7. KAPITEL

Wenige Wochen nach ihrer Trennung von Constantin konnte Sophie noch immer nicht wirklich fassen, dass sie diese Zeit überhaupt überlebt hatte. Ihr Innerstes fühlte sich die meiste Zeit wund, manchmal aber auch einfach leblos und taub an. Außer diesem immerwährenden Schmerz und der seltsamen Leere war da fast gar nichts mehr.

Wie in Trance hatte sie alles hinter sich gebracht. Die Gespräche mit Johannes und ihrer Mutter waren wohl am schlimmsten gewesen, aber auch die Öffentlichkeit war in kurzen und knappen Worten über die Trennung informiert worden. Kaum dass dies überstanden war, hatte sie ganze Nächte hindurch geschrieben, damit sie die Arbeit an dem inzwischen so verhassten Buch endlich abschließen konnte.

Jetzt war es endlich so weit. Das fertige Manuskript war Constantin bereits zugegangen, und er hatte, ganz gegen ihre Erwartung, keinerlei Einwände gehabt, wie ihr von Thomas Jenkins mitgeteilt wurde. Das Manuskript lag nun im Lektorat des Verlags und wurde für die Veröffentlichung vorbereitet.

Interviewtermine in zwei verschiedenen Talkshows standen bereits fest. Aber Thomas Jenkins hatte ihr unterdessen auch eröffnet, dass Constantin selbst zu keinem Interview bereit war. Sie allein würde die Verantwortung für die Vermarktung ihres Buches übernehmen. Sophie war sogar erleichtert darüber, denn Constantins unnachgiebige Haltung verhinderte gleichzeitig eine Begegnung zwischen ihr und ihm.

Dennoch – sie vermisste ihn unsagbar.

Es half auch nichts, dass sie sich immer wieder die grauenvollen Beleidigungen vergegenwärtigte, die er ihr zum Schluss an den Kopf geworfen hatte. Jede Stunde, jede Minute und jede Sekunde ihrer Tage war angefüllt mit den anderen, den wundervollen Erinnerungen an ihre Zeit mit ihm. Dieses besondere Glück, das sie in seiner Nähe und in seinen Armen erfahren hatte, erschien ihr inzwischen beinahe unwirklich.

Manch schlaflose Nacht verbrachte sie einsam in ihrer Küche und starrte grübelnd in die Dunkelheit. Oft beschimpfte sie sich dann selber, wie dumm sie doch gewesen sei. Sie verfluchte die Zweifel, die ihr keine Ruhe gelassen hatten. Gleichzeitig wusste sie aber auch, dass sie wohl immer wieder so handeln würde, weil es einfach ihrer Natur entsprach, den Dingen auf den Grund zu gehen. Dennoch meinte sie genau zu wissen, dass es allein ihre furchtbaren Zweifel an seiner Liebe gewesen waren, die all das Schöne zerstört hatten.

In anderen Nächten verwünschte sie dann wieder ihn und sein erbarmungsloses Misstrauen, seinen unverrückbaren Stolz. Dessen ungeachtet würde sie Constantin Afra immer lieben und sich bis zu ihrem letzten Atemzug nach ihm sehnen. Das wusste sie so sicher, wie sie den eigenen Namen kannte.

Ihre Mutter und Johannes kümmerten sich liebevoll um sie, aber sie fühlte sich trotzdem schrecklich einsam. Zweimal verabredete sie sich mit Stefanie aus dem Archiv, und sie zwang sich sogar, zu einigen Redaktionssitzungen zu gehen. Früher hatten ihr die Diskussionen mit den Kollegen immer Spaß gemacht, jetzt aber empfand sie noch nicht einmal ein gewisses Maß an Zufriedenheit dabei. Der Kontakt zu anderen Menschen war für sie immer immens wichtig gewesen, doch nun war sie trotz ihrer beklemmenden Einsamkeit froh, wenn man sie in Ruhe ließ. Es war viel zu schön, sich in süßen Erinnerungen zu verlieren und in bildhafte Träume zu flüchten, die noch immer eine gewisse Nähe zu Constantin ermöglichten.

Eines Abends klingelte das Telefon, und zu ihrer Überraschung war es Lutz Wölfer, der sie anrief.

„Hey, Zuckerschnute! Ich bin für ein paar Tage in Hamburg. Hast du Lust auf ein Essen mit einem einsamen Pianisten?“

„Ach Lutz, nein. Tut mir leid, aber ich … mir ist nicht nach … Unterhaltung“, antwortete sie merklich widerwillig.

„Hör zu, Sophie, mach mich nicht gleich zur Schnecke. Es hat mich genug Überwindung gekostet, überhaupt bei dir anzurufen.“ Sie hörte ihn tief einatmen. „Püppchen, der Typ ist Vergangenheit. Wende dich doch lieber der verlockenden Gegenwart zu. Na komm schon, gib dir einen Ruck.“

Sophie schloss entnervt die Augen. Sie hielt Lutz nicht für einen schlechten Menschen, sie mochte ihn sogar irgendwie, aber im Augenblick ging ihr seine oberflächliche Art mächtig auf die Nerven. Mittlerweile kannte sie ihn gut genug, um zu wissen, dass er sich nur mit Frauen verabredete, um sie so schnell wie möglich ins Bett zu bekommen. Die Liste seiner Eroberungen war ungefähr so lang wie die gesamte Gleisstrecke des Orient Express.

„Tut mir leid, Lutz“, wiederholte sie. „Du wirst sicherlich keinerlei Schwierigkeiten damit haben, eine passende Begleitung für heute Abend zu finden.“

„Ich möchte aber mit dir diesen Abend verbringen, nicht mit irgendeiner …“

„Ich sagte Nein, Lutz!“

Nach einem Moment der Stille hörte sie wieder seine Stimme. „So schlimm, Sophie?“

„Noch schlimmer! Ich wäre keine gute Gesellschaft, glaub mir.“

„Süße, vielleicht wird es leichter, wenn …“

„Ich war noch nie der Typ für einen One-Night-Stand.“

Er räusperte sich. „So habe ich das auch gar nicht gemeint.“

„Gut. Dann entschuldige ich mich. Das war vielleicht nicht sehr fair.“

„Nein, das war es nicht, aber mach dir bloß keine Vorwürfe. Du weißt ja, ist erst mal der Ruf ruiniert … Hör zu, nimm den Hörer in die Hand und ruf mich an, wenn dir danach ist – aus welchem Grund auch immer, okay?“

„Gute Nacht, Lutz.“

„Träum schön, kleine Sophie.“

Sie legte auf und kämpfte gegen eine neue Tränenflut an. Sie konnte ihre Gefühle einfach nicht in den Griff bekommen. Constantin Afra war überall – vor allem aber in ihrem Herzen. Inzwischen traute sie sich noch nicht einmal mehr, das Radio oder den Fernseher einzuschalten. Sie hatte buchstäblich Angst davor, völlig unvorbereitet seine Stimme zu hören oder ihn gar zu sehen. Zweimal schon war ihr das bisher passiert, und sie wäre fast erstickt vor lauter Kummer.

„Sophie’s Melody“ war jetzt bereits seit vier Wochen auf Platz eins in den Musikcharts. Die Verkaufszahlen der CD brachen alle bisherigen Rekorde. Manchmal, in schwachen Stunden, fragte sie sich, wie Constantin es fertigbrachte, dieses Lied immer wieder zu singen. In der letzten Zeit war er in mehreren Fernsehshows damit aufgetreten. Der Song war wohl schon jetzt der größte Hit, den er jemals gehabt hatte. Er stellte alles andere in den Schatten.

Als Sophie vorsichtig Thomas Jenkins danach gefragt hatte, hatte dieser sie nur milde angelächelt und ihr mitgeteilt, dass Conny eben durch und durch ein echter Profi sei. Sophie glaubte Tom Jenkins nicht. Für sie war es viel wahrscheinlicher, dass Constantin über das, was er auch immer für sie empfunden haben mochte, längst hinweg war. Er fühlte sich von ihr getäuscht und benutzt, das würde er niemals vergessen können. Seine Enttäuschung und sein unbändiger Zorn waren fast mit Händen greifbar gewesen. Nein, sie machte sich nichts mehr vor – sollte er tatsächlich jemals in sie verliebt gewesen sein, so war das ein für alle Mal vorbei.

Seine Familie teilte offenbar seine Einstellung. Schon vor Wochen hatte Sophie an Helen einen langen Brief geschrieben, doch Constantins Schwägerin hatte ihr bisher noch nicht geantwortet. Nur Thomas Jenkins ließ keinen Zweifel daran, dass er nach wie vor große Stücke auf sie hielt. Darüber freute sie sich sehr, denn Jenkins war schließlich auch ihr Agent.

Und dann war da noch Roman Herwig.

Ohne dass sie es darauf angelegt hatte, war er im Laufe der vergangenen Wochen zu einem verlässlichen Freund geworden. Vielleicht sogar zum besten Freund, den sie jemals gehabt hatte, denn er war nicht der väterliche Typ wie Johannes Kramer. Roman war kameradschaftlich, stark und zuverlässig – und er war immer da, wenn sie ihn brauchte. Im Grunde war er der einzige Mensch, den sie zurzeit wirklich an sich heranließ und dem sie sich vorbehaltlos öffnete.

Viele Nächte hatte er seither auf ihrem Sofa verbracht, damit sie in ihrem Kummer nicht zu oft allein blieb. Er nahm sie in den Arm und tröstete sie, wann immer es nötig war. Und er war auch der einzige Mensch, der ihr nicht auf die Nerven ging. Manchmal verbrachten sie viele Stunden schweigend miteinander, denn er forderte sie niemals von sich aus auf, über ihren Kummer zu sprechen. Wenn sie aber von allein über Constantin sprach, hielt er ihre Hände, hörte ihr still zu und ließ sie einfach reden. Roman fügte sich so nahtlos in ihr Dasein ein, als ob er schon immer da gewesen wäre. Sie schätzte seinen Verstand und genoss die friedliche Ruhe, die stets von ihm auszugehen schien.

Eines Abends saßen sie mal wieder zusammen in Sophies Wohnung und verspeisten gemeinsam eine riesige Portion Spaghetti. Wie so oft erzählte Roman ihr eine Weile von seiner Arbeit. Sie mochte es sehr, wenn er das tat, denn es lenkte sie ab, und er zeigte ihr damit überdeutlich, dass er ihr sein volles Vertrauen entgegenbrachte. Instinktiv schien er zu wissen, wie dringend sie gerade das jetzt brauchte. Es tat einfach gut zu fühlen, dass ihr jemand vertraute.

Nach dem Essen räumten sie wie immer gemeinsam den Tisch ab und brachten Sophies Küche wieder in Ordnung.

„Bier?“, fragte Sophie, nachdem die Arbeit getan war.

„Mhm, gerne.“ Roman hängte ein Geschirrtuch zum Trocknen über den Griff der Backofentür und lehnte sich dann mit vor der Brust verschränkten Armen an den Türrahmen. Sein stahlblauer Blick ruhte auf ihr. „Wie geht es dir, Rehauge?“, fragte er vorsichtig und absichtlich allgemein. Wie immer ließ er ihr damit die Möglichkeit, dem eigentlichen Grund seiner Frage auszuweichen.

Sophie zuckte mit den Schultern. „Es wird nicht besser. Ich kann machen, was ich will, es hört einfach nicht auf, wehzutun.“

Im letzten Moment unterdrückte sie ein Schluchzen, doch es blieb ihm nicht verborgen. Er fluchte leise, ging auf sie zu und zog sie an seine Brust. Eine Weile hielt er sie einfach fest, dann spürte er, dass sie sich wieder etwas entspannte.

„Irgendwann wird es leichter werden, Sophie. Du musst nur Geduld haben. Glaub einfach einem alten Mann mit einschlägiger Erfahrung.“ So wie er es erhofft hatte, kicherte sie leise an seiner Brust. „Hey, ein kleines Lachen!“, flüsterte er erfreut. „Wunderbar, weitermachen!“

„Du bist noch nicht mal fünfundvierzig Jahre alt, Roman.“

„Manchmal fühle ich mich wie ein Greis.“ Auch er lachte jetzt und schob Sophie ein Stückchen von sich weg. „Was ist nun mit dem versprochenen Bier?“

Sie machten es sich auf der Couch gemütlich. Roman genoss sein Bier, und Sophie blieb bei ihrem Mineralwasser.

„In vier Wochen ist der Veröffentlichungstermin des Buches“, eröffnete sie ihm und lächelte verhalten.

„Hm, ich weiß. Bist du sehr aufgeregt?“

„Es geht so. Vor den beiden Talkshows, zu denen ich eingeladen wurde, habe ich allerdings ein bisschen Bammel. Die Fragen … uff! Daran mag ich noch gar nicht denken.“

„Du bist doch selbst vom Fach, Sophie. Also kannst du dir annähernd vorstellen, was deine lieben neugierigen Kollegen vom Fernsehen von dir wissen wollen. Meiner Meinung nach solltest du dir einfach ein paar Standardantworten zurechtlegen. Inzwischen gehen doch sowieso sämtliche Journalisten davon aus, dass es sich bei eurer kurzen Beziehung nur um einen reinen Werbeschachzug gehandelt hat. Keiner von denen glaubt ernsthaft an eine reale Affäre.“

„Ja, dafür haben Hannes und Tom Jenkins hinreichend gesorgt. Ein paar gut platzierte Pressemitteilungen, und all die weiblichen Fans können wieder glücklich und zufrieden sein.“ Ihr kurzes Lachen klang bitter. „Weißt du, das wirklich Witzige an der Sache ist, dass Conny und ich uns vor einiger Zeit noch genau darüber lustig gemacht haben. Allerdings war die Ausgangslage da noch eine ganz andere.“

Sie seufzte leise, und Roman schüttelte nachdenklich den Kopf.

„Ich kann immer noch nicht glauben, dass der Kerl dir noch nicht einmal die Chance zu einer Erklärung gelassen hat.“

„So war es eigentlich nicht wirklich … es war …“

„Du meinst, er hat mit seinen fiesen Reaktionen dafür gesorgt, dass du gar keine Erklärungen mehr abgeben wolltest, richtig?“

„Stimmt. Woher weißt du nur immer so genau, was ich sagen will?“

„Ganz einfach, ich bin auch ein Mann. Uns fehlt es in solchen Momenten manchmal ganz einfach an Grips. Das liegt uns im Blut, Sophie. Wenn ein Kerl sich so richtig verschaukelt fühlt, dann schaltet sein Denkapparat in der Regel auf null. Dafür sorgt zuverlässig der berühmt-berüchtigte männliche Stolz. Leider ist bei einigen von uns dieser Reflex besonders stark ausgeprägt.“ Er lächelte leicht, auch wenn der Blick aus seinen klaren Augen ernst und sorgenvoll blieb.

„Was würde ich nur ohne dich machen, Roman? Wie kann ich dir nur jemals danken für all das, was du für mich tust?“

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich ein wenig, und das sanfte Lächeln verschwand. Mit seinem breiten Handrücken strich er ihr kurz über die Wange. „Sag mir einfach nur rechtzeitig Bescheid, wenn dein Herz wieder frei ist.“

Sophie atmete tief ein. Sie nahm ihm seinen vorsichtigen Vorstoß nicht übel, denn sie ahnte schon seit einiger Zeit, dass Roman mehr für sie empfand als reine Freundschaft. In besonders stillen Momenten hatte sie bereits den einen oder anderen eindeutigen Blick von ihm aufgefangen.

„Du wirst auf jeden Fall der Erste sein, der es erfährt“, versprach sie leise und sah ihm dabei ernst in die Augen.

„Ich denke, ich werde jetzt gehen.“

„Ja.“

Sie erhoben sich gleichzeitig.

„Bleibt es übermorgen bei unserer Verabredung fürs Kino?“, fragte er.

„Klar! Ich freue mich schon darauf. Du kannst bei den traurigen Liebesszenen immer so herrlich mitheulen, Roman.“ Sie grinste.

„Wehe, du verrätst das irgendwem“, warnte er scherzhaft, während er in seine Jacke schlüpfte.

„Niemals! Ich verspreche es feierlich.“

„Ich werde wohl besser eine Extrapackung Papiertaschentücher für uns beide einpacken.“

„Gute Idee.“

Wie üblich beugte er sich zu ihr herab, und sie küsste ihn zum Abschied auf die Wange.

„Schließ gut ab, Rehauge.“ Noch einmal zog er sie kurz an sich, dann schlüpfte er durch die Haustür und war verschwunden.

Sophie ging hinüber zu ihrem Wohnzimmerfenster und winkte ihm zu, denn er sah immer noch einmal zu ihr hinauf, bevor er in sein Auto stieg.

Die Wochen bis zur Buchveröffentlichung vergingen viel zu schnell.

Für Sophie wurde diese Zeit zu einem wahren Höllenritt. Überall in der Stadt sah man jetzt die Werbeplakate, auf denen der Buchumschlag und damit Constantins Gesicht zu sehen war. Ihr Vertrag mit Jenkins verlangte, dass sie öffentliche Lesungen und Signierstunden abhielt – und sie brachte auch das hinter sich. In den Kultursendungen im Fernsehen, die sie selbst so gerne sah, wurde ihr Buch eingehend besprochen und sehr gelobt.

Aber es war ja nicht nur das Buch. Wo immer Sophie sich auch aufhielt oder welches Gerät sie auch immer einschaltete, sie konnte sicher sein, dass „Sophie’s Melody“ gespielt wurde. Im Radio kam der Song praktisch stündlich, und auf sämtlichen Musikkanälen im Fernsehen lief das Video ebenfalls rauf und runter.

Sie hörte überall seine Stimme.

Sie sah überall sein Gesicht und in seine leuchtenden Augen.

Aber sie überlebte – irgendwie.

Einige Zeit nach der Buchveröffentlichung überstand sie sogar die beiden Talkshows im Fernsehen ohne einen einzigen Aussetzer. Natürlich wurde sie in beiden Sendungen auch zu ihrer persönlichen Beziehung zu Constantin Afra befragt.

Sophie spürte das Scheinwerferlicht auf sich gerichtet und war sicher, dass jeder ihr ansehen konnte, welch tiefer Schmerz in ihrer Brust wütete. Im Stillen zählte sie bis drei, atmete bewusst ein und lächelte ihr Gegenüber höflich an. Mit ruhiger Stimme antwortete sie: „Ich bin hier, um über das Buch zu sprechen, nicht über mein Privatleben.“

Als einer der Moderatoren die Frage stellte, warum sie das Buch nicht gemeinsam mit dem berühmten Sänger vorstellte, durchzuckte sie der vertraute Schmerz erneut. Dennoch gelang es ihr, betont kühl zu erwidern: „Nun, ich bin die Autorin, und ich bin heute Abend hier. Wo sich Herr Afra zurzeit aufhält, kann ich Ihnen leider nicht sagen.“ In Wahrheit schnürte der Kummer ihr fast die Kehle zu.

Roman Herwig begleitete sie oft zu den verschiedenen Veranstaltungen, wenn sein Dienstplan es zuließ. Er hielt sich stets im Hintergrund, aber er war nun mal kein unauffälliger Mann. Seine große kräftige Statur und sein blendendes Aussehen erregten Aufmerksamkeit. Bald erschien das erste gemeinsame Foto in einer Tageszeitung. Sophie hätte nichts dagegen tun können – und es war ihr im Grunde auch gleichgültig. Oft war sie so erschöpft, dass sie einfach froh und dankbar war, wenn Roman hinter den Kulissen oder auch in einer abgelegenen Ecke eines Buchladens auf sie wartete, um sie nach Hause zu fahren. Bei diesen Gelegenheiten sprachen sie nur sehr wenig miteinander. Roman sagte ihr, sie sei gut gewesen, und sorgte dafür, dass sie heil nach Hause und wieder zur Ruhe kam.

Auch die zweite Talkshow war nun endlich geschafft. Nach Absprache mit Thomas Jenkins hatte sie weitere Einladungen höflich, aber bestimmt abgelehnt. Die offizielle Werbetour war beendet und ihr Vertrag somit erfüllt. Endlich!

„Glaubst du, er hat sich das heute Abend angesehen?“, fragte sie, nachdem sie in Sophies Wohnung angekommen waren.

Roman nahm ihr die Jacke ab und hängte sie an die Garderobe. „Mhm, ich denke, schon.“ Sein Blick heftete sich auf ihr Gesicht. „Ich an seiner Stelle hätte es sicherlich getan. Zieh diese halsbrecherischen Stöckelschuhe aus und leg die Beine hoch. Ich mach uns einen Becher Tee. Du siehst völlig erschöpft aus.“

Sophie zögerte.

„Was ist?“, fragte er, während er ebenfalls aus seinen Schuhen schlüpfte.

„Keinen Tee, Roman. Ach, ich würde sonst was geben für einen Schluck Wein.“

Er schüttelte den Kopf. „Ehrlich?“

„Nein, natürlich nicht! Aber ich hab keine Lust auf Tee.“

„Heiße Schokolade?“ Er grinste, weil er ihre Vorliebe für Schokolade teilte.

„Au ja! Danach kann ich bestimmt viel besser schlafen.“

„Setz dich, ich kümmere mich darum.“

Sie lächelte ihm nach. „Du bist wirklich ein Schatz, Herwig.“

„Ach, bemerkst du das auch schon?“, rief er ihr mit einem Lachen in der Stimme aus der Küche zu.

Ein erleichtertes Seufzen entfuhr ihr, als sie sich auf ihr Sofa fallen ließ. „Endlich vorbei!“

Wenig später kam Roman zurück und stellte schmunzelnd zwei dampfende Becher mit heißer Schokolade auf dem Couchtisch ab. „Du hast dich prima gehalten, Rehauge“, stellte er fest, während er seine Manschetten öffnete und die Ärmel seines weißen Oberhemds bis zu den Ellenbogen hochkrempelte. „Aus dir wird noch ein echter Medienstar.“

Sophie brachte ein müdes Lächeln zustande. „Und ich dachte immer, du seist ein aufrichtiger Freund.“

Roman ließ seine Hände in die Hosentaschen gleiten und setzte eine betont mitleidige Miene auf. „Armes, erschöpftes Mädchen! Willst du Musik?“

„Oh Gott, nein! Diese Stille ist viel zu herrlich.“

Er setzte sich neben sie und reichte ihr einen der beiden Becher. Eine Weile saßen sie nur schweigend da, nahmen ab und zu mal einen Schluck und genossen gemeinsam die Ruhe.

Die ganze Anspannung des Tages fiel nun von Sophie ab, und der heiße Kakao wärmte ihren Körper. Eine angenehme Mattigkeit überkam sie. Irgendwann stellte Sophie ihren leeren Becher beiseite und kuschelte sich in Romans Armbeuge. Er legte zunächst zögernd einen Arm um ihre Schulter, ließ dann aber zu, dass sie sich noch enger an ihn schmiegte.

„Ich fühle mich immer so wohl bei dir, Roman.“

„Hmm.“

Sie spürte, dass er tief und gründlich einatmete.

„Du bist müde und sehr erschöpft. Ich werde jetzt mal aufbrechen.“

„Ach Roman, bleib doch noch ein bisschen.“

„Hör zu, ich bin auch nur ein Mann, okay? Das hier … das hier geht im Augenblick ein bisschen über meine Kraft. Ich habe auch meine Grenzen.“

Sie rückte sofort von ihm ab. „Oh! Ich habe … ich wollte das nicht. Es tut mir leid.“

„Es ist schon gut. Verdammt, Sophie, sieh mich nicht schon wieder an wie ein waidwundes Reh! Es ist gut! Du kannst überhaupt nichts dafür!“, stieß er viel zu heftig hervor.

Es war das erste Mal, dass sie ihn annähernd ärgerlich erlebte. Es erschreckte sie ein bisschen, dass sie noch nicht einmal im Traum daran gedacht hatte, wie sich die körperliche Nähe auf ihn auswirken könnte. Beschämt sah sie ihn an, und plötzlich war da nur noch die endgültige und traurige Gewissheit in ihr, dass sie vermutlich niemals wieder den Versuch machen würde, einen Mann zu verführen, wenn er nicht Constantin Afra war. Auch dann nicht, wenn dieser Mann so gut zu ihr war wie Roman Herwig.

„Es tut mir so leid. Verzeih mir bitte meine Gedankenlosigkeit“, bat sie ihn leise, aber mit deutlichem Nachdruck.

Er war schon im Begriff gewesen, aufzustehen, doch nun hielt er mitten in der Bewegung inne und sah ihr lange und ruhig ins Gesicht. „Du hast nichts getan, was du dir vorhalten müsstest, Sophie. Ich war nur für einen kurzen Moment … nun ja, man könnte sagen, überfordert, und das ist allein mein Problem. Weißt du, du rührst etwas in mir an. Ich finde dich sexy, und wir verstehen uns fast ohne Worte. Eine Weile … eine Weile habe ich mir vorgemacht, ich könnte derjenige sein, der dich aus dieser Misere herauslotst, aber das wird niemals funktionieren.“ Er lächelte, um ihr zu zeigen, dass er nicht wirklich böse mit ihr war. „Ich habe fünfzehn Jahre mehr auf dem Buckel als du. Ich kenne mich aus, glaub mir.“

„Hab ich heute Abend gedankenlos unsere Freundschaft verspielt?“

Sein Blick blieb gewohnt fest und klar. „Das könntest du gar nicht. Unsere Freundschaft ist mir wichtiger als … alles andere. Aber ich brauche jetzt mal ein bisschen Zeit für mich, okay?“ Im Flur schlüpfte er in seine Schuhe und zog die Jacke an, dann wandte er sich ihr noch einmal zu. „Der Mann ist wirklich ein Idiot.“