarmglocke klingeln. Er überlegte, ob der unwillkommene Begleiter sich eventuell eigens für die Reise eingekleidet hätte, und wenn ja, weshalb eine Verkleidung nötig wäre. Was vermochten wohl ein bayerischer Hut und ein bayerischer Gruß in einem Zug zu bewirken, der nach Genua unterwegs war?

Vor 1933, das stand für Walter schnell fest, wären alberne Verkleidungen und Sprachspiele allenfalls eine Marotte gewesen, eine harmlose Verrücktheit, für einen zufälligen Zaungast der Szene noch nicht einmal eine Überlegung wert. Nun, da in Deutschland auch die kleinste Verrücktheit verdächtig war, beunruhigte Walter die Vorstellung, ein Mensch müsste sich maskieren, um nicht aus dem genormten Raster zu fallen. Sein Herz klopfte. Er drückte es mit beiden Hände zur Ruhe. Lieber hätte er einen Schluck Weinbrand aus Inas silbernem Flakon genommen, aber er traute sich nicht. Es verwirrte ihn, dass er nicht wusste, weshalb er sich genierte.

Der Mann setzte sich stöhnend und begann in seiner Aktentasche zu wühlen. Seine Nervosität war auffallend, ebenso beunruhigend waren die Seufzer, sein Hüsteln und das wiederholte Kopfschütteln. »Jesus Maria!«, murmelte der nächtliche Eindringling. Aus seinem Mund klang der Ausdruck noch gekünstelter als das »Grüß Gott«. Er knirschte mit den Zähnen, und er wirkte, als wäre er in einem feinen Restaurant beim Diebstahl des Salzstreuers ertappt worden. Auch schien er zu merken, wie genau er beobachtet wurde. Sein Gesicht, zuvor bleich und übernächtigt, war rot, als er hochschaute. Hastig wischte er seine Stirn trocken, sah Greschek an, räusperte sich wie einer, der seine fällige Rede sorgfältig geprobt hat, sagte jedoch nichts. Greschek zog seinen Mantel eng um sich. Er ließ keinen Zweifel an seiner Absicht, auf der Stelle einzuschlafen. Walter fiel ein, dass er in den Abenteuerbüchern seiner Jugend immer wieder von einer »gespenstischen Stille« gelesen und sich jedes Mal über den Ausdruck geärgert hatte, weil er die abstrakte Beschreibung als eine überflüssige Verzögerung der Handlung verabscheut hatte. Mit einem Mal erschienen ihm die beiden Worte ein geradezu ideales Geschwisterpaar, doch kam er nicht mehr dazu, sich Gedanken über die seltsame Beziehung von Lebenslage und Erinnerung zu machen.

Der unruhige Reisende, noch immer im Mantel, stand auf. Zwei Mal ging er von der Abteiltür zum Fenster. Er hatte lange Beine, große Füße und ein breites Kreuz. Wie ein wildes Tier in einem zu kleinen Käfig schien er den Raum zu sprengen. Schnell und rüttelnd fuhr der Zug in eine Kurve. Der Mann musste stehen bleiben, um wieder Halt zu finden. Er lächelte wie ein wohlerzogener Verkäufer, als er Walter seine Aktentasche hinhielt. »Ob Sie die für mich einen kleinen Moment verwahren könnten?«, fragte er. Sein Ton war bittend, die Aussprache deckte sich nicht mehr mit seiner Kleidung. »Ich mag«, fuhr der Demaskierte nach einer Pause fort, »das Ding nicht mit in den Speisewagen schleppen. Das sieht so komisch aus. Eigentlich wollte ich mich gleich aufs Ohr legen, aber ausgerechnet jetzt habe ich einen Durst, als wäre ich durch die Kalahariwüste galoppiert. Das muss von den Rollmöpsen kommen. Ich könnte einen ganzen Eimer aussaufen.«

Es war nicht mehr zu überhören, dass der Mann in Trachtenhut und Lederweste aus Thüringen stammte und auch sonst das war, was Walters Mutter als »nur von weitem koscher« bezeichnet hatte. Seine Sprache erweckte den Eindruck, als hätte er sich eigens die volkstümlichen Ausdrücke zurechtgelegt, mit der er seiner Bitte Farbe gegeben hatte. Redewendungen wie »aufs Ohr legen« oder »einen Eimer aussaufen« passten ebenso wenig zu ihm wie sein bayerisches Dekor. Dass er nicht von einer Wüste im Allgemeinen gesprochen, sondern eine exakte Ortsbestimmung abgeliefert hatte und dazu noch von einem Teil der Welt, für den sich fünfzigjährige Deutsche mit Mantel, Hut und Aktentasche allenfalls intensiv interessierten, wenn sie eine Auswanderung in den südlichen Teil Afrikas erwogen, machte Walter erst recht stutzig.

Mit einem Instinkt, der bei ihm bisher eher unterentwickelt gewesen war, witterte er die Bedrohung. Es war eine Gefahr der neuen Zeit, die er auf sich zukommen sah. Sie tarnte sich meisterhaft und erforderte für den, der zu reagieren hatte, zeitgemäße Charaktereigenschaften: Misstrauen statt Hilfsbereitschaft. Bei dem Gedanken, dass er bereits das Klassenziel erreicht hatte, fühlte sich Walter wie ein Verräter an seinem Glauben. Und an einem Glaubensgenossen! Es war genau die Situation eingetreten, vor der Heini Wolf wiederholt gewarnt hatte: An den deutschen Grenzen tauchten plötzlich Unbekannte auf, die ihren Reisegefährten Papiere oder Päckchen zustecken wollten. Manche lockten ungeniert mit Geldscheinen in beträchtlicher Höhe, andere hatten logische Erklärungen für ihr Ansinnen parat, oder sie erzählten Geschichten, die harmlos genug waren, um aufkommende Ängste zu beschwichtigen. Ahnungslose Reisende, die sich darauf einließen, bis nach der deutschen Grenze einen Handkoffer, Papiere oder auch nur ein Buch oder einen Briefumschlag in Empfang zu nehmen, hatten in der Lotterie des Überlebens ihre Chancen verspielt.

Oft waren die Leute, die ihre Habe nur »ganz kurz in guten Händen« wissen wollten, weil sie auf die Toilette mussten oder etwas im Speisewagen hatten liegen lassen, Gestapospitzel, die ihre vertrauensseligen Opfer dann umgehend beim deutschen Zoll ablieferten. Noch schlimmer: Bei den Bittenden handelte es sich immer wieder auch um Schicksalsgenossen, die ihre Wertsachen oder Geld aus Deutschland schaffen wollten, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. »Die Wege nach Dachau und Buchenwald«, hatte es Heini Wolf formuliert, »sind mit gefälligen Trotteln gepflastert, denen man etwas zugesteckt hat, ehe sie dazu kamen, Nein zu sagen. Beim alten Weißkopf war es ein Buch, das er gegen einen Botenlohn von dreihundert Mark nach Prag schaffen sollte, weil der ursprüngliche Besitzer im letzten Moment zu seiner tödlich erkrankten Mutter gerufen worden war, seine geschäftlichen Verpflichtungen aber einhalten wollte. Für eine solche Berufsauffassung hat doch gerade ein ehemaliger deutscher Richter Verständnis. Leider handelte es sich bei der Lektüre um eine Erstausgabe von Schiller, und so etwas ist bekanntlich eine Antiquität und muss an der Grenze eigens als solche deklariert werden.« Greschek wusste, dass Weißkopf nie nach Prag gekommen und in Nürnberg schon in der Untersuchungshaft gestorben war. Er brauchte keine Minute Bedenkzeit. »Der Speisewagen«, knurrte er mit der üblen Laune des geborenen Misanthropen, als der er in ganz Leobschütz berüchtigt war, »hat zu. Haben Sie keine Augen im Kopf? Sie müssen doch in München gesehen haben, dass alles dunkel ist. Sie sind doch in München zugestiegen. Oder nicht?«

Trotz aller Überlegungen, die ihn bedrängten, litt Walter mit dem Mann, der immer noch verkrampft vor ihm stand und der probierte, sich nicht von Grescheks einschüchterndem Ton vorzeitig zum Rückzug drängen zu lassen. Wie ein Ertrinkender einen Rettungsgürtel umklammerte der Hilfesuchende seine Aktentasche. Er lächelte gar, doch zu kurz; er hatte weder die Zeit noch die Kraft, seinem Lächeln zu vertrauen. Sein Mund war eine schmale Linie. Die Nasenflügel bebten.

Die Situation war typisch für das Jahr 1938. Walter begriff für alle Zeiten, dass er mehr verloren hatte als seinen Beruf, seine Heimat und seine Ehre. Es war ein Moment, über den er nie hinwegkam. Fünfzig Kilometer vor der Grenze wurde ihm endgültig klar, dass es nicht die großen Schläge des Schicksals waren, die einem Mann verkündeten, was ihm die Stunde geschlagen hatte. Den Alltag mit einem unerschöpflichen Vorrat an Gemeinheiten und Diffamierungen zu spicken war die wirksamste Waffe der Nazis. Schon mit ihrem ersten Schlag hatten sie den deutschen Juden klargemacht, dass sie Ausgestoßene und vogelfrei waren. Vorbei für immer war ab dem 30. Januar 1933 die Illusion vom gleichberechtigten deutschen Bürger jüdischen Glaubens, der im Krieg für seinen Kaiser gekämpft hatte und für alle Zeiten gewiss war, dass das geliebte Vaterland ihm seinen Einsatz danken würde. Spätestens im Jahr 1938 musste allen Juden bewusst sein, dass sie für die Nazis keine Menschen waren.

Als er die Hoffnung verloren gab, eines Tages wenigstens mit gesunden Sinnen und reparabler Seele diesem Albtraum zu entkommen, schaute Walter in die Augen eines Mannes, der ebenso mutlos war wie er selbst. Erschöpft suchte der, der eine Bitte abzuschlagen hatte, nach einer Antwort, die ihn selbst nicht gefährden und den Bittenden nicht demütigen würde. »Niemanden fürchten, keinen verletzen« war das Motto seiner Breslauer Studentenverbindung gewesen. Was war aus dem Ideal geworden? Eine Phrase. Ab damit in die Mottenkiste zu den Mänteln, Lackschuhen und Wollschals und zu all den Erinnerungen, die nur Ballast für eine Afrikareise waren. Verlegen fixierte Walter den bayerischen Hut. Die Situation erschien ihm ebenso absurd und unwirklich wie seiner unwürdig. Sein Lächeln, als tröstende Verbindlichkeit gedacht, entglitt zu einem Grinsen. »Nebbich«, sagte er leise.

Es wurde ihm schwer, sich nicht an die Stirn zu schlagen wie einer, der an seinem Verstand zweifelt. Der sprachbewusste Doktor Walter Redlich, Absolvent eines humanistischen Gymnasiums, seit seinem zehnten Lebensjahr stolz auf seine deutsche Kultur und seine deutsche Erziehung, hatte sein Lebtag keinen jüdischen Ausdruck in

Gegenwart von Nichtjuden gebraucht. »Nebbich« war nicht für die Öffentlichkeit gedacht und schon gar nicht mehr im Nazideutschland. Das gepfefferte, pfiffige, geniale und unverzichtbare Wort aus dem Jiddischen existierte für Walter lediglich, wenn er mit seinen jüdischen Freunden sprach, mit Verwandten und Vertrauten und Eingeweihten. »Nebbich« war ein Lebensbegleiter gewesen, von der Mutter oft gebraucht, ebenso von Vater und Schwester, von Freunden und den Kommilitonen und auffallend oft in den letzten Jahren, da der Strick um den Hals immer sichtbarer wurde. Das variable Wort eignete sich für jede Gelegenheit. Es vermochte, echtes Bedauern auszudrücken oder trotzigen Widerspruch, es war ironisch, deftig und zärtlich, und es führte auf direktem Weg zur Pointe einer Geschichte.

»Nebbich«, in einem Zug der Deutschen Reichsbahn geflüstert, war in diesem verzwickten Ausnahmefall der Auftakt und der Epilog eines Selbstgesprächs. In einem unbedachten Moment war Walter Opfer seines ehemaligen Berufs geworden: Ein Jurist hatte sich kurz, präzise und eindeutig auszudrücken. Deswegen hatte Walter den Mann, der versuchte, arglosen Leuten seine Aktentasche unterzuschieben, in Gegenwart eines Zeugen wissen lassen, dass er ihn für einen unglaublichen, erbarmungswürdigen Trottel hielt - und für einen Bruder in der Not. Mit dem litt er wie mit einem Bruder vom gleichen Blut. Ein geeigneteres Wort als das eine, das jeder Jude kennt, gleichgültig ob für ihn Jiddisch eine Weltsprache ist oder nur noch eine Reminiszenz an untergegangene Zeiten, hätte Walter nicht finden können. Auch der Mann aus Thüringen, der mit einem »Grüß Gott« und einem bayerischen Wams aus Deutschland zu entkommen hoffte und der nicht zögerte, einen Schicksalsgenossen in Lebensgefahr zu bringen, kannte das Wort »Nebbich«, denn er war ein Jude. Ohne ein Wort zu sagen, verließ er das Abteil, den Rücken gebeugt, den Kopf gesenkt. Wie es ihm seine Frau zwei Wochen lang Tag für Tag eingebläut hatte, hielt er die Aktentasche fest unter den Arm geklemmt.

»Ich kann gar nicht so viel kotzen, wie mir schlecht ist«, sagte Walter.

»Besser, Ihnen ist jetzt schlecht, Herr Doktor, als an der Grenze, wenn Sie eine Tasche aufmachen müssen, und da sind irgendwelche seltenen Münzen drin oder Briefmarken oder sonst so ein verfluchter Dreck, der Ihnen das Genick gebrochen hätte, weil Sie zu gutmütig sind«, sagte Greschek. »Wenn ich in diesem Leben noch einmal in eine Kirche gehe, werde ich für Herrn Wolf eine Kerze anzünden.«

»Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, mein lieber Greschek, dass er das brauchen wird. Und wenn Sie schon dabei sind, beten Sie auch für mich und die Meinen. Ich fühle mich sicherer, wenn ein Aufrechter in meinem Namen beim lieben Gott vorstellig wird.«

»Für Sie bete ich sowieso, Herr Doktor. Dazu brauch’ ich nicht in die Kirche zu gehen. Was war das eigentlich für ein Wort, das Sie da gesagt haben, ehe der Mistkerl verduftet ist? So schnell wie ’ne angestochene Sau.«

»Das erkläre ich Ihnen, wenn wir über der Grenze sind. S.G.W.«

»Und was heißt das?«

»So Gott will.«

Seit dem Tag, an dem er das Billett für die »Ussukuma« abgeholt hatte, hatte Walter versucht, sich den Abschied von Deutschland vorzustellen. Was geschah mit einem, der keine Rückfahrkarte nach Hause hatte, an der Grenze? Wurde er stumm? Flehte er um Beistand, oder betete er um Mut? Oder wenigstens um Haltung? Konnte ein Mensch, der noch nicht einmal mehr an sich glaubte, überhaupt noch beten? Vielleicht zerriss sein Herz wie in den sentimentalen Küchenliedern, die die Dienstmädchen im Hof von »Redlichs Hotel« sangen, wenn sie die Gänse rupften oder Erbsen pulten. Am Ende erstarrte ein Mann in seiner Abschiedsstunde zur Salzsäule wie Frau Loth. Auch sie hatte einst Gott mit der Gnade der Gefühllosigkeit beschenkt. Oder wurde der Scheidende einfältig und übermütig und sang, die Aktentasche mit den Papieren fest unter den Arm geklemmt, »Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus«, und wurde er dann noch an Ort und Stelle wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet?

»Wir sollten jetzt an nichts mehr denken«, erkannte Walter, »ich hab mal gehört, das hilft am besten.«

»Gegen was?«, fragte Greschek.

»Keine Ahnung. Vielleicht gegen Angst. Oder Heimweh und Wut. Oder wenigstens gegen Bauchschmerzen. Ich hab’ das Gefühl, mein Kopf ist aus Gummi. Geht denn der Tag nie zu Ende?«

»Er hat ja eben erst begonnen.«

Um ein Uhr fünfundzwanzig hielt der Zug. Weil er erst zehn Minuten später an der deutsch-österreichischen Grenze fällig war, nahmen die meisten Fahrgäste an, es handele sich, wie schon vielfach zuvor, um einen Halt auf freier Strecke. Ein paar Sekunden lang war kein Laut zu hören, in der mondlosen Nacht weder der Himmel noch die Erde zu sehen, keine Menschen und auch nicht die

Gebäude vom Zoll. Dann bellten Hunde, und gleichzeitig gingen Lichter an - grell und bedrohlich für die, die Geiseln ihrer Ängste waren. In den Gängen der Waggons und auch im Freien erschallten Rufe und Kommandos. Eine Stimme, ursprünglich wohl liebenswürdig bayerisch eingefärbt, nun preußisch stramm, befahl: »Alle Reisenden haben den Zug auf der Stelle zu verlassen und vor dem Waggon Aufstellung zu nehmen. Pässe und Reiseunterlagen sowie sämtliche Gepäckstücke sind mitzuführen. Zuwiderhandlungen werden sofortigst geahndet.«

»Es gibt keine Steigerung von sofort«, murmelte Walter. »Wenn du nicht beizeiten lernst, dich auf das Wesentliche zu konzentrieren, musst du dir eine reiche Frau suchen, die dich ernährt«, schimpfte seine Mutter.

Jettel war keine reiche Frau, sie konnte noch keine Fliege ernähren. Sie war das mittlere Kind eines ursprünglich wohlhabenden Tuchhändlers, der seine Frau und die drei Töchter so verwöhnt hatte, dass er ihnen bei seinem frühen Tod nur Schulden hinterlassen konnte. Jettels Aussteuer hatte aus wunderbarer Bettwäsche, dem Tafelsilber ihrer Großmutter, ihrem kapriziösen Charme und einer Riesenportion Chuzpe bestanden. Weshalb in drei Teufels Namen hatte sie sich ausgerechnet an Walters letztem Tag in Breslau die sündhaft teure Kappe kaufen müssen? Und wozu die albernen weißen Gamaschenhosen für Regina? »Wir schaffen es, Jettel«, flüsterte Walter. Verlegen schaute er Greschek an.

»Vergessen Sie Frau Inas Korb nicht«, mahnte der Taktvolle, »die Henker saufen uns sonst unseren ganzen Schnaps weg.«

»Wenn’s nur das ist, brauchen wir für den Rest der Reise keinen Tropfen mehr.«

Auf einen einzigen Blick ließ sich an den verschlossenen Gesichtern und unsicheren Bewegungen der Wartenden erkennen, dass zu Beginn des Jahres 1938 fast ausschließlich Emigranten in Richtung Süden unterwegs waren. Ein junger Polizist, noch von Pubertätspickeln markiert, dirigierte fuchtelnd die eingeschüchterten Wartenden von den Waggons zu zwei niedrigen Zollhäusern. Von deren flachen Dächern hingen lange Eiszapfen, die nachts wie durchsichtige Messer wirkten. Wie scharf mochten die Klingen sein? Die Lokomotive schnaufte noch. Als dürfte sie weiter, wann immer es ihr beliebte! Gemessen am langen Zug, war die Schlange kurz. Es gab viel mehr Männer als Frauen und nur einige Kinder. Sie alle, obgleich aus dem Schlaf gerissen und frierend, warteten schweigend. Zwei Säuglinge verschliefen in den Armen ihrer Mütter den Rauswurf aus ihrer Heimat.

Walter kam der Gedanke, dass sich seit dem Auszug der Kinder Israels aus Ägypten nicht viel verändert hatte. Er und Greschek waren die Letzten in der Reihe; sie konnten nicht genau ausmachen, was am Kopf der Schlange geschah. Jedoch hörten sie Befehle und regelmäßig auch Flüche, die sie allerdings nur nach der Tonlage deuten konnten - die Entfernung zwischen Bayern und Schlesien ließ sich schon nicht mehr nach Kilometern bemessen. Die Stimmen der Herrschenden klangen meistens gedämpfter als befürchtet - im Gegensatz zu dem heftigen Gebell, das entweder auf eine größere Anzahl von Hunden oder auf einen besonders aktiven deutschen Polizeihund hindeutete. Zum ersten Mal seit Breslau war Walter froh, dass Regina nicht bei ihm war. Seine Tochter hatte eine Urangst vor Hunden. Sie schrie gellend und klammerte sich jammernd an ihre Eltern, sobald auch nur ein Rehpinscher auftauchte. Seltsam, dass das ihren Vater immer so verärgert hatte. Was spielte es denn noch für eine Rolle, ob ein Mensch tapfer oder nur ein ganz gewöhnlicher Angsthase war? Kolumbus hatte noch Mut gebraucht. Seit seiner Abfahrt aus Genua hatten sich die Wertmaßstäbe jedoch verschoben. Es kam nur noch auf einen einwandfreien Stammbaum und die richtige Konfession an. Und auf die Erkenntnis, dass man überall auf der Welt sicherer war als im eigenen Vaterland. Ungefähr zehn Minuten bewegte sich die Schlange um keinen Zentimeter. Die Kindergesichter waren nicht mehr vom Schlaf gerötet, sondern grün und spitz. Der pickelige Polizist machte den Eindruck, als wäre er in eine Statue verwandelt worden, doch kehrte er mit der Kraft der neuen Auserwählten ins Leben zurück. Er nannte eine alte Frau eine Schlampe und ein zehnjähriges Mädchen einen Judenbastard. Das Kind hatte sich die Hände warm reiben wollen und bekam von der Mutter einen Knuff in den Rücken. Es gab, nun waren sie aufgereiht und also zu zählen, vier Polizeihunde; alle waren heiser geworden und bellten nur noch gelegentlich. »Dalli«, kreischte der Polizist. Er wiederholte das Wort, das einige beim ersten Mal überhaupt nicht verstanden hatten, mehrere Male, jedes Mal wütender. Die Beladenen, die lautlos um den Segen beteten, in das Paradies Österreich einreisen zu dürfen, wurden auf die zwei Zollhäuschen verteilt, ein Greis ermahnt, er solle sich in Acht nehmen, nicht ein zweites Mal auf deutschem Boden zu stolpern.

Heini Wolf hatte von mehrstündigen Grenzaufenthalten und entsprechend demütigenden Erfahrungen der Emigranten berichtet, doch bereits nach einer knappen halben Stunde waren Greschek und Walter die Einzigen, die noch abgefertigt werden mussten. Sie wurden in einen Raum mit einem beschlagenen Fenster befohlen. Ein schwarz gerahmtes Hitlerbild hing in der Ecke der Mittelwand, daneben war ein aus rötlichem Holz geschnitztes Kreuz. Der helle Fleck neben der Landkarte des Deutschen Reiches auf der gegenüberliegenden Wand war letzte Erinnerung an ein Bild vom bayerischen König Ludwig III. Der Raum war seit 1918 nicht mehr gestrichen worden.

Ein kleiner untersetzter Mann mit grauhaarigem Stoppelhaar, der trotz des Größenunterschieds Greschek ein wenig ähnlich sah, saß hinter einem abgenutzten Schreibtisch. Seiner war der einzige Stuhl in der düsteren Amtsstube. Zu seiner Linken stand ein halb volles Glas Wasser, daneben lagen eine Schachtel mit Pillen und eine Brille mit auffallend dicken Gläsern. Der Beamte mit dem gelblichen Teint eines Leberkranken sah aus, als hätte er das Pensionsalter schon vor Jahren erreicht. Die vielen Papiere zu seiner Rechten waren akkurat aufeinandergestapelt. In Abständen entnahm er dem Berg ein Dokument und stöhnte. Er stempelte es ab, ohne es zu lesen, wobei er den Stempel vor jedem Arbeitsgang anhauchte und fest in das Farbkissen drückte. Dieser mechanische Vorgang hatte augenscheinlich eine einschläfernde Wirkung, denn er gähnte in immer kürzer werdenden Abständen. Seine Augen befreite er mit den Armen von ihren Tränen, abwechselnd mit dem linken und dem rechten Ärmel. Erst als er den Stempel und das zugeklappte Kissen zu einem Brieföffner und einer Büroschere gelegt hatte, schaute der Diensttuende hoch.

Es gab kaum einen Zweifel, dass er sämtliche Reisende abgefertigt und sich allein im Raum gewähnt hatte. Walter und Greschek hatte er noch nicht einmal kommen gehört. Der Mann presste einen Laut durch die Zähne, der Überraschung signalisierte. Die nächtlichen Bittsteller starrte er mit dem indignierten Ausdruck eines Schwerbeschäftigten an, der rücksichtslos aus seiner Arbeit herausgerissen wird. Die beiden Proviantkörbe wurden mit je einem Stirnrunzeln bedacht. Ächzend machte er das Stempelkissen wieder auf, wobei er ein kurzes, für Menschen aus Oberschlesien absolut unverständliches Wort murmelte. Dem Gesichtsausdruck gemäß mutmaßte Walter eine Verwünschung. Der Missgelaunte ließ sich die Personalpapiere zeigen, danach die Fahrkarten. Nach einer Weile fragte er, obgleich er gerade das gelesen haben musste, nach dem letzten Wohnsitz. »Innegehabtem, hab’ ich gesagt!«, ermahnte er.

»Breslau«, antwortete Walter.

»Leobschütz«, sagte Greschek widerwillig. Er schob seinen Bauch nach vorn.

»Sieh mal einer an. Hier steht aber, dass ihr beide in Leobschütz gewohnt habt. Ihr müsst schon früher aufstehen, wenn ihr mich für dumm verkaufen wollt.«

Am meisten machte Walter die Duzform unsicher. Ob das »ihr« in Süddeutschland eine angedeutete Freundlichkeit oder aus dem Mund eines Beamten eine verstärkte Form der Bedrohung Abhängiger war? »Ich habe die letzten sechs Monate in Breslau bei meiner Schwiegermutter gewohnt. Davor war ich in Leobschütz gemeldet«, erläuterte er. Das Sprechen fiel ihm schwer. Er kam sich vor wie die Polizeihunde, die sich heiser gebellt hatten.

»Und jetzt langt das Geld für keine Rückfahrkarte nicht?« Aus würgender Angst wurde eine Panik, die Kopf und Körper zu spalten drohte. Walter spürte einen dumpfen Schmerz im Knie. Er konnte die Hände nicht ruhig halten. Auf eine geradezu absurde Art drängte es ihn, seine Rechte in die Manteltasche zu bohren und Jettels Kastanie aus Leobschütz abzureiben - sie steckte ihm jeden Herbst eine Kastanie von der Promenade in die Manteltasche, weil ihre Mutter auf die Heilkraft von Kastanien bei Rheuma und Melancholie schwor. Ob die doppelte Verneinung, ebenso wie der vertrauliche Plural in der Anrede, tatsächlich nur eine typisch bayerische Sprach-färbung war? Oder doch eine der üblichen Fallen, um ein Vergehen zu konstruieren, das imstande war, einem Emigranten das Genick zu brechen? Ein deutscher Beamter, der an der Grenze zwischen Deutschland und Österreich eingesetzt war, wusste ganz genau, was es bedeutete, wenn ein Italienreisender keine Rückfahrkarte vorweisen konnte. Ebenso klar hätte es allerdings einem geschulten Juristenverstand sein müssen, dass grammatikalische Finessen lediglich dazu taugten, Menschen mit höherer Schulbildung das Fürchten zu lehren.

Der Mann in Uniform war erschöpft. Vom Leben und den Störungen der Galle. Er dachte an seinen Ofen, an seinen Hund und an seine Frau. Mit dem Groll der im Leben zu kurz Gekommenen machte er sich klar, dass er es seit fünf Jahren vorwiegend mit verängstigten Leuten zu tun hatte. Richtige Kreaturen waren das. Die zitterten ja bereits wie Espenlaub, wenn sie nach ihrem Namen befragt wurden. Auf die Dauer nahm so etwas dem stärksten Kerl die Kraft, und in den ersten Stunden eines anbrechenden Tages war dieser ausgelaugte

Mann kein bisschen geneigt, Fallen zu stellen, die seinerseits selbstständige Entscheidungen erforderten und die grundsätzlich zu Überstunden führten. Das landestypische »ihr« pflegte er mechanisch zu verwenden und immer dann, wenn er zwei Leute gleichzeitig anzureden beabsichtigte. Er wusste sehr wohl, dass Reisende, die ihr gesamtes Vermögen dafür gegeben hätten, zu Hause bleiben zu dürfen, im Januar 1938 keine Rückfahrkarten besaßen.

»Keine Rückfahrkarte?«, fragte er trotzdem. Die Frage gehörte zu seinem Repertoire wie der morgendliche Spaziergang mit dem Rauhaardackel. Eine dienstübliche Frage war nie fehl am Platz. Sie war klärend und ließ sich von jedermann ordentlich beantworten. Selbst von den Preußen und Deppen. Normfragen eigneten sich optimal für Nächte, in denen die Erfordernisse des Dienstes nicht dem eigenen Befinden entsprachen.

Der leberkranke Herrscher der Zollstation an der Grenze zu Österreich hatte innerhalb von nur fünfzig Minuten zwanzig Auswanderer abgefertigt und fünf davon in die Heimat zurückexpediert, die sie nicht mehr haben wollte. Die Nacht vom 8. auf den 9. Januar war ihm noch länger geworden als sonst seine Arbeitszeit. Wegen seiner Leibschmerzen hatte er eine doppelte Dosis Tabletten geschluckt, in der kurzen Erholungsphase aber auch eine doppelte Portion Semmelknödel mit Bauchfleisch und Kraut gegessen. Nun hatte er einen tiefen Widerwillen gegen Essen und Menschen, wobei der Ekel vor Menschen unabhängig von deren Konfession, Wohnort und Reiseziel war. Zehn Minuten vor Dienstschluss war selbst von einem deutschen Beamten nicht zu verlangen, dass er sich, wenn er nicht einen handfesten Verdacht hatte, eingehend mit der Frage beschäftigte, weshalb von zwei Männern, die zweifellos zusammen reisten und ein gemeinsames Ziel hatten, der eine die übliche Rückfahrkarte hatte und der andere nicht.

»So, so«, brummelte der Diensthabende. Er sagte dies, weil er der Meinung war, die beiden Worte würden ihn nach jeder Richtung hin absichern, falls sich unerwartet ein Vorgesetzter zeigte. Und dann sagte er, weil er zu sehr vom Leben gebeutelt war, um sich in diesem Zustand genau zu überlegen, was er sagen durfte und was besser nicht: »Habt’s Schwein gehabt, ihr beiden. Beeilt euch, der Zug wartet nicht auf niemand. Schon gar nicht auf die Vögel aus dem Osten.« Mit dem von der Stempelfarbe lila markierten rechten Beamtendaumen zeigte er auf die offen stehende Tür.

Obwohl Walter sich ausschließlich darauf konzentrieren wollte, Gott dafür zu danken, dass er sein Vaterland als freier Mann verlassen durfte, schaute er beim Hinausgehen in den Nebenraum. Dort gab es außer einem Schreibtisch und einem Stuhl für den Diensthabenden, der mit geschlossenen Augen eine dicke Schwarzbrotschnitte attackierte, sogar zwei weitere Stühle. Der eine war leer, auf dem zweiten lagen ein moosgrüner Hut und eine Aktentasche. Walter erkannte den Hut noch vor der Aktentasche. Schon als Junge war er weiß und nicht rot geworden, wenn er sich schämte.

»Ist Ihnen schlecht?«, fragte Greschek beim Einsteigen in den Zug. »Sie sind ja schneeweiß im Gesicht.«

»Wo soll ich denn sonst schneeweiß sein, wenn nicht im Gesicht? Mir ist nicht schlecht, Greschek. Mir ist kotzübel. Haben Sie nicht die Aktentasche und den Hut gesehen?« »Sie müssen aufhören, sich Gedanken zu machen, die Sie nichts angehen, Herr Doktor. Sonst stehen Sie das alles nicht durch. Es ist keine Sünde, zuerst an den eigenen Kopf zu denken. Es ist Ihre Pflicht. Sie haben Familie. Fragen Sie Ihren Pfarrer.«

»Ach, Greschek, wenn ich bloß Ihren Kopf hätte, da wäre mir wohler. Meiner taugt nur zu den Dingen, die mir nichts mehr nützen. Beispielsweise um Ihnen zu erklären, dass Juden keinen Pfarrer haben.«

Als Walter das sagte und dabei an den katholischen Pfarrer in Leobschütz dachte, der im Schutz der Dunkelheit zu ihm gekommen war, um sich von ihm zu verabschieden, glaubte er zu weinen. Seine Augen waren aber trocken. Die Polizeihunde wurden hinter das Haus geführt. In der weißlichen Beleuchtung sahen sie aus wie weiße Lämmer. Der Zug fuhr an. Die Fenster wurden hochgezogen, die an der Grenze grell erleuchteten Gänge abgedunkelt. Das Leben bewegte sich wieder.

Die Glieder wurden wieder warm und auch der Atem. Die »Berliner Illustrirte Zeitung« lag immer noch zusammengefaltet auf dem kleinen Tisch. Auf Seite zwei wurde über das nationalsozialistische Erziehungsideal »Glaube und Schönheit« referiert. Illustriert war der Beitrag mit einem Bild von fahnenschwenkenden Schuljungen im Stahlhelm, die durch Chemnitz marschierten. »Heute meint es der liebe Gott besonders gut mit uns«, sagte Walter. »Was ich doch alles versäumt hätte, wenn uns einer die Zeitung geklaut hätte.«

Aus der Innentasche seiner Jacke holte er einen silbernen Reisebecher, ein Geschenk von Ina zu seinem einunddreißigsten Geburtstag. Der Becher, in einem Etui aus hellem Kalbsleder, bestand aus vier Einzelteilen, die sich nach Gebrauch platzsparend zusammenschieben ließen. Das praktische Trinkgefäß, ein Erbstück, stammte aus der Zeit, als vorwiegend die besitzende Klasse zu reisen beliebte. Walter füllte den Becher, der mehr in der Welt herumgekommen war als sein gegenwärtiger Besitzer, mit Inas Weinbrand. Abwechselnd tranken Greschek und er einander zu. Sie genossen die Erlösung wie Menschen, die in letzter Minute aus Bergnot gerettet werden. »Es war«, schrieb Walter eine Woche später an seinen Vater, »eine Pointe, die gut zum Enkelsohn eines Destillateurs passt, dass mein letztes Wort auf vaterländischem Boden Prost war.«

Von Österreich sah er nur die Lichter in den Bahnhöfen. Wenn der Zug hielt, hörte er Rufe und Gesprächsfetzen, die ihn auf eine sehr angenehme Art willenlos machten. Er wähnte, die Laute in dem menschenfreundlichen Land zwischen Wachen und Schlafen wären die akustische Untermalung eines Traums, in dem die Wolken zu einem Farbbrei zerrannen und es weder einen Boden noch Mauern gab. Zu den Versäumnissen auf dem Weg in sein neues Leben würde Walter jedoch noch monatelang den Umstand beklagen, dass er selbst den viertelstündigen Aufenthalt in Wörgl verschlief. Dort hatte er einen großen Coup geplant. Bereits beim Studium des Fahrplans in Breslau hatte er sich vorgenommen, in Wörgl ein Päckchen Dames-Zigaretten zu kaufen und sie Jettel feierlich zu überreichen, wenn er sie in Mombasa vom Schiff abholte.

Jettel rauchte höchstens drei Mal im Jahr, immer nur in Gesellschaft und wenn sie in Hochstimmung war. Für die schlanken österreichischen Dames-Zigaretten mit dem langen Mundstück schwärmte sie. »Das gibt einer Frau einen richtigen Hautgout«, hatte sie ausgerechnet den Geburtstagsgästen von Professor Wohlmann in Ratibor erklärt. Der Gastgeber, der in der Fachwelt für seine Forschungen über die Entwicklung der Volkssprache seit der Aufklärung bekannt war, verdoppelte danach das Tempo seiner Komplimente für Jettel, doch der Klatsch startete seine Runde, ehe sie und Walter den Zug nach Leob-schütz erreichten.

»Jettel, um Himmels willen nimm in Zukunft keine Fremdwörter in deinen zarten Mund. Hautgout ist die Bezeichnung für einen ziemlich verstunkenen Rehbraten.«

»Als ob du wüsstest, wie ein Rehbraten zu riechen hat. Ich hab’ in >Redlichs Hotel< in meinem ganzen Leben noch kein Wild auf der Speisekarte gesehen.«

»Wir geben eben gut Acht, dass wir keine Böcke schießen.«

Der Dialog auf der Heimfahrt hatte zu einem Ehekrach von zwei Tagen und einem gelben Seidenschal mit blauen Blumen als Versöhnungsgeschenk für Jettel geführt. Der Streit fiel Walter ein, als der Zug am Brenner stand. Zum Glück entschlüpfte seinem Gedächtnis rechtzeitig genug jener Teil der Geschichte, der seinen Körper beunruhigt hätte. Eine Frau mit einem kleinen Mädchen klopfte energisch an die Tür vom Abteil, und ehe Gre-schek dazu kam, eine abwehrende Bewegung zu machen oder hustend eine ansteckende Krankheit anzudeuten, setzte sie sich, einen Korb mit Weinflaschen zwischen ihren Beinen.

Ihre stämmige Tochter hatte lange haselnussbraune Zöpfe und den Apfelteint von Bauernkindern. Sie mochte in Reginas Alter sein und schien ebenso schüchtern. Der jungen Mutter schmeichelte es, dass der feine Herr, der selbst morgens um halb vier mit akkurat gebundener Krawatte und frisch gekämmtem Haar in der Eisenbahn saß, ihr zulächelte. Sie erwiderte seine Freundlichkeit. Walter bestaunte die kobaltblaue Schürze mit den aufgestickten Alpenrosen auf dem Latz, die über einen dunkelgrünen Trägerrock gebunden war. Noch mehr bewunderte er den dicken blonden Zopfkranz um ihren Kopf.

Die Haarpracht, die hellblauen Augen und vor allem der wogende Busen erinnerten ihn an die Dienstmädchen seiner Großmutter. An ein besonderes, die Josefa. Für einen erwärmenden Moment, der diesmal gerade seinen Körper nicht verschonte, vergaß er Zweck und Ziel seiner Reise. Seine neue Reisegenossin wurde außer von ihrer Tochter, die auffallend ruhig war, auch von einem auffallend unruhigen Huhn begleitet.

Die kräftige Anführerin des ungleichen Trios machte einige gutturale Laute und legte ihre fleischigen Hände um den Hals des gackernden Huhns. Es wurde auf der Stelle still. Walter schloss entsetzt die Augen. Es verstörte ihn sehr, dass der Mensch - und dazu noch eine Frau -es vermochte, die Kreatur so schnell und so lautlos zu morden. Es war seinem Gerechtigkeitssinn zuwider, dass es einem Huhn verwehrt wurde, in seiner Muttersprache gegen eine Fahrt in der Eisenbahn zu protestieren. Als Walter, noch immer von der totalen Stille verunsichert, die Augen wieder aufmachte, schlief Greschek mit offenem Mund, das kleine Mädchen nuckelte an seinem Daumen, und das Huhn lag, augenscheinlich zufrieden, in der Armbeuge der Frau. Die entdeckte ein Männerinteresse in Walters Augen, von dem sie seit der Geburt ihres vierten Kindes vergessen hatte, dass es überhaupt existierte. Die Animierte sagte einige Worte. Walter verstand kein einziges. Er schüttelte den Kopf und machte eine Bewegung mit den Händen, die ihn unangenehm an den Dorftrottel von Sohrau erinnerte, der sich immer die Ohren zugehalten hatte, wenn er nichts verstand.

Es dauerte mindestens zwei Minuten, ehe sich Walter erinnerte, dass seit dem Versailler Vertrag Südtirol nicht mehr zu Österreich gehörte und dass Italien seitdem bereits am Brenner begann. Walter hatte das immer bedauert und bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Verlust einer alten Kultur und Volkstradition beklagt. Seine Verlegenheit steigerte sich. Um der liebenswürdigen Hühnerbezwingerin wenigstens im Ansatz zu signalisieren, dass er nicht Italienisch sprach, forschte er in seinem Gedächtnis nach entsprechenden Lateinvokabeln, von denen er annahm, auch Italiener würden sie verstehen. Allerdings erkannte er rasch, dass Oberstudienrat Gla-disch seine Schüler in keiner Beziehung auf die Erfordernisse einer Emigration vorbereitet hatte. Nachts um vier und nach durchgestandenen Ängsten, von denen er fand, sie hätten gereicht, um ganzen Kohorten römischer Legionäre den Kampfesmut zu nehmen, konnte sich der ehemalige Schüler der Fürstenschule zu Pless nur noch an Caesar und seine gallischen Kriege erinnern. Der Gedanke an das Schloss in Pless, an die schöne Burg und an ein Mädchen namens Rosemarie, das sich dort nicht von ihm hatte küssen lassen, brachte Walter zur Räson. Er rieb seine Stirn trocken. Eine Weile überlegte er, weshalb seine Eltern ihn in Pless zur Schule geschickt hatten, und ob er dort überhaupt irgendetwas für das Leben gelernt hatte.

»Sie hat Sie gefragt, wo Sie hinfahren«, grunzte Greschek aus der Höhle seines Mantels.

»Seit wann sprechen Sie denn Italienisch?«

»Sie spricht Deutsch, und es ist gar nicht so schwer zu verstehen, wenn man genau hinhört. Mein Vater hatte mal einen Knecht aus dieser Gegend. War ein hochanständiger Bursche, der Toni. Der konnte ein ganzes Kalb auf seinem Buckel tragen.«

»Ach, Greschek, auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, wenn Sie statt meiner auswandern müssten, wäre mir um Sie nicht bange.«

»Wenn ich könnte, würde ich Ihnen das auch abnehmen, Herr Doktor. Sie werden es nicht leicht haben. Ich hab oft festgestellt, dass die feinen und gebildeten Leute sich nicht für schlechte Tage eignen. Versuchen Sie doch, ein bisschen zu schlafen. Mein Vater hat uns Kindern immer erzählt, wenn er beim Militär nicht überall und bei jeder Gelegenheit hätte schlafen können, dann hätte er das Ganze nicht lebend überstanden.«

»Komisch, genau das Gleiche sagt mein Vater.«

»Da können Sie mal sehen. Es ging den Offizieren wie den Leuten.«

Für Walter gab es keinen Schlaf mehr. War es das berauschende, so lange herbeigesehnte Gefühl der Befreiung, das ihn wach hielt? Wer die Angst, den Druck und die Demütigung hinter sich wusste, brauchte keinen Schlaf mehr. Doch die Trauer, dass er sein Deutschland nicht mehr wieder sehen würde, kehrte zurück - wie ein verlässlicher Freund, wie ein treuer Hund, wie der Mühlstein, den der Beladene um den Hals trägt.

Es war eine Nacht mit Sternen. Sie funkelten so intensiv, als hätten die himmlischen Scharen beschlossen, dass auf Erden nur noch das Schöne und Gute geschehen dürfte. Der Zug drängte immer schneller in den Süden. Von den

Schienen hörte der Davongekommene die verheißungsvolle Botschaft von Aufbruch und Neubeginn. Für den Moment der Gnade, da sich seine Seele betrügen ließ, schwor Walter, künftig mit dem alten Kinderglauben Gott zu vertrauen und nie mehr dem Kleinmut des Zweiflers nachzugeben. Als die Dunkelheit lichter wurde und sich am Himmel ein hellgrauer Strahl von Tageshoffnung abzeichnete, grübelte er indes schon wieder, ob er im Zorn oder in Trauer an Deutschland dachte. Er ahnte nicht, dass er sich nie würde entscheiden können.

Er nahm sich vor, in Genua eine Karte an Regina zu schreiben. »Dein Papa hat im Zug mit einem Huhn geschlafen, und es hat ihm ein goldenes Ei gelegt und ein ganz großes Geheimnis verraten«, formulierte er. Ehe der geschätzte Erzähler von Gutenachtgeschichten aber dazu kam, seine Phantasie zu belobigen, musste sie aus dem Tagesprogramm gestrichen werden. Walter fiel ein, dass jedes Stück Post aus dem Ausland wahrscheinlich von den Nazis gelesen wurde, Postkarten ganz bestimmt. Man konnte nicht darauf bauen, dass ein goldenes Ei als Teil des deutschen Märchenschatzes gewertet werden würde. Auf einer Ansichtskarte, die ein vaterlandsloser Geselle aus dem Ausland an sein Kind schrieb, galt so ein Ei wahrscheinlich als versteckter Hinweis auf geschmuggelte Wertsachen. Walters Seufzer, obwohl passend leise, weckte sowohl Greschek als auch das Huhn.

In Franzensfeste blickte eine imposante Burganlage mit einem runden Turm auf das Tal hernieder. Die Schönheit der Landschaft, die Ahnung von den fruchtbaren Feldern im Sommer und die Vorstellung von weidenden Kühen stimmten Walter traurig. Er fragte sich, weshalb er sich nicht in überschaubaren Zeiten darum bemüht hatte, die

Welt kennenzulernen. Eine Reise von mehr als acht Tagen Dauer war ihm stets als ein Luxus erschienen, der ihm nicht zukam. Wahrscheinlich hatte Jettel recht, wenn sie ihn als kleinstädtischen Spießer beschimpfte. Mit dem Gedanken, dass es einem Emigranten verwehrt war, Versäumtes nachzuholen, schickte er den vier Linden einen wehmütigen Gruß, die im Frühling vor »Redlichs Hotel« so herrlich blühten, dass Spaziergänger stehen blieben, um sich an ihnen zu erfreuen. Dazu aß er ein Brot, dick bestrichen mit Inas Leberhäckerle. Zum ersten Mal schwante ihm, dass es vor allem die Geschmacksnerven sind, die einem Menschen zeitlebens das Vergessen verwehren.

Laut Fahrplan und Heini Wolfs Schilderungen aus der Zeit, als es ausschließlich Ferienreisende nach Italien gezogen hatte, war der Tagesanbruch erst vor Verona fällig. Durch die Verspätungen an den beiden Grenzen stand die Sonne aber bereits am Himmel, als der Zug sich der mittelalterlichen Stadt Klausen näherte. Sie beleuchtete das Kloster Säben, eine gotische Kirche, den glitzernden Schnee auf den Bergen und die Eisack, die in ihrem Flussbett schäumte. Walter erkannte die winterlich eingekleideten Bäume nicht als Kastanien, aber doch schon die Weinreben auf den Hängen. Einen kurzen Augenblick meinte er, den Frühling zu ahnen, doch dann fiel ihm ein, dass es für ihn keinen europäischen Frühling mehr geben würde. Er biss sich auf die Lippen und kam sich wie die bemitleidenswerten kleinen Straftäter vor, die nur deshalb eine Schuld eingestehen, weil sie die Anklage nicht verstehen. Der Zug fuhr an einer Burg vorbei und an der Kapuzinerkirche, die die mittelalterliche Stadt vor allem Bösen beschützt, und hielt so plötzlich, dass der Schaffner im Gang stolperte. Der Mann fluchte auf Deutsch, auf dem Bahnhofsschild stand die italienische Bezeichnung für den liebenswerten Ort.

»Chiusa«, buchstabierte Walter.

»Klausen«, verbesserte die Bäuerin. Sie war unmittelbar nach ihrem Huhn wach geworden und schüttelte energisch ihren Kopf. Eine einzelne Haarsträhne löste sich aus dem Zopfkranz und tanzte auf ihrer Stirn. Es war ein Tanz, der müde Männer zu Helden ihrer Wunschträume macht. Walter hatte noch nie über die Augenfarbe der Circe nachgedacht. Nun dämmerte es ihm, dass es bestimmt hellblaue Augen und maisblondes Haar gewesen waren, die Odysseus von seinem Kurs abgebracht hatten. Der schlesische Weltreisende lächelte der Verführerin im Bauernrock trotzdem zu. Sie lächelte zurück. In einem stummen Gebet, das er erst am Ziel aus seinem Herzen hatte lassen wollen, bat Walter Gott, er möge ihn vor allen Versuchungen schützen, bis er Jettel und seine Tochter wiederhatte.

»Klausen«, wiederholte die Frau. Sie hatte die blaue Schürze nicht mehr an. Für einen Mann, der ohne Weib und Kind in die Welt zog, sangen die silbernen Knöpfe an ihrem stramm sitzenden Mieder unfromme Lieder. »Nicht Chiusa?«, wollte Walter wissen.

»Nein«, sagte sie mit dem gleichen tiefen Stimmenschwung, der zwei Stunden zuvor das Huhn bewogen hatte, sich ihrem Körper anzuvertrauen.

Mit der Intuition und Erfahrung der Grenzvölker erkannte Walter, dass seine Circe ihr Nein als ein politisches Bekenntnis verstanden haben wollte. »Klausen«, ging er bereitwillig auf die Vorgabe ein, »ist viel schöner. Und auch richtig.« Er hätte seiner Reisegefährtin gern erzählt, dass auch er aus einem Gebiet stammte, in dem die Menschen nicht gefragt wurden, ob ihnen das Diktat der Mächtigen behagte. Sohrau, seine Vaterstadt, war im Jahr 1922 polnisch geworden und hieß seitdem Zory. Vater und Sohn Redlich hatten das nie verwunden.

»Der Krieg war schuld«, sagte Walter, »Sarajewo, Verdun, Isonzo, Versaille, St. Germain«, zählte er auf.

Die Frau nickte. Ihr Busen lockte. Walter zwang sich, aus dem Fenster zu schauen, aber seine Augen gehorchten ihm nur bis zum nächsten Tunnel. Sie lachten beide ein wenig und mutmaßten, sie hätten das Gleiche gedacht. Danach sah es so aus, als würde doch noch eine Unterhaltung oder wenigstens einer jener kurzen Flirts zustande kommen, für die Bahnreisen seit Erfindung der Dampfmaschine berühmt sind. Unmittelbar vor Bozen aber steckte die Frau das Huhn zurück in den Korb. Weniger behutsam weckte sie ihre Tochter. Die Kleine nörgelte ebenso anhaltend wie Regina, wenn sie aus dem Schlaf gerissen wurde. Die Mutter besänftigte das Huhn, band die Schürze um, klemmte die tänzelnde Haarsträhne in den Zopf und zog ihren Mantel an. Der Tochter drückte sie einen Strauß Trockenblumen in die Hand, blaue, gelbe, goldene und violette. Obwohl das Mädchen ein geblümtes Kopftuch trug, sah es mit den Blumen in der Hand wie Rotkäppchen aus. Walter lächelte der Kleinen zu und schämte sich umgehend, weil er einem Kind die Heimat neidete.

Der Zug fuhr langsam in Bozen ein. Der Tag war sonnenhell; er versprach Menschen, die nicht ein Schiff nach Mombasa erreichen mussten, dass es auf der Welt wieder warm und frühlingsfroh werden würde. Ein Mann mit einer grünen Schürze über seiner ledernen Knie-bundhose rollte mit einem hohen, zweirädrigen Wagen am Zug vorbei; er bot Orangen, Zitronen und Äpfel an, die aussahen, als wären sie im Garten Eden gereift. Circe mit der Haarkrone stand an der Tür des Abteils, neben sich einen braunen Pappkoffer. Sie zupfte am Mantel ihrer Tochter und zog das Kinderkopftuch ein Stück nach hinten. Plötzlich drehte sie sich noch einmal um, holte eine Flasche Wein und ein großes Stück Käse aus ihrem Henkelkorb und reichte beides Walter. »Für die Reise«, sagte sie. Ihr Ton war sanft, denn sie konnte lesen, was in Augen geschrieben stand, und als Mutter von vier Kindern wusste sie gut Bescheid über Trauer, Angst und Schmerz.

»Donnerwetter, Herr Doktor. Sie haben ein Glück bei den Frauen.«

»Deswegen habe ich ja auch eine abbekommen, die sich zur Auswanderung nach Afrika einen Pelzhut kauft.« »Lassen Sie’s nur gut sein. Die Frau Doktor wird schneller lernen, als Sie glauben. Sie ist eine Schlaue. Das sagt meine Grete auch. Die Schlauen lassen sich nicht so schnell unterbuttern vom Leben. Besonders die Frauen nicht.«

»Schade, dass Grete mich das nicht beizeiten hat wissen lassen«, sagte Walter.

Er wollte aufstehen, auf dem Bahnsteig eine seiner letzten deutschen Zigaretten rauchen und versuchen, Circe wenigstens noch einmal von hinten zu sehen, doch dieses Mal war es der Körper, der Einspruch einlegte. Im rechten Bein hatte Walter einen Wadenkrampf, die Füße schienen aus den Schuhen zu quellen, stechender Schmerz zog durch beide Hüften. Sein Nacken war steif. Entsetzt ließ er sich zurück auf die Holzbank fallen, blätterte hektisch in der Chronik des Geschehenen, ließ keine Stunde aus, keine Minute der Angst. Es war nun mehr als einen Tag und eine Nacht her, seitdem er auf dem Breslauer Hauptbahnhof gestanden hatte. Seitdem Jettel, Regina, Ina und Käthe ihn verlassen hatten, hatte er kaum geschlafen, weder Kopf noch Körper eine Fluchtpause gegönnt. Verkrampft hatte er auf einer Holzbank gesessen und mehr gegessen und vor allem getrunken, als er vertrug - und intensiver nach hinten geschaut, als ein Mann durfte, der zu vergessen hatte, wer er gewesen war und woher er kam. Heini Wolf hatte recht. Wer auf einer solchen Reise seine Kräfte nicht einteilte, den ließen die Götter stranden.

»Dabei hat der gute Heini ja noch gar keine Ahnung vom Auswandern. Können Sie sich vorstellen, Greschek, dass ein Mann zu seinem Vergnügen nach Genua fährt. Oder aus Jux nach Afrika?«

»Warum schlafen Sie nicht ein bisschen? Ihre Nerven brauchen Ruhe. Meine Mutter hat immer gesagt, Schlaf ist Gottes Kraut.«

»Und meine hat gesagt, nur Faulenzer schlafen bei Tag.« »Als Ihre Frau Mutter das gesagt hat, war Ordnung auf der Welt.«

Die Müdigkeit wurde aggressiv, die Bilder, die Walter kamen, waren aber weich gezeichnet und barmherzig unklar. Sie flogen auf einer Schaukel zur Sonne. »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt«, rezitierte der, zu dem der Schlaf nicht kam.

»Es muss schön sein, wenn man so schön dichten kann wie Sie«, fand Greschek. »Schade, dass Sie damit kein Geld verdienen können.«

»Ich kann nicht dichten. Das war Eichendorff. Er ist einer von uns, nur adelig und schon tot. Sehen Sie, ich hab doch was in der Schule gelernt, wenn auch nichts fürs Leben.«

Der Zug fuhr aus Bozen hinaus. Der Mann mit der grünen Schürze und dem hohen Wagen stand immer noch auf dem Bahnsteig. Die Orangen gaukelten den Vorbeiziehenden vor, das Leben wäre ein bunter Bilderbogen. Im Zug wurde es still. Zigarrenrauch lungerte auf dem Gang, vom Nachbarabteil duftete es schwach nach einem Zitronenparfüm. Greschek und Walter glaubten sich sicher vor Mitreisenden. Sie legten die Beine hoch und die Arme unter den Kopf und berieten, ob auf Reisen schon zum Frühstück ein gebratenes Hühnerbein gestattet wäre. Walters Rückenschmerzen zogen in die Beine, Nebelschwaden in sein Gemüt. Bismarck fiel ihm ein und dass er einmal gelesen hatte, der Eiserne Kanzler hätte täglich drei Schnitzel und ein halbes Dutzend Eier gefrühstückt. Als die Abteiltür aufgerissen wurde, hatte er sich gerade an das Bismarckporträt in der großväterlichen Diele erinnert. Aus der Höhe prasselten Stimmen herab; sie waren laut und fremd, hoch und tief, doch nicht furchterregend. Ein Ehepaar mit einem etwa achtjährigen Jungen, der schwarze Samtaugen und eine olivbraune Haut hatte, stand im Coupé. Der Vater mit dichtem, glänzenden Schnurrbart sah jung und tatenfroh aus, ein wenig wie der in Leobschütz vergessene Papa aus Reginas Puppenhaus. Die Hüften der Mutter lockten Männer zu Tagträumen, ihr wohlgerundeter Bauch war Ruhekissen für ein etwa zehn Monate altes Baby, das gurgelnd in der Nase bohrte. Der Großvater hielt in seiner Linken einen großen Plüschesel mit nur einem Ohr, in der anderen Hand einen Geigenkasten aus rotbraun lackiertem, mit Rosen und Weinreben bemalten Holz.

Zum Gepäck des Quintetts gehörten außer einem fest verschnürten Pappkarton drei große Koffer und eine Kiste Äpfel. Obenauf lag ein rot-weißkariertes Leinensäckchen. Kaum dass er sich gesetzt hatte, holte der Familienvater drei Speckstücke aus dem Sack, wählte das kleinste aus und säbelte eine große Portion mit seinem Taschenmesser ab. Er kaute mit ansteckender Freude, den zweiten Bissen bekam der Alte, der Sohn den dritten. Für seine Frau schnitt der Mann ein längliches Speckstück ab. Das untere Ende umwickelte er sorgsam mit einem Stück weißen Papiers, das er aus seiner Westentasche holte. Auch das Baby wurde bedacht. Es hatte genauso viele Zähne wie sein Großvater, nämlich vier, und lutschte ebenso geräuschvoll wie der Alte am Fettrand des Specks.

»Donnerwetter«, entfuhr es Walter.

Der Vater hielt den Ausruf des Staunens für eines der Komplimente, auf die sein strammer Stammhalter ein Urrecht hatte. Er lächelte mit der Wohlgefälligkeit aller stolzen Väter, zwinkerte mit dem rechten Auge Walter zu, sprach einige Worte mit seiner Frau und beriet sich mit dem Großvater. Der nahm den Speck aus dem Mund und nickte Zustimmung, worauf sein Sohn das Taschenmesser ableckte und zwei weitere Stücke Speck abschnitt. Das eine reichte er Walter, das zweite Greschek.

Die Bedachten zierten sich nicht - schon weil sie nicht wussten, wie sie hätten widersprechen sollen, ohne einen Mann zu kränken, der so aussah, als hätte er noch nie in seinem Leben jemanden gekränkt. Dem einen wurde es warm in der Kehle und behaglich im Magen. Bereits beim dritten Bissen kam er zu dem Schluss, dass der Südtiroler Speck es durchaus mit den Produkten aus der väterlichen Metzgerei aufnehmen konnte. Walter fragte sich, ob er nicht bisher die Weisheit des religiösen Gebots unterschätzt hatte, das den Juden den Verzehr von Schweinefleisch untersagt. In ihm entflammte ein starkes Bedürfnis nach dem Weinbrand in seinem Korb, doch wiederum befürchtete er, es würde die freundliche italienische Familie befremden, wenn sie merkte, dass ihre spontane Warmherzigkeit dem Bedachten auf den Magen geschlagen war. Da griff der Großvater ein. Aus seiner Jackentasche holte er eine mit blauem Enzian und roten Beeren bemalte Reiseflasche, goss das Deckelchen voll und drückte es Walter in die Hand. »Prost!«, druckste er. Händereibend wiederholte er seinen sprachlichen Coup.

Walter war sicher, er hätte sich verhört. Er überlegte, ob der scharfe Schnaps ihm nur den Rachen oder gleichzeitig den Verstand verbrannt hatte. Trotzdem gelang es ihm, erst den Vater und dann seinen Sohn anzulächeln. Das Höllengebräu trieb die Gespenster, die ihn seit Jahren gejagt hatten, auf einen Schlag in die Flucht. Ihm war es, als hätte es nie die Teufel mit braunem Hemd und Stiefelschritt gegeben. Er schaute kurz in den Himmel, und lange sah er die Menschen an, die ihn wie einen Menschen behandelten. Wärme durchströmte ihn. Sein Gedächtnis ließ sich nur kurz nach der passenden lateinischen Vokabel bitten. »Gratia« sagte er.

»Grazie«, platzte es aus dem Knaben mit den Kohlenaugen heraus. Ein väterlicher Zeigefinger ermahnte das kichernde Kind.

Das sabbernde Baby auf Mutters Schoß brauchte nur den

Arm auszustrecken, um an Walters Krawatte zu ziehen. Auf einem weißen Strich zwischen zwei blauen hinterließ es ein nie mehr zu tilgendes Andenken aus roter Marmelade. Dieses glückliche Kind, das zufällig und doch als Geschenk des Schicksals die Umlaufbahn eines Unglücklichen kreuzte, krähte beim Kauen und zielte genau, wenn es spuckte. Bambino zupfte Walter am Haar. Es boxte ihn mit einer winzigen Faust in den Nacken und lachte wie ein Engel. Der Getroffene spürte eine Andeutung von Schmerz und eine Freude, die ihn überwältigte. Er sagte: »Ach«, und versuchte - vergeblich - mit den Ohren zu wackeln. Stattdessen streckte er die Zunge heraus. Die Lieder der Jugend betäubten ihn.

In dem Augenblick, da er seinen Jubel zu deuten vermochte, machte sich Walter Redlich, ehemals ein geschätzter deutscher Bürger, zum Sprung in die Wolken bereit. Diesen kurzen, gnädigen Zustand der Seligkeit vergaß er nie. Er wischte des Babys Sabber von seiner Wange und rekapitulierte auf analytische Juristenart, was tatsächlich geschehen war. Zum ersten Mal seitdem die Nazis an die Macht gekommen waren, spürte Walter in Gegenwart von fremden Menschen weder Angst noch Argwohn. Keiner bedrängte ihn, niemand würde ihn fragen, ob er Volljude im Sinne der Nürnberger Gesetze sei, ob er mit dem arischen Dienstmädchen außerehelichen Geschlechtsverkehr unterhalten und weshalb er es unterlassen hätte, die silberne Klappdeckeluhr seines Großvaters als Auswanderungsgut zu deklarieren. Der Mann, der wieder ein Mensch unter Menschen sein durfte, machte aus seiner Hand eine Mulde. Sie war gerade groß genug für einen Kuss. Den blies er dem Baby zu. Die Mutter schrie entzückt auf.

»Greschek, ich hab’s geschafft!«

»Ist alles in Ordnung bei Ihnen, Herr Doktor? Ich meine, wir sind doch noch längst nicht in Genua.«

»Aber ich bin dort, wo ich jeden Nazi, den ich treffe, in den Hintern treten kann. Ich muss nicht mehr vor jedem Scheißkerl in Uniform zittern. Ich brauch nicht mehr darauf zu achten, dass meine fünfjährige Tochter nichts ausplappert, was ich gesagt habe, und mich ins Zuchthaus bringt. Vielleicht lerne ich eines Tages sogar, wieder einzuschlafen, ohne den lieben Gott damit zu belästigen, er möge unser Leben retten.«

»Glauben Sie wirklich, es kommt so schlimm?«, fragte Greschek.

»Würde ich sonst nach Afrika fahren und jeden Tag um das Wunder flehen, dass ich meine Frau und Regina bald nachholen kann?«

»Gott erhalte Franz, den Kaiser«, sagte der Großvater, »unseren guten Kaiser Franz.« Er kämpfte mit jeder Silbe. »Mozart«, fügte er lachend hinzu. Dann sagte er: »Ich hatt’ einen Kameraden.«

Wenn er die Stimme in die Tiefen seiner Erinnerungen eintauchte, sang er beim Reden. Mit der Intuition und dem Sprachempfinden der Menschen, die in Grenzgebieten aufwachsen, begriff Walter sofort, dass der alte Mann sowohl seine Geschichte erzählt hatte als auch die einer Welt, die 1914 mit den Schüssen von Sarajewo für immer untergegangen war. Der Deutsch radebrechende italienische Großvater hatte Geiger werden wollen, doch die, die das Sagen hatten, kommandierten ihn ab zur Schlacht am Isonzo. Dort war er in die Hände der Feinde geraten, schließlich in Linz gelandet. Bei Tag war er ein Kriegsgefangener wie seine italienischen Kame-raden gewesen, doch abends hatten ihn die österreichischen Offiziere geholt, um für sie aufzuspielen - Walzer und Mozart, Schlager und Militärmärsche. Und wurde ein Feind zu Grabe getragen, stand der Geiger aus Pesaro in der ersten Reihe.

Es überraschte den Soldaten von damals nicht, dass die paar deutschen Worte, die er gesagt hatte, auf seinen stillen Mitreisenden ebenso wirkten wie seinerzeit in Linz die Musik auf die österreichischen Offiziere. Wenn es um Heimatklang und Sehnsucht ging, waren sich alle Menschen gleich. »Si«, bestätigte er und dachte an die Zeiten, von denen noch nicht einmal der Sohn etwas wissen wollte. Dann sagte er: »So«; er gab sich große Mühe, sich an weitere deutsche Vokabeln zu erinnern, doch sein Gedächtnis war erschöpft.

Der Weltmann wusste sich zu helfen. Es war zehn Minuten vor Verona, als er seine Geige aus dem Kasten holte. Mit Rossini, dem er sich besonders verbunden fühlte, weil auch der aus Pesaro stammte und beide für gutes Essen schwärmten, fiedelte er erst seine zwei Enkelkinder und dann Walter in den Schlaf - den mit Melodien aus »Der Türke in Italien«. Der Mann mit der Enzianflasche und dem Geigenbogen war ein wahrer Menschenfreund. Er wusste, dass es sadistisch ist, Menschen, die bei Musik einschlafen, durch unvermittelt eintretende Stille aus ihren Träumen zu reißen. Also spielte er immer weiter.

Walter, ausgebrannt vom tiefen Tal, das er durchwandert hatte, und von der Angst, die Seinen im Stich zu lassen, brauchte sich in seinen Träumen weder zu bewähren noch Entscheidungen zu treffen. Er erwachte erst, als das Baby brüllte. Da fuhr der Zug gerade in Mailand ein. Die

Mutter balancierte das verschlafene Kind wieder auf dem Bauch, der Puppenstubenpapa machte die Apfelkiste zu, und der Großvater mit der nie ganz erlöschenden Sehnsucht nach der Zeit, als er allabendlich König im Feindesland gewesen war, streichelte seinen geliebten Lebensbegleiter. Zwar gelang es Walter, sich die Farben und die Komposition des Bühnenbildes einzuprägen, doch er schaffte es nicht mehr, sich persönlich von den Darstellern zu verabschieden. Erst als der Zug wieder anfuhr, bemerkte er die himmelblaue Decke: Beim Aussteigen hatte sie ihm die Mutter des Bambino über die Beine gelegt. Als Trost für den Fleck auf der Krawatte. »Mensch Greschek, bin ich besoffen, oder habe ich geschlafen?«

»Beides, Herr Doktor. Ehe Sie eingeschlafen sind, habe ich Sie gefragt, was wir denn in Genua machen werden. Und Sie haben immerzu von einem Friedhof geredet.« »Da war ich nicht besoffen, mein Lieber. Weiß Gott nicht. Der Friedhof in Genua ist weltberühmt. Eine Sehenswürdigkeit und eine erstklassige Adresse für einen Mann, der seine Lebenshoffnungen standesgemäß begraben möchte.«

Warum ist nicht mehr jetzt?

Breslau-Hamburg, 18. Juni 1938

»Was bin ich froh, dass ich einmal in meinem Leben nicht eine Stunde vor Abfahrt des Zuges anrücken musste«, freute sich Jettel. »Wenn sich Walter am Bahnhof nicht die Beine in den Leib steht, hat er seiner Meinung nach schon den Zug verpasst. Die Leute in Leobschütz sind so. Pünktlich wie die Maurer. Das hat mich immer ganz me-schugge gemacht.«

»Mir gefällt Leobschütz«, schmollte Regina. »Meine Puppen wohnen dort. Und mein gutes Schaukelpferd. In einem großen Schloss mit einem König. Der ist auch ganz meschugge.«

»Komisch«, raunte Jettel, als Regina ihre Stirn an der Fensterscheibe vom Abteil platt drückte, weil auf dem Bahnsteig der Mann mit dem roten Luftballon an seinem weißen Karren vorbeilief, »das Theater mit Leobschütz macht sie erst seit dem Kofferpacken. Als wir in Leob-schütz abfuhren, hat sie noch nicht einmal unserer guten Anna eine Träne nachgeweint. Sie hat sich überhaupt nicht nach ihr umgeschaut. Wir haben uns immer gewundert, Walter und ich. Anna war doch ihr Ein und Alles. Umgekehrt auch. Sie kam fünf Tage nach Reginas Geburt ins Haus.«

»Kinder sind so«, erinnerte sich Ina. »Plötzlich holen sie

Dinge aus ihrem Gedächtnis, von denen man glaubt, sie hätten sie gar nicht mitbekommen. Zum Glück vergessen sie ebenso schnell. Das habe ich zum ersten Mal gemerkt, als Vater starb. Suse war ja damals erst vier Jahr alt, aber erst als sie aufs Gymnasium kam, hat sie zum ersten Mal ihren Vater erwähnt.«

»Typisch Suse«, fand Jettel. Sie leckte ihre Lippen, als sie die schwesterliche Rivalität ihrer Kindertage belebte, »das gnädige Fräulein hat ja ihre Auftritte immer sehr sorgfältig geplant.«

»Meine Tante Suse ist in Amerika und backt mir einen Kuchen«, sagte Regina. »Mit Kirschen und Himbeeren. Und grünen Blumen.«

»Psst«, flüsterte ihre Großmutter, »das soll doch ein Geheimnis sein. Unser Geheimnis. Schau dir lieber die schöne Uhr an und sag mir, wie spät es ist. Ich bin gespannt, ob du den kleinen Zeiger entdeckst. Er hat sich versteckt.«

Die Bahnhofsuhr, im Frühjahr auf Hochglanz gebracht, zeigte neun Uhr dreiundfünfzig; sie machte den Eindruck, als sei sie noch nie um auch nur eine Sekunde nachgegangen. Das gleiche Vertrauen in deutsche Verlässlichkeit und Ordnung erweckte der Zug nach Hamburg. Die Waggons blitzten vor Sauberkeit, jede Fensterscheibe war frisch gewienert, kein Fussel lag auf den Polstern, kein Papierstückchen auf dem Boden. Im Speisewagen mit den königsblauen Stühlen standen zwei Ober, steif wie die Zinnsoldaten, die Servietten über dem Arm. Der Tag mit dem klaren blauen Junihimmel war sonnig, aber kühl.

»Ideales Reisewetter«, sagte Ina - so munter wie in den Zeiten, da sie in den großen Ferien mit ihren Mädels nach

Norderney gefahren war. Oder nach Heringsdorf. Eine schöne junge Witwe mit drei wunderschönen Töchtern.

»Kommt drauf an, wohin man reist«, erkannte Jettel, »und weshalb.« Sie war blass und übernächtigt. Auch sie dachte an Norderney und dass ihre Mutter, solange Suse klein war, stets das Kindermädchen mit in die Ferien genommen hatte. »Sonst habe ich ja gar keine Erholung«, hatte sie Jahr für Jahr gesagt. Jetzt hatte Ina noch nicht einmal eine Zugehfrau. Frauen, die unter fünfundvierzig waren, durften nicht mehr in jüdischen Haushalten arbeiten, die Älteren fürchteten Repressalien. Selbst Frau Walburga, die dreißig Jahre lang jeden Montag in die Goethestraße gekommen war, um bei der Wäsche zu helfen, Kartoffelsuppe zu essen und sich an den Geschenken für ihre fünf Kinder zu freuen, war eines Tages weggeblieben. Ohne Begründung und ohne Abschiedsgruß.

»Wirklich ideales Reisewetter«, wiederholte Ina. Weil sie nicht rechtzeitig von Norderney losgekommen war, war ihre Stimme weder munter noch aufmunternd.

Bis zur Abfahrt des Zugs blieben fünf Minuten. Jettel Redlich blieben noch dreihundert Sekunden in ihrer Vaterstadt - drei mal hundert Sekunden, um zu begreifen, was nicht zu begreifen war. Was sollte eine Frau von dreißig Jahren, schön, selbstbewusst, eigensinnig und verhätschelt, mit fünf Minuten Galgenfrist anfangen? Jettel zuckte mit den Schultern, und doch verhielt sie sich geschickt und umsichtig. Inas Lieblingstochter zählte nicht die Zeiteinheiten, die ihr zum Seufzen blieben, und nicht die Tränen, die sie Reginas wegen nicht weinen durfte. Sie zählte, wie es Walter in jedem seiner Briefe aus Kenia flehentlich empfohlen hatte, die Gepäckstücke. Die Kisten mit dem Hausrat und die Schrankkoffer mit der Garderobe für die ganze Familie hatte die Firma Dan-ziger schon vor vier Wochen zum Hamburger Hafen verschickt. »Machen Sie sich bloß keine überflüssigen Sorgen, gnädige Frau«, hatte der freundliche Mann beim Abholen des Umzugsguts gesagt, »von vier Kisten geht höchstens eine verloren. Das erleben wir immer wieder. Darauf können Sie bauen.«

Die drei großen Koffer für die Schiffsreise und Inas kleiner Handkoffer für den Dreitageaufenthalt bei Onkel Thomas und Tante Betty in Hamburg waren gut im Abteil verstaut, alle beschriftet mit Jettels schöner, deutlicher Handschrift, für die sie in der vierten Klasse einen Preis bekommen hatte. Im Gepäcknetz lag die runde Hutschachtel - ein Prachtstück aus feinem schwarzen Leder, an den Nähten gelb eingefasst. Jettel schaute die geliebte Begleiterin der unbeschwerten Tage zärtlich an; obgleich ihr nicht danach zumute war, lächelte sie. Wieder einmal hatte sie in ihrer Ehe das letzte, das entscheidende Wort gehabt. »Nimm nichts Überflüssiges mit«, hatte Walter mehrmals gemahnt, als er seine Frau endlich am Packen und bei den herzzerbrechenden Entscheidungen wusste, welche Sachen für Afrika geeignet waren und welche zurückgelassen werden mussten. »Deine geliebte Hutschachtel wirst du in diesem Leben ebenso wenig brauchen wie das Rosenthal-Service. Denk immer dran, dass wir uns von ganz anderen Sachen als von Blümchengeschirr und Hütchen haben trennen müssen.«

Selbstverständlich lag das Rosenthal-Geschirr in der Kiste. Und was konnte ein Mann, der aus der Kleinstadt stammte und nun in einem Kaff namens Rongai hinter Hühnern und Kälbern herlief, schon von dem Verhältnis einer Frau zu ihrer Hutschachtel wissen? Schließlich war die Hutschachtel, ein Geschenk von Tante Fanni zum einundzwanzigsten Geburtstag, schon mit auf der Hochzeitsreise gewesen, obwohl Jettel im Nachhinein eingestehen musste, dass eine Frau, die im Riesengebirge Schlitten fuhr, keine Hüte brauchte.

Die Gepäckträger hatten sich zurückgezogen, die Reisenden waren eingestiegen. Nur wenige zog es an diesem Tag nach Norden. Die großen Ferien hatten ja noch nicht begonnen, und zudem gönnten sich nicht mehr so viele Leute wie früher Sommerferien an der See. Es hieß allgemein, die Deutschen bevorzugten kürzere Reisen und hätten die Freuden des Landlebens entdeckt. Das war im Frühsommer 1938 die gängige Umschreibung für den Umstand, dass den Leuten nicht mehr so wie in unbeschwerten Zeitläuften der Sinn nach Sommerferien stand - mit Ausnahme der Erwählten, die als politisch zuverlässig galten. Dank der Naziorganisation »Kraft durch Freude« durften sie die Dampfer ins Ausland und die deutschen Bäder stürmen.

»Ihr werdet wahrscheinlich so ungestört reisen wie noch nie im Leben«, hatte Heini Wolf beim Abschiedsessen für Jettel in der Goethestraße gesagt. »Ein wenig beneide ich euch ja doch um die Abwechslung. Die Strecke nach Hamburg war immer eine meiner Lieblingsrouten.« In den Monaten seit Walters Abfahrt hatte Inas treuer Hausfreund seine angeborene Fähigkeit, nicht einmal in Gegenwart von Schicksalsgenossen zur Kenntnis zu nehmen, was er sah und hörte und was ihn bedrohte, zur Vollkommenheit getrieben. Dass es Heinis betagte, herz-kranke Mutter war, die sich weigerte, auch nur ans Auswandern zu denken und also auch den Sohn an Deutschland fesselte, wusste kaum einer. »Mama hat immer die richtigen Entscheidungen getroffen«, schwindelte Heini seinem Verstand und seinem Instinkt vor.

Ina, Jettel und Regina saßen in einem Nichtraucherabteil zweiter Klasse, unmittelbar hinter dem Speisewagen -auch die zweite Klasse war eine Entscheidung Jettels. Mit der Frage, ob sie mutig oder mutwillig war, mochte sie sich nicht aufhalten. Allerdings hatte sie beschlossen, Walter nicht zu beunruhigen und ihm die erhöhten Fahrtkosten zu verschweigen. Immerhin war er ja dritter Klasse gefahren und erwartete das Gleiche von ihr. »Ich kann dir an Eides statt versichern, meine geliebte Jettel, dass Sparen nicht wehtut«, hatte er aus Genua geschrieben. »So viel wie mit meinem Hintern kann ich in der gleichen Zeit gar nicht mit meinem Kopf verdienen. Jedenfalls nicht mehr.« Vorerst jedoch sah Jettel das Leben und sich aus der gewohnten Perspektive. »Als ob ich auf meiner letzten Reise in Deutschland dritter Klasse fahren würde«, beschwerte sie sich bei ihrer Mutter.

Für eine Reise aus so deprimierendem Anlass waren Großmutter, Mutter und Kind zu elegant und zu auffällig angezogen. So kam es, dass sich Jettel ausgerechnet im Moment der Abfahrt gegen Walters Stimme wehren musste. Enervierend deutlich hörte sie ihn sagen: »Chuzpe ist kein guter Ersatz für Verstand und Geschmack.« Es war ein Spruch seiner Mutter. Zu Beginn ihrer Ehe hatte Jettel ihn noch nicht einmal verstanden. Später pflegte sie zu entgegnen: »Breslau ist nicht Sohrau. Wir haben immer auf Stil gehalten.«

Ina, seit einem Monat zweiundfünfzig Jahre alt, so schlank wie ein junges Mädchen und mit kaum einem grauen Haar, trug ein cremefarbenes Reisekostüm aus Leinen, ein Sträußchen aus echten Veilchen am Revers und um den Hals die zweireihige Perlenkette, ohne die sie nie ausging und die Regina noch in ihren Bildern malen würde, als sie sich weder an Deutschland noch an das Gesicht ihrer Großmutter erinnern konnte. Jettel hatte ein rotweiß gepunktetes Seidenkleid mit Rüschen am tiefen Ausschnitt und Spitzen an den dreiviertellangen Ärmeln gewählt. Ohrringe und der Anhänger an einer goldgelben Kette, das Hochzeitsgeschenk ihres Schwiegervaters, waren aus Granat. Regina hatte ihr empfindliches hellblaues Flügelkleid mit den silbernen Knöpfen an. Weder Großmutter noch Mutter hatten es ihr ausreden können, auch nicht die Korallenkette, die sie beim Abschiedsbesuch in Sohrau von ihrer Tante Liesel bekommen hatte. Schon gar nicht hatte Regina auf den neuen Leinenhut verzichten wollen. Er war schneeweiß, hatte einen breiten Rand und stammte aus dem Ausrüstungsgeschäft für Tropenreisende am Wallgraben. Ursprünglich war zwischen Mutter und Tochter verabredet worden, dass sie ihn erst in Afrika aufsetzen durfte. »In Tanger«, hatte Heini Wolf dem Kind erzählt, »ist der erste afrikanische Hafen, in dem ihr anlegen werdet. Du brauchst also nicht lange ohne Hut herumzulaufen.«

Ina und Jettel blieben noch drei Tage - zweiundsiebzig quälende Stunden, um so zu tun, als wäre die Zukunft nicht anders als die Vergangenheit und der Abschied nicht von Dauer. Noch konnten sie sich nicht vorstellen, dass nach dem letzten Wort, nach dem letzten Kuss, nach dem Seufzer, den der Zurückbleibende schon nicht mehr hörte, die Sonne weiter jeden Morgen auf- und abends untergehen würde, und doch hatten sie begriffen, dass sie im Hafen von Hamburg nicht »Auf Wiedersehen« sagen würden. Das Wort war ein Hohn aus dem Mund derer, die sich von der Familie trennen mussten, wenn sie leben wollten. Selbst Reginas Puppen flüsterten »Leb wohl«, ehe sie schlafen gelegt wurden.

Zwei Puppen waren in den großen hellen Holzkisten verpackt und, wie es hieß, bereits unterwegs in das wunderbare Zauberland, von dem Regina nur in Gegenwart ihrer Mutter, der Großmutter und Tante Käthe reden durfte. Die Puppen Peter, Moritz und Friederike hatte sie ihrer Großmutter und der Tante hinterlassen - zur Gesellschaft, wenn kein Kind mehr da war, mit dem sie im Park spazieren gehen konnten und für das sie grüne Götterspeise mit Vanillensoße kochten. Fips der Affe und Puppe Josephine mit der dunklen Hautfarbe, den baumeln den goldfarbenen Ohrringen und dem Rock aus buntem Bast reisten als bewährte Schutzengel mit. Nicht im Koffer, in dem sich Schutzengel, die noch nicht einmal ihren Namen schreiben konnten, bestimmt gefürchtet hätten, sondern im Abteil. Bananen, Apfelsinenscheiben ohne Schale und vier Sahnebonbons, den Reiseproviant für Affe und Puppe, hatte Regina sorgsam in den immer noch nagelneuen Lederbeutel gepackt, der für den Kindergarten angeschafft worden war, der keine jüdischen Kinder mehr aufgenommen hatte.

Es stand fest, dass Jettel und Regina, Fips und Josephine, benannt nach der weltberühmten Tänzerin Josephine Baker, sich am 21. Juni auf der »Adolph Woermann« einschiffen würden. Das war ein Tag nach Jettels dreißigstem Geburtstag. Ina wollte noch am gleichen Nachmittag zurück zu Käthe nach Breslau fahren. Von ihren drei Töchtern würde ihr dann nur noch die Älteste bleiben. Die zweiundzwanzigjährige Suse, seit neun Monaten verheiratet, war in Boston gelandet. Sie schrieb zuversichtlich stimmende Briefe und flehte die Mutter an, sich »bloß nicht von Käthe gängeln zu lassen« und sich »energisch« um ihre Auswanderung zu bemühen. Jettel würde mit Gottes Hilfe in fünf Wochen ihre Ankunft in Kenia melden. Wie Ina richtig schätzte, würde ihr Herzenskind gewiss keine zuversichtlich stimmenden Briefe nach Hause schreiben. Käthe hatte nur noch Aussicht, aus Deutschland herauszukommen, wenn sie sich in England als Dienstmädchen verpflichtete. Allein der Gedanke empörte sie. Derzeit grollte Käthe der Mutter, dass die das einstige Herrenzimmer vermietet hatte, ohne sie zu fragen. Der neue Untermieter war Tenor an der Breslauer Oper gewesen, und obgleich er wusste, dass er als Jude nirgendwo in Deutschland mehr ein Engagement finden würde, bestand er darauf, jeden Morgen um halb acht seine Stimmübungen zu machen. Käthe stand nie vor elf Uhr auf und ging nie ohne Verwünschungen an seiner Tür vorbei.

Die »Adolph Woermann« galt als Luxusschiff, doch nahm sie auch Auswanderer mit. In allen drei Klassen, wie jene Glücklichen ehrfurchtsvoll hervorzuheben pflegten, die das Schicksal mit einem Schiffsbillett bedacht hatte. Jet-tel hatte sich angewöhnt, an dieser Stelle »Geld stinkt nicht« zu sagen. In der Zeit, in der sie auf ihre und Reginas Einwanderungspapiere nach Kenia hatte warten müssen, hatte sie nicht nur Englischstunden und einen Schnellkurs in Buchbinderei genommen, der präsumpti-ven Emigranten günstige Bedingungen einräumte. Sie hatte auch ihren Wortschatz und ihre ursprünglich sehr beschränkten Geographiekenntnisse erweitert. In Gesprächen mit Schicksalsgenossen, von denen die meisten ja nach Amerika oder in die europäischen Länder zu entkommen hofften, konnte sie bereits beeindruckend über die Gepflogenheiten der deutschen Seefahrt referieren und von der Route der »Adolph Woermann« berichten, die rund um Afrika fuhr. »Gott sei Dank macht der Kapitän erst die Ostküste«, erläuterte Jettel mit der Souveränität einer Globetrotterin, wann immer die Häfen zur Sprache kamen, in denen das Schiff anlegen würde. »Wir sind ja auch so schon fünf Wochen unterwegs, das Kind und ich. Das reicht.«

Seitdem der Termin der Abreise feststand, hatte sie sich auf das Packen der vier Überseekisten konzentriert - und auf den Kauf der Tropenausrüstung. Zwei neue Sommerkleider mussten ausgesucht werden und ein Abendkleid für Galaveranstaltungen auf dem Schiff. »Später, wenn Walter erst mal Fuß gefasst hat, werde ich das Kleid vielleicht auch in Nairobi brauchen«, hatte sie Heini Wolf am Abschiedsabend erklärt, und Heini hatte entzückend gelächelt und sehr charmant »Walter ist ein Glückspilz« gesagt

Das Abendkleid hatte Jettel die letzten Tage in Breslau leichter gemacht. Das Kleid war der letzte Zipfel, der ihr von ihren Träumen geblieben war, und entsprechend liebte sie es. Beim Kaufen hatten sie und Ina so gelacht und gekichert wie junge Mädchen vor ihrem ersten Tanzstundenball, und beide hatten sie - wenigstens minutenlang - den Anlass des Kaufs vergessen und sich immer wieder Walters verblüfftes Gesicht ausgemalt, wenn er das lange, grün changierende Taftkleid mit den Blüten von rotem Klatschmohn und dem dazu passenden Bolero sah. In mindestens drei Briefen hatte Walter nämlich geschrieben, sie würde in Afrika kein Abendkleid brauchen. Mit markanten Unterstreichungen, die Jettel sehr verärgert hatten, hatte er sie gebeten, einen tropentauglichen Eisschrank mitzubringen. Noch einen weiteren Ratschlag von Walter hatte Jettel als »typischen Männerunsinn« abgetan. Obwohl er sie gewarnt hatte, Abschiedsbesuche würden ihr das Herz brechen und sie solle nur die unbedingt nötigen machen, hatte Jettel weder Freunde, flüchtige Bekannte noch entfernte Verwandte ausgelassen. Hatten die gemeinsamen Tränen, die Umarmungen der Verzweifelten und Hoffnungslosen sie getröstet oder noch mehr aufgeregt? Sie wusste es nicht.

Erst in dem Moment, da der Schaffner die Reisenden ermahnte, einzusteigen und die Türen fest zu schließen, ging Jettel endgültig auf, was fortan für sie Zukunft bedeuten würde. Auf einen Schlag hatte sie sich nicht nur von den Menschen getrennt, die sie liebte, und von denen, die die entzückende »Jettel Redlich, die schönste der drei Perlsmädels«, liebten. Ihre Jugend war vorbei, ihr Name keinen Pfifferling mehr wert, ihr Mann ohne Beruf und mittellos und sie ohne Hoffnung. Jettel streckte ihre Arme aus. Ihre Stirn brannte. Die Tränen, die sie nicht weinen durfte, drückten in ihren Augenhöhlen. Die weißen Sonnenflecken aber wirbelten weiter im Bahnhofsgebäude herum, als würde an diesem Samstag, dem 18. Juni, nur ein ganz gewöhnlicher Zug zu seiner fahrplanmäßigen Reise starten.

»Mami, wo ist Amerika?«, fragte ein kleiner Junge mit rutschenden Kniestrümpfen, der den Gang entlanggeschoben wurde.

»Geradeaus«, antwortete seine Mutter. »Nu mach schon, sonst geht’s in die Hose.«

Ein junger Mann schnalzte mit der Zunge. »So eine Mutter wie Sie hätte ich auch gern gehabt«, lachte er.

Die, die verschont wurden, hatten gut lachen. Das Glück kam immer zu den anderen. Für sie regnete es Sternschnuppen, für Pechmarie Teer. Früher waren die anderen die Pechmarie gewesen, Jettel das Sonntagskind. Sie faltete die Arme vor ihrem Bauch. Ihre Augen tränten und waren schon am Ziel. Im Zug hing ein farbiges Plakat der deutschen Afrika-Linie. Ein Mann in Turban und Lendenschurz spannte seinen Bogen unter Palmen, hinter ihm eine Frau mit bloßer Brust und bunten Perlen um den Hals. Für Jettel bedeutete Afrika das Ende aller Vertrautheit, den Tod der Gewohnheit. Aus würde es mit dem wöchentlichen Friseurbesuch sein, mit Romanen aus der Leihbücherei, Kino am Samstagabend und dem Kaffeeklatsch mit Frau Schlesinger, Frau Bacharach und Ännchen Wohl. Jeden zweiten Mittwoch am Leobschüt-zer Ring. Zitronentorte und Schokoladeneclairs. »Mit einer halben Portion Sahne. Sonst werde ich zu dick.« Kichern und Gelächter und Kakao mit Nuss. In ganz kleinen Schlucken.

Vorbei die Schmeicheleien und Komplimente und die kleinen Versuchungen, die das Leben würzten. Auf einer Farm im Nirgendwo flogen einer jungen Frau keine Herzen mehr zu, mochte sie noch so schön sein. Und doch, als der Termin des Wiedersehens endlich feststand, hatte Walter geschrieben: »Ich komme mir vor wie der Bräutigam vor der Hochzeitsnacht.« Waren nach sechs Monaten Trennung und Todesangst überhaupt noch Nächte der Liebe und Leidenschaft möglich? Was bedeutete

Liebe, wenn das Glück zerbrochen war, was Leidenschaft?

Ein Mann mit einer roten Mütze und Kursbuch rüttelte an einer Tür und prüfte ein Fenster. »Vorsicht, junge Frau, dass Sie nicht umfallen«, warnte er, »wir fahren gleich los. Setzen Sie sich lieber hin. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.«

»Porzellankiste«, wiederholte Jettel. Ihr ging erst auf, dass sie sich falsch verhalten hatte, als der Uniformierte sie verblüfft anschaute.

Sobald sich der Zug in Bewegung setzte, würde es keine Heimatstadt mehr geben. Nicht eine der Breslauer Straßen, keinen Baum und keinen Strauch würde Jettel je wieder sehen, nicht die geliebten Parks, in denen sie im Mai als junges Mädchen mit aufgeregt balzenden jungen Kavalieren unter blühenden Kastanien flaniert war. Der Teich mit den Linden, an dem der neunzehnjährige Walter der fünfzehnjährigen Jettel seine Liebe gestanden und Regina seit dem Umzug aus Leobschütz jeden Tag die Enten gefüttert hatten, würde nur noch einer der Mosaiksteine sein, die das Gedächtnis schikanierten. Erbarmungslos stürmten die Bilder, die Menschen, die Farben der Vergangenheit, die Klangfetzen und der Geruch von Glück und Sommerfreuden auf Jettel ein. Sie sah die Villen am Wallgraben, vor denen sie mit den Schulfreun-dinnen gestanden und Luftschlösser gebaut hatte, und obgleich sie die Augen zumachte, sah sie die vornehmen Bürgerhäuser am Ring. Im Frühjahr blühten die Apfelbäume rosa in den Gärten und weiß der Jasmin im Park. Im Herbst fielen die Kastanien auf die feuchte Erde. »Hier, steck eine in deine Manteltasche, Walter. Meine Mutter sagt, das hilft gegen Rheuma und Melancholie.« »Gott schütze deine Mutter und ihren Aberglauben. Gegen Melancholie hilft nur ein Strick.«

Jettel stand erst am Königsplatz und dann im Zoo, wohin sie noch als Zwölfjährige mit dem Vater gegangen war -zwei Tage vor seinem Tod. »Mama, der Vater hat gesagt, nächsten Sonntag gehen wir wieder hin. Nur er und ich. Käthe interessiert sich ja nicht für Tiere, und Suse ist ihm noch zu klein. Hat er gesagt.«

»Dein Vater soll nicht immer mehr versprechen, als er halten kann. Er geht doch sonntags immer so gern Karten spielen.«

»Adieu Café Krone«, flüsterte Jettel. Die Tränen kamen. »Weint die Mama?«, schniefte Regina. Ihre Oberlippe zitterte. Schon rieb sie sich die Augen trocken.

»Mamas weinen nie«, sagte ihre Großmutter. »Versprichst du mir das?«

In den fünf Jahren ihrer Ehe war Jettel alle sechs Wochen für zwei oder drei Tage nach Breslau gefahren. Selbst in der Schwangerschaft. »Meine Mutter braucht mich«, hatte sie vor jeder Reise erklärt.

»Du brauchst deine Mutter«, hatte Walter gewusst. Es war eines der seltenen Male, in denen Jettel ihm nicht widersprochen hatte.

Mit der Mutter war sie einkaufen, ins Caféhaus und ins Theater und, wie in den schönen Zeiten vor der Ehe, auf Besuch gegangen. Zu den Tanten und Cousins und zu den alten Leutchen, mit denen »die gute Frau Perls, die ein goldenes Herz hat«, schon über dreißig Jahre befreundet war. Jetzt sagten sie alle, »alte Bäume verpflanzt man nicht«; sie weigerten sich, an Auswanderung überhaupt nur zu denken, und sie weinten, wenn sie Post von ihren Kindern bekamen. Die Töchter und Söhne lebten nun in Holland und Frankreich, in Schweden, Uruguay und New York. Sie schrieben, sie hätten sich Deutschland aus dem Herzen gerissen. Und baten ihre Eltern, ihnen zum Geburtstag Schwarzbrot und Eau de Cologne von 4711 zu schicken. Und das »gute Backpulver von Doktor Oetker«.

Mit den Freundinnen vom Lyzeum hatte sich Jettel im Café Krone getroffen. Von ihnen hatten die meisten schon Lebewohl gesagt. Jenny Friedländer und ihr Mann waren vor drei Wochen nach Australien aufgebrochen. Suse Pinner, die Busenfreundin und Klassenbeste, putzte in Washington für eine exzentrische alte Dame, die darauf bestand, ihr Hausmädchen, das nur mit größter Mühe sein möbliertes Zimmer bezahlen konnte, in Naturalien zu entlohnen. Betty Langer war nervenkrank geworden und lag seit einem Jahr in Arosa im Sanatorium. Ihr Mann, ein berühmter Dermatologe und schon mit vierzig Professor, war noch vor seiner offiziellen Entlassung vom Pöbel aus einem Hörsaal der Universität gezerrt worden. Er hatte sich sechs Monate später auf dem Dachboden erhängt. Vera Stock, die in Jettels Poesiealbum geschrieben hatte »Genieße den sonnig-heiteren Tag, man weiß nicht, ob hienieden noch ein zweiter kommen mag«, erhoffte täglich die Nachricht, dass ihr Vetter zweiten Grades für sie bürgen und sie samt Mann und den drei Kindern nach Amerika holen würde.

Ob die vielen stillen Straßen, in denen die kleine Perls im roten Rüschenkleid ihren Kreisel gepeitscht und ihren Reifen mit einem Stock geschlagen hatte, je aus dem Gedächtnis verschwinden würden? Nie wieder würde Jettel die Dominsel sehen und das weit über Breslau hinaus berühmte Rathaus, die schöne Schneidnitzer Straße und das geliebte Kaufhaus Wertheim. Für Inas mittlere Tochter war Einkaufen ein Lebenselixier gewesen. Allein die Seidenstoffe bei Wertheim zu fühlen und im Winter in die Pelzabteilung zu gehen und sich an die Mäntel zu schmiegen und zu träumen, man wäre Greta Garbo oder die Frau von Rudolf Valentino, war Lebenselixier für eine Frau, die ihrem Mann in eine Kleinstadt mit vierzehntausend Einwohnern gefolgt war.

Es bekümmerte Jettel, dass sie am Vortag nicht noch einmal zu Wertheim gegangen war. Nun hatte sie noch nicht einmal ein Stück Maiglöckchenseife, um sich in Afrika an zu Hause zu erinnern, oder ein Fläschchen Uraltlavendel, wenn sie Kopfschmerzen bekam. Und Regina hatte keinen Ausschneidebogen, um die lange Bahnreise zu verkürzen - mit Puppen aus Pappe, die mit Kleidern, Mützen, Mänteln, Taschen und Schuhen bedacht werden mussten. Die Lichterflut bei Wertheim verdunkelte sich sehr plötzlich.

»Nein«, wehrte sich Jettel. Sie fasste sich an den Hals und würgte.

»Pas devant l’enfant«, murmelte Ina, »dazu haben wir uns doch fest entschlossen, Jettel.«

»Das heißt, nicht vor dem Kind«, jubelte Regina. »Das sagst du immer, wenn ich was nicht verstehen soll. Das ist Negerisch. Das hat mir mein Papa gesagt. Ich darf das jetzt auch sagen. Du hast versprochen, ich darf alles sagen, wenn wir erst im Zug sind.«

»Auf dem Schiff, Regina. Auf dem Schiff darfst du sagen, was du willst. Das verspreche ich dir.«

»Kommst du auch mit aufs Schiff, Oma?«

Der Zug fuhr bereits. Der Mann mit dem roten Luftballon am weißen Karren stand auf dem Bahnsteig. Für

Regina wurde er ein Zwerg aus Schneewittchens Riege und für ihre Mutter eine herzzerbrechend deutliche Erinnerung an einen Tag im Mai, als Walter ihr auf einem Volksfest in Hennerwitz eine gelbe Papierrose geschossen und einen roten Luftballon gekauft hatte. »Gib Acht, Jettel, mit einem Luftballon ist schon manche Frau in den Himmel geflogen.«

»Ich will aber nicht. Ich will immer bei dir bleiben, egal wohin du auch gehst.«

»Das wird sich ändern.«

Eine Frau in einem Blümchenrock stand auf Zehenspitzen am Bahnsteig. Sie hielt in beiden Händen ein großes weißes Taschentuch, das im Wind wie eine Fahne wehte. Der Dampf der Lokomotive stieg zu den Wolken. Regina sagte: »Ach«, und verriet, weil sie das ja durfte, wenn sie leise sprach, der Puppe Josephine ein Geheimnis. Schon war die Oder nur noch ein silbernes Band, leblos und unwirklich. Jettel schloss die Augen, doch sie hatte verlernt, wie ein Kind zu fliehen. Ihr Gedächtnis gab keine Ruhe. Die Erinnerungen führten sie zu einer weißen Bank, die seit mehr als dreißig Jahren unter einem Lindenbaum am Ufer stand. Dort hatte die zwölfjährige Jettel mit ihren Vettern Hirschstein das Leben ausprobiert. Der gleichaltrige Franz mit den schwarzen Haaren und blauen Augen war in Jettel verliebt gewesen, Jettel jedoch in den semmelblonden Willi. Der war längst nicht so gutmütig und auch nicht so gut aussehend wie Franz, aber zwei Jahre älter als der Bruder. Weil er schon viel von Frauen und einiges von der Liebe verstand, ritzte er Jettels Namen und seinen, dazu noch zwei ineinander verschlungene Ringe in die Bank. An dem Freitag im August beschloss Jettel, ihren Vetter Willi zu heiraten. Als die Zeit für Versprechungen und Verlobungen gekommen war, erwählte er jedoch eine Frau mit einem beträchtlichen Vermögen und ohne Busen. Auch hinkte sie ein wenig und war zehn Jahre älter als ihr Mann. Die beiden wanderten 1935 nach Kanada aus. Willi gab sich immer noch mit Sitzmöbeln ab. Allerdings als Handelsvertreter. Als die Redlichs an Auswanderung dachten und ihn um Hilfe baten, antwortete er postwendend. Er könne leider nichts für Jettel tun, schrieb er aus Montreal. Das Wort »leider« unterstrich er mit zwei dicken Balken. Franz war nach Palästina emigriert. Seine Mutter erzählte, er müsste sich dort in einem Kibbuz als Erntearbeiter quälen und wäre »viel zu gutmütig für das Land«.

»Die Oder ist schon nicht mehr zu sehen«, schluckte Jettel. Sie schaute ihre Mutter an, doch obgleich Ina fühlte, was ihre Tochter bewegte, zuckte sie mit den Schultern.

Josephine im Bastrock, die auf dem Tischchen am Fenster saß, stürzte zu Boden und ausgerechnet auf den Kopf. Sie musste mit einem Sahnebonbon aus der Ledertasche getröstet werden, quengelte aber trotzdem weiter. »Bis du Großmutter bist«, sagte Regina und imitierte Ina, »hast du alles vergessen. Kinder vergessen schnell.«

»Das glaube ich nicht«, widersprach Josephine mit Reginas Stimme.

Die Bäume waren nicht mehr von den Telegraphenstangen zu unterscheiden, und die Vögel sahen alle aus wie kleine schwarze Gummibälle. Die Häuser am Bahndamm wurden so winzig, dass noch nicht einmal Erich Zimmermann sie für seine Spielzeugeisenbahn hätte gebrauchen können. Erich wohnte noch in Leobschütz. Sonntags hatte Regina immer mit ihm gespielt, denn er war ja auch jüdisch. Bei Zimmermanns durfte jeder hören, was sie sagte. »Wir fahren zu meinem Papa«, vertraute Regina ihrem Plüschaffen an, »aber ich sage dir nicht, wo der ist. Sonst wird er von einem Hitlerjungen gefressen.«

»Psst«, erschrak Jettel. Sie drückte ihren Finger leicht auf Reginas Mund. »Es können immer noch Leute einsteigen.«

Das geschah erst vierzig Minuten später. Da hatte das empfindliche hellblaue Flügelkleid den ersten Fleck bekommen, Regina einen Wutausbruch und Fips von Regina eine Backpfeife. Regina schämte sich sehr, als all dies geschah. Sie weinte ein bisschen und wurde von ihrer Mutter mit einem Kuss beschwichtigt. Obgleich das Kind die überraschende Zärtlichkeit nicht im vollen Umfang deuten konnte, spürte es doch, wie sehr Mutter und Großmutter bemüht waren, Aufsehen zu vermeiden. »Sind wir bald in Hamburg?«, ergriff Regina die Gele-

»Später. Abends, wenn es dunkel wird und du ein bisschen geschlafen hast.«

»Immer sagt ihr später. Sind wir schneller in Hamburg, wenn ich schlafe?«

In Rawitsch stieg eine große, hagere Frau ein, die blonden Haare durch einen Mittelscheitel getrennt und im Nacken zu einem festen Knoten geflochten. Sie sagte energisch: »Heil Hitler«, zog die Tür des Abteils kräftig zu, entdeckte das umfangreiche Gepäck, seufzte und schüttelte den Kopf. Stirnrunzelnd stellte sie ihre kleine Reisetasche auf Inas Handkoffer. Spätestens als sie die verschreckten Gesichter von Jettel und Ina bemerkte, musste ihr aufgefallen sein, dass weder die beiden noch das Kind ihren Gruß erwidert hatten, doch sie ließ sich nichts anmerken.

Die hochgeschlossene weiße Bluse der Frau, die Brosche aus Bernstein, die einen Kranz aus Ähren darstellte und die den obersten Blusenknopf verdeckte, der grüne Trachtenrock und der ungeschminkte Mund entsprachen ganz dem von den Nazis propagierten Frauenbild. Jettel wischte ihre Stirn trocken. Noch nervöser wurde sie, als ihr auffiel, dass die neue Mitreisende ihrer ehemaligen Mathematiklehrerin ähnlich sah. In den letzten drei Schuljahren hatte Fräulein Fischbach in jedem Zeugnis die mangelnde mathematische Begabung der Schülerin Perls als Aufsässigkeit und Lernunwilligkeit dokumentiert. Jettel unterdrückte das Bedürfnis, das Fenster aufzumachen. Ihr Taschentuch war schweißnass, ihre Hände aber kalt. Zu ihrem Erstaunen lächelte die Frau mit der Bernsteinbrosche Regina an. Sie strich ihren Rock glatt, setzte sich neben sie und sagte in dem gekünstelten Ton, den viele Erwachsene als den direkten Weg zu einem Kinderherzen erachten: »Du hast aber eine ganz feine Puppe. Wie heißt denn dein Liebling?«

Regina war einen solchen anbiedernden Ton nicht gewöhnt. Seit dem Umzug von Leobschütz nach Breslau war sie überhaupt nicht mehr gewöhnt, von Fremden angesprochen zu werden. Sechs Monate lang war sie vor jedem Spaziergang, vor jedem Einkauf und auch beim Arztbesuch ermahnt worden, still zu sein und niemanden zu belästigen. Unsicher sah sie ihre Mutter an, danach ihre Großmutter. Es verwirrte sie sehr, dass beide ihr zunickten, als wollten sie sie zu einer Antwort ermuntern. Mutter und Großmutter lächelten gar die Fremde an. Regina sagte kein Wort. Sie drückte die Puppe fest an ihre Brust und starrte so lange auf den Boden, bis sie winzige schwarze Würmer sah - ein verschüchtertes kleines Mädchen in einem Flügelkleid, das sich Flügel wünschte, um aus dem Fenster zu fliegen. Zu den Engeln, die Kinder beschützten und Erwachsenen den Mund zuklebten. Schließlich entdeckte dieses flügellose, unbe-schützte Kind auf Mutters Handtasche seinen weißen Leinenhut. Regina ließ einen kurzen Augenblick die Puppe los. Sie setzte den Hut auf und zog ihn so tief in die Stirn, dass ihr Gesicht kaum noch zu sehen war und sie auch nichts mehr sah. Dann presste sie die Puppe wieder an sich.

»Vielleicht weiß deine Puppe, wie sie heißt. Wollen wir sie mal fragen? Manche Puppen sind klüger als kleine Mädchen.«

»Josephine«, murmelte Regina unter ihrem Hut.

»Das ist aber kein schöner Name«, monierte die Frau. »Auch nicht für eine Niggerpuppe.« Sie lächelte nicht mehr, und doch waren ihre Zähne zu sehen.

»Mein Papa hat gesagt, das darf man nicht sagen.« »Regina«, mahnte Jettel, »Kinder dürfen nicht widersprechen. Das weißt du doch. Und setz endlich diesen albernen Hut ab. Wir sind doch hier nicht im Zirkus.« »Sie hat angefangen«, weinte Regina und zeigte, obwohl sie das schon gar nicht durfte, mit dem Finger auf die Bernsteinbrosche. Sie rutschte vom Sitz, drehte sich einmal um sich selbst und stampfte erst mit dem rechten Fuß auf und dann mit dem linken. »Rumpelstilzchen« hörte sie die Stimme ihres Vaters aus Afrika sagen. Entsetzt steckte sie ihren Finger in den Mund. Wie eine Zweijährige. Auf Josephines schönen Bastrock tropften Tränen. »Sie hat mit mir gesprochen«, schluchzte Regina.

»Ich wollte das ja nicht. Und Josephine will das auch nicht. Sie kann mit keinem Menschen reden. Nur mit mir.«

Die drei Frauen schauten einander an, erschrocken, verstört und sehr befangen. Zwei von ihnen waren vogelfrei. Für sie war jedes Wort zur falschen Zeit und am falschen Ort ein Risiko. Nur die begnadete Dritte fürchtete weder die Zukunft noch Leute mit einem erhobenen Arm. Alle drei aber waren sie Mütter. Sie waren mit den verschlungenen Pfaden vertraut, die verängstigte Kinder einschlagen, wenn sie in den Irrgärten laufen, aus denen ohne Hilfe kein Entkommen ist. Die von der Gesellschaft Verstoßenen trauten sich nicht, sie selbst zu sein und ein verängstigtes Kind aus dem Labyrinth zu führen. Es war die Frau im Trachtenrock, die sprach.

»Das ist doch nicht so schlimm«, tröstete sie. Ihre Stimme war sanft. Jettel und Ina sahen sie verblüfft an. Trotz ihrer Beklemmung und Angst waren sie der Frau dankbar, und es beschämte sie sehr, wie spontan und mit welcher Selbstverständlichkeit sie Regina für ihre Ungeschicklichkeit gezürnt hatten. Schon sprach die Frau weiter. Sie griff nach Reginas Hand. Ihrem Griff war nicht zu entkommen. »Du darfst nicht sofort weinen, Kind«, erklärte sie. »Was würde denn unserer Führer zu dir sagen? Der will doch, dass deutsche Mädels tapfer und stark sind.«

Regina hielt den Kopf gesenkt. Obwohl sie auf den Boden schaute, gelang es ihr, ihre Hand zu befreien. Sie weinte nicht mehr. Die Stille im Abteil kam unerwartet. Für alle war sie peinigend und peinlich. Regina schnaufte beim Atmen. Ina verschränkte ihre Hände ineinander, um sie ruhig zu halten. Jettel hörte ihr Herz schlagen, und dennoch stand sie auf. Nicht hastig wie eine, die den Augenblick der eigenen Courage rasch ausnutzen will, ehe er wieder vergeht, sondern gelassen und mit der Würde, die nur den Selbstbewussten und Mutigen gegeben ist. Jettel schaute erst ihre Mutter an, dann ihre Tochter und schließlich die unwillkommene Mitreisende.

»Wir waren gerade dabei«, sagte sie im alten, unbeschwerten Plauderton der alten, unbeschwerten Zeit, »im Speisewagen eine Tasse Kaffee trinken zu gehen. Das tun wir jetzt. Da haben Sie wenigstens ein bisschen Ruhe.«

Den Affen Fips in der Linken, griff Regina nach der Hand ihrer Mutter. Noch war ihr Gesicht purpurrot, und ihr Mund stand offen, aber sie konnte schon wieder auf einem Bein stehen. Genau wie das Männlein im Walde, von dem sie sich, wenn sie nicht schlafen konnte, sehr oft fragte, wie es ihm gelang, immer still und stumm und trotzdem ohne Angst zu sein. Sie tat einen fröhlichen Hüpfer in Richtung Himmel. »Ja«, sagte Regina in einem singenden Ton, denn obwohl sie die Geheimnisse ihrer Familie hüten musste wie die königlichen Kammerdiener im Märchen die Schatztruhe ihres Herrn, war sie doch ein Kind wie jedes andere. Auf langer Reise lechzte sie nach jeder Form von Abwechslung.

Ina nahm die Puppe Josephine mit den heiter klimpernden Ohrringen hoch und sagte: »Komm, mein Schatz.« Ihre Bewegungen waren so ruhig und graziös wie in den Tagen der Ruhe, doch wie Feuer brannte in ihr der Schmerz einer Großmutter, die ihrem Enkelkind nicht hatte zu Hilfe kommen dürfen. Einen furchtbaren Moment, den sie nie vergaß, spürte sie, dass diese Demütigung nur der Beginn des Leidens war. Sie schaute hoch und sah, dass Jettel ihre Schultern gestrafft hatte. Auf ihre Tochter war Ina stolz. Diesen wärmenden Mutterstolz würde sie erst recht nicht mehr vergessen. Jettel, von der ihr Mann stets behauptete, sie würde schon deshalb in jeder Notsituation versagen, weil sie nicht beizeiten gelernt habe, sich dem Leben zu stellen, ging mit erhobenem Kopf zum Speisewagen. Der Rock ihres gepunkteten Seidenkleids wippte. Wie die Fahnen zu Kaisers Geburtstag.

»Walter wird sich wundern«, sagte Ina, als der Kaffee vor ihnen dampfte und Regina mit ihrem Zeigefinger erst Fips und dann Josephine mit der Schlagsahne fütterte, die auf der heißen Schokolade dümpelte.

»Du meinst, wenn unser ganzes Gepäck geklaut wird«, sagte die verwegene Siegertochter. Ihr Lachen klang wie das Locken der jungen Jettel Perls auf dem Abschlussball der Tanzschule. Walter und Martin Batschinsky wollten beide den ersten Walzer mit ihr tanzen und hielten ihr eine rote Rose hin. Die kleine Kokette entschied sich damals jedoch für Karl Silbermann, der schon im achten Semester war und seine Anzüge aus Berlin kommen ließ. Jettel Redlich, ihre Wangen immer noch von Stolz gerötet, verweilte nur einen Herzschlag lang in der Welt, der sie erst vor ein paar Stunden für immer Adieu gesagt hatte. »Ich glaube nicht, dass da etwas passiert«, sagte sie munter und nickte in Richtung des Abteils. »Jedenfalls will ich doch hoffen, dass unsere deutsche Eiche armen Juden keine Koffer klaut.«

»Psst«, hisste Regina. Sie legte ihren Finger auf den Mund ihrer Mutter.

»Jetzt würde sich dein Mann noch mehr wundern«, staun-te Ina, »er behauptet doch immer, dass du keinen Humor hast.«

»Ach, was weiß ein Mann schon von seiner Frau? Der macht sich oft noch nicht einmal die Mühe, seine Mutter richtig kennenzulernen.«

»Deshalb bin ich ja auch immer froh gewesen, dass ich drei Töchter habe und keinen einzigen Sohn.«

Obwohl Walter in zwei Briefen mit kräftigen Unterstreichungen geraten hatte, so wenig Geld wie möglich im Speisewagen auszugeben und für das Ersparte lieber Regina in Hamburg noch Gummistiefel für die Farm zu kaufen, gingen Ina, Jettel und Regina nicht zurück ins Abteil, als die Tassen leer waren. Um weitere Komplikationen mit ihrer Mitreisenden zu vermeiden, dehnten sie das ursprünglich nur kurz bemessene Fluchtprogramm zu einem späten Mittagessen aus. Mutter und Tochter waren in allerbester Stimmung. Sie waren ohnehin mit dem flexiblen Gedächtnis von Frauen gesegnet, die sich von männlichen Ratschlägen nicht die Laune verderben lassen. Nach dem Kaffee und vor der Schwarzwälder Kirschtorte bestellten sie - auch für die heftig protestierende Regina - Frikadellen mit Spinat und Salzkartoffeln. Abermals sorgte Regina für eine unerwartete Pointe. Sie aß den Spinat mit einer solchen Lust, als hätte man ihr nicht seit ihrem dritten Lebensjahr weismachen müssen, der verhasste grüne Brei sei in Wirklichkeit eine Zauberspeise, der kleine Mädchen vor den Nachstellungen böser Buben und böser Hexen schütze. Selbst der Ober, der zu Hause vier kräftige Söhne hatte, denen keine Portion groß genug war und die Abstände zwischen den Mahlzeiten grundsätzlich zu lang, bestaunte Reginas Appetit. Er nannte sie ein Prachtmädel, klopfte ihr auf die Schulter und schenkte ihr eine Postkarte, auf der eine rote Lokomotive hellgelbe Wagen über eine Brücke zog. Reginas Augen funkelten Frohsinn. Sie sonnte sich im Beifall und griff vom Nachbartisch eine Anregung auf, die den Kellner noch mehr entzückte. Mit einem Stück Brot wischte sie ihren Teller rein.

»Was meinst du, wie sich unser Koch freut, wenn er deinen Teller sieht«, lobte er. »Die meisten Kinder mögen keinen Spinat.«

»Ich bin nicht wie die meisten Kinder«, sagte Regina. Für Ina und Jettel gab es zum Abschluss der Tafelfreuden Danziger Goldwasser. Der Ober schenkte es bei Tisch aus einer viereckigen Flasche ein, die linke Hand auf dem Rücken. Die winzigen Goldplättchen schwammen in der klaren Flüssigkeit; sie erzählten vergessene Geschichten, die fortan nie mehr in Vergessenheit geraten und in der Herzgrube schmerzen würden. Josephine, Fips und Regina durften an den Gläsern nippen. Alle fünf wurden fröhlich wie die Sonnenkinder, die im Bilderbuch den Regenbogen hinunterrutschten, doch nur zwei von ihnen kannten den Grund. Bald fiel Regina auf, dass die meisten Sätze von Großmutter und Mutter mit den gleichen drei Zauberworten anfingen. Auch Fips ging dazu über, »Weißt du noch?« zu fragen, und die barfüßige Josephine tanzte wild auf dem Tisch. Auf der anderen Seite des Ganges saß ein älterer Herr, der seinen Schnurrbart in Bierschaum eintauchte. Er war viel in der Welt herumgekommen und wusste über die Menschen Bescheid. Regina zwinkerte er mit dem rechten Auge zu. »Deine Puppe braucht einen Gürtel aus Bananen«, schlug er vor.

Regina vergaß, dass sie ein Kind zu sein hatte, das fremde

Menschen sehen, aber nicht hören sollten. Mit der deutlichen Stimme, die ihren verängstigten Eltern von Jahr zu Jahr mehr Kummer gemacht hatte, vertraute sie dem Kinderfreund an: »Den Gürtel kriegt Josephine erst, wenn wir in Afrika sind.« Beim letzten Wort erschrak sie dann doch. Sie schlug sich gar auf den Mund. Betreten schaute sie Jettel und Ina an, doch das Danziger Goldwasser hatte schon zu wirken begonnen. Beide nickten Josephines Mutter zu, als dürfte ein Kind alles sagen, wonach ihm zumute war.

Als der Zug dabei war, in Frankfurt an der Oder einzufahren, konnte Regina, erschöpft von den Aufregungen des Tages, der Nervosität der Erwachsenen, dem aufmerksamen Belauschen von Gesprächen, denen sie nicht folgen konnte, und dem ungewohnt vielen Essen, kaum noch die Augen offen halten. Ina und Jettel hatten erhitzte Gesichter und ein brodelndes Gewissen. Beide machten sich gewaltige Vorwürfe, dass sie sich so lange nicht um das Gepäck gekümmert hatten. Wie Kinder, die zum ersten Mal allein verreisen! Den Rückweg ins Abteil traten sie mit Blei unter den Schuhen und klopfenden Hasenherzen an.

»Kommen Sie wieder«, empfahl der Kellner mit den vier unersättlichen Söhnen, »bis Hamburg ist der Weg noch lang.«

»Woher der wohl weiß, wohin wir fahren?«, sorgte sich Jettel.

»Wahrscheinlich sagt der das immer«, beruhigte sie Ina, »der Zug fährt ja nach Hamburg.«

Alle Koffer standen auf ihrem Platz. Reginas Leinenhut lag auf der Reisetasche, ein Apfel, der zuvor noch nicht da gewesen war, auf dem Tischchen am Fenster. Jedoch war die Frau im Trachtenrock weg. Mitsamt ihrem kleinen Koffer. Es war niemand mehr zugestiegen. »Gott sei Dank!«, sagten Jettel und Ina im Chor. »Das hätten wir hinter uns.«

Eine halbe Stunde später, als Jettel zur Toilette ging, sah sie die ehemalige Mitreisende wieder. Sie hatte zwei Abteile weiter einen Platz gefunden und unterhielt sich angeregt mit einem Mann in ihrem Alter. Er sah absolut so aus, als würde er es nicht dulden, dass eine Tochter von ihm mit einer schwarzhäutigen Puppe spielte, die einen bloßen Busen und einen sehr undeutschen Namen hatte. Der Mann, auch das fiel Jettel mit ihrem geschärften Instinkt für Details auf, trug das Parteiabzeichen im Revers seines Sakkos. Noch während die Kundschafterin ihrer Mutter in verschlüsselten Worten und mit Hilfe einiger französischer Vokabeln die Begebenheit erzählte, wobei sie teils schauderte und teils glucksend wie ein Backfisch lachte, protestierte Regina: »Aber ich bin nicht müde.« Zwei Minuten später schlief sie ein. Das Rütteln des Zugs schaukelte sie in den Tiefschlaf. Es war genau das, was sich ihre Großmutter und noch mehr ihre Mutter gewünscht hatten - eine Schonzeit vor den zu aufmerksamen Ohren eines zu früh reif gewordenen Kindes. Es war, das spürten sowohl die Mutter als auch die Tochter, vielleicht die letzte Gelegenheit, um miteinander zu reden, ohne dass die Bedrängnis des Abschieds die Wortwahl diktierte.

Sehnsuchtsvoll schaute Jettel zum Fenster hinaus. Sie ließ keine Minute von der kostbaren Zweisamkeit verstreichen, die ihr Reginas plötzliche Müdigkeit beschert hatte. »Ich nehme an«, sagte sie, »die Oder werde ich in diesem Leben nicht mehr sehen. Weißt du, ich hätte nie gedacht, dass mir das so viel ausmacht. Ein Fluss war für mich doch nie etwas Besonderes, halt nur Wasser mit einer Brücke drüber und Häuser am Ufer. Auf einmal kommt es mir vor, als wäre in meiner Jugend jeder Tag ein Sommertag gewesen und wir hätten in einem Ruderboot gelegen und in den Himmel geschaut, in rosa Wolken mit hellblauen Bändern. Walter konnte wunderbar rudern. Und Martin Batschinsky erst.« Noch sprach sie leise, um Regina nicht zu wecken.

»Du darfst nicht so viel über Dinge grübeln, die nicht mehr zu ändern sind«, erkannte Ina. »Das macht krank. Und unzufrieden. Wer sich zu oft nach der Vergangenheit umdreht, bekommt einen steifen Hals. Hat schon mein Onkel Willi gesagt. Und der musste es wissen. Der war ja Arzt. Du musst dir immer wieder sagen, dass nur eins wichtig ist: Du bist unterwegs zu deinem Mann und Regina zu ihrem Vater. Das ist eine Gnade, auf die eine Frau weiß Gott kein verbrieftes Recht hat. Ich war vierunddreißig, als dein Vater starb und mich mit drei Kindern zurückließ. Suse war erst vier. «

»Aber ich war zwölf«, lachte Jettel, »und eine mächtige Hilfe für dich. Jedenfalls hast du das immer gesagt.« Einen Moment glühte ihr Gesicht. Es wurde wieder jung mit dem Stolz von damals, doch die gute, besänftigende Stimmung verflüchtigte sich so rasch wie die Bäume, die sich in Dunst auflösten, kaum dass sie am Bahndamm ihr Hoffnungsgrün geflaggt hatten. Schon kehrte die Angst zurück, noch fordernder und bösartiger als zuvor. »Ach, wenn wir doch nur irgendwo in Europa leben könnten«, klagte Jettel. »Von mir aus auch in Polen oder meinetwegen sogar in Litauen oder sonst wo da unten. Vera Schlesinger ist mit ihrem Mann und den Zwillingen nach

Vilna gegangen. Hugo Schlesinger ist ja auch Jurist. Und Thea Trautmann, die in der Schule in jeder Französischarbeit eine Fünf schrieb und die selbst zu dumm war, einen Mann zu finden, hat in Frankreich eine Anstellung als Kindermädchen bekommen. Nur Walter hat mal wieder seinen Dickkopf durchgesetzt. Es musste unbedingt Afrika sein. Das ist so verdammt weit weg, so hoffnungslos weit.«

»Wer weiß, wozu es eines Tages gut ist. Es hat keinen Zweck, mit dem Schicksal zu rechten, Jettel. Das war immer Sünde. Jetzt erst recht.«

»Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie das ist, durch ein ganzes Meer oder gleich mehrere von dir getrennt zu sein. Ich muss immerzu an das Gedicht von den zwei Königskindern denken. Weißt du noch, wie ich das in der Schule am Elterntag aufgesagt habe?«

»Und ob ich das weiß! Du warst die schönste von allen in deinem rosa Taftkleid. Eine dreizehnjährige Königin. Jeder Mann, der im Publikum saß, hat sich die Lippen geleckt.«

»Ach, Mutter, manchmal habe ich das Gefühl, wir werden uns nie mehr wieder sehen. In solchen Momenten will ich auch nicht mehr weitermachen.«