Wenn es um Religion geht, sind heute viele von uns kleine Arschlöcher. Denn wir sind ähnlich ahnungslos wie die aufmüpfige Comicfigur, wenn wir uns zu feierlichen Anlässen ausnahmsweise einmal in die Kirche verirren. In dem Film Das kleine Arschloch und der alte Sack – Sterben ist Scheiße segnet der Großvater, der alte Sack, das Zeitliche, als er während einer Beerdigung in einen Sarg fällt und bei lebendigem Leib begraben wird. Das kleine Arschloch besucht deshalb zum ersten Mal seit langer Zeit einen Gottesdienst:
»Schmeckt ja wie gekreuzigt und wiederauferstanden!«, schreit er und spuckt die Backoblate dem Priester vor die Füße. Er ist etwas verwirrt, was den genauen Programmablauf angeht. »Und was ist mit dem Wein, die anderen geben immer noch Wein?!?«, wundert er sich.
»Also, das ist bei den Evangelischen«, erklärt der Priester. »Dies ist ein katholisches Gotteshaus.«
»Ach, gibt’s da ’nen Unterschied?«
»Da gibt es allerdings einen Unterschied!«
»Stimmt, ihr habt buntere Fenster«, stellt das kleine Arschloch fest und bewundert die Bleiverglasung. »So sieht’s also bei den Katholen aus. Ich spritz ab!«
Wir mailen den Link zum Video vom kleinen Arschloch unseren Freunden Natalie und Manfred zur Erbauung. Sie hatten mit Kirche noch nie viel am Partyhütchen, wollen aber ihren Sohn auf den klangvollen Namen Jordan Jason Klaus Schulze taufen lassen. Nun wissen sie nicht, was sie zum Planschfest im Weihwasserpool eigentlich erwartet, denn an den lieben Gott glauben sie beide nicht – die Taufe könne dem Kind allerdings auch nicht schaden, praktisch als so eine Art Vorsorgeimpfung. Außerdem sind Natty und Manni sich sicher, dass Glaube Berge versetzen kann – Geldberge vor allem, nämlich vom Konto der erzevangelischen Eltern auf das eigene. Nachdem diese es aufgegeben haben, die beiden noch einmal in Schwarzweiß heiraten zu sehen, wollen sie wenigstens das Kind retten und vom Pfarrer segnen lassen. Als Belohnung winken sie mit einem satten Zuschuss zum neuen Familiennest.
Die Taufparty steigt an einem wolkenverhangenen Samstagmorgen. Der alte Backsteinbau der evangelischen Kirche macht im Nieselregen einen wenig einladenden Eindruck, als wir zum Taufgottesdienst erscheinen. Natty trägt zur Feier des Tages einen Ausschnitt bis zum Bauchnabel. Dass die versammelten Großmütter das für unangebracht halten, ist ihr egal: »Ich lass mir von den verklemmten Betschwestern doch nicht vorschreiben, was ich anziehe!« Aus ähnlicher Gemütslage heraus haben die beiden darauf verzichtet, bei ihrer Hochzeit Gottes Segen einzuholen. Das allerdings haben die Leute von der Kirche bei der Anmeldung zur Taufe zwecks Nachwuchsförderung gnädig unter den Tisch fallen lassen, genauso wie die Tatsache, dass Natty evangelisch, Manni aber katholisch ist. Wo da eigentlich der Unterschied liegt, wissen sie beide nicht. Als Manni bei der Vorbesprechung des christlichen Stapellaufs feststellte, dass das Baby quasi »ökomenisch«, wie er es nennt, gezeugt worden sei, verdrehte der Pfarrer die Augen gen Himmel.
Die Gemeinde sitzt bereits in Hab-Acht-Stellung da, als wir das Gotteshaus betreten, nur die beiden Säuglinge ratzen in himmlischer Ruh. Neben Jordan Jason Klaus Schulzes Erzeugern sind noch die Herkenraths mit ihrem Nachwuchs Leonie Ayleen am Start. Natty hat uns bereits berichtet, dass Mutter Herkenrath beim Taufvorbereitungsabend etwas aus der Rolle gefallen ist. Auf die Frage, was sie sich für ihr Kind von der Taufe erhoffe, hat sie geantwortet: »Beim Taufen bestellt der Herr Pfarrer den Schutzengel für mein Kind. Der sorgt dann dafür, dass ihm nie was passiert.« Der Herr Pfarrer erläuterte daraufhin, dass er nicht von der Hamburg Mannheimer und die Taufe keine Lebensversicherung ist.
»Manche verwechseln Colgate mit Golgata.«
Kardinal Lehmann
Das Aufjaulen der Orgel startet den Gottesdienst. Der Pfarrer tritt ein. Er verzieht keine Miene, als der Organist mehrfach schmerzhaft danebengreift, und macht nur kurz die Ansage, dass das Fotografieren während des Gottesdienstes nicht erwünscht ist. Die gezückten Handys verschwinden wieder, nur Mannis Mutter lässt die neue HD-Videokamera mitlaufen. Sie macht sich nicht viel aus christlichen Geboten, ihre Konfession ist abergläubisch. Den Umstand, dass ihr Enkelkind ein Junge geworden ist, hat sie im Kreise von Mannis Kumpeln bereits darauf zurückgeführt, dass ihr Sohn beim Zeugungsakt auf ihr Anraten hin die Socken anbehalten hat.
Nach dem feuchtfröhlichen Freitagabend fällt es uns heute Morgen schwer, den Ton zu halten. Sich die unbekannte Melodie zu merken und darauf dann den Text der nächsten Strophe zu singen, überfordert uns ein wenig: »Er ist mir täglich nahe / und spricht mich selbst gerecht. / Was ich von ihm empfahe, / gibt sonst kein Herr dem Knecht. / Wie wohl hat’s hier der Sklave, / der Herr hält sich bereit, / dass er ihm aus dem Schlafe / zu seinem Dienst geleit’ ...«
Empfahe? Sklave? Knecht?
Egal, die anderen um uns herum verstehen auch nur Himmelfahrt und singen Playback. Dann liest eine ältere Frau aus dem Evangelium vor, und die Eltern treten mit den Säuglingen vor.
Natty und Manni sehen zu, wie der Pfarrer ihrem Sohn das Weihwasser über den Kopf gießt. Von Manni wissen wir, dass er Religion in der Oberstufe abgewählt hat und seitdem den Begriff Gott nur noch in Zusammenhang mit Angus Young verwendet. Er artikuliert das Versprechen, seinen Sohn im christlichen Glauben zu erziehen, dennoch besonders deutlich, weil Opa Schulze mitbekommen will, dass ordnungsgemäß getauft wird. Und der Gute ist etwas schwerhörig ...
Der Pfarrer hält noch eine Predigt darüber, dass allein der Glaube Ursache für Glück und Wandlung im Leben sei. Er rezitiert den Stürmer Cacau: »An einem Tag feiern sie dich, am nächsten bist du der Depp. Auf Jesus kannst du dich immer verlassen.« Leichte Schläfrigkeit macht sich breit. Vielleicht hätte er besser Kicker Horst Heldt beliehen, der auf die Frage, woran er glaube, antwortete: »An die fünf lebenswichtigen Bausteine in Nutella.« Der kleine Junge neben uns beginnt auf seinem iPhone Angry Birds zu spielen.
Zum Vaterunser bewegen wieder alle wortlos die Lippen. In der Bank vor uns will sich ein junger Mann sogar zum Gebet auf die Knie werfen, aber seine Freundin erklärt ihm leise, dass das nur bei den Katholiken so sei. Als im Anschluss der Klingelbeutel durch die Reihen gereicht wird, lichten sich diese schlagartig. Draußen ist schönes Wetter, und der Kuchen ruft.
»Manchmal ist es schwer, wach zu bleiben, besonders in der Kirche.«
Oscar Wilde
Nach der Tauffeier ist uns eines klar: Eigentlich hatte außer dem Pfarrer und den fest im evangelischen Glauben verwurzelten Großeltern kaum einer einen Plan, was hier abging. Vermutlich wussten auch die wenigsten, dass es bei der Taufe ursprünglich nicht um Geschenke, warme Worte und die Aufnahme in die Gemeinde geht, sondern um die Zugehörigkeit zu Christus und die Erlösung von der Erbsünde. Ist aber auch nicht so wichtig. Die Kirche ist für viele ohnehin zu einem Teilzeitpartyschuppen geworden. Eigentlich passen der sakrale Schwulst und die biedere Gesinnungslage nicht mehr zum modernen Lifestyle – zwei Drittel der Deutschen gehen nach Angaben von tns Infratest nie oder nur noch selten in die Kirche. Lediglich zu Hochzeiten und Taufen suchen wir immer noch gerne ein Gotteshaus auf, einfach weil die Feier dann einen hübschen Rahmen hat und die Verwandten einen offiziell anerkannten Grund, uns zu beschenken. Worum es in der Messe wirklich geht, davon haben wir so viel Ahnung wie Moses vom Rödelheim Hartreim Projekt.
Die Show in der Kirche ist uns fremd geworden, und der Qualm einer Shisha-Bar vertrauter als der Weihrauchnebel in der Sonntagsmesse. Unsere unruhige Seelenlage bügeln wir ohnehin lieber mit Yoga oder bei einem Wellness-Wochenende im Spa-Tempel glatt. »Viele, die zur Taufe kommen, wissen zum Beispiel nicht mehr, wozu es Fürbitten gibt«, erzählt uns ein Pfarrer aus München. »Ernsthaft, es gab auch mal eine Frau, die wollte mir wieder aufhelfen, als ich beim Einzug in die Kirche vor dem Altar niederkniete.« Ein katholischer Dienstleister in Karlsruhe berichtet davon, dass sich beim Einzug in die Kirche schon das ein oder andere Malheur ereignet hat, wenn die Eltern zuvor nicht richtig gebrieft wurden. Er erwartete die Taufeltern an der Eingangstür und fragte sie: »Was erbitten Sie sich von der Kirche?« Mit der Mutter hatte er als Antwort »die heilige Taufe« verabredet, ihr Mann war dem Ablaufseminar wegen eines wichtigen Bundesligaspiels ferngeblieben. Bevor sie etwas sagen konnte, reichte der stolze Vater dem Pfarrer schon die Hand und stammelte reflexartig: »Meyer. Dürfen wir reinkommen?«
Wer sich zu einer solchen Feier verirrt, holt deshalb heute besser vorher professionellen Rat ein. Viele von uns stünden vor einem gesegneten Problem, wenn das Vorgespräch mit dem guten Hirten nicht mehr stattfinden würde oder wenn es nicht wenigstens eine Vielzahl von Tauf-Websites für Eltern gäbe. Alternativ können natürlich auch alle, bei denen im Hinblick auf die sakralen Spielregeln mehr Glauben als Wissen vorhanden ist, den Comedian ihres Vertrauens hinzuziehen. So warnt etwa der Switch-Spaßmacher Michael Kessler in Kesslers Knigge auch schon mal vor den peinlichsten Patzern im Gottesdienst. Seine wichtigsten drei Regeln: keinen Teppich ausrollen und nach Mekka beten, während der Veranstaltung keine Pizza kommen lassen und den Klingelbeutel füllen, nicht leeren.
Mit unserem Wissen über die heilige Vielfalt steht es oft nicht zum Besten. Haben Sie sich nicht auch schon mal gewundert, warum eigentlich Gott Vater, der Heilige Geist und Jesus angeblich dreifaltig sind und doch eins? Oder könnten Sie aus der Lamäng sagen, wen genau wir an Allerheiligen feiern, was Mariä Lichtmess mit einem Schaf und einer Taube zu tun hat und worum es bei Fronleichnam geht – wenn nicht um arbeitende Verstorbene oder glückliche Kadaver? Nein? Trösten Sie sich. Sie sind nicht alleine.
Gott ist kein Pinguin2
Buchtitel unterhalten sich über den Allmächtigen
Mama, wer ist Gott? Bärbel Mohr/Stefan Stutz
Gott ist kein Argentinier mehr Enrique Bein/Roberto Bein
Ist Gott Brasilianer? Herbert Plate
Gott ist Brasilianer Peter Overbeck
Gott ist Engländer R.F. Delderfield
Wie siehst du aus, Gott? Marie-Hélène Delval/Barbara Nascimbeni
Gott ist groß Elizabeth Hicks u.a.
So groß ist Gott Patricia M. Saint John u.a.
Mein Gott ist so groß Catherine Mackenzie
So groß ist unser Gott! Ken Campbell
Gott ist größer, als ihr glaubt Thomas Williams
Würfelt Gott? Arnold Benz/Samuel Vollenweider
Gott würfelt nicht Richard Morris
Gott würfelt doch Lutz Kreutzer
Ist die Kirche noch zu retten? Hans Küng
Der liebe Gott ist auch schon ausgetreten Jochen Jülicher
Was macht Gott den ganzen Tag? Heinz-Manfred Schulz
Gott fährt Fahrrad Maarten’t Hart
Und Gott chillte edition chrismon
Termine mit Gott 2011 Klaus J. Diehl u.a.
An der Arche um Acht Ulrich Hub/Jörg Mühle
Gott ist jederzeit zu sprechen Roth Paul
Sterben wie Gott in Frankreich Michael Böckler
Gott ist tot Ronald F. Currie
Gott ist tot!? Hilke Wagner
Gott ist tot? Dass ich nicht lache! Heinz Siebel
Gott ist nicht tot Etienne Borne/Johannes Hüttenbügel
Gott ist tot und lebt Hans M. Enzensberger u.a.
Und Gott sprach: Wo liegt das Problem? Jörg Schulze
Beim großen Sat.1 Weihnachtstest wollten die Reporter an der deutschen Basis mehr über die genauen Hintergründe des höchsten Feiertags erfahren und überraschten arglose Glühweinschlürfer auf dem Weihnachtsmarkt. »Jesus und Christus – wissen Sie, was später aus den beiden geworden ist?«, wollten sie von einem Vater und dessen Sohn wissen. Die beiden mussten nicht lange überlegen: »Den haben sie gekreuzigt, den einen.«
Andere Christbasarbesucher datierten in der Folge den Geburtstag des Heilands, den sie alljährlich mit einem Haufen Geschenken feiern, mal mit großer Treffsicherheit auf »achtzehnhundert vor Christus«, mal etwas vage auf »so fünfhundert, sechshundert oder tausend« und auch mal pauschal auf »das ist schon ein bisschen länger her«. Die Heiligen Drei Könige, die bei fast jedem Deutschen als Figürchen unter dem Tannenbaum im Stall stehen, heißen nach allgemeiner Auskunft »Jaspar, Melchior oder Benedikt«, und eine junge Frau mit blonden Locken kannte gar »Balthasar, Baldrian und ...« – den Dritten hatte sie vergessen.
»Um ein tadelloses Mitglied einer Schafherde sein zu können, muss man vor allem ein Schaf sein.«
Albert Einstein
Solche christlichen Entgleisungen bringen aber heute keinen mehr in Bedrängnis. Denn warum die Christen einen Feiertag begehen, schert niemanden mehr, Hauptsache wir haben frei und können auspennen. In einer Emnid-Umfrage wusste von den unter Neunundzwanzigjährigen lediglich ein Drittel, dass sie an Pfingsten die Verschickung des Heiligen Geistes begehen. An Ostern denken die meisten nur an ein Kaninchen, das bunte Eier legt, und statt Allerheiligen feiern die meisten lieber Halloween. Als Vorbereitung für die höheren kirchlichen Feste gilt für uns schon der Einkauf von Saisonartikeln aus dem Discounter unserer Wahl, und die Tatsache, dass die Bundesländer je nach Hauptkonfession über unterschiedlich viele arbeitsfreie Tage verfügen, erscheint immer mehr Bürgern als himmelschreiende Ungerechtigkeit. Folgerichtig antworten acht von zehn Leuten auf die Frage »Sind für Sie Tage wie Christi Himmelfahrt oder Fronleichnam religiös bedeutsam?« sehr eindeutig: »Ich feiere diese Tage nicht, sondern genieße die freie Zeit.«
»Ein Esel stellt sich Gott als
Esel vor.
Der Papst stellt sich Gott als Mann vor.«
Uta Ranke-Heinemann
Die Religionsamnesie setzt schon im zarten Alter ein. Heike Marin ist Pastorin in einer Gemeinde nahe Dortmund und kennt angehende Gläubige aus dem Konfirmanden- und Religionsunterricht. »Wer wurde gekreuzigt? Das war doch Jehova! Solche Aussetzer kann ich mir dauernd anhören«, berichtet die Pastorin. Die Zahl der Konfirmanden in ihrer Gemeinde sinkt seit Jahren, und auch in der Schule haben schon mal mehr Jugendliche ihre Relistunde besucht. Da drückt sie dann auch mal ein Auge zu, wenn das Vaterunser plötzlich nur noch aus zwei Zeilen besteht oder sich viele statt der Bibel lieber die Bestsellerverfilmung Das Jesus-Video angucken wollen. Die meisten kennen die biblischen Geschichten ohnehin eher aus der Verballhornung Das Leben des Brian von Monty Python. Die Geschichte von Brian, der ganz unbedarft und vor allem ungewollt in die Messias-Kiste reinrutscht, ist für viele der Beleg, wie schnell aus einem Missverständnis ein großer und seltsamer Kult werden kann.
ANNE ERZÄHLT
»Darf ich auch mal Pastor sein?«, fragt meine kleine Schwester. Sie zuppelt flehend an meinem Dracula-Faschingsumhang, mit dem ich ein Priestergewand simuliere. Ein Schal liegt majestätisch über meinen Schultern, die Enden baumeln über dem Gewand herab.
»Ja, gleich«, sage ich mit der ganzen Huld meiner sechs Jahre, während ich Backoblaten als Hostien ausgebe. »Aber jetzt bist du wohl erst mal die Gemeinde.« Gütig beuge ich mich herab und murmele »Der Leib Christi«, wie ich es sonntags bei unserem Pfarrer gesehen habe. Meine Schwester schluckt die Oblate runter, läuft um mich herum und kniet dann wieder vor mir nieder, worauf ich ihr den zehnten trockenen Mehltaler in Folge auf die Zunge lege.
Sie hustet und würgt ein bisschen. »Mama?«, ruft sie. »Kann ich einen Traubensaft?« Meine Gemeinde springt auf und rennt in die Küche.
Amen, denke ich. So schnell läuft einem das Kirchenvolk davon. Erst noch fromm tun und dann Traubensaft saufen. Aber daran muss ich mich wohl gewöhnen. Ich träume nämlich davon, Päpstin zu werden, oder zumindest Bischöfin. Dass in diesem Beruf die Frauenquote fast schon im negativen Bereich liegt, darauf wäre ich zu diesem Zeitpunkt im Leben nicht gekommen. Ich bleibe den Katholiken daher treu, in der Hoffnung, irgendwann tatsächlich in die Führungsetage aufzurücken – und auch deswegen, weil ich schlicht und ergreifend keine Ahnung habe, dass man grundsätzlich aus dem Verein auch austreten kann.
Mein Hang zum Christentum basiert in diesem Alter auf Unwissenheit. Lange habe ich noch an den Osterhasen geglaubt, und zwar allein deswegen, weil meine Mutter im Garten vor uns herläuft, Schokoeier auf den Rasen fallen lässt und ruft: »Guckt mal! Was ist denn das?« Vom Weihnachtsmann will ich gar nicht erst anfangen. Es ergeht mir eben auch nicht anders als allen anderen Kindern: Wir glauben gerne alles, was die Erwachsenen uns erzählen, und für die ist es wiederum ganz praktisch, dass sie uns mit der biblischen Geschichte viele Dinge auf einfache Art erklären können, für die uns der größere Zusammenhang fehlt. Egal ob es nun um die Herstellung des kleinen Geschwisterchens geht oder um die Frage, was Oma eigentlich nach dem Umzug in die Kiste sechs Fuß unter der Erde so treibt.
Glauben ist in der Kindheit oft nicht mehr als das einfache Vorenthalten von Fakten. Ich halte es daher auch lange Zeit für einen gebräuchlichen Ritus unter allen Menschen auf der Welt, dass man sich zu Weihnachten ein Sofakissen unter den Pulli steckt und singend durchs Haus zieht, um die Geschichte von Maria und Josef nachzuspielen. Auch die Heilige Erstkommunion erscheint mir tatsächlich heilig, und dass, obwohl ich gar nicht genau verstehe, aus welchem Anlass man sich da eigentlich einen weißen Fummel anzieht und einen Stoffblütenkranz ins Haar hängt. Ich betrachte es einfach als einen weiteren Schritt meiner Karriere in der katholischen Kirche, den zweiten nach der Taufe. Daher erhebe ich auch keinen Einspruch, als meine Eltern mich für den Kommunionsunterricht anmelden.
Die Wochen vergehen, und mit rasanten Schritten geht es auf das frohe Ereignis zu. Kommunionskerzen werden gespitzt, Kleider gekauft und Einladungen an die Verwandten verschickt. Der Kommunionsunterricht besteht größtenteils aus dem Ausmalen von vorgezeichneten Bildchen, fantastischen Geschichten über Männer, die in Fischbäuchen überleben, und nachgespielten Szenen von Bibelmotiven. Im Grunde ganz ähnlich, wie wenn Mama aus dem Märchenbuch vorliest.
Am Tag vor der Feier sollen wir die Beichte ablegen. Die Nacht zuvor liege ich grübelnd wach. Mir will partout kein elegantes Vergehen einfallen, das mich nicht so dämlich aussehen lässt. Jetzt heißt es Top oder Flop: Wenn ich diese Hürde meistere, dann ist der erste Grundstein für mein Amt als katholische Würdenträgerin gelegt.
»Und, was hast du dir überlegt?«, fragt die Kommunionsbetreuerin Esther mich, bevor wir in Richtung Beichtstuhl aufbrechen.
»Weiß nicht«, sage ich. »Was beichtet man denn am besten?«
»Na, überleg doch mal«, ermuntert Esther mich. »Muss ja auch nix Großes sein.«
Ich überlege.
»Dann geb ich dir jetzt mal drei Sünden zur Auswahl«, leistet mir Esther Schützenhilfe. »Du hast doch deiner Schwester bestimmt schon mal ein Spielzeug weggenommen. Oder du könntest sagen, dass du was aus dem Süßigkeitenschrank deiner Mama genommen hast. Oder du hast bei der Schularbeit gespickt.«
Du meine Güte. Gleich drei öde Dinge auf einmal. Wer in der katholischen Kirche Karriere machen will, muss bestimmt von Anfang an Eindruck schinden, am besten mit einem richtig originellen Beichtgeständnis, davon bin ich überzeugt. Ich muss also groß denken.
Den Beichtstuhl zu betreten kommt mir vor wie an der Tafel vorrechnen. Ich bin nervös, als ich den schwarzen Vorhang beiseiteschiebe und mich auf das Holzbänkchen in der engen Kabine quetsche.
»Hast du gesündigt, mein Kind?«, erkundigt sich der Pastor erwartungsvoll durch das vergitterte Fensterchen.
Meine Hände sind ganz schwitzig. Jetzt bloß keinen Fehler machen.
»Ja, ich glaube, schon«, raune ich zurück.
»Du kannst dich dem Herrn anvertrauen.«
»Also ...« Meine Kehle ist ganz trocken. »Ich habe meiner Mutter einen Batzen Geld geklaut. Und Schokolade.«
»Das ist aber nicht schön, meine Kleine«, sagt der Pastor. »Dafür solltest du drei Ave Maria beten.« Er will mich entlassen, aber ich möchte die Gelegenheit nutzen, um etwas über meine Berufsaussichten zu erfahren.
»Wenn ich bereue und ab jetzt nie mehr sündige«, beginne ich einen kleinen Kuhhandel, »kann ich dann Bischöfin werden?« Von meinem Plan, den Laden im Vatikan zu übernehmen, sage ich nichts. Das klingt sonst sicher nicht sehr bescheiden.
Schmunzelt der Kerl hinter dem Fliegengitter etwa?
»Das solltest du dir noch mal überlegen«, sagt der Pastor und räuspert sich. »Du willst doch bestimmt selber mal Familie haben.«
Ich denke kurz nach. »Ja«, sage ich. »Kann schon sein.«
»Dann wünsche ich dir, dass du mal jemanden kennenlernst, mit dem du Kinder bekommen kannst«, sagt der Pfarrer.
Ich bin baff. »Danke gleichfalls«, sage ich artig und verlasse den Beichtstuhl.
Liegt es an den runtergeschraubten Ansprüchen an die Religionslehre, dass keiner mehr weiß, an wen oder was er da eigentlich glauben soll? Hand aufs scheinheilige Herz: Nicht wenige würden wohl Meister Eckart mit dem gleichnamigen Klempnergesellen Eckhart aus den Werner-Comics verwechseln. Heutzutage haben wir mehr Ahnung von der Historie unseres liebsten Bundesligavereins als von der Religion, der wir laut Steuerzettel vielleicht noch angehören. Auch die Unterschiede zwischen den beiden Christenclubs erschließen sich manchen Zeitgenossen schon lange nicht mehr. Ein Pfarrer aus Heidi Klums Heimatstadt Bergisch Gladbach weiß Erstaunliches zu berichten: Ein Mann hatte ihm nach seinem Kirchenaustritt eine E-Mail geschickt. »Er sagte, dass er von der Kirche die Nase voll hätte.« Der Pfarrer wollte die genauen Gründe erfahren. »Der Mann sagte, dass er wegen des Papstes und seiner antiquierten Ansichten ausgetreten sei. Ich schickte ihm daraufhin eine Nachricht mit dem Hinweis, dass er gerade aus der evangelischen Kirche ausgetreten war.« Selbst bei der Mehrzahl derjenigen, die der Kirche treu bleiben und sich für gläubig halten, ist das Koordinatensystem gehörig durcheinandergeraten. In einer Forsa-Umfrage gaben sechzig Prozent der Protestanten und Katholiken an, dass sie »frei von Religion und dem Glauben an einen Gott« leben. Im Sinne von Siegfried Lenz sind viele von uns damit »praktizierende Atheisten«: Menschen, die zwar einer Kirche angehören und sogar vorgeben, an einen Gott zu glauben, aber so leben, als gäbe es keinen.
»Wie kann ich an Gott glauben, wenn sich erst letzte Woche meine Zunge in der Walze der Schreibmaschine verheddert hat?«
Woody Allen
Machen wir ein kleines Gedankenexperiment. Nehmen wir an, es geschieht das, worauf Milliarden Gläubige seit über zweitausend Jahren warten: Jesus Christus kehrt auf die Erde zurück. Was würde der Messias wohl von uns denken? Würde er die rasanten Ideen für eine bessere Welt wiederentdecken, die er damals mit seinem Fischerclan ausgeheckt hat?
Wir tun jetzt mal so, als wären Sie Jesus. Verraten Sie es aber besser niemandem – sonst begleiten Sie außer den Wesen mit den weißen Flügeln noch die Männer mit der weißen Jacke. Die Reise führt Sie nach Berlin, weil sich dort gerade der Stellvertreter Ihres Vaters aufhält. Sie wollen »Benno«, wie er im Himmel von Freunden genannt wird, kurz Hallo sagen. Aber Sie erhaschen nur einen flüchtigen Blick darauf, wie er winkend in einem Terrarium auf Rädern an der Menge vorbeirast. Pech gehabt. Sie checken in einer billigen Absteige ein, großer Bahnhof war noch nie Ihr Stil. Im völlig überteuerten Coffeeshop um die Ecke holen Sie sich einen Passion Fruit Tea und surfen im allwissenden Netz, um ein Facebookprofil einzurichten und ein paar neue Jünger zu finden. Aber so weit kommen Sie gar nicht: Mandy bietet Ihnen per Popup einen »geilen Tittenfick« an. Entsetzt stellen Sie fest, dass das ganze Internet verdorben ist, es wimmelt nur so von fleischlicher Lust! Dabei hatten Sie doch in der Bergpredigt eine klare Ansage gemacht: »Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen. Wenn dich dein rechtes Auge zum Bösen verführt, dann reiß es aus und wirf es weg! Und wenn dich deine rechte Hand zum Bösen verführt, dann hau sie ab und wirf sie weg!«
»Wenn ich mich zwischen zwei Sünden entscheiden muss, begehe ich immer diejenige, die ich noch nicht kenne.«
Mae West
Sie verlassen den Ort Ihrer Niederlage und strolchen eine Weile ziellos umher. Unterwegs fallen Ihnen die vielen Bedürftigen auf, um die sich offenbar niemand wirklich schert. Sie wundern sich, dass so viele Leute hungern. Denn man müsste nicht mal mehr fünf Gerstenbrote und zwei Fische für sie vermehren, da es an jeder Ecke Fastfood-Fraß und All-you-can-eat-Restaurants gibt. Bei der Gelegenheit gönnen Sie sich selbst einen kleinen Imbiss. Im Restaurant hängt ein Fernseher, auf dem ein Gesangswettbewerb läuft. Ein blonder Mann, der sich aufführt, als besäße er den Schlüssel zum Himmelreich, pöbelt die Barden an: »Ich bin ja Protestant. Aber eher werde ich Papst als du Superstar.« Unverschämtheit! Was das Beleidigen von christlichen Brüdern angeht, hatten Sie ebenfalls klare Regeln aufgestellt: »Ich aber sage euch: Jeder, der auf seinen Bruder zornig ist, gehört vor Gericht. Wer zu seinem Bruder sagt: ›Du Dummkopf‹, der gehört vor den Hohen Rat. Und wer zu ihm sagt: ›Du Idiot‹, der gehört ins Feuer der Hölle.« Sie wenden sich ab und lesen lieber in der Zeitung. Dort wird von einem jungen Mann berichtet, der ein hohes Amt bekleidet und bei seiner Doktorarbeit geschummelt hat. Das Gebot »Du sollst nicht lügen« scheint auch keiner mehr ernst zu nehmen – und dabei arbeitet der Kerl auch noch für einen Club, der sich explizit auf Sie beruft!
»Jesus war ein Wandersmann, am
liebsten aufm Ozean
Ja, und seine Zaubershow, die hatte wirklich Weltniveau.
Jesus, Jesus, du bist echt okay,
Jesus, Jesus, everytime fair play.«
Die Doofen
Allmählich dämmert Ihnen, dass sich die moderne Welt nicht mehr viel um Ihre gut gemeinten Worte schert. Am meisten schämen Sie sich aber für den eigenen Laden: Er hat sich in zwei Clubs gespalten, die sich darum streiten, wie man Ihnen auf die richtige Weise Ehrerbietung zollt. Was für ein Kindergarten! Seltsamerweise haben Ihr Stellvertreter auf Erden und seine Entourage außerdem einen merkwürdigen Hang zur Prunksucht. Was hatten Sie noch gleich gesagt? Ach ja: »Sammelt euch nicht Schätze hier auf der Erde, wo Motte und Wurm sie zerstören.« Nun gut, geschenkt. Aber die Sache mit dem Kindesmissbrauch ist wirklich eine Schande. Sie haben Verständnis für die vielen Tausend Menschen, die aus der Kirche austreten. Schließlich hatten Sie damals genauso einen Hals auf die Pharisäer im Tempel wie die Kirchenflüchtigen auf ihre Priesterschaft. Enttäuscht beschließen Sie, dieser gottverlassenen Welt den Rücken zu kehren und wieder in den Himmel aufzufahren. Dieses Mal aber ohne großes Tamtam.
Das Christentum hat in Deutschland seine besten Zeiten hinter sich. Angesichts des Kahlschlags in der Kirchenbank kann man nicht mehr leugnen, dass immer mehr Menschen der Meinung sind, man könne getrost darauf verzichten. Die Hotline zum Himmel hat einen schwerwiegenden Ausnahmefehler, und besonders betroffen ist die junge Generation. Die Hälfte der jungen Menschen in Deutschland steht laut einer Online-Befragung dem Christentum mittlerweile mit Skepsis oder Antipathie gegenüber.
Die religiöse Verwahrlosung ist so weit fortgeschritten, dass der bekannte Publizist und bekennende Christ Matthias Mattusek in seinem Buch Das katholische Abenteuer schreibt: »Ich bin so leidenschaftlich katholisch, wie ich vor vierzig Jahren Marxist war. Warum? Weil mein Verein angegriffen wird.« Und sogar Bundeskanzlerin Merkel sah sich auf dem Deutschlandtag der Jungen Union 2010 genötigt, eine Lanze für ihre Religion zu brechen: »Lasst uns doch mal über das Christentum wieder reden. Lasst uns das doch mal mit fröhlichem Herzen verkünden. Wie oft machen wir denn das?!?«
Man darf getrost bezweifeln, dass es der Kanzlerin tatsächlich gelingen könnte, das Christentum in Deutschland wach zu küssen. Denn wie viel Christliches kann überhaupt noch in einer Gesellschaft stecken, die davon keine Ahnung mehr hat?