Stefanie Zweig Nur die Liebe bleibt

© 2006

Erinnerungen sind Wunden, die nie verheilen.

Leb wohl für immer!

Breslau, 8. Januar 1938

»Ihr geht jetzt am besten«, sagte Walter Redlich. »Sie muss mich ja nicht abfahren sehen. Ein kurzer Abschied wird es uns allen leichter machen. Mir auf alle Fälle.«

»Mir nicht«, sagte Regina. Vater, Mutter, Großmutter und Tante schauten die Fünfjährige erschrocken an, doch keiner sagte ein Wort.

Die Bahnhofsuhr zeigte neun Uhr zweiunddreißig. Am Bahnsteig sieben wartete außer Walter und den Seinen nur eine Handvoll Reisender. Zwei Männer mit gleichen Aktentaschen und gleichen Koffern blätterten zeitgleich in kleinen schwarzen Notizbüchern. Sie redeten auffallend leise miteinander und machten den Eindruck, sie würden selbst für kurze Strecken nicht in der dritten Klasse reisen. Die Vorstellung, ihnen nach der Abfahrt nicht mehr begegnen zu müssen, erleichterte Walter.

Ein junges Ehepaar mit so umfangreichem Gepäck, wie es wohl nur Reisende ohne Furcht vor Menschen in Uniform mitzunehmen wagten, schaukelte abwechselnd ein weinendes Baby. Das Kind schaute aus einem hohen Korbwagen heraus; Walter war ganz sicher, es würde im selben Abteil landen - ganz gleich, ob der Zug voll belegt war oder halb leer. Er hatte da ein persönliches Gesetz der Serie entwickelt. Heulende Kleinkinder reis-

ten grundsätzlich im selben Abteil wie er, entweder auf dem Platz neben ihm oder gegenüber, und fast alle hatten sie das Verlangen, ihre Fingerchen an seiner Hose abzuwischen. Nur war es das erste Mal in seinem Leben, dass ihm ein schreiendes Baby als Reisegenosse viel angenehmer erschien als zwei seriöse Männer mittleren Alters. Sosehr Walter den Gedanken zu unterdrücken versuchte, erinnerten ihn deren dunkle Mäntel und ihre tief in die Stirn gezogenen Hüte an die Gestapo.

Am Ende des Bahnsteigs hatte sich eine Gruppe Halbwüchsiger formiert. Sie trugen alle die gleichen Hosen und dunkelbraune Hemden, zwar militärisch geschnitten mit Achselklappen und großen Taschen, aber nicht mit der Uniform der Hitlerjugend zu verwechseln. Trotzdem assoziierte Walter mit den schweigenden Jungen, die alle in die gleiche Richtung schauten, spontan einen Aufmarsch auf dem Leobschützer Ring. Es war ganz zu Beginn des Schreckens gewesen. Die hasserfüllten Texte der Schmählieder, die er da zum ersten Mal hörte, noch mehr jedoch der Umstand, dass Walter so manchen Jungen kannte, der nun grölend mitmarschierte und von dem er wusste, dass dessen Familie als anständig und fromm katholisch galt, hatte ihm ein für alle Mal den Glauben genommen, die Nazis würden nur ein kurzer Albtraum werden und dann für immer von der Bühne der Weltgeschichte verschwinden.

Zu seinem Erstaunen beruhigte sich Walter schneller als sonst, wenn er an die letzten fünf Jahre dachte. Für einen kurzen Moment, ehe die Scham ihn versengte, dass er Jettel und das Kind für mindestens sechs Monate in Deutschland zurückließ, belebte ihn gar der Gedanke an die Zukunft. Wenn alles nach Plan und Wunsch verlief, würde Walter Redlich, der bis zum 30. Januar 1933 vor keinem Menschen in Deutschland Angst gehabt hatte, sich ab der österreichischen Grenze nicht mehr vor vierzehnjährigen Jungen in braunen Hemden fürchten. Auch würde er nicht mehr überlegen müssen, ob Männer mit dunklen Hüten und hochgeklapptem Mantelkragen von der Gestapo waren oder nur besonders empfindlich gegen den Ostwind im Breslauer Winter.

»Es ist doch verdammt kalt heute«, sagte er. »Meine selige Mutter hat immer gesagt, wenn man friert, muss man sich warme Gedanken machen. Hätte ich sie bloß beizeiten gefragt, wo man die herkriegt.«

»Deine Mutter muss eine kluge Frau gewesen sein«, sagte seine Schwiegermutter. »Es hätte sich gelohnt zu fragen.«

Der Minutenzeiger hatte sich um vier Striche bewegt. Kroch die Zeit, oder konnte sie fliegen? Mit zwei schwarzen Flügeln, die sich als Uhrzeiger tarnten? Der Mann mit den belegten Brötchen und dem Obst auf dem weißen Karren, der Regina so faszinierte, weil der Wagen sehr hohe Räder hatte und über der Lenkstange ein roter Luftballon schwebte, war zu einem anderen Gleis weitergezogen. Der Zeitungsverkäufer, auf den Walter gesetzt hatte, um sich zum letzten Mal mit den Zeitungen der Heimat zu versorgen, war gar nicht erst erschienen. Es war auch nur ein einziger Gepäckträger da, und die ganze Zeit waren keine Reisenden mehr dazugekommen. Also war der Rat von Heini Wolf, nach Dresden den fast immer schwach belegten Zehnuhrzug zu nehmen, genau richtig gewesen.

Walter hatte Heini erst in Breslau kennengelernt. »Du warst«, pflegte er zu sagen, »mein letztes bisschen Glück in diesem Leben. Ein Abgesandter des Himmels. Von Gott persönlich geschickt.«

Heini war ein alter Freund von Ina Perls. Schon als junger Mann hatte er Walters Schwiegermutter verehrt, die schöne junge, gastfreundliche Witwe mit drei ebenso schönen Töchtern. Selbst als er verheiratet war, änderte sich nichts. Jeden Dienstag rückte Heini in der Breslauer Goethestraße 15 zum Abendessen an. Seitdem er vor einem Jahr überraschend Witwer geworden war, ließ er sich hin und wieder von Ina seine Sachen aufbügeln. Der graue Flanellanzug war allerdings nur ein Vorwand, um die Einsamkeit und Ängste eines Mannes zu kaschieren, der alle Entscheidungen im Leben seiner Frau überlassen hatte.

Die meisten von Heinis Freunden waren bereits ausgewandert, seine Kollegen, soweit sie jüdisch waren, ausnahmslos. Ursprünglich hatte auch Heini zu emigrieren vorgehabt; er wusste auch, wohin er wollte, und er hatte auch noch genug Geld, um sich in einem fremden Land Arbeit zu suchen, ohne sofort verdienen zu müssen. Nur hatte er nicht mehr die Energie und den Mut, sich um Visa und Bürgschaften zu kümmern. Dafür wusste er stets Bescheid, wer vor der Auswanderung stand und wohin die Leute reisten.

Heini beriet viele von ihnen. Auch solche, die es sich hätten leisten können, ihm mit Geld für sein gutes Herz und sein lebensrettendes Wissen zu danken; nun, es revanchierten sich sowieso nur die wenigsten. Als er noch in Lohn und Ansehen gestanden hatte, war Heini bei der HAPAG angestellt gewesen. Von seinem Chef wurde er den Kunden als Kapazität empfohlen, bei allen Kollegen war er gut gelitten. Auch bei denen, die ab dem 1. Februar 1933 nicht mehr mit »Guten Morgen«, sondern schon mit »Heil Hitler!« grüßten.

Der »Leitwolf«, wie Heini zu seinem Stolz schon in jungen Jahren genannt wurde - es gab noch einen Namensvetter in der Abteilung, allerdings einen sehr unbedeutenden -, war Experte für Schiffsreisen gewesen. Er kannte sich aber durch einige privat unternommene Reisen fast so gut an der italienischen Riviera aus wie im Riesengebirge oder in Brieg, woher er stammte und wo er regelmäßig seine alte Mutter besuchte. Mit der Lust der alten Tage und der Wehmut von Menschen, die auf einen Schlag ohne Perspektiven und deshalb auch ohne Ansehen sind, hatte die von der HAPAG entlassene Kapazität Heinrich Siegfried Wolf die unfreiwillige Reise des ehemaligen Leobschützer Rechtsanwalts und Notars Dr. Walter Redlich zusammengestellt. Der Berater tat dies mit jener Liebe zum Detail, der er seine Karriere verdankte. Per Bahn von Breslau nach Genua und von dort mit dem Schiff nach Mombasa. Selbstredend ohne Rückfahrschein und samt den beiden Übernachtungen, die nötig sein würden, ehe die »Ussukuma« ablegte. Sogar sechs billige Lokale in Genua, die er in seinem Berufsleben wahrlich nie empfohlen hätte, deren Namen er jedoch einmal für seinen jungen Neffen eruiert hatte, hatte er für Walter aufgeschrieben - mit der Ermahnung, den Zettel bloß nicht zu den offiziellen Reisepapieren zu legen. »Vor dem Paradies«, wusste Heini aus den Berichten derer, die dem Vaterland entkommen waren, »stehen der deutsche Zoll und seine Helfershelfer. Wer weiß, was die vermuten, wenn die sehen, dass du in Genua einen Teller Nudeln essen willst.«

»Ohne dich«, sagte Walter, »hätte ich zu Hause bleiben müssen. Gegen mich war Hänschenklein ein Weltreisender. In den letzten fünf Jahren bin ich immer nur von Leobschütz nach Breslau gefahren. Um neun Uhr hin und zurück am nächsten Tag um fünf Uhr drei. Damit ich bei Ina noch Bratkartoffeln essen konnte. Ich kann noch nicht einmal ein Kursbuch richtig lesen. Vielleicht bringst du mir das vor der Abfahrt noch bei. Ich muss doch wenigstens ohne fremde Hilfe herausbekommen können, wann ich wo zu sein habe.«

»In Afrika wirst du kein deutsches Kursbuch mehr brauchen, mein Guter. Wenn ich mir die Lage genau begucke, wirst du überhaupt nie mehr ein deutsches Kursbuch brauchen. Wichtig für uns alle ist jetzt ja nur, dass wir den letzten Zug nicht verpassen. Augen zu und los. Komm, das haben schon ganz andere geschafft.«

Mit dem Zug, der um zehn Uhr nach Dresden abfuhr, hatte Heini langjährige Erfahrungen. »Der war nie besonders beliebt bei den Leuten«, sagt er an Walters letztem Abend in der Goethestraße. »Ich habe die Hälfte meines Berufslebens damit zugebracht, nach dem Grund zu forschen. Nun ist es allerdings für mich selbst und für die Menschen, denen ich zu helfen versuche, Gold wert zu wissen, in welchen Zügen man sich nicht wie ein Eierdieb umzugucken braucht und wo man vielleicht nicht mehr Gespenster zu sehen bekommt, als der Mensch ertragen kann.«

»Und bedankt euch noch einmal bei Heini«, sagte Walter, als ihm noch genau sechzehn Minuten und dreißig Sekunden in Breslau blieben. »Ohne ihn hätte ich wirklich ganz schön alt ausgesehen. Sagt ihm, ich wünsche ihm von Herzen alles Gute, und gib ihm einen Tritt von mir. Er soll endlich an sich denken. Und ihr, ihr solltet jetzt wirklich gehen.«

Es kostete Walter Mühe, sich nicht sein Verlangen anmerken zu lassen, niemandem mehr Antwort geben zu müssen, keinen mehr zu trösten. Wenn ihm die Familie die letzten Minuten von seinem Schmerz erließ, brauchte er sich nicht zu zwingen, der Mann zu sein, der er nicht mehr war. Dann würde die Zeit reichen, um noch einmal auf den Bahnhofsvorplatz zu gehen und den Türmen und Bögen Lebewohl zu sagen. Und den Träumen der Jugend. Sollte Gott ihn erhört haben, würde er den Breslauer Hauptbahnhof ja nie wieder sehen.

Mit neunzehn Jahren war er das erste Mal nach Breslau gekommen. Er hatte es gar nicht abwarten können, die Universität zu sehen und sich zu immatrikulieren. Nun war er dreiunddreißig und gebrochen, ein Mann ohne Zukunft und bald auch ohne Sprache.

»Warum?«, fragte Regina, »warum sollen wir gehen? Das Baby darf doch auch bleiben?«

»Das fährt ja auch mit.«

»Ich kann doch nichts dafür, dass ich nicht mitfahren darf. Ich will ja.«

Wenn sie nörgelte, fiel Walter auf, hatte sie das gleiche Gesicht wie ihre Mutter. Und die gleiche Stimme. Er musste sich zusammennehmen, um nicht zu lächeln. Auch Abschiede hatten ihre Gebote und Rituale. Wer wegfuhr, musste alles erklären, selbst ein Lächeln. Wahrscheinlich hatte auch Penelope Odysseus gefragt, weshalb er lächelte. »Der hatte wenigstens allen Grund dazu«, sagte Walter.

»Wer?«, fragte Jettel.

»Wer?«, plapperte Regina nach. Wieder die gleiche Tonlage wie Jettel, die gleiche Mimik. Sie sah so ernst aus, als könnte sie verstehen, was geschah.

In den letzten sechs Monaten, seit dem Abschied von dem Apfelbaum im großen Garten, von Anna, dem geliebten Kindermädchen, und von Leobschütz, wo sie geboren worden war und sämtliche Straßen um den Asternweg herum kannte, hatte sich Regina ebenso sehr verändert wie die äußeren Lebensumstände ihrer Eltern. Sie fragte nur noch selten nach den Dingen, die fünfjährige Kinder, die auf der Sonnenseite des Lebens stehen, sonst wissen wollen. Regina schaute nicht nach Sonne, Mond und Sternen, sie träumte nicht von Märchenprinzessinnen und fürchtete sich nicht vor Hexen, die es auf brave Kinder abgesehen haben. Regina, herausgerissen aus einer gleichmäßig temperierten Welt von Liebe und Geborgenheit, begehrte allzeit Auskunft über die neue Wirklichkeit. Unter gewöhnlichen Umständen hätte es die Familie entzückt, wie verständig und vernünftig das Kind geworden war. In der gegenwärtigen Situation indes waren Reginas schnelle Auffassungsgabe und ihre Wissbegier eine Belastung. Eine Frage zur falschen Zeit und am falschen Ort konnte lebensgefährlich werden.

Unbestimmte Andeutungen und bewusste Umschreibungen, um Geschehnisse und Vorhaben zu verschleiern, von denen außerhalb der großmütterlichen Wohnung niemand etwas wissen durfte, genügten oft nicht, um die Fünfjährige zu täuschen. »Sie hört das Gras wachsen«, sagte ihre Großmutter.

»Wenn du mich fragst, dann sät sie es«, seufzte ihr Vater. Regina war, weil ohne Geschwister und kaum mit gleichaltrigen Kindern aufgewachsen, immer altklug gewesen. Seit dem Umzug von Leobschütz nach Breslau war sie hellhörig geworden - und bedrohend neugierig. Sie hatte einen früh ausgeprägten Instinkt für die Stimmungen und Ängste der Erwachsenen, dazu ein außergewöhnliches Gedächtnis für Einzelheiten, von denen ihre Eltern den Himmel anflehten, sie würde sie entweder nicht mitbekommen haben oder auf der Stelle vergessen. Das geschah jedoch schon deswegen nicht, weil Regina es nie leid wurde, sich die Gespräche der Erwachsenen anzuhören.

Aus Angst, sie würde beim Einkaufen, bei Spaziergängen im Park oder vor den Nachbarn im Hausflur Zukunftspläne ausplappern oder Gespräche wiederholen, von denen nichts bekannt werden durfte, hatte Regina erst beim Frühstück von der anstehenden Reise des Vaters erfahren. Kein Ziel war genannt worden, der Name des Schiffs nicht erwähnt. Trotzdem hatte Regina spontan gewittert, dass etwas von enormer Wichtigkeit bevorstand, und zur allgemeinen Bestürzung hatte sie gefragt, ob es in Nairobi auch Kinder gebe. »Oder nur Löwen und Mohren?«

Während der Fahrt im Taxi und auch noch auf dem Bahnhof hatte sie bis zu dem Moment, da ihr Vater sie hatte wegschicken wollen, kein Wort gesagt. Erst der Trotz hatte ihre Zunge gelöst. »Warum?«, bohrte sie zum zweiten Mal, »warum willst du, dass wir jetzt gehen?«

Weil wieder einmal alle so taten, als hätten sie ihre Frage nicht gehört, wurde sie wütend und stampfte mit dem linken Fuß auf. Die neuen weißen Gamaschenhosen, die sie am Morgen nicht hatte anziehen wollen, weil nur kleine Kinder Gamaschenhosen trugen, wurden nass. Braune Spritzer von den Füßen bis zu den Knien. Kleine graue Schneehaufen fielen von den neuen Schnürstiefeln ab.

Sie zerschmolzen auf dem Boden von Gleis sieben zu winzigen Pfützen.

»Meine Handschuhe sind aber ganz trocken«, sagte sie triumphierend und hielt ihrem Vater beide Hände hin. Walter wollte seine Tochter an sich ziehen, ihr beweisen, dass er ihr nicht zürnte und dass ihm Spritzer auf weißen Gamaschen absolut gleichgültig waren, doch mit einem Mal konnte er sich nicht mehr bewegen. Sein Körper war steif und kalt, und immerzu schoben sich wabernde schwarze Hügel vor seine Augen - Lavaberge der Verzweiflung. Er schämte sich seines Kleinmuts, doch ihm fiel nichts ein, was er hätte sagen können. Trotzdem gelang es ihm, nach ein paar Sekunden die Schultern zu straffen und den Kopf zu befreien. Er grub seine Hände in die Manteltaschen, schob seinen rechten Fuß in eine der Pfützen und sagte: »Huch!« - so keck, als wäre ihm nur ein kleines Bubenmissgeschick passiert. Er hatte fest damit gerechnet, dass seine kleine schauspielerische Einlage Regina ablenken würde. In dieser Beziehung reagierte sie wie alle Fünfjährigen: Es machte ihr Spaß, wenn andere zu Schaden kamen. Doch sie sah ihn sehr ernst und ziemlich verblüfft an. Wieder wurde sich der Vater bewusst, wie sehr sich seine Tochter von der Natürlichkeit der Kinder fortentwickelt hatte; er hätte sich absolut nicht gewundert, wenn sie ihn ermahnt hätte, nicht so albern zu sein und besser auf seine neuen Schuhe zu achten.

Der Gedanke an die neuen Schuhe, in der letzten Woche in Leobschütz gekauft, tat ihm nicht gut. Walter dachte an den Mann, der sie ihm verkauft hatte. Er hatte ihn nie zuvor gesehen; sie hatten kaum miteinander gesprochen, doch der Verkäufer war absolut im Bild gewesen. Beim

Zahlen hatte er fünf Mark nachgelassen. Ohne ein Wort der Erklärung.

Obwohl sich Walter wehrte, fiel ihm beim Thema neue Schuhe seine früh verstorbene Mutter ein; er fragte sich und nicht zum ersten Mal, was die wohl zu einem Sohn gesagt hätte, der dabei war, nach Afrika abzufahren und seine Frau und sein Kind zurückzulassen. Sein Vater und Liesel, seine Schwester, hatten ihn einen eigensinnigen, verantwortungslosen Idioten genannt, was Jettel so gut getan hatte, dass sie immer noch davon sprach, doch Walter war bei seinem Entschluss geblieben. »Erst eine Arbeit finden und dann die Familie nachkommen lassen«, erzählte er jedem, der ihn zur Rede stellte.

Die Mutter hatte ihn grundsätzlich nicht mit neuen Schuhen auf Reisen gelassen. »Das tun nur Spießer«, hörte Walter sie sagen. Ihre Stimme war immer noch klar. In zwei Wochen jährte sich ihr Todestag zum zwölften Mal. Zum ersten Mal würde der Sohn keine Kerze zur Jahrzeit anzünden. Nicht auf dem Schiff und mit zwei Fremden in der Kabine. Wenn er erst eine feste Adresse hatte, würde er seinen Vater bitten, ihm Jahrzeitkerzen nach Afrika zu schicken. Beim Packen hatte er nicht an sie gedacht. Einen fatalen Moment ließ Walters Aufmerksamkeit nach. Er hatte sich vorgenommen, sich bis zur Abfahrt noch mehr zusammenzureißen als in den letzten Tagen und die Gedanken nicht schweifen zu lassen, doch die Bilder seiner Jugend hämmerten gnadenlos auf ihn ein.

»Dabei bin ich damals nie weiter als bis nach Hirschberg gefahren«, erinnerte er sich. Wie war er bloß auf Hirschberg gekommen? Er hatte in den letzten Monaten wahrhaftig keinen Moment an Hirschberg gedacht. Dort hatte er Abitur gemacht und war nur zu einem Klassentreffen im Jahr 1927 wieder hingekommen.

»Was ist los?«, fragte Jettel.

»Vergiss es«, sagte Walter, »dein Mann ist ein Trottel. Ein ganz erbärmlicher Idiot.«

Trotz der Januarkälte, die noch in der Bahnhofshalle den Atem dampfen ließ, wurde ihm heiß. Und übel. Trotzdem verlangte es ihn nach einer Zigarette, aber sein Sinn für Haltung und Würde sträubte sich, den Abschied mit einer so profanen Handlung einzuläuten. Eine Trennung, von der man nicht wusste, wie lang sie vom Schicksal bemessen war, erforderte bestimmt eine tragende Geste, wenigstens ein bedeutsames Wort, das in Erinnerung blieb. In der Jugend hatte der Schüler Redlich immer wieder bedauert, dass ihm das Romantische so gar nicht gegeben war. Die meisten seiner Mitschüler hatten Gedichte verfasst oder feinsinnige Sprüche gesammelt, um beim Rendezvous die Mädchen zu beeindrucken. Er hingegen hatte der schönen Rosemarie einen Erzählband von Ernst von Wildenbruch mit dem Titel »Das edle Blut« geschenkt. Doch die blonde Angebetete mit dem reizvollen Silberblick hatte Walter einen komischen kleinen Spießer genannt, und er war nie dahintergekommen, was an Wildenbruch nicht stimmte. Betreten steckte er die Packung »Juno« zurück in die Manteltasche. Er überlegte, wie er sich künftig Zigaretten kaufen sollte - er wusste ja noch nicht einmal, wie er in Kenia den Unterhalt für Frau und Kind verdienen sollte. »Ich werde das Rauchen aufgeben«, beschloss er.

»Warum?«, fragte Jettel. »Du hast doch dein ganzes Leben geraucht. Es muss doch nicht alles anders werden.«

»Ein bisschen anders wird uns ja gar nicht so viel schaden.

Alles fließt, hat Heraklit gesagt. Mir hat der Gedanke immer gefallen.«

Noch floss der Fluss nicht zu neuen Ufern. Am Vortag hatte er Jettel nicht davon abhalten können, Regina die verflixten neuen Gamaschenhosen zu kaufen. Und dann auch noch die albernen Stiefel aus hellem Ziegenleder. Wenn Gott es gut mit ihnen meinte, würde Regina nur noch diesen einen Winter in Breslau erleben und danach keine Gamaschenhosen mehr zu sehen bekommen - und Schnee schon gar nicht. In der Kinderabteilung von Wertheim hätte Walter aber nicht mit Jettel über die Mode und die Witterung in Afrika diskutieren können, ohne dass die Verkäuferin mitbekommen hätte, dass von Auswanderung die Rede war und dass sie es mit Juden zu tun hatte. Mit ihrer üblichen Chuzpe hatte Jettel das Dilemma umgehend zu nutzen gewusst. Nicht nur, dass sie für Regina die Gamaschenhosen mit den unpraktischen Stiefeln kaufte. In der Hutabteilung, in die sie Walter versehentlich bugsierte, ergatterte sie für sich eine unglaublich teure Kappe mit Pelzumrandung. Die würde in Kenia genauso fehl am Platz sein wie das Bürgerliche Gesetzbuch, seine Doktorrolle und die Urkunde seiner Ernennung zum Notar. Von den Beweisen für sein Leben in Stolz und Ehren hatte sich Walter beim Packen trotz eines ehelichen Gewitters, das noch in der Küche zu hören war, nicht trennen können. Jettel, die den Platz in Walters Koffer für ihr graues Gabardinkostüm nutzen wollte, das ihr voranreisen sollte, hatte ihn einen sentimentalen Narren genannt.

Als Jettel schon schlafen gegangen war, hatte er mit Ina zum letzten Mal ein Glas Schlehenschnaps getrunken. Er hatte sie gebeten, nach seiner Abfahrt ernsthaft mit ihrer

Tochter zu reden und ihr klarzumachen, dass sie nicht mehr die hoch verehrte Gattin eines Rechtsanwalts und somit auch nicht mehr die feine »Frau Doktor« war, sondern die Frau eines Emigranten und Habenichts, dem man Beruf, Ansehen und Heimat genommen hatte. »Sie ist nichts, und ich bin nichts«, hatte er seiner Schwiegermutter erklärt. »Und null und null gibt null, aber rechnen kann ja deine dickschädelige Tochter auch nicht. Ihr Mann ist ein Nebbich. Er ist auf dem Weg in ein Leben, in dem es ganz bestimmt nicht auf Fellmützen ankommt, mit denen die gnädige Frau im Cafehaus fremden Männern den Kopf verdreht, sondern auf Hände, die zupacken können. Sämtliche der verdammten gesellschaftlichen Gepflogenheiten, an die wir uns noch festgeklammert haben, als das Boot schon am Sinken war, sind keinen Pfifferling mehr wert. Wie die Vollidioten haben wir uns benommen, und ich werde mir das bis zum letzten Tag meines Lebens nicht verzeihen. Von jetzt ab muss deine Frau Tochter jeden Pfennig für die Schiffspassagen zurücklegen, die sie hoffentlich in ein paar Monaten schon buchen kann. Sag ihr das. Am besten drei Mal täglich.«

»Sie wird das alles noch lernen«, hatte Ina ihren Schwiegersohn beschwichtigt. »Lass ihr Zeit. Jettel war immer eine, die Zeit brauchte, um zu kapieren, was die Uhr geschlagen hat. Aber sie hat ein gutes Herz, und sie liebt dich. Vergiss das nie.«

»Sag das Hitler!«, hatte Walter räsoniert. »Sag ihm, er soll uns Zeit lassen, uns daran zu gewöhnen, dass wir verachtete Ausgestoßene sind, die sich für jeden Tritt in den Hintern auch noch bedanken müssen.«

Mit einem zweiten Schlehenschnaps hatte er eine Schlaftablette genommen. Ina hatte darauf bestanden. Geweint hatte sie erst, als sie allein war.

Nun hatte Jettel rote Augen. Mit der neuen roten Kappe, die ihr zu Walters Verärgerung besonders gut stand, wartete sie am Breslauer Hauptbahnhof auf die Einfahrt eines Zuges, den sie verfluchte. Obwohl sie mit erhobener Rechter geschworen hatte, das nie vor Regina zu sagen, sprach Jettel von einem Abschied fürs Leben. Sowohl ihre Tränen als auch die schmeichelnde Biberumrandung ihres Gesichts machten sie schön.

Trotz seiner Not ließ sich Walter einen Herzschlag lang weich stimmen. Jettel gehörte zu den wenigen Frauen, deren Schönheit nicht litt, wenn sie weinte. Solche Frauen blieben immer eine Spur geheimnisvoll. Und begehrenswert. »In ihren Augen glitzern Diamanten«, hatte Martin Batschinsky gesagt, als die sechzehnjährige Jettel ihm beim Abschlussball der Studententanzstunde die Vernunft raubte.

Nur im allerletzten Moment konnte sich Walter davor zurückhalten, Martins Namen auszusprechen. Er biss sich auf die Lippen. Wie Regina, wenn sie fürchtete, Dinge auszuplappern, die sie nicht wissen durfte. Ausgerechnet von seinem besten, dem ältesten Freund hatte Walter sich nicht mehr verabschieden können. Martin Bat-schinsky war unauffindbar gewesen, Adresse: unbekannt verzogen. Hoffentlich nicht nach Buchenwald. Greschek, der Getreue, hatte das ausgesprochen. Er verehrte Martin. Allerdings hatte Heini Wolf vor zwei Wochen erzählt, Martin wäre unterwegs nach Johannesburg.

Trotz der Tanzstunde, die sie beide - Jettels wegen -kurzfristig zu Rivalen gemacht hatte, war Walter nie eifersüchtig auf seinen Freund und Weggenossen ge-wesen. Martin, der fröhliche Sieger, der weder Pessimismus noch Zagen buchstabieren konnte, wurde ab dem ersten Semester in Breslau ein strahlender Fixstern an Walters Firmament. Zunächst verband die beiden die Liebe zur gemeinsamen Heimat Oberschlesien, bald auch der derbe Humor und die trotzige Aufrichtigkeit, die charakteristisch für die Region waren. Hinzu kam der Umstand, dass sie beide ein Zimmer bei der Wirtin Walburga Piokowsky mieteten, die ihre »jungen Herren« jeden Sonntagmorgen mit zwei Stück frisch gebackenem Mohnstriezel weckte und ihnen jeden Mittwochmittag Hefeklöße mit warmem, selbst getrocknetem Backobst kochte. Das Duell um Jettel entschied Martin auf eine für ihn ungewohnt großzügige Art. Gerade noch rechtzeitig begriff er, dass es Walter war und nicht er, der die kapriziöse, verwöhnte Jettel wirklich liebte. Er wurde Trauzeuge und später häufiger, stets bejubelter Gast, als die beiden nach Leobschütz zogen, wo das Hausmädchen Anna und das Baby Regina gemeinsam um seine Gunst buhlten.

Ausgerechnet in den letzten Minuten, die ihm blieben, um die Bereitschaft zum Aufbruch und Neubeginn in sein Herz zu pflanzen und seiner Familie Mut zu machen, dachte Walter mit einem Anflug von Neid an Martin. Das war ihm in all den Jahren, die sie gemeinsam verbracht hatten, keinen Tag widerfahren. »Nein«, flüsterte er entsetzt; er faltete seine Hände hinter dem Rücken und meinte, es hätte ihn keiner gehört.

Durch das Entgegenkommen eines gutmütigen Schreiners war es Martin gelungen, gleichzeitig Jura zu studieren und eine Tischlerlehre zu machen. Die Idee stammte von Martins Vater, einem wohlhabenden Viehhändler aus

Neiße. Bei der Erziehung seiner vier Söhne hatte der nämlich die gleichen Ideale wie einst Kaiser Wilhelm II. bei den seinen. »Ein Handwerk ernährt immer seinen Mann und schützt vor Flausen im Hirn«, war die Devise des alten Batschinsky.

Walter und Martin, berauscht von Vorstellungen, die ausschließlich steile akademische Karrieren in Rekordzeit und vor allem den Doktortitel samt gesellschaftlicher Anerkennung anpeilten, hatten noch im dritten Semester ihre jungen ehrgeizigen Köpfe geschüttelt und wie Batschinskys Pferde gewiehert. Obwohl Martin eigensinnig wie ein Maulesel war, hatte er den väterlichen Wunsch respektiert, was ihn selbst am meisten verwunderte. Hinzu kam, dass die Ausbildung zum Schreiner ihm bald wesentlich mehr Freude als das Jurastudium machte. Er war geschickt und ausdauernd, und dass sich der Erfolg von manueller Arbeit - im Gegensatz zum juristischen Studium - umgehend einstellte, empfand er als eine Erfahrung, über die er immer wieder mit anschaulichen Beispielen zu referieren wusste. Den Epilog der Geschichte schrieb dann die Zeit. Menschen mit einem handwerklichen oder technischen Beruf, die aus Deutschland vor den Nazis fliehen mussten und zur Emigration das rettende Visum brauchten, waren in der ganzen Welt willkommen, Ärzte kaum irgendwo und die Juristen nir-

»Wo ist«, fragte Regina, »meine liebe, liebe Tante Suse?« Weil sie die Antwort Silbe für Silbe kannte, machte sie aus der Frage ein kleines Lied. Beim letzten Ton drückte sie jedoch hastig zwei Finger auf ihre Lippen und hisste: »Jetzt nicht!«, wie es die Erwachsenen taten, wenn sie vergaß, dass manche Worte nicht die Wohnung der Großmutter verlassen durften und ein Name schon gar nicht. Regina kreuzte ihre Arme hinter dem Rücken - wie es der Vater soeben getan hatte. Sie schaute sich um und flüsterte zweimal: »Nein.« Gespannt schaute sie Walter an, doch ihr ging auf, dass er weder die Stellung ihrer Arme bemerkt hatte noch, wie gut sie flüstern konnte. »Das sag ich dir zu Hause«, versprach die Großmutter. »Brauchst du nicht, ich weiß es ja«, erinnerte sich Regina. »Dann sag ich dir zu Hause, was du bist, mein Fräulein, ein ganz ungezogenes Gör.«

»Jetzt hast du es ja schon hier gesagt«, kicherte das Kind.

Ina hatte der ersten ihrer drei Töchter vor zwei Wochen und drei Tagen Lebewohl sagen müssen. Suse, die Jüngste, war abgefahren. Von genau der gleichen Stelle: Bahnsteig sieben mit der Uhr, deren Zeiger drohten wie Engel mit dem Flammenschwert, und dem roten Ballon auf der weißen Karre des Brötchenverkäufers. Nur so eisig kalt war es vor zwei Wochen nicht gewesen. Und weniger dunkel und trotz der Erregung, die drei Menschen sprachlos gemacht hatte, die genau wussten, dass keine Trennung mehr eine auf Zeit war, doch irgendwie hoffnungsvoller. Es war eben ein Unterschied, ob eine zwei-undzwanzigjährige Frau mit ihrem Mann nach Amerika fuhr oder ob ein Ehemann nach Afrika aufbrach und Frau und Kind zurückließ.

Suse, Mutters Hätschelkind, acht Jahre nach Jettel geboren, war seit sechs Monaten verheiratet. Die Trennung von ihr war für Ina sehr unerwartet gekommen, doch das Telegramm mit der Nachricht von der glücklichen Ankunft des jungen Paares in New York hatte sie für jede einzelne Träne entschädigt. Mit ihrem Mann Macie, den sie erst seit einem Vierteljahr kannte, hatte Suse einen Hauptgewinn in der Lotterie des Überlebens gezogen. Macie, bis zur Ausschaltung der Juden aus dem Berufsleben wie Heini Wolf eine führende Kraft bei der HAPAG, hatte just am Tag der Hochzeit die Einreisepapiere für die Vereinigten Staaten erhalten. In den meisten Ländern, die zur Auswanderung in Frage kamen, waren die Einwanderungsbehörden nur an verheirateten Paaren interessiert. Ledige lehnten sie häufig ohne Begründung ab. Selbst die jungen.

Käthe, Walters bilderbuchschöne, geschiedene Schwägerin, die sich ihre romantischen Träume von einer zweiten Maienhochzeit im Fliederregen weder von den Hakenkreuzfahnen in den Straßen von Breslau noch von den Schreckensberichten ihrer Bekannten und Freunde nehmen ließ und schon gar nicht von den Drohreden und Aufmärschen der Nazis, hob Regina hoch und drückte sie an ihre Wange. Die zärtliche, immer gut gelaunte, liebevolle Tante, in Reginas Phantasie eine Märchenprinzessin mit Zauberstab, gab ihr einen Kuss.

»Heute pflücken wir beide goldene Kirschen und fädeln uns eine Kette«, lachte Käthe.

Ihr Ton und ihre Augen waren so fröhlich, als wäre der 8.Januar 1938 für die Familien Perls und Redlich ein Tag wie andere auch und der Vater dieses jubelnden Kindes nur unterwegs zu einer kurzen geschäftlichen Besprechung nach Liegnitz. Jettel schaute ihre ältere Schwester an. Ihre Augen flammten Zorn; sie hätte sie gern gerüttelt wie die Goldmarie den Apfelbaum im Märchen und ihr gesagt, was sie sich schon als Zwölfjährige auf mütterlichen Befehl hin hatte verkneifen müssen, doch sie schwieg und fixierte die Bahnhofsuhr. Mit einer zaghaf-ten Bewegung, die beide verwirrte, berührte sie Walters Schulter. »Ich kann noch gar nicht glauben, dass du abfährst«, schluckte sie.

»Ich auch nicht, glaub mir. Ich habe immer gedacht, bei einem großen Abschied spürt man den Schmerz.« »Musst du denn allein fahren? Dein Vater sagt auch, dass du verantwortungslos bist. Und störrisch wie ein alter Esel. Keiner lässt seine Frau und sein Kind in Deutschland zurück. Nur du tanzt wieder mal aus der Reihe.« »Jetzt nicht, Jettel. Jetzt nicht mehr. Wir brauchen gute Erinnerungen. Außerdem stimmt es nicht. Viele von uns versuchen, in der Fremde erst mal ohne die Familie Fuß zu fassen. Es wird sich bestimmt bald auszahlen, dass ich jede Arbeit annehmen kann und mich nicht um euch zu sorgen brauche. Wenn der liebe Gott noch Gebete zur Kenntnis nimmt, holen wir jeden einzelnen Krach nach. Diesen hier als ersten. Heilig Ehrenwort. Es wird nicht lange dauern, bis wir wieder loslegen können.«

»Du bist ein Trottel. Das hat schon mein Onkel Eugen gesagt, als er erfahren hat, dass wir heiraten.«

»Darf ich dich daran erinnern, dass dein kluger Onkel Eugen vor zwei Monaten abgereist ist und dass seine Frau noch hier sitzt?«

»Ach du!«

»Was reimt sich auf Neiße?«, fragte Regina, und als niemand ihr antwortete, sagte sie: »Scheiße«. Als das schöne Wort ohne Wirkung blieb, hüpfte sie über ein imaginäres Seil von rechts nach links und wieder zurück. Mit beiden Händen fing sie einen Ball, den nur sie sah. Nach einer Weile nuschelte sie einen Abzählreim, den ihr Vater ihr in den alten Tagen der Sorglosigkeit beigebracht hatte und der die Leute ebenso entsetzte, wenn sie ihn rezi-tierte, wie die Proben der väterlichen Reimkunst. »Was reimt sich auf Backe?«, fragte sie hoffnungsvoll.

Aus dem D-Zug aus Frankfurt an der Oder stieg eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn aus. Regina starrte die beiden an und lachte schallend. Der Bub war etwa in Reginas Alter. Er trug eine braune Pudelmütze, die ihm ins Gesicht gerutscht war, und drückte einen Stoffaffen an seine Brust - den gleichen, der in der Goethestraße auf einer mit grünem Plüsch bezogenen Recamier von Großmutter Ina thronte. Anders als der Stoffaffe auf dem Bahnhof, hatte der von Regina einen kleinen Brotbeutel aus hellem Leinen umgeschlungen. Ursprünglich war die Tasche für den Kindergarten bestimmt gewesen, doch sie würde nie ein Butterbrot und auch keinen Apfel sehen. Der Kindergarten, aus dem die kleine Waltraud aus der Nachbarwohnung jeden Mittag um halb eins mit fröhlichen Liedern und lustigen Gedichten heimkam, lehnte seit 1934 die Aufnahme jüdischer Kinder ab. »Es tut mir leid«, hatte die Leiterin bei Jettels vergeblichem Versuch gestammelt, ihre Tochter anzumelden, und für Regina, der kein Wort der Unterhaltung entgangen war, hatte sie ein Püppchen aus Wolle aus ihrer Rocktasche gezogen. Die Verlegenheit der Kindergärtnerin und die kleine Puppe galten in der Goethestraße als tröstlicher Beweis, dass nicht alle Menschen in Deutschland mit dem einverstanden waren, was im Namen Deutschlands geschah. »Noch längst nicht alle«, hatte Walter gesagt.

Ein schnaufender Gepäckträger mit hoch beladenem Karren hastete auf Bahnsteig sieben. Seine Mütze fiel vom obersten Koffer herunter. Die junge Frau, die ihrem Gepäck folgte und in Abständen »Vorsicht, Vorsicht!« mahnte, trug einen schwingenden Mantel aus Nutria, auf dem der feuchte Schnee glänzte, und, farblich passend zu ihrem Hut mit einer Perlennadel, lange Handschuhe in einem zarten Lila.

»So eine schöne Frau habe ich noch nie gesehen«, staunte Regina.

»Die fährt bestimmt nach Berlin«, sagte Käthe. Es waren ihre Augen, nicht ihre Stimme, die ihre Sehnsucht verrieten, und obwohl man ihr so oft vorwarf, sie wäre oberflächlich, kurzsichtig und egoistisch, ließen diese schönen Augen wissen, dass Käthe durchaus spürte, wie bedroht die Zukunft der Ausgestoßenen war.

»Mein Affe darf nicht in den Kindergarten«, erinnerte sich Regina, »aber die kleine Puppe war schon dort. Die hat gedarft.«

»Über deinen Affen und die kleine Puppe sprechen wir zu Hause«, schlug ihre Großmutter vor. »Wir können ihnen ja eine Suppe kochen, nur wir beide. Aus Kartoffeln oder mit Zucker und Zimt?«

»Es ist wirklich besser«, drängte Walter, »wenn ihr jetzt geht. Das haben wir doch gestern ausführlich besprochen. Wir müssen alle lernen, uns an das zu halten, was wir uns vorgenommen haben. Sonst kommt unser Leben noch mehr aus den Fugen, als es ohnehin schon ist.« »Ich will aber hier bleiben, bis du wegfährst«, trotzte Regina, »das hast du versprochen. Ich will die Lokomotive sehen. Ich will keine Fugen.«

»>Ich will< gibt’s nicht mehr«, mahnte ihr Vater, »das haben wir doch auch ganz genau besprochen, Regina. Erinnerst du dich denn gar nicht?«

»Ich weiß, was du gesagt hast. Ganz genau weiß ich das. Du hast gesagt, der Hitler hat verboten, dass jüdische Kinder >ich will< sagen.« »Psst«, zischten Mutter und Großmutter. Jettel legte ihrer Tochter die Hand auf den Mund, eine mechanische, seit der Übersiedlung nach Breslau so oft wiederholte Geste, dass sie keine Zärtlichkeit mehr empfand, wenn sie ihr Kind berührte. Nur die Angst spürte sie, die zum ständigen, bedrängenden Begleiter des Lebens geworden war. Sie schaute Regina, die Tränen in den Augen hatte, noch nicht einmal an. Einen Moment, der floh, ehe er überhaupt zu fühlen war, drückte Jettel ihren Kopf an Walters Schulter. Sie rieb die Wange an seinem feuchten Mantel, schaute ins Licht und wusste nicht, was sie suchte. »Schreib sofort«, sagte sie, »wenn du in Afrika bist. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich die Ungewissheit aushalten soll. Und die Sorgen. Das Kind ist doch noch so klein.«

»Aber, Jettel, bis Afrika lass ich dich doch nicht auf Nachricht warten. Heini und Macie haben beide erzählt, dass von den Schiffen in jedem Hafen die Post abgeht. Außerdem schreib ich dir bestimmt schon aus Genua. Du wirst sehen. Ich habe mindestens zwei Tage Zeit, bis die >Ussukuma< ablegt. Und vergiss nicht, abends mit Regina zu beten.«

»Wie kommst du denn ausgerechnet jetzt aufs Beten? Wozu soll das gut sein?«

»Wir brauchen einen, der es noch gut mit uns meint.« »Ich hab immer gedacht, du glaubst nicht an Gebete.« »Das war einmal. Da konnten wir es uns leisten, den Kopf hoch zu tragen und nicht zu beten. Wir wussten trotzdem, dass es Ihn gibt.«

»Herrgott, Walter, warum guckst du dich andauernd um? Wartest du auf jemanden? Ausgerechnet heute. Du machst mich noch ganz meschugge.« »Aus Gewohnheit«, schwindelte Walter, »aus purer Gewohnheit. Es wird lange dauern, bis ich mich nicht mehr umschaue.« Es irritierte ihn, wie sehr der zweite Satz der Wirklichkeit entsprach, und noch mehr grämte er sich, dass Jettel wieder einmal den richtigen Instinkt für Dinge hatte, von denen sie nichts wissen konnte. Es war der Fluch der neuen Zeit, dass Mann und Frau einander nicht mehr vertrauten, der Bruder misstraute der Schwester, Kinder hatten Angst vor ihren Eltern und die Eltern vor den Kindern. »Es ist Zeit«, murmelte er, »bringen wir es hinter uns. Man soll den Abschied nicht länger hinauszögern als nötig. Das sagen alle.«

Walter hatte erwartet, nein, er hatte gehofft und auch fest damit gerechnet, dass sein Freund Greschek zum Bahnhof kommen würde, um Abschied zu nehmen. Gehörte nicht zur letzten Stunde in der Heimat der Händedruck eines Vertrauten, die Versicherung des einzigen Getreuen, dass man sich wieder sehen würde? Musste nicht wenigstens irgendein Wort gesagt werden, das in der Welt ohne Wurzeln Trost sein würde? Jeder brauchte irgendein Zeichen, dass nicht alles, wofür man gelebt und woran man geglaubt hatte, für immer dahin war. In der Fremde hatten die Heimatlosen solche Rettungsringe so nötig wie das tägliche Brot.

»Da, du guckst schon wieder«, sagte Jettel triumphierend. »Du glaubst wohl, ich merk das nicht. Aber so dumm bin ich nicht, dass ich nichts merke. Ich weiß ganz genau Bescheid.«

»Dumm ist nur der arme Tropf, der dich für dumm hält, Jettel.«

Josef Greschek, der Unbeugsame, war sechs Jahre lang der Anker im Sturm gewesen. Für Walter, der sich gerade erst als Anwalt in Leobschütz niedergelassen hatte, als die Nazis 1933 an die Macht kamen, wurde Greschek Stütze, Klagemauer und Freund. Nachdem Walter in der zweiten Hälfte des Jahres 1937 sein geliebtes Oberschlesien verlassen hatte und sich in Breslau um die Auswanderung bemühte, reiste Greschek immer wieder von Leob-schütz an. Allerdings wurden seine Besuche in der Goethestraße von Mal zu Mal kürzer. Der letzte vor einer Woche hatte nur knapp zwei Stunden gedauert - Walter hatte selbst darauf bestanden. »Es ist besser so«, sagte er, als er Greschek zum letzten Mal zu der kleinen Pension begleitete, in der noch niemand fragte, woher einer kam und wohin er wollte. »Besser für uns beide. Ich muss mich nur noch daran gewöhnen, dass ein Mann seine Freunde in Gefahr bringt, wenn die sich mit ihm sehen lassen. Ach Greschek, ich habe zu lange die Augen zugemacht. Bis an mein Lebensende werde ich mich dafür schämen.«

»Das haben Sie, Herr Doktor, aber Sie müssen sich nicht schämen. Gerade die Guten sind oft blind. Oder taub. Meistens beides.«

Josef Greschek war ein knorriger Baum. Sein Gesicht mit der markanten Nase und den hochstehenden Wangen, mit der bereits in jungen Jahren zerfurchten Stirn und dem breiten Kinn sah aus, als hätte es ein Menschenkenner aus Eiche geschnitzt. Obgleich Greschek ein wohlhabender Mann war, saßen seine Anzüge schlecht, die Hemden waren zu groß, die Schuhe bäuerlich derb. Fast immer trug er eine graue Stoffmütze mit einem großen Schild, das den Blick auf seine stahlgrauen Augen verwehrte. Greschek, von dem es in Leobschütz und allen umliegenden Dörfern hieß, er könnte einem Pferdehänd-ler einen lahmen Gaul andrehen und er würde die eigene Großmutter für eine Flasche Wacholderschnaps verhökern, betrieb mit allergrößtem Erfolg auf der Leobschüt-zer Hauptstraße ein Geschäft für Elektrobedarf. Er war Walters erster und treuester Mandant gewesen. War es nur Zufall oder eine besondere Pointe, dass Greschek am Tag in der Kanzlei war, als das Schreiben, von einem gewissen Roland Freisler unterzeichnet, mit der Mitteilung eintraf, dass Dr. Walter Redlich fortan nicht mehr als Rechtsanwalt und Notar tätig sein dürfte. Gre-schek allein sah Walters Tränen, als der Traum von der Heimat Deutschland zerbarst, doch er sprach kein Wort des Mitgefühls. Er schloss das Fenster mit einem solchen Knall, dass der Holzgriff abfiel. »Sie müssen sich hier fortmachen, Herr Doktor«, erklärte er, »das sind Verbrecher.«

Greschek war ein Prozesshansel und bemühte so häufig die Gerichte wie ein Hypochonder die Ärzte. Seinem Gegner hätte dieser griesgrämige Querkopf für kein Geld der Welt auch nur den kleinen Finger gereicht. Der streitsüchtige Kauz hätte einen jungen Anwalt allein ernähren können, und später hat Walter immer erzählt, Greschek hätte genau dies getan. Noch nicht einmal von seiner Grete, die Hausmagd und Bettgenossin in einem war und die seine Launen ertrug wie ein Hund die Prügel seines Herrn, wurde Greschek beim Vornamen genannt. Die meisten Leute fürchteten sich vor ihm, und das war ihm gerade recht. Von der Kirche wollte Greschek nichts wissen, den Sozis gab er die Schuld am Scheitern der Weimarer Republik, die Kommunisten verachtete er ohne Grund. Hitler und seine braune Horden hasste er.

Schon 1933 tauchte ein ehemaliger Briefträger, der drei Jahre zuvor wegen Unterschlagung fristlos aus dem Dienst entlassen worden war, in Grescheks Laden auf. Der Mann war nun Parteimitglied der ersten Stunde und in besonderer Mission unterwegs. Greschek empfahl er im zeitgemäßen Befehlston, sich einen Anwalt zu suchen, »der unser Volk nicht ausbluten lässt«. Kolportiert wurde, Greschek hätte den Mann mit einem Fußtritt aus seinem Laden bugsiert. Samt den Flüchen, für die er in der ganzen Stadt berüchtigt war. Die Geschichte wurde zwar nie vom Parteigenossen Müller bestätigt, doch hatte sie keineswegs die erwarteten Folgen. Solange Rechtsanwalt Dr. Redlich in der Klosterstraße niedergelassen war, kam Greschek fast täglich in die Kanzlei. Bei Tag! Die paar übrigen Mandanten, die sich noch zu einem jüdischen Anwalt trauten, bauten zunächst auf den Schutz der Dunkelheit. Als sie dann doch den Anwalt wechselten, wechselten sie auch jedes Mal die Straßenseite, wenn sie Walter sahen.

Es gab indes zwischen dem jungen jüdischen Anwalt und dem oberschlesischen Dickschädel, der sich dem Naziregime verweigerte, nicht allein eine berufliche Bindung. Sie unternahmen, sooft es die Verhältnisse zuließen, zusammen kurze Reisen in Grescheks »Wanderer«, einmal in die Hohe Tatra, an Ostern 1936 nach Prag, sonntagnachmittags mit Jettel nach Jägerndorf oder Troppau in der Tschechei. Kurze Atempausen im drohenden Untergang waren das, Stunden nur, im besten Fall ein paar Tage des Vergessens. Lange glaubten beide Männer, es wäre lediglich Hochachtung, die sie füreinander empfanden. Erst als sie durch Kontinente getrennt waren, erkannten sie, aus welchem Stoff ihre Bindung geschaffen war.

Als die Redlichs das Haus im Leobschützer Asternweg aufgeben mussten und nach Breslau zogen, schickte Gre-schek seine tüchtige Grete, um »der Frau Doktor beim Packen zu helfen«. Er hatte beim letzten Händedruck in Leobschütz eine belegte Stimme und einen Zorn, der sich für immer in sein Herz brannte. Es war der 30. Juni 1937. Weder der, der gehen musste, noch der, der blieb, hat das Datum je vergessen.

Wann immer Greschek nach Breslau kam, wurde er von Walter in die Arme geschlossen wie der verlorene Sohn vom Vater. Von Jettel wurde er wie der Vater begrüßt, den sie sich ein Leben lang gewünscht hatte. Zu Weihnachten 1937 schickte der Getreue eine Gans und einen Hasen. Mit Rücksicht auf die empfindsamen Großstädter die Gans gerupft, den Hasen ohne Fell - die Feinfühligkeit bewegte Walter noch mehr als der Festtagsbraten.

Einen Tag vor Silvester 1937 stand Greschek in der Breslauer Goethestraße vor der Tür. Bei diesem Besuch erkundigte er sich nach jedem Detail von Walters Abreise. Die Abfahrtszeit des Zuges notierte er, warf den Zettel jedoch sofort wieder weg. »Noch hab ich ja alle Tassen im Schrank«, brummte er. Als er das sagte, war Walter sicher gewesen, dass Greschek bei seiner Abfahrt am Bahnhof sein würde. Der Gedanke war ihm bei Tag Trost, doch nachts überlegte er beunruhigt, ob Grescheks Erscheinen nicht für alle riskant wäre. Man wusste nicht, von wem man beobachtet wurde und was aus Beobachtungen werden konnte. Nun war Walter froh, dass er geschwiegen hatte. »Siehst du, das hab ich ja gleich gewusst«, gehörte zu den Redensarten, die Jettel als Waffe gebrauchte.

Die Jungen am anderen Ende des Bahnsteigs hatten angefangen zu singen. Walter wurde unruhig. Er versuchte, den Text zu verstehen. Junge Burschen plus Gesang ergaben nach der neuen Zeitrechnung in der Regel Hasslieder gegen die Juden. Es war aber schon längst nicht mehr sein Herz, das Walter schützen wollte, sondern Reginas Ohren. Ihr Nachahmungstrieb reichte, um die ganze Familie in Gefahr zu bringen. Ein Junge, einen Kopf größer als seine Kameraden, sang besonders klar. »Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen. Drum nahm ich meinen Stock und Hut...«

»Und tat das Reisen wählen«, erinnerte sich Walter. »Das mussten wir als Kinder auch singen. Nur damals brauchte ich keine Reisen zu tun.« Er schaute sich nach den beiden dunkel gekleideten Männern um, deren Hüte und Notizbücher ihn geängstigt hatten; sie waren nicht mehr da. »Gott sei Dank«, sagte er erleichtert.

»Sie singen doch nur«, sagte Jettel. »Das Lied ist doch wirklich harmlos. Regina hat es immer so gern gehört. Alle vierundzwanzig Strophen musste ich ihr vorsingen, als sie zahnte. Weißt du noch?«

»Vierzehn«, verbesserte Walter, »vierzehn Strophen sind es. Das weiß ich genau. Ich musste sie alle mal abschreiben. Als Strafarbeit beim Lehrer Gladisch.«

»Also, wenn du wirklich willst, dann gehen wir.«

Walter war überrascht, fast konsterniert. Gerade von seiner Frau hatte er nicht erwartet, sie würde Verständnis für ihn haben, ihm die letzten Minuten erträglicher machen.

»Ja«, sagte er. Er presste Jettels Hand und wagte nicht, sie zu küssen. Ein Kuss am Bahnhof war ein Stück Endgültigkeit. Das war in fast jedem Film so. Er nickte in

Richtung Regina. Es würde sie schonen und für alle ein Quäntchen mehr Sicherheit bedeuten, wenn sie den Vater nicht abreisen sah. Heute keine Tränen und morgen keine Fragen.

»Der Korb«, mahnte Ina. Sie drückte ihrem Schwiegersohn einen riesigen, unhandlichen Henkelkorb in die Arme. Bauersfrauen nahmen solche Körbe mit auf die Reise. Zu Hause in Sohrau manchmal noch mit einem lebendigen Huhn drin und immer mit Würsten, die aussahen wie Stecken. Walter hatte den mit einem rot-weiß karierten Tuch bedeckten Korb und die silbern glänzende Thermosflasche, die auf einer Seite herausragte, auf dem Boden stehen sehen, aber seine Augen hatten sich geweigert, ihn zur Kenntnis zu nehmen. »Was soll ich damit?«, fragte er. Der Unwillen in seiner Stimme beschämte ihn. Es war immer wieder die gleiche Geschichte. Keiner konnte sich vorstellen, was im anderen vorging. Die Zurückbleibenden wussten schon gar nicht, wie es im Kopf der Davonziehenden aussah. Und im Herzen.

»Es sind lauter Sachen drin, die du gern isst«, lockte Ina. »Eierhäckerle und Heringshäckerle. Und der Rest von der gepökelten Gänsebrust, die dir immer so gut schmeckt. Außerdem ein Glas Schmalz. Mit Grieben und Zwiebeln. Das wird dir bis Afrika reichen. Und ein Päckchen Natron. In der weißen Serviette ist ein Mohnkuchen. Genau wie ihn deine Schwester macht. Ich hab mir das Rezept schon von ihr geben lassen, als wir Reginas ersten Geburtstag gefeiert haben. Als hätte ich’s geahnt.«

»Hör auf, Ina. Um Himmels willen, hör auf. Wenn ich bei jedem Bissen, den ich zu mir nehme, an zu Hause denke, fällt mir doch alles noch viel schwerer.« »Die Preise im Speisewagen werden dir erst recht schwerfallen«, sagte Ina. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um den zu erreichen, der ihr ein Sohn gewesen war. So leise, dass nur er es hörte, sagte sie: »Ihr müsst zusammenbleiben. Versprich mir das.«

Erst sehr viel später ging Walter auf, dass dies die letzten Worte seiner Schwiegermutter gewesen waren. Hatte er wenigstens genickt, ihre Hand gedrückt oder ihr mit seinen Augen die Zuversicht vermittelt, dass Jettel bei ihm für immer in guter Obhut sein würde? Er wusste es nicht. Schaudernd erkannte er, dass diese Unsicherheit nur der Anfang war. Die Fragen, die ohne Antwort blieben, unfertige Sätze und nicht mehr ausgesprochene Gedanken würden fortan seine Begleiter sein. Ungebeten und gehasst. War das der Preis des Davonkommens? Walter presste den sperrigen Korb an seine Brust. Einen Moment war es ihm, als würde er in einem dichten Nebel stehen. Der war immer noch ein Stück Heimat. Er lähmte die Sinne und erstickte alle Qual. Der so lange gefürchtete Abschied war schon Vergangenheit. Ein einziger Schnitt hatte gereicht. Keine Wunde hatte geblutet. Es hatte keine Tränen gegeben, nur den barmherzigen Tod aller Gefühle.

Dann bohrten sich Pfeile in seinen Kopf. Jede Spitze ließ ihn wissen, er hätte die verraten, die er liebte. Der Impuls, aus dem Bahnhof zu laufen, Jettel und sein Kind an sich zu ziehen und sich nie mehr von ihnen zu trennen, war Feuer und Wasser zugleich. Er glaubte gar, den Tod zu fühlen, und doch kehrte das Leben zurück in seinen Körper und mit diesem zweiten Leben die Vernunft, sein Verantwortungsgefühl und sein Mut. Sie trieben ihn fort von allem, was er liebte, und doch hatte er in den letzten Momenten, die ihm in der Heimat blieben, nicht mit Gott gerechtet. Walter Redlich, der ein glühender deutscher Patriot gewesen war und jederzeit sein Leben für sein Vaterland hergegeben hätte, setzte sich auf den größeren der beiden Koffer. Mit geschlossenen Augen wartete er auf den Zug ins Exil.

Unerwartete Begegnung

Liegnitz-Dresden, 8. Januar 1938

Wenn der Auswanderer seinen Kopf zum heruntergelassenen Fenster hinausstreckte, konnte er für die Dauer eines Herzschlags vergessen, dass sein Ziel Afrika war. Noch stand der Zug. Die Lokomotive dampfte nicht. Niemand rief nach einem Gepäckträger. Kaum eine Tür war offen. Walter hörte Jettel sagen: »Wir sind mal wieder pünktlicher als Hahnemanns Töchter.« Er versuchte zu lächeln, aber die Erinnerung machte ihn wehmütig. Er nahm sich vor, sobald er wieder mit Jettel zusammen war, sie zu fragen, wer eigentlich der Herr Hahnemann mit den überpünktlichen Töchtern war. »Was auch immer dir einfällt«, sagte Jettel, »ich weiß nie, ob du dich über mich lustig machst oder nicht.«

»Das ist das Salz unserer Ehe«, erwiderte Walter. Diesmal vermochte er zu lächeln. Aus Furcht, sein ängstliches Verhalten könnte unangenehm und als undeutsch auffallen, war er sofort eingestiegen - die Gruppe von singenden Jugendlichen am Ende des Bahnsteigs hatte unmittelbar nach dem »Brunnen vor dem Tore« das Horst-Wessel-Lied angestimmt und war auf ihn zumarschiert. Oder hatten die Jungen sich nur ihre Beine vertreten oder ihre Knabenknie wärmen wollen? Die Zeit ließ keine Wahrscheinlichkeitsrechnungen mehr zu. Der

Walter, der sich sein Lebtag nicht vor sangesfreudigen Burschen gefürchtet hatte, stand auf dem Gang vor seinem Abteil. Er lauschte seinem eigenen Atem und konnte noch immer nicht fassen, was mit ihm geschehen war. Die Zigarette, an der er zog, hatte weder Geschmack, noch beruhigte sie seine Nerven, wie er es gewohnt war. Wenn seine rechte Hand zufällig sein Gesicht berührte, merkte er, dass sie eiskalt war. Vom deutschen Winter oder vom Leiden an einem Verbrechen, das im Namen der deutschen Ehre geschah? Walter Redlich, der von seinem Vater gelernt hatte, keinen Menschen zu fürchten, musste sich zwingen, seinen Ekel und seine Angst nicht aus seinem Körper zu würgen. Er straffte seine Schultern und nahm sich vor, mit Anstand und Mut den Sirenen zu entkommen, die ihn zurück in sein Vaterland holen wollten. Wie Odysseus verstopfte er seine Ohren und ließ sich an den Mast binden. Da sah er das weiße Emailschild mit dem Befehl »Nicht auf den Boden spucken«. Die Augen fixierten es, als könnte es einen Mann wieder aufrichten, der kein Urvertrauen mehr in das Land seiner Väter hatte, doch die deutsche Sprache verweigerte einem ehemaligen Bürger ihren Schutz. Wie SS-Runen, die nach ihm greifen wollten, erschienen Walter die schwarzen Buchstaben. Weil er sich mit Angstvorstellungen nicht auskannte und sie für unmännlich hielt, senkte er beschämt den Kopf.

»Siehst du«, rief Jettel aus dem Nebel, der sie verschluckt hatte, »das kommt von deiner verdammten Pünktlichkeit. Nichts als Scherereien.«

Noch war Genua nur ein Wort, das Synonym für Auf-bruch, Abschied, Ferne und Fremde. Die Heimat war zum Greifen nahe. Walter konnte sie sehen und hören und riechen. Er brauchte nur seine Hand auszustrecken, um nach dem Land zu greifen, das er immer noch das seine nannte. Es wurde Deutsch gesprochen, Deutsch gedacht, Deutsch gesungen und Deutsch gelacht. Auch Gott sprach Deutsch. Walter kannte Hamburg, Berlin und München. Und er kannte Leobschütz, den Ring, die Klosterstraße und den Asternweg. Er kannte Gutfreunds und Bacharachs und die vielen anderen Freunde, die sich weigerten auszuwandern, weil sie die Verfolgungen, denen sie ausgesetzt waren, nicht für möglich hielten. Auf dem gegenüberliegenden Gleis wartete der Schnellzug nach Warschau auf das Signal zur Abfahrt. Der Mann, der über die dampfende Lokomotive herrschte, sah aus, als wäre er einem Lesebuch für brave Schüler entstiegen - schwarzes, schweißnasses Gesicht, ein Lachen, das Vertrauen erweckte, Hände wie Pranken, groß genug, um den Mut aus einem Bären zu schütteln. Der Hüne wirkte so stolz und selbstbewusst wie einer, der die Geschicke eines gesamten Staats zu lenken hat. Wie alle Kinder seiner Zeit und alle Knaben in Sohrau außer dem kränkelnden Sohn vom Lehrer, der schon mit fünf Jahren eine Brille und Einlagen hatte tragen müssen, hatte Walter Lokomotivführer werden wollen. Noch als Zehnjähriger, die erste Lateingrammatik in der Schultasche, hatte er vom Leben auf den Schienen geschwärmt.

»Das ist nichts für unsereinen«, hatte ihn die Mutter zurechtgewiesen. »Juden verdienen ihr Brot mit dem Kopf. Es reicht, wenn dein Vater auf einem Gaul sitzt und Soldat spielt. Ausgerechnet an der Front.«

Gepäckträger mit Schultern, die zu gebeugt waren für die

Lasten, die ihnen aufgebürdet wurden, hielten Ausschau nach Kunden. Einige Fenster des Zugs waren mit grünen Gardinen verhangen - eine sanfte Aufforderung an die Nacht, sich nicht an den Fahrplan zu halten. Eine Zeit lang beschäftigte sich Walter mit der Frage, ob Menschen, die in Zügen einschliefen, wohl angenehme Träume hätten oder ob die Träume fiebernd und bedrängend wären wie die seinen in den letzten Monaten. Noch kam er zu keinem Ergebnis. Vor einem Waggon der zweiten Klasse stand ein Familienpatriarch in einem bodenlangen schwarzen Mantel mit einem pelzbesetzten Kragen. Der elegante Reisende wirkte wie ein Gutsbesitzer aus Oberschlesien. Seine üppige, rothaarige Frau trug einen klein gelockten Persianer; die beiden Söhne rezitierten allerdings Abzählreime, die auf Gütern allenfalls den Kindern der Knechte gestattet waren. Alle vier lachten. Der jüngere der beiden Buben hielt einen roten Luftballon. Es war der gleiche, der eine halbe Stunde zuvor am Karren mit den belegten Broten festgebunden und die Sehnsucht in Reginas Augen getrieben hatte. Walter beneidete die Familie - nicht weil das Ehepaar teuer gekleidet war und ihren ausgelassenen Söhnen nicht den Mund zu verbieten brauchte, sondern weil alle vier zusammen reisen durften.

Er dachte an die Bahnfahrt von Leobschütz nach Breslau und dass Regina besonders quengelig gewesen war und immer wieder gefragt hatte, weshalb ihr Schaukelpferd nicht hatte mitfahren dürfen. »Weil man deutschen Pferden keinen Umzug zumutet«, hörte sich Walter sagen. Seine Stimme war so schroff gewesen, dass Regina und Jettel gleichzeitig in Tränen ausgebrochen waren und er sie beide hysterische Frauenzimmer genannt hatte. Erst jetzt, ein halbes Jahr später, tat ihm sein unbeherrschter Ausbruch leid. Er spürte ein großes Bedürfnis, das Jettel zu sagen, doch mit entmutigender Genauigkeit malte er sich aus, was seine Frau geantwortet hätte. Sie schätzte grundsätzlich nur Reuebekenntnisse, die unmittelbar auf die Tat folgten.

Der Familienvater stieg mit den Seinen in den Zug ein. Der rote Luftballon entschwebte in Richtung Bahnhofsdach, ohne dass der Junge, dem er entflogen war, ihm nur einen Blick gönnte. Walter fiel ein, dass Regina sich nie ohne Tränen von einem Luftballon hatte trennen können und er sie deshalb immer ziemlich heftig ausgeschimpft hatte. Auch das tat ihm leid. Seine Gedanken wanderten von Leobschütz nach Warschau. Als junger Mann war er mit seiner Schwester Liesel zwei Tage dort gewesen. Lie-sel hatte einen Kinderarzt aus Krakau treffen sollen, von dem eine gemeinsame Bekannte hatte wissen lassen, der Mann sei fleißig, tüchtig und gut gestellt und vor allem auf der Suche nach einer Ehefrau. Solche Strategien waren vor allem in Kleinstädten Brauch, die heiratsfähigen jüdischen Mädchen keine gute Auswahl an passenden Partnern boten. Um der Begegnung alle Peinlichkeit zu nehmen und ihr gar einen Anstrich von Zufälligkeit zu geben, hatten sich die beiden Väter auf Warschau als Treffpunkt und auf Walter als Begleiter geeinigt.

Die Kalkulation war nicht aufgegangen. Die drei jungen Leute hatten hölzern und wortkarg in einem eleganten Kaffee gesessen - ausgesucht hatte es der präsumptive Bräutigam. Die Rechnung für alle drei (der Kinderarzt hatte zwei Stück Sahnetorte gegessen und zwei Cognacs getrunken, die Geschwister nur je eine Tasse Kaffee und keinen Kuchen) hatte Walter bezahlen müssen. Der wohlhabende Heiratskandidat war, nachdem er um die Rechnung gebeten hatte, zur Toilette gegangen und erst nach einer Viertelstunde wieder aufgetaucht. Danach hatte Liesel das geplante Abendessen zu dritt unter dem Vorwand abgesagt, sie hätte Kopfschmerzen. Viel mehr war Walter von Warschau nicht in Erinnerung geblieben. Nun erschien ihm die Stadt und das kleine Lokal, in dem er am Abend mit seiner Schwester Bigos gegessen hatte, ein Gericht aus Sauerkraut, Pilzen und wunderbar saftigem Fleisch aller Arten, wie ein Stück Heimat. »Verlorene Heimat«, murmelte er.

Walters Schwester, die schon an Auswanderung gedacht hatte, als noch viele Juden in Deutschland die Gefahr nicht sehen wollten, die sich jedoch nicht von ihrem Vater trennen mochte, war groß und blond, selbstlos, entschlossen und mutig. Sie und der eineinhalb Jahre ältere Bruder hatten ein Leben lang aus nichtigstem Anlass miteinander gestritten, und doch waren sie einander tiefer verbunden als Menschen, die viel und oft von Geschwisterliebe und Familienloyalität reden. Mit sieben Jahren hatte Walter seine in Todesnot schreiende Schwester aus einem Teich gezogen, mit zehn pflegte sie die Löcher in seinen Hosen zu flicken, damit die Mutter sie nicht entdeckte. Solange er Anwalt war, schickte Walter seiner Schwester monatlich Geld. Jedes Mal schrieb er »Aber nur für dich!«, und jedes Mal gab sie alles für den Haushalt und »Redlichs Hotel« aus, das von Jahr zu Jahr weniger Umsätze machte. Sobald Walter seine Frau und Regina nach Afrika geholt hätte, wollte er sich bemühen, das Gleiche für Liesel zu tun. In Stunden der Zuversicht sah er auch seinen Vater auswandern.

Der Speisewagen vom Warschauer Zug war schon morgens erleuchtet. Drei Paare saßen dort, die Frauen alle jung, chic und sehr städtisch mit langen silberfarbenen Zigarettenspitzen und kecken Hüten, wie sie Jettel gern trug. Selbst in Leobschütz, wenn sie morgens zum Bäcker ging. Von Tischlampen mit sonnengelben Schirmen strömte ein Licht, das die Behaglichkeit properer Bürgerstuben signalisierte. Nicht alle Tische waren eingedeckt. Auf dem unmittelbar hinter der Tür funkelte blank geriebenes Silberbesteck in hellen, niedrigen Körbchen. Auch die langstieligen Gläser, die gelben Rosen in kleinen grünen Vasen, das weiße Tischtuch und die zu Bischofsmützen gefalteten Servietten entstammten der makellosen und geordneten Welt, die Walter Redlich bereits fremd und fern erschien. Er war nur noch ein Zaungast, geduldet bis zur deutschen Grenze.

Der Pass, die Auswanderungspapiere und die Schiffskarte von Genua nach Mombasa lagen in der braunen Aktentasche, ein Geschenk von Ina zum bestandenen zweiten Staatsexamen. Ohne diese Tasche aus schönem Kalbsleder war Walter keinen Tag in seine Kanzlei gegangen und nie zum Gericht. Auf der Innenseite hatte Jettel in ihrer schönen Schrift seinen Namen und die Adresse geschrieben: Leobschütz, Asternweg 4.

»Warum nicht meine Büroadresse?«, hatte Walter gefragt. »Ach, mit seinem Büro zieht man ja mindestens einmal im Leben um. Hat mein Onkel Bandmann immer gesagt. Im Asternweg werden wir aber immer bleiben. Jetzt, wo wir den schönen Sandkasten für Regina und die elegante Loggia angelegt haben.«

Der Satz und die Erinnerung an Jettels Stimme mit dem typischen Klang der Breslauer erweckten bei Walter ein peinigendes Verlangen nach der Sicherheit, die er für immer verloren wusste. Er schüttelte die Erinnerungen so energisch aus seinem Kopf, dass ihm so schwindlig wurde, als wäre das Karussell des Lebens, auf dem er nun schon seit Stunden fuhr, nicht nur ein abstrakter Begriff. Mit drückendem Gewissen, weil er sich vorgenommen hatte, schon auf der Fahrt weniger zu rauchen, kramte er nach einer Zigarette in seiner Manteltasche. Es war, er wusste es auf die Minute genau, die zweite in einer halben Stunde.

Die Aktentasche sah nach sieben Jahren fast neu aus. »Qualität zahlt sich aus«, lobte Jettel, »das hat schon mein Vater gesagt.« Den Satz gebrauchte sie mindestens fünf Mal in der Woche, meistens wenn Walter ihr Vorhaltungen machte, dass sie sich ein zu teures Stück geleistet hatte. Sogar beim Rauchen drückte er die Tasche so fest unter seine Achselhöhle, als würden im Nachbarabteil schon die Räuber sitzen, um ihm die Dokumente zu entreißen. Nur die richtigen Papiere waren Gewähr für sein Überleben. Ihm ging auf, dass er sich mehr als nötig gequält hatte. Für einen mittellosen Flüchtling geziemten sich keine Blicke in luxuriöse Speisewagen mit fein gedeckten Tischen und vornehmen Reisenden. Walter Redlich, mit sechsundzwanzig promoviert, mit siebenundzwanzig Rechtsanwalt mit eigener Praxis und mit dreiunddreißig ein Verfemter, gehörte nicht mehr zu der Klasse von Menschen, die in einem Speisewagen Wiener Würstchen essen und ein Glas Bier trinken durften. Er war unterwegs nach Afrika mit einem Henkelkorb, und er zählte seine Zigaretten ab wie der Hilfskellner Franz in »Redlichs Hotel«. Allerdings hatte Franz sechs Kinder, eine Frau mit Dauerhusten und eine verwitwete Mutter, die nicht mehr für sich selbst sorgen konnte.

Eine donnernde Stimme rief den Afrikareisenden zur Ordnung. Diese Stimme, so unwillkommen, so gefürchtet, so unausweichlich, verkündete das Urteil der letzten Instanz. Berufung war nicht mehr möglich. Noch ein paar Minuten, und dann würde Breslau, das letzte Stück Heimat, Vergangenheit sein. Vorbei, unwiederholbar, tot. Der beleibte Fahrdienstleiter, der Walter bereits auf dem Bahnsteig als ein Mann der Tat aufgefallen war, bellte mit der ganzen Kraft seines Amtes »Bitte, Platz zu nehmen!«, wobei das »Bitte« klang, als hätte dieser Mann der Tat seiner Lebtag um nichts zu bitten brauchen. Schnaufend stieß er gegen eine noch offene Tür. Sein Gesicht war ebenso feuerrot wie seine Mütze. Schon hob er den rechten Arm. Abreisende und Zurückbleibende, die soeben noch von ihren Plänen, ihren Wünschen und Empfindungen mit der Leichtigkeit der Jugend gesprochen hatten, verstummten. Sie schauten einander an und wussten nicht, was sie suchten. Die Worte, die Walter kamen, schickte er, weil er sich vor keinem Menschen mehr zu rechtfertigen, sich nicht mehr als tapfer und hoffnungsvoll zu verstellen brauchte, zum Himmel. Es waren die Gebete eines Verzagten. Sie entsprachen weder seinem Sprachschatz noch seinem Alter. Er merkte es und knetete seine linke Hand mit der rechten.

»Tut mir leid«, entschuldigte er sich bei dem, der den Menschen noch nie verargt hat, dass Verzweiflung und Kleinmut sie wieder zu Kindern machen.

Auf dem Tender am Ende des Zuges sah Walter einen kohlenschwarzen Zwerg stehen. Auch die Kapuze, die sein Gesicht umrandete, war dunkel. Über seinem Kopf schwenkte der Mann eine Schaufel. Einen Moment schien er riesengroß zu werden. Dann wurde er wieder klein und gedrungen. Der, der nicht reisen wollte, beneidete ihn - um seine Arbeit und sein Selbstbewusstsein und dass er die richtige Konfessionszugehörigkeit hatte, um im eigenen Land zu bleiben. Ein Wasserschwall stürzte zu Boden. In der Ferne erhob sich der Arm eines Ausfahrtsignals. Wie ein Stern funkelte ein winziges rotes Licht. Als es grün wurde, drängte die erleuchtete Schlange ins Leben. Erst in diesem Moment begriff der Reisende am Fenster, dass nicht der Zug nach Warschau auf dem gegenüberliegenden Gleis am Abfahren war, sondern sein eigner. Walter Redlich war unterwegs nach Genua. Er dachte an Kolumbus, hörte jemanden höhnisch lachen und erfuhr nie, dass er es selbst gewesen war.

Die Häuser am Bahndamm wichen zurück. Immer schneller flogen die Bilder. Sie fegten am Auge vorbei, hatten weder Farbe noch Kontur, und doch hatten sie eine Botschaft. Die vom Aufbruch und die vom Leben in einer neuen Welt. Hatte er sich nicht als Junge in der Zeit von Pferd und Wagen und Fernweh immer wieder gewünscht, in die Welt zu ziehen, die als die weite und schöne besungen wurde? Hinaus aus jener Enge, die von der Jugend geschmäht wird, weil die Jungen die Gewohnheit, die einem Menschen Halt und Stärke gibt, mit Einschränkung verwechseln, die ihn gängelt.

»Die meisten Wünsche im Leben werden erfüllt, aber immer um Jahre zu spät«, sagte die Mutter.

»Woher weißt du?«, fragte Liesel.

»Werde du mal so alt wie ich, mein Fräulein, dann wirst du das nicht mehr fragen.«

Es schmerzte nicht, an die Mutter zu denken. Ihr Sohn machte sich endgültig klar, dass Regina Redlich, Hotelbesitzersgattin aus Sohrau in Oberschlesien, allerorten als tüchtig gelobt und bewundert und vom Koch bis zum jüngsten Stubenmädchen wohl gelitten, in einer guten Zeit gelebt hatte. Und zur rechten Zeit gestorben war. Im Jahr 1926. Sieben Jahre vor Hitler. Erde von ihrem Grab, bei seinem letzten Besuch in Sohrau mitgenommen, lag ganz unten im großen Koffer. In einem weißen Stoffsäckchen, das Liesel genäht und Jettel beschriftet hatte.

Außer ihm saß niemand im Abteil. Es roch, für einen starken Raucher durchaus angenehm, nach einem schweren, süßen Pfeifentabak und nach scharf gebranntem Kaffee. Auf dem kleinen Tisch am Fenster lag aufgeschlagen, aber ganz offensichtlich kaum durchgeblättert die »Berliner Illustrirte Zeitung«. Die Erinnerung stimmte Walter einen Augenblick heiter. Er hatte das Blatt immer für Regina gekauft. Schon als Dreijährige hatte sich seine Tochter an E. O. Plauens Geschichten von »Vater und Sohn« nicht satt sehen können. Zu ihrem vierten Geburtstag war dann eine Laterna magica hinzugekommen, um die Bilder an die Wand zu projizieren.

»Wenn ich lesen kann, dann kaufe ich jeden Tag >Vater und Sohn<«, hatte sich Regina ausgemalt.

Walter kniff seine Augen zu, um sie trocken zu halten. Ohne sich Gedanken über seine Absicht zu machen, streckte er seine Hand nach der Zeitung auf dem Tisch aus, doch mitten in der Bewegung hielt er erschrocken inne. Wie ein Eierdieb, der Angst hat, wenn er den Hofhund nur bellen hört, zuckte er zusammen. Was, wenn ausgerechnet in diesem Moment der Schaffner erscheinen würde? Wenn der merkte, dass er es mit einem Juden zu tun hatte und noch dazu mit einem, der dabei war, auszuwandern, würde er ihn umgehend des Diebstahls oder zumindest der Fundunterschlagung bezichtigen. Und wie sollte ein ehemaliger Rechtsanwalt und Notar, dem man das Recht abgesprochen hatte, seinen Beruf auszuüben, einem ehrenhaften deutschen Beamten glaubhaft klarmachen, dass eine zweifelsfrei niemandem gehörende Zeitung nach herrschender Meinung kein abgabenpflichtiger Fundgegenstand war?

Eine solche konfuse, abstruse Überlegung war im Jahr 1938 absolut nicht der Beweis einer krankhaften Phantasie. Einem Freund von Heini Wolf war es auf seinem Weg ins Exil nach Prag wegen einer solchen Lappalie übel ergangen. Ein herrenloser Apfel in einer braunen Papiertüte hätte den Mann um ein Haar in ein bayerisches Gefängnis gebracht. Der Schaffner, der ihn beim Wühlen in der Tüte beobachtet hatte, hatte zunächst nichts gesagt. An der Grenze aber war der arme Teufel von zwei Zollbeamten aus dem Zug herausgeholt und so lange verhört und durchsucht worden, bis er das zugegeben hatte, was die Obrigkeit bei Reisenden nach Prag, die fast ausnahmslos jüdisch waren, ein Vergehen an deutschem Eigentum nannte. Sein Gepäck war ohne ihn weitergereist. Zwar durfte der Unglückliche nach Zahlung einer erheblichen Strafe den darauf folgenden Zug in die Tschechei nehmen, doch seine Habe sah er nie wieder.

Heini Wolf hatte geschworen, ein gemeinsamer Bekannter, der es noch wagte, zwischen Breslau und Prag hin und her zu pendeln, hätte sich »mit tausend Eiden« für die Wahrheit der Geschichte verbürgt, und doch hatte Walter sie als »Emigrantenlatein« abgetan. Ziemlich ironisch und recht selbstbewusst. Nun hatte ihn die Panik der Rechtlosen eingeholt. Er gab sich alle Mühe, die noch keinen Meter von ihm entfernt liegende Illustrierte zu übersehen, er stellte sich sogar vor, sie wäre eigens als Köder ausgelegt worden, um seine Ehrlichkeit auf die Probe zu stellen. Weil er sich gegen seine Phantasie nicht zu wehren wusste und sie mit immer schärferen Krallen nach ihm griff, fühlte er sich beschmutzt und an den Pranger gestellt. Ihm wurde übel. Er presste seine Hände gegen den Magen. Die Zeit, in der er in einem leeren Eisenbahnabteil mit der gleichen Selbstverständlichkeit nach einer herrenlosen Zeitung gegriffen hätte wie nach seinem Taschentuch, erschien ihm schon nicht mehr Teil seiner selbst. Deprimiert fixierte er erst seine Hände, die in Abständen zu zittern begannen wie die der alten Wanda in Sohrau, und dann die Bank gegenüber seinem Sitz. Das helle Holz war gepflegt und von guter Qualität, der Boden frisch gewachst, kein Zugfenster war schmutzig, jeder Aschenbecher im Abteil geleert. Walter hatte sich die dritte Klasse anders vorgestellt, unbequemer, ärmlich, überfüllt, ordinär und laut. So ähnlich wie in den Zeichnungen Daumiers, für die sein Kunstlehrer in der Oberprima schwärmte. Die Vorurteile aus der Zeit der Fülle machten ihn verlegen. Es genierte ihn sehr, mit welcher Unbefangenheit er, der zur Bescheidenheit erzogen worden war, sich an die Lebensgewohnheiten der Wohlhabenden gehalten und Jettel in den Dingen des Alltags widerspruchslos nachgegeben hatte. Auch bei kurzen Strecken hatte sie auf der zweiten Klasse bestanden, selbst beim Abschied von Leobschütz. Damals hatte Walter noch Hemmungen gehabt, seine Frau darauf hinzuweisen, dass die Würfel gefallen waren und es ein für alle Mal mit Wohlstand und Bequemlichkeit vorbei war. »Und dem verdammten Klassenstolz«, sagte er. Seine Stimme war laut und fest.

Eine quäkende Kinderstimme, störend durchdringend, aber beruhigend vertraut, holte den beschämten Grübler zurück in die Gegenwart. Im Gang vor dem Abteil stand die junge Frau, die Walter am Bahnsteig aufgefallen war. Das Baby, die Mütze mit dem Spitzenrand immer noch verrutscht, weinte und sah aus wie ein angezogenes, permanent niesendes Ferkel in einem von Reginas Bilderbüchern. Das Kind hielt seine Hand ans Ohr. Der Reisende im Abteil erinnerte sich, was das bei Babys bedeutet, und grüßte verlegen. Er nickte wie einer, der nicht sicher ist, ob er grüßen soll oder ob er den Fremden mit seiner Aufmerksamkeit belästigen wird. Es missbehagte Walter, dass er Mutter und Kind bereits als ein Stück seiner Vergangenheit empfand und dass sich ihm ausgerechnet die letzten Minuten in Breslau als eine sanfte Erinnerung darboten. Nichts hatte sich seit der Szene am Bahnhof verändert. Die Mutter versuchte immer noch vergeblich, den zahnenden Säugling in den Schlaf zu wiegen. Sie war genauso bleich und erschöpft wie vor einer halben Stunde. Walter beneidete sie trotzdem. Mochte ihr Kind Schmerzen haben, weinen und am Leben leiden, es war in Sicherheit. Im eigenen Land. Für immer. Bestimmt hatte es einen Taufschein und gewiss auch »arische Großeltern«, die es als einen erbgesunden Deutschen auswiesen.

Vielleicht hatten Jettel und sein Vater doch recht gehabt. Ein Mann mit Verantwortungsbewusstsein durfte Frau und Kind nicht zu Hause zurücklassen, wenn sie dort nicht mehr sicher waren. Wieso aber wagte es dieser Ehemann und Vater noch, Deutschland als sein Zuhause zu bezeichnen? Wozu brauchte er überhaupt ein Vaterland, wofür eine Muttersprache? Schon in Genua war die keinen Pfifferling mehr wert. Die Konfrontation mit dem Mann, der er gewesen war, entsprach Walters Sinn für Proportionen. Methodisch blätterte er in der Chronik seines Lebens - von der Aufnahme ins Gymnasium bis zum letzten Satz seiner Doktorarbeit, die Niederlassung in Leobschütz und dem ersten gewonnenen Prozess. Gre-schek gegen Krause. »Sie sind eine Kanone, Herr Doktor«, strahlte Greschek und klopfte seinem Anwalt auf die Schulter. Sie standen vor dem Gerichtsgebäude. »Dem Krause hat noch keiner die Zähne gezeigt, bis Sie nach Leobschütz gekommen sind.«

»Wir zeigen ihm ein ganzes Gebiss.«

Walters Stimmung besserte sich ein wenig. Es half, zurückzublicken, auch wenn die altrömische Devise »ohne Zorn und Eifer« sich nicht mehr als opportun anbot. Selbst als er die Bilanz seiner allerjüngsten Vergangenheit zog, war er nicht unzufrieden. Auf dem Bahnhof hatte er sich die Enttäuschung, dass Greschek nicht gekommen war, nicht anmerken lassen. Durch keine Bewegung, mit keinem Wort. Jettel hatte nur ein paar Tränen geweint, Regina den Vater nicht abfahren gesehen. Wie ein Soldat war dieser Vater in die Schlacht gezogen. Keinen Schrei hatte er getan, den Himmel nicht verflucht, er war bereit gewesen, schweigend zu akzeptieren, wozu ihn das Schicksal aburteilte. Der deutsche Patriot, der gedacht hatte, er könnte Deutschland und die Seinen nicht verlassen, ohne dass sein Lebenssaft auf der Stelle versiegte, blutete aus keiner Wunde. Die Welt hatte sich nicht in ihre Bestandteile aufgelöst. Sie war selbst für einen Mann noch bewohnbar, der, ohne einen Augenblick zu zögern, alle Schätze Afrikas für ein Rückfahrbillett nach Breslau eingetauscht hätte.

Der 8. Januar 1938, auf immer ins Gedächtnis eingebrannt, schluckte alles Gewesene, Trauer und Angst, Melancholie, Verzweiflung und die Not der Seele. Gab es überhaupt eine Vergangenheit? Waren Gegenwart und Zukunft nicht nur leere Worte, lediglich Begriffe und Definitionen, die eifernde Lehrer brauchten, um der Grammatik ihren Stellenwert zu sichern? »Redlich, wenn du nicht lernst, das Plusquamperfekt richtig zu gebrauchen, dann brauchst du gar nicht erst mit Latein anzufangen. Latein ist eine Sprache für Ästheten.«

»Und für tote Römer«, raunte der kleine Katschinsky und holte sich einen Eintrag ins Klassenbuch.

Walter lächelte. Eine Seligkeit lang war er wieder Sextaner - mit Tinte an den Fingern und einem Schmalzbrot für die Pause. Noch gab es Schmalz genug. Der Krieg war erst vier Wochen alt und die mütterliche Speisekammer gut gefüllt. Oberstudienrat Hermann Gladisch war zu alt und zu kurzsichtig, um für den Kaiser zu sterben. Er musste seinem Vaterland weiter als Lehrer für Latein und Griechisch an der Fürstenschule zu Pless dienen. Wieder einmal hatte er vergessen, das Eigelb aus seinem Bart zu entfernen. Der Schüler Redlich, der nach dem Abitur so schnell die Leiter hinaufsteigen sollte wie keiner seiner Mitschüler und der dann so tief stürzen würde wie nur Siegfried Sedlacek, der andere jüdische Junge in der Klasse, sah das Eigelb und fasste sich an sein Kinn. Genau wie damals grinste der kleine Flegel. »Ein schöner Ästhet!«, flüsterte er in den Rücken des Hintermanns. Ehe auch er einen Eintrag ins Klassenbuch bekam, schloss Walter die Augen.

Als er zehn Minuten später wach wurde, hörte und sah er, dass der Zug wesentlich schneller fuhr als zuvor. Er empfand das Tempo als Befreiung. Es wirkte wie ein Kümmelschnaps nach Karpfen in Biersoße. »Redlichs Kümmel ist ein Stück vom Himmel«, murmelte Walter. Er mochte nicht glauben, was mit ihm geschah. Der Spruch, an den er jahrelang nicht mehr gedacht hatte, stammte von seinem Großvater. In Sohrau kannte ihn jedes Kind, selbst der Sohn vom Schmied, der sich nicht merken konnte, dass Kattowitz eine Stadt und nicht der Name des Ortspolizisten war. Salo Redlich brannte einen Kümmelschnaps, der besser als alles war, was aus der Apotheke stammte. Das wusste jeder Mann, der etwas vom guten Leben verstand. Walter zuckte zusammen. Er war entsetzt, wie wenig sich ein Gedächtnis zügeln ließ. Nur schnell weg von dem Land der Erinnerungen, das ihm Vaterland war. »Gewesen war«, korrigierte er. Die beiden Worte blieben in seiner Kehle stecken, und doch machten sie Mut. Als Walter nämlich nach der Schere griff, um die Nabelschnur zu zerschneiden, die ihn an Deutschland band, waren seine Hände ruhig und warm. Er wurde noch kühner. Weil ihm niemand widersprach und der Teufel ihn nicht verhöhnte, wähnte er gar, er wäre klüger als andere Emigranten und hätte sich in sein Schicksal besser gefügt als sie. Zwischen zwei Dörfern, an denen der Zug vorbeiraste wie die Feuer speienden Monster aus dem Märchen, sagte aber die Mutter: »Du wirst nie lernen, dich zu fügen, mein Sohn, du nicht.« In dem Zustand zwischen Wachen und Schlafen, den er zuvor in einer solchen Intensität nur bei hohem Fieber erlebt hatte oder wenn es in seiner Studentenverbindung zu heftig zugegangen war, löste sich die Angst in sehr kleine, angenehm überschaubare Teile auf. Die winzigen Einheiten ließen sich jederzeit neutralisieren. Sie verschwanden auf Wunsch, gehorchten jedem Befehl, und solange sie da waren, beunruhigten sie nicht. Das Leben hatte keinen festen Boden mehr, es forderte keine Entscheidungen und schon gar nicht Mut. In der schönen neuen, funktionell eingerichteten Welt gab es auch keinen Gott. Wer keine Angst hatte, brauchte ja keinen Beistand.

Auch der Körper wehrte sich nicht mehr. Von den vibrierenden Bewegungen des Zugs ruhig gestellt, ließ sich Walter weismachen, am achten Januartag des Jahres 1938 wäre nichts Außergewöhnliches geschehen. Irgendwann kam ihm sogar der Gedanke, beim Übertreten der deutschen Grenze würden sich alle seine Sorgen auf wundersame Art verflüchtigen. Eine Weile genoss er seine Illusionen und die Plastizität seiner Wunschträume. Um zu prüfen, wie schnell er der Realität entkommen konnte, versuchte er, Oberstudienrat Gladisch noch einmal auf die Bühne zu bitten, doch weder der noch der kleine Katschinsky zeigten sich. Stattdessen kam Regina.

Für einen furchtbaren Moment, in dem ihm selbst das Atmen Schmerzen bereitete, verwechselte Walter Traum und Wirklichkeit. Seine Tochter stand im blauen Faltenrock da. Die kleine Ledertasche für den Kindergarten, der keine jüdischen Kinder aufnahm, baumelte von ihrer Schulter. In acht Monaten müsste sie eingeschult werden. »Und wo, wenn ich fragen darf?«, seufzte ihr Vater. Wieder sprach er so laut, als hätte er noch einen Vertrauten, mit dem er reden konnte. Dass so ein banaler Satz genügte, um einem Mann allen Mut zu nehmen. Und das letzte bisschen Kraft.

In den dünnen Nebelschwaden erschienen dem Reisenden die Krähen auf den verschneiten Feldern wie Boten der Zukunft. Verkündeten sie die sieben biblischen Hungerjahre, oder hungerten sie bereits selbst? »Ich versteh nichts von Vögeln«, grinste Walter zum Fenster hinaus. Seine Züge wurden weich. Und jung! Der alte Stammtischwitz war immer ein durchschlagender Erfolg gewesen. Besonders bei vornehmen alten Damen, die ihre gute Erziehung in Ehren hielten. Walter hatte Regina beigebracht, den Satz von den Vögeln zu sagen, wenn sie irgendwo einen Wellensittich im Käfig oder eine Meise im Garten sah. Beim ersten Mal hatte Jettel getobt und ihn einen Proleten genannt. »Nein, ein Kindskopf«, hatte seine Schwiegermutter gesagt. Warum musste der einzige Mann auf der Welt, der seine Schwiegermutter so liebte wie die eigene Mutter, sich von ihr trennen?

Auf den Ästen lag, vom Dampf vieler Lokomotiven seiner Unschuld beraubt, grauer Schnee; in winzigen Gärten schlummerten die Büsche und Beete unter einem weißen Laken. Weshalb sehnten sich die, die ohne Hoffnung waren, nach einem solchen Tuch? Der Zug fuhr eine Anhöhe hinunter. Die schlafenden Häuser warfen den Schall zurück. Sobald ein Moment der Stille einkehrte, grübelte Walter, wie auf einer langen Reise wohl die Zeit beschaffen war und weshalb sie sich nicht im Tempo des Zugs bewegte. Gab es für ihn überhaupt noch eine Zeit, die in Stunden, Minuten und Sekunden einzuteilen war? Den Terminkalender hatte Rechtsanwalt und Notar Dr. Walter Redlich in seiner Praxis zurückgelassen. Roter Lederrücken und innen die scharf gestochene Schrift des kleinen Tenscher. Seit seiner Lehrzeit war der kleine Tenscher für die Post zuständig. Er stammte aus Hennerwitz, bekam rote Ohren, wenn er schwindelte, und zu Weihnachten für seine Kollegen immer zwei große Gläser mit Mohnklößen von seinem Muttel. Beim Abschied von seinem Chef hatte er das Parteiabzeichen im Knopfloch gehabt und Tränen in den Augen. Tenscher, reiß dich zusammen, ein deutscher Mann weint nicht.

Zwischen zwei scharf gestochenen Bildern, die sich zu tief in das Gedächtnis eines Mannes bohrten, der das Verdrängen nicht beizeiten gelernt hatte, vermutete Walter, der Zug wäre in Liegnitz eingefahren. Er drückte seinen Kopf gegen die Scheibe, doch auf dem düsteren Bahnhof nahm er keine Spur von Leben wahr. Er sah weder Mensch noch Koffer und noch nicht einmal einen Karren. Nur ein Hund bellte. War es ein schlesischer Köter oder der Höllenhund? Ein trübes Licht erleuchtete eine kleine Pfütze. Das Wasser schimmerte braun. »Wie eine SA-Uniform«, sagte Walter, doch diesmal senkte er seine Stimme. Trotzdem schaute er sich um.

Er drückte das Fenster im Abteil hinunter, atmete so tief ein wie ein Bergsteiger am Ziel, streckte sich und genoss die frische Luft. Sie belebte Haut, Kopf und Mannesmut. Walter war es, als würde er endlich in eine Welt eintauchen, die ihm wohl gesinnt war. War es noch die Welt von gestern oder schon das Paradies von morgen, von einem Gott geschaffen, der es nicht zuließ, dass ein Mensch dem anderen ein Leid antat? Die überraschende Erleichterung verjagte alle Wolken mit einem Trauerrand. Sie machte das Leben erst sanft und dann erträglich. Der Befreite labte sich an der Hoffnung. Sie präsentierte sich ihm, wie einst Noah auf seiner Arche, als Regenbogen, doch in dem Moment, da er nach der Taube mit der Frie-densbotschaft im Schnabel Ausschau hielt, bedrohte ein schriller Pfiff alles irdische Glück. Der Zug fuhr weiter. Walter entdeckte das Bahnhofsschild, doch es verschwand im Dämmergrau, ehe er es lesen konnte. Schon sah er die Funken fliegen, rotgold und strahlend und schön wie zu Hause die Sternschnuppen, die vom Augusthimmel regneten. »Geh wieder ins Bett«, rief die Mutter, »du hast dir genug gewünscht. Morgen musst du früh raus.«

Auf einem Gleis kurz hinter dem Bahnhof stand eine kleine Schiebelok. Walter nickte ihr zu. Ihm war eingefallen, dass Schiebeloks typisch für Liegnitz waren. Der Liegnitzer Bahnhof lag in einer Kurve, und die kleinen Loks, die dort an den Zugschluss gesetzt wurden, waren zum Wiederanfahren nötig. Es bekümmerte den kundigen Reisenden allerdings, dass er Liegnitz nicht bewusst wahrgenommen hatte. Den Göttern, die nun für ihn zuständig waren, hielt er vor, dass ein Emigrant kein Urlauber war. Für einen, der seine Heimat für immer verlassen musste, war es wichtig, an jeder einzelnen Station mit den Augen und mit dem Herzen Abschied zu nehmen. Solange der Zug noch in Schlesien war, erst recht.

Kaum saß er wieder, wurde die Tür zum Abteil kräftig aufgestoßen. Die »Berliner Illustrirte« fiel raschelnd vom Tischchen am Fenster auf den Boden, Glasscheiben zitterten. Walter zuckte zusammen. Er hatte eine Dreiviertelstunde keinen Menschen gesehen und fünfundvierzig Minuten lang mehr Selbstgespräche geführt als je zuvor in seinem Leben. Auf eventuelle Mitreisende war er nicht mehr eingestellt - nur noch auf den Schaffner und die Fahrkartenkontrolle. Wie ein Überführter, der kurz davor ist, seine Schuld zuzugeben, starrte Walter seine Schuhe an. Seine Hände bebten, als er seine Aktentasche aufmachte. Ihn irritierte ein unverschlossenes weißes Couvert. Walter war ganz sicher, er hätte es noch nie gesehen. Heini Wolfs Schrift, die sich über die ganze Vorderseite des Briefumschlags zog, erkannte er ebenfalls nicht. Sein Herz begann zu rasen, er spürte einen Drang zum Niesen und versuchte, ihn zurückzuhalten. Die Nase juckte, die Augenlider flatterten. Immer tiefer verirrten sich die Gedanken in einem Labyrinth aus Furcht und Widerwillen.

»Nein«, wehrte sich Walter.

Erst als sich der Mann räusperte und dies ungewöhnlich laut, kam ihm die Erinnerung. Der fürsorgliche Heini hatte die Fahrkarte und eine Zollinhaltserklärung für die beiden großen Koffer in den Umschlag gesteckt. »Da siehst du eher wie ein ordentlicher deutscher Handelsreisender aus und nicht wie ein Nebbich, der darauf brennt, aus diesem Prachtland herauszukommen«, hatte Heini gesagt.

Beklommen, weil er den Schaffner, der ja schließlich eine Amtsperson war, ungebührlich lange hatte warten lassen, schaute Walter nach oben. Statt der roten Kopfbedeckung dieser Amtsperson sah er eine dunkelgraue Schirmmütze. Ausgerechnet die kam dem ängstlichen Italienreisenden bekannt vor. Er nahm mit den Augen Maß, entdeckte in einem schweren grauen Mantel eine vierschrötige Gestalt, und wie einer, der sich seinen Schmerz nicht anmerken lassen will, biss er die Zähne aufeinander. Noch traute Walter der Wirklichkeit nicht, und doch gab es keinen Zweifel. Er kannte die Schultern, die Brust und den Bauch, die in dem Mantel steckten, so gut wie sich selbst.

Noch wagte Walter keine Bewegung, keinen Atemzug, kein staunendes Wort. Schon gar nicht wagte er, den trommellauten Jubel aus sich herauszulassen. Die graue Mütze wurde abgesetzt. Auch die war Walter vertraut, so vertraut wie der eigene Hut, denn seit sechs Jahren, zu Hause und auf Reisen, bedeckte sie einen dicht gewachsenen Busch von sperrigem grauen Haar. Walter sprang auf. Die zwei Schritte in Richtung der Abteiltür, die ihn noch vom einzigen Freund trennten, der ihm in der Not geblieben war, machte er wie einer, den die Last des Lebens noch nicht einmal gestreift hat. So löste sich auf einen Schlag das Rätsel, das ihn schon als Kind beschäftigt hatte - wie es einem Menschen ergeht, dem im Schlaf Flügel gewachsen sind. Nur die Lippen waren noch gelähmt und die Zunge schwer. Stumm drückte er Josef Greschek aus Leobschütz an sich. Vom Mantel, der feucht war vom Liegnitzer Schnee und nun in der Wärme des Zugabteils wie ein Suppentopf auf dem Herd dampfte, erreichte ihn der Duft, der auf immer Heimat bedeuten würde.

Beide atmeten im gleichen Takt, schnauften wie alte Männer, die erst sich und dann den Weg zum Ziel überschätzt haben. Sie keuchten, als hätten sie an einem Tag einen Baum gefällt, ein Feld gerodet und die Heuernte eingebracht. Wie Brüder, die ein Leben lang getrennt gewesen sind und die der Zufall wieder zusammengeführt hat, hielten sie einander fest. In einem Zeitraum, der noch keine zwei Herzschläge währte, durchlebten sie sechs Jahre Verbundenheit, und die erschienen ihnen so lang wie sechzig. Als sie ausatmeten, hätten sie nicht zu sagen vermocht, ob sie Schulbuben waren, die das Leben vor sich hatten, oder Greise, die in die letzte Schlacht zogen. Der eine war dreiunddreißig und hatte die Figur eines Jünglings, Greschek war acht Jahre älter und sah aus, als wäre er nie jung gewesen. Das erlösende Wort fand keiner von beiden.

Walter hatte nie gewagt, Emotionen zu zeigen. Er war im Weltkrieg aufgewachsen und sollte, wie jeder deutsche Junge, dessen Vater mit Stolz des Kaisers Rock trug, ein deutscher Patriot werden, der den Tod fürs Vaterland als Ehrenpflicht empfand. Der andere hielt Helden für Dummköpfe und weinte dem Kaiser in Doorn keine Träne nach. Ihm war der Wortschatz nicht gegeben, um das auszudrücken, was er fühlte. In nahezu jeder Situation hielt er es für aussagekräftig genug, wenn er den Kopf schüttelte und missbilligend mit der Zunge schnalzte.

»Mensch, Greschek, dass ich das noch erlebe! Sie sind ja total verrückt. Oder ich. Wahrscheinlich sind wir’s beide. Wo kommen Sie bloß her? Hier auf dem Bahnhof habe ich keinen Menschen gesehen. Noch nicht einmal den verfluchten Hund, der die ganze Zeit gejault hat. Wahrscheinlich bin ich besoffen, obwohl ich keinen Tropfen getrunken habe! Oder schon nervenkrank. Wie weit können Sie denn mitfahren?«

»Ich hab doch gesagt, dass ich komme, Herr Doktor. Seit wann glauben Sie einem ehrlichen Mann nicht?«

»Seit wann sind Sie ein ehrlicher Mann?«

In Liegnitz hatte Greschek zwei Stunden Aufenthalt gehabt. Wegen einer Gruppe von Pimpfen, die sich abwechselnd balgte, sich lautstark scheußliche Mutproben ausdachte und ebenso grässlich Mundharmonika spielte, war er nur zwanzig Minuten davon im Wartesaal gewesen. Die restliche Zeit hatte er auf einer Bank am Bahnsteig gesessen und sich Gedanken über die neuen Herrenmenschen gemacht, die die Welt verändern wollten und noch nicht einmal imstande waren, ihre Söhne so zu erziehen, dass sie ordentliche Leute nicht belästigten. Er war durchgefroren und steif. Ächzend setzte er sich auf den Platz neben Walter. Trotzdem bückte er sich schon nach einigen Sekunden, um die Zeitschrift aufzuheben, die einem Juden deutlich gemacht hatte, wohin er gehörte. Aus seiner Jackentasche holte er ein abgeschabtes ledernes Etui und nahm eine Zigarre heraus.

Das silberne Taschenmesser, mit dem er die Spitze abschnitt, hatte ihm Walter zum vierzigsten Geburtstag geschenkt. Zwei Wochen vor dem Abschied von Leobschütz war das gewesen. In Grescheks winzigem Garten vor dem kleinen Haus blühten gerade die Rosen. Regina war mitgekommen, um zu gratulieren. Sie hatte weiße Kniestrümpfe mit Bommeln angehabt, und Grete hatte noch wochenlang von den Strümpfen geschwärmt. »So ein teures Geschenk«, hatte sie bedauert, »wird der Herr Doktor aber nicht mehr abessen können, bis er fort muss.«

»Warte nur, bis alles vorbei ist«, hatte Greschek gesagt. »Das dicke Ende kommt immer schneller, als die hohen Herren erwarten. Das weiß ich noch vom Krieg. Von wegen tausend Jahre.«

Als er den Henkelkorb mit der weißen Serviette und der Thermosflasche bemerkte, den Walter in einer Reflexbewegung wieder zwischen die Beine geklemmt hatte, nickte er. »Den hat Ihnen Frau Ina mitgegeben«, erkannte der Menschenkenner. »Sie ist eine gute Frau, Ihre Schwiegermutter. Aber die Guten sind immer auch die Dummen. Ich werde mich um sie kümmern müssen. Das habe ich mir schon vorgenommen, als ich das letzte Mal in Breslau zu Besuch war. Sie wird es nicht leicht haben mit dem Fräulein Käthe, wenn die Frau Doktor und das Kind weg sind. «

»Greschek, Sie kennen doch meine Schwiegermutter kaum. Warum tun Sie das für uns?«

»Weil ich’s so gelernt habe von meinem Vater. Der hat immer gesagt, es ist eine Sünde, auf Menschen loszugehen, die sich nicht wehren können. Dem Schuhmacher Smolinsky hat er drei Zähne ausgeschlagen. Der hat vor unserem Haus seinen Sohn mit einem Ochsenziemer verprügelt. Ich seh’ das Blut heute noch spritzen.«

»Machen Sie das bloß nicht nach, mein Freund. Denken Sie immer dran, dass Sie keinen Anwalt mehr haben. Sie lassen sich sowieso ganz schön auf was ein. Und wer weiß, was noch kommt.«

»Ich, Herr Doktor. Ich weiß genau, was noch kommt. Und Sie auch. Es kommen noch viel schlimmere Zeiten. Das ist nur der Anfang.«

»Der Anfang von was?«

»Das wissen Sie so gut wie ich. Sonst würden Sie nicht zu den Negern rübermachen. Sie wissen ja selbst, dass die keinen Rechtsanwalt brauchen. Aber denken Sie heute nicht an morgen. Das verdirbt einem Menschen nur den Appetit. Heute essen wir beide so viel, bis wir Bauchschmerzen haben. Wer Bauchschmerzen hat, vergisst jeden anderen Kummer. Hat mir meine Großmutter immer gesagt, wenn ich als Junge einen Leib wie eine Mastsau hatte, weil ich Wasser auf Kirschen getrunken hatte. Das mit dem Essen müssen Sie mal ausprobieren. Das funktioniert wirklich. Sie sehen ja, ich habe auch einen Korb mit. Grete hat Ihnen extra Krakauer mit Knoblauch vom Schlachter geholt. Wissen Sie noch? Sie haben die Krakauer immer so gern bei uns gegessen und wegen dem Knoblauch durften Sie nicht, wenn Sie noch aufs Gericht mussten.«

»Da sehen Sie mal, wozu die Nazis alles gut sind. Ich kann jetzt Krakauer mit Knoblauch essen, wann immer ich will, so viel ich will und wo ich will. Sogar in Afrika.«

»Meinen Sie, dort wird es Krakauer geben?«, fragte Gre-schek.

»Bestimmt nicht«, wusste Walter. »Ich wollte mir nur mal wieder selbst klarmachen, dass dem Leben solche aberwitzigen Scherze nie ausgehen.«

Heini Wolf hatte ihm geraten, in Dresden auszusteigen und dort den Italienzug zu nehmen, der um ein Uhr nachts an der deutschen Grenze sein würde. Die drei Stunden in Dresden sollte er zu einem verspäteten Mittagessen nutzen. »Fünf Minuten Laufzeit vom Bahnhof«, hatte Heini empfohlen. »Dort kann dein Magen so gut und so billig von unserem geliebten Vaterland Abschied nehmen wie sonst nirgends in der Stadt.«

»Ich könnte mir vorstellen, dass mein Gemüt sich mit einer Henkersmahlzeit noch ein bisschen schwertun wird«, hatte Walter eingewandt, »ich hab mir sagen lassen, zu Henkersmahlzeiten braucht man eine gewisse Routine, ehe sie einem richtig gut schmecken.«

Seine Stimmung war von zwei Gläschen Schlehenschnaps ein wenig angeheitert, so ähnlich wie in seiner Studentenzeit, als er immer wieder vergebens probiert hatte, mit seinen trinkfesten Bundesbrüdern mitzuhalten. Wehmütig dachte er an sein drittes, in Heidelberg verbrachtes Semester. Er hatte es nie vergessen können und Jettel nie anhaltend verziehen, dass sie ihn mit ihrem Jammern und ihrer Eifersucht für das restliche Studium zurück nach Breslau gelockt hatte. Erst überfiel ihn die Melodie von »Gaudeamus igitur«, und dann ging ihm »Alt-Heidelberg, du feine« nicht aus dem Sinn. Obwohl der Zug durch den Winter fuhr und der Reisende in Richtung Afrika glaubte, er hätte alle Erinnerungen begraben, die einen Mann auf der Flucht schwächen könnten, wurde es Sommer und wundermild. Walter sah das Heidelberger Schloss, den Königsstuhl im Mondschein und das Karlstor, sah Brücken, Türme und Giebel. Am Neckar stand ein Gasthaus und am Fenster mit den schönen Butzenscheiben die Kellnerin Fanni. Sie schielte leicht, hatte kastanienbraune Zöpfe, so lang wie die von Rapunzel, und einen Hang zu Studenten, die mütterliche Instinkte in ihr wachriefen. Fast hätte Walter seine Jettel mit Rapunzel betrogen - es wäre dann das einzige Mal gewesen -, doch dank des badischen Weins, den er ja nicht gewöhnt war und den er, um zu sparen, ohne zu Abend zu essen, getrunken hatte, war die keimende Romanze schon mit dem Prolog beendet worden. Rapunzel war nicht nachtragend. Dem schüchternen Jüngling aus Breslau kredenzte sie zum Andenken die mit goldenen Weinranken verzierte Speisekarte ihres Arbeitgebers. Das Menü hatte Walter jahrelang aufgehoben. »Und nun«, sagte er, »fresse ich aus dem Papier und sauf aus der Flasche. Wie ein Sohrauer Stallknecht.«

»So etwas dürfen Sie nicht so ernst nehmen, Herr Doktor«, riet Greschek, »das macht nur krank im Kopp.« »Noch kränker kann mein Kopf nicht werden«, seufzte Walter.

Es erschien ihm als eine besonders hinterhältige Provokation des Schicksals, dass sein Appetit absolut nicht durch die Aufregung des Abschieds gelitten hatte. Er schalt sich einen herzlosen, verfressenen Egoisten, aber er konnte nicht umhin, jeden Bissen von Gretes selbst gebackenem Brot als ein Geschenk der Götter zu genießen. Jedenfalls so lange, bis er an seine Frau und sein Kind dachte und umgehend auch an die Geschichten, die sich die Menschen erzählten, während sie auf ihre Auswanderungspapiere warteten. Als der Zug in Görlitz einfuhr, hatte er dennoch zwei Krakauer und zwei Schmalzstullen gegessen und zusammen mit Greschek den größten Teil der Schnitten mit Inas Eierhäckerle. Greschek weigerte sich, an die Mohnklöße zu gehen. Walter argumentierte, er hätte sich Jahr für Jahr zu Silvester den Magen fürchterlich an Mohnklößen verdorben. Nun wolle er einmal in seinem Leben vernünftig sein und sich zurückhalten, doch innerhalb von zehn Minuten hatte er die ganze Schüssel geleert.

»Mich wundert«, überlegte er, »dass Grete um diese Jahreszeit überhaupt Mohnklöße macht. Wir haben doch nicht Weihnachten.«

»Sie wird gewusst haben, dass Sie keine mehr kriegen, Herr Doktor. Grete ist so eine. Sie redet nicht viel, aber meistens weiß sie viel mehr, als man ihr zutraut. Ich hatte mal einen Hund, der genauso war. Frido hieß er. Den hatte ich richtig gern.«

»Das müssen Sie Grete mal erzählen. Frauen schwärmen für solche Geschichten. Haben Sie vielleicht von Ihrem Herrn Hund gelernt, nicht auf eine Frage zu antworten?«

»Wieso?«

»Ich hab Sie vor einer Stunde und zehn Minuten gefragt, wie weit Sie mitfahren können, und ich warte immer noch auf eine Antwort.«

»Bis Genua natürlich«, sagte Greschek. Er leckte das Eier-häckerle vom Taschenmesser und wischte seine Hände an der grünen Fenstergardine ab. »Was haben Sie gedacht?«, fragte er vorwurfsvoll. »Ich lass’ Sie doch nicht in Ihrem Zustand allein zu den Italienern fahren. Die sind doch ganz unberechenbar, unsere neuen politischen Freunde. Seitdem die ihren Mussolini haben, sind sie noch viel schlimmer geworden. Erst neulich habe ich gelesen, dass sie sogar Vögel fressen.«

»Wir doch auch. Oder haben Sie noch nie eine gebratene Taube gegessen? Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass Sie bis Genua mitfahren. Das kann ich auch gar nicht annehmen. Das kostet Sie ein Vermögen, und wer weiß, ob sich nicht in Leobschütz herumspricht, dass ein ehrenwerter katholischer Geschäftsmann einen nichtarischen Volksschädling ins Exil begleitet hat.«

»Ja, glauben Sie, ich lass mir von den Nazis verbieten, dass ich zu meinem Papst fahre.«

»Der wohnt nicht in Genua, mein Freund.«

»Da können Sie mal wieder sehen, dass man auf den nicht zählen kann. Jedenfalls habe ich mich nicht umsonst mit den beiden Decken hier abgeschleppt. Grete hat sie mir für uns beide mitgegeben.«

»Ich weiß wahrhaftig nicht, wie ich Ihnen danken soll, Greschek. Sagt man bei Ihnen nicht: Gott vergelt’s?« »Sagt man das denn bei Ihnen nicht?«

»Bei uns vergilt Gott gerade den Umstand, dass wir mal um das Goldene Kalb getanzt sind und dass sich viele jüdische Rindviecher haben taufen lassen, um zu der feinen Gesellschaft zu gehören, die ihnen jetzt beweist, dass man seinen Glauben nicht aufgeben kann wie einen Mantel an der Theatergarderobe.«

»Das wusste ich nicht.«

»Die auch nicht, die sich haben taufen lassen. Die dachten, sie hätten fürs Leben ausgesorgt. Schade, dass man von der Bahn aus so wenig von Görlitz sieht. Ich hab mal einen Studienfreund besucht, der sich dort als Kinderarzt niederließ, und wollte der Peter- und Paulskirche zum Abschied winken. Und der Brücke über die Neiße. Fragen Sie mal Regina, was sich auf Neiße reimt.«

»Ich kann mir denken, was Sie ihr beigebracht haben.« »Heil Hitler!«, rief der Schaffner. »Die Fahrkarten. Ich bin aufgehalten worden.«

Er war ein klein gewachsener Mann und sein rechter Arm durch eine Verwundung im Krieg nicht so beweglich, wie es lebensnotwendig war, seitdem die hochgestreckte Rechte für Führertreue und politische Verlässlichkeit stand. Weil nach einem Gasangriff an der Westfront auch seine Stimme nur bedingt tauglich für einen deutschen Beamten war, ersetzte er die fehlende Autorität durch Haltung und aufeinandergepresste Lippen. Die von ihm erwähnte Verzögerung hatte als unerfreuliche Auseinandersetzung mit einem Reisenden in der zweiten Klasse begonnen. Im Verlauf des Gefechts hatte der sich als ein in Zivil reisender Oberst entpuppt. Dass der unglückliche Schaffner die Zusammenhänge zu spät begriffen hatte, hatte enorm an seinen ohnehin schwachen Kräften gezehrt. So kam es, dass er Walters Fahrkarte nur sehr flüchtig anschaute und gar nicht auf die Idee kam, dass er es mit einem Juden zu tun hatte, der im Begriff war auszuwandern. Bei Greschek wurde der Reichsbahner durch einen Ruf im Befehlston aus dem Nachbarabteil abgelenkt. In Erinnerung an den verkannten Oberst fluchte er leise und zog sehr laut die Tür zu.

»Prost«, sagte Greschek. Er entkorkte die Flasche und hielt sie Walter hin. Wer ihn nicht kannte, hätte ihm ein

Zwinkern unterstellt. Der Verdauungsschnaps wirkte umgehend und gründlich. Nur in den ersten zwei Minuten war es Walter peinlich, dass sein Begleiter mit offenem Mund schlief und so entspannt schnarchte, als gehöre ihm die Welt. Dann schlief auch er ein, obgleich auf dem Gang die Mutter mit dem zahnenden Kind stand und es wieder weinte.

Es waren unbarmherzig deutliche Träume, die Walter zurück in die Angst holten. Er sah die Linden vor seinem Vaterhaus stürzen, und er sah alle Häuser am Leob-schützer Ring brennen. Als er aufwachte, war ein Ehepaar zugestiegen. Der Mann hatte das Parteiabzeichen im Knopfloch seines grauen Jankers. Auf der wogenden Brust seiner Frau baumelte ein beruhigendes Kreuz in Elfenbein. Die beiden Italienreisenden waren jedoch von der Zeit geschult, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Sie ließen sich von dem Kreuz nicht in die Irre führen und widmeten dem Parteiabzeichen die besondere Beachtung, die einem Parteiabzeichen im Jahr 1938 zustand. So kam es, dass Walter Redlich und Josef Gre-schek kein Wort mehr sprachen, ehe sie in Dresden ausstiegen.