1. KAPITEL
Fünf Jahre später – Hamburg im Juni
Es war nur der winzige Ansatz zu einem Gedanken, noch kein richtiger Einfall.
Wie üblich streifte er Sophie eher wie ein flüchtiges Lächeln, eines von der Sorte, das sich Fremde manchmal im Vorübergehen zuwarfen. Aber der Gedanke formte sich aus – und sie hielt ihn für durchaus gut genug, um sich ihrem Willen unterzuordnen. Dieser kleine Einfall ließ sich mühelos schleifen und weiter ausarbeiten, damit sie ihn schließlich zu Papier bringen konnte. Und er war fruchtbar genug, um andere seiner Art folgen zu lassen.
So war es immer. Sophie von Wenningen kannte den Ablauf, der sich in ihrem Kopf abspielte, wenn sie ihre Arbeit tat.
Nur leider wurde dieses Mal diese so immens wichtige Entwicklung brutal im Keim erstickt, weil das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte und jenen vielversprechenden Gedanken sofort wieder vertrieb. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass er damit ein für alle Mal verloren war. Sie seufzte laut auf, hob den Hörer ab und meldete sich hörbar verärgert.
„Sophie, kannst du mal kurz zu mir rüberkommen … bitte?“
Die Stimme von Johannes Kramer, ihrem Chefredakteur, klang eine Nuance heller als üblich. Daran erkannte Sophie sofort, dass er mit einer leichten Nervosität zu kämpfen hatte.
Johannes Kramer war ein ausgezeichneter Journalist, aber er war leider nicht mehr ganz so nervenstark, wie er es sich selbst wohl am meisten wünschte. Mit seinem ganzen Herzblut hing er an seiner Arbeit, denn er war gleichzeitig auch Herausgeber und Eigentümer des Gesellschaftsmagazins „Diskurs“, das alle zwei Wochen erschien. Die Zeitschrift genoss – selbst bei der Konkurrenz – einen hervorragenden Ruf. Der „Diskurs“ deckte nahezu jedes Thema ab, das die Öffentlichkeit gerade brennend interessierte. Ob es nun um Politik, Wirtschaft oder Unterhaltung ging, Johannes Kramer war es wichtig, immer am Puls der Zeit zu bleiben und dabei gleichzeitig eine Qualität abzuliefern, die unanfechtbar war. Seiner Meinung nach war ein fundiertes Hintergrundwissen, also vor allem eine gründliche und lückenlose Recherche, unerlässlich für jedwede Berichterstattung in seinem Blatt. Diese Einstellung versuchte er auch stets den Journalisten und Redakteuren zu vermitteln, die für ihn tätig waren.
„Was ist los, Hannes? Ich arbeite.“
„Ich weiß, es tut mir auch leid, dass ich dich gerade jetzt stören muss, aber es ist wirklich wichtig, Sophie. Sehr wichtig, glaub mir.“
Wieder seufzte sie. „Diesem neuen Senator müssen dringend ein bisschen die Flügel gestutzt werden, da ist es nicht so einfach, den richtigen Ton zu treffen.“ Ihr brüskes Verhalten tat ihr sofort leid, und sie ärgerte sich darüber, dass Johannes wieder einmal ihrem ungeduldigen Temperament zum Opfer gefallen war.
Er war nicht nur der langjährige Lebensgefährte ihrer Mutter und der beste Vaterersatz, den sie sich nur vorstellen konnte, sondern vor allem ihr Chef. Und er hatte jedes Recht, sie mitten in der Arbeit zu unterbrechen, wenn er ihr etwas zu sagen hatte. Ungehalten über sich selbst, rief sie sich innerlich zur Ordnung. Trotz der engen und liebevollen Freundschaft, die sie seit Jahren mit Johannes verband, sollte sie endlich lernen, ihre Grenzen nicht ständig zu überschreiten. Er ließ ihr sowieso schon genug Freiheiten. „Entschuldige, Hannes. Mir sollte es leidtun, dass ich dich so angefahren habe. Ich war nur wegen der Unterbrechung ein wenig sauer. Du kennst das ja. Ich bin gleich bei dir.“
Bereits fünf Minuten später saß Sophie von Wenningen ihrem Chefredakteur in dessen Büro gegenüber und wartete darauf, dass er ein Telefonat mit einem anderen Mitarbeiter beendete. Es ging um irgendeine Demonstration in der Innenstadt, die heute stattfinden sollte. Sophie war in Gedanken jedoch noch immer mit der eigenen Arbeit beschäftigt, deshalb hörte sie nicht richtig zu. Endlich legte Johannes den Hörer auf und gab seiner Sekretärin über die Gegensprechanlage die kurze Anweisung, in der nächsten halben Stunde keine Telefonate mehr durchzustellen.
Dann lächelte er, nahm seine randlose Brille ab und rieb sich mit Zeigefinger und Daumen die Augen, während er sprach. „Wie lange arbeitest du jetzt schon für den ‚Diskurs‘, Sophie?“
Sie zog die Stirn kraus und sah ihn eine Weile nachdenklich an. „Hm, knapp zwei Jahre, schätze ich. Warum? Willst du mich entlassen, Chef?“
Er lachte kurz und laut auf. „Nein, sicherlich nicht. Mir steht beileibe nicht der Sinn danach, gerade meine beste Schreiberin rauszuschmeißen, nachdem sie endlich den Weg zu meinem Blatt gefunden hat. Außerdem würde mir deine Mutter bei lebendigem Leibe die Haut abziehen.“ Noch einmal lachte er. „Allerdings werde ich in der nächsten Zeit wohl oder übel auf dich verzichten müssen. Das heißt, wenn du mitziehst.“
„Ich verstehe kein Wort.“
„Sagt dir der Name Thomas Jenkins etwas?“
„Natürlich.“
„Was weißt du über ihn?“
Sophie überlegte einen Moment, bevor sie antwortete: „Nun, er muss so um die sechzig sein, er ist Brite, lebt aber schon seit vielen Jahren überwiegend hier in Hamburg. Jenkins produziert und managt einige der bekanntesten Künstler und Popgruppen. Man sagt, er sei stinkreich, aber ein grundguter und außerordentlich großzügiger Kerl, der für seine Schützlinge einfach alles tun würde. Er hat wirklich einen extrem guten Ruf. Musst du noch mehr über ihn wissen? Du willst mir doch nicht etwa einen Artikel oder eine Serie über ihn aufs Auge drücken, oder? Du weißt doch, dass mich das Feuilleton nicht sonderlich interessiert.“
Johannes winkte ab. „Nein, nein, keinen Artikel und auch keine Serie. Jenkins hat sich persönlich an mich gewandt, weil ihm dein klarer, schnörkelloser Stil sehr gefällt.“ Er machte eine kleine, aber aussagekräftige Pause. „Er will, dass du für ihn ein Buch schreibst.“
Sophie sprang überrascht auf, setzte sich aber gleich wieder hin. „Ein Buch?“
„Ja, ein Buch.“
„Als Ghostwriter?“
„Nein, Sophie. Du wirst ganz allein die Lorbeeren einheimsen dürfen, ganz offiziell als Autorin. Jenkins ist nur Auftraggeber und der Agent.“
Einige Minuten ließ er sie mit ihren Gedanken allein, bevor er weitersprach. „Er möchte, dass du eine Art Biografie schreibst, nein, nicht wirklich eine Biografie, mehr ein Buch für Fans, das gleichzeitig unterhält und informiert – und zwar über einen seiner erfolgreichsten Künstler.“
„Über wen denn?“
Johannes Kramer holte tief Luft, bevor er antwortete: „Über Constantin Afra.“
Sophie hob den Kopf und verzog ihren Mund. „Wie soll das denn gehen, bitte schön? Ich kenne mich in dem Metier überhaupt nicht aus, und außerdem gibt Afra seit Jahren keine Interviews mehr. Er hasst die schreibende Zunft wie kein anderer in der Glitzerwelt. Jeder Reporter auf unserem Kontinent, wenn nicht sogar darüber hinaus, weiß das. Selbst wenn ich ein Buch über den Mann schreiben sollte, wäre ich ja wohl in erster Linie auf seine Mitarbeit angewiesen.“
Der Chefredakteur nickte, winkte aber gleichzeitig ab. „Constantin Afra hat bereits zugestimmt. Offensichtlich hat Thomas Jenkins ihn irgendwie davon überzeugen können, dass dieses Projekt eine gute Sache für ihn ist.“
„Dennoch, ich bin keine Schriftstellerin, sondern Journalistin mit einer deutlichen Vorliebe für das politische Geschehen in unserer Stadt. Außerdem muss ich dich ja wohl nicht erst daran erinnern, dass ich bis jetzt auch nur in diesem Bereich ein paar Artikel und Kolumnen für dein Magazin geschrieben habe. Mit Künstlern oder gar Stars habe ich nun wirklich nichts am Hut.“
Johannes lächelte nachsichtig, auch weil er von ihrem Gesicht ablesen konnte, wie sie schon jetzt mit sich rang. „Nun, du sollst ja auch keinen großen Roman schreiben, sondern ganz einfach das tun, was du am besten kannst: Informationen sammeln und sie auf unterhaltsame und verständliche Weise zu Papier bringen. Nicht mehr und auch nicht weniger. Nimm es wie einen Artikel, der halt etwas länger werden darf und ausnahmsweise mal nichts mit Politik zu tun hat. Ich sehe keinen unüberwindbaren Unterschied zu deiner üblichen Arbeit.“
Unbewusst nickte Sophie, aber ihr Blick blieb skeptisch. „Rein handwerklich gesehen hast du natürlich recht, nur …“
„Was passt dir daran nicht? Das ist eine große Chance für dich, Mädchen. Dein Name wird vorn auf dem Umschlag stehen.“
„Ja, ich weiß.“ Sie ließ den Blick durchs Zimmer wandern, doch nach einer Weile sah sie ihren Chef wieder an. „Was hätte der ‚Diskurs‘ eigentlich davon?“, fragte sie.
„Jenkins hat uns eine faire Beteiligung angeboten. Das ist gleichzeitig eine Art Entschädigung. Schließlich wirst du eine ganze Weile nicht für das Blatt arbeiten können. Wir unterstützen im Gegenzug natürlich das Projekt mit der passenden Promotion. Ich werde mich persönlich darum kümmern. Und ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass du den größten Batzen einkassieren wirst.“
„Immer vorausgesetzt, das Buch wird ein Erfolg.“
„Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel, Sophie. Du weißt, was ich von deiner Arbeit halte. Außerdem spielen da noch eine ganze Menge anderer Faktoren eine Rolle. Denk nur an die unglaubliche Prominenz Afras. Er hat Millionen von Fans – nicht nur in Europa. Alle werden ganz wild nach dieser Biografie sein, Mädel. Dieses Buch, dein Buch, wäre für jeden Afrafan eine Sensation, gerade weil der Mann sich seit Jahren so verschließt. Wenn du mich fragst, hat dieser Jenkins dich mit diesem Angebot direkt in eine Goldgrube gestoßen.“
Sophie atmete tief und gründlich ein, dann legte sie den Kopf etwas schief. „Du weißt sehr gut, dass mich Geld allein nun wirklich nicht hinter dem Ofen hervorholen kann. Aber ich muss zugeben, dass die Geschichte ansonsten einen gewissen Reiz hat. Schließlich habe ich noch nie ein Buch geschrieben.“
„Ich höre immer noch ein Aber.“
Sie lächelte. „Constantin Afra ist tatsächlich damit einverstanden?“
„Ja, ist er.“
„Man sagt ihm eine gehörige Portion Eigensinn nach. Ich kann mir irgendwie nicht vorstellen, dass er über Nacht seine Einstellung zu uns Journalisten geändert hat.“
„Wenn ich ehrlich bin, hat mich das auch ziemlich überrascht. Jenkins hat mir allerdings versichert, dass Afra uneingeschränkt mitspielen wird. Ich nehme an, seine Abneigung gegen unseren Berufsstand hat nicht unerheblich mit jener schrecklichen Sache vor fünf Jahren zu tun. Die gesamte Presse hat ihn sich damals ganz schön zur Brust genommen. Erinnerst du dich daran? Nach dem Tod seiner Frau hat er sich fast ein ganzes Jahr lang völlig zurückgezogen.“
„Ja, ich erinnere mich. Die Sache ist ja ausreichend durch sämtliche Medien gegangen. Sein bester Freund hat erst sie und dann sich selbst erschossen, richtig?“
„Stimmt. Furchtbare Geschichte. Weißt du, ich kann mich noch sehr gut an Melanie, seine Frau, erinnern. Sie war traumhaft schön, einfach atemberaubend. Afra und dieser leibhaftige Engel gaben ein wirklich interessantes Paar ab. Meine Güte, Sophie, überleg nicht länger! Millionen von Fans, besonders natürlich die Frauen, würden dich um diesen Job beneiden.“
Sie lachte und winkte ab. „Wie ich schon sagte, ich stehe nicht besonders auf diese allürenbeladenen Popstars. Gib mir eine Nacht, okay?“
„Gut. Schlaf meinetwegen drüber, wenn es dir hilft. Sobald du deine Entscheidung getroffen hast, gib mir Bescheid. Ich kümmere mich dann um den Rest.“
Sophies Hand lag bereits auf der Türklinke, als sie sich noch einmal zu Johannes Kramer umdrehte. „Sag mal, wer würde eigentlich meine Aufgaben übernehmen, solange ich …“
„Brenner.“
„Oh Hannes!“
„Ich weiß, du hältst nicht sehr viel von ihm, aber er ist der Einzige, der zurzeit noch Luft hat.“
„Jürgen Brenner ist in meinen Augen nun mal ein karrieregeiler Schweinehund. Sollte ich diese Sache tatsächlich in Angriff nehmen, musst du ihn im Auge behalten. Es würde gerade noch fehlen, dass der Typ mir meine Kolumne kaputt schreibt oder sich gar mit meinen Informanten im Rathaus anlegt.“
„Er mag zwar karrieregeil sein, wie du es ausdrückst, aber er ist ein erfahrener Journalist. Mach dir keine Sorgen, er wird dich ordentlich vertreten, glaub mir.“
Sobald sie das Büro ihres Chefs verlassen hatte, marschierte Sophie auf direktem Weg zum Fahrstuhl und fuhr in den Keller des Hauses. Dort befand sich das Archiv des Magazins. Stefanie Bartels, die langjährige Archivarin, lächelte ihr erfreut entgegen. „Hallo, Sophie! Was verschlägt dich denn in meine dunklen Gefilde?“
„Hi, Steffi. Ich brauche sämtliche Unterlagen über Constantin Afra. Alles, was du über ihn auftreiben kannst. Wenn es dir nicht allzu viel Mühe macht, am liebsten noch heute Nachmittag.“
Stefanie verdrehte theatralisch ihre himmelblauen Augen. „Ah, der süße Conny … Warte einen Augenblick.“ Ihre Tastatur begann zu klappern. „Ist nicht sehr viel da, aber … nun ja. Ich schicke dir den Kram rauf. Sagen wir, du hast ihn in spätestens zwanzig Minuten auf deinem Schreibtisch. Wie ich dich kenne, hättest du am liebsten CDs, oder?“
Sophie lächelte ihre Kollegin dankbar an. „Das wäre super. Du bist ein Engel, Steffi. Danke!“
Bereits nach einer knappen Viertelstunde kam der Botenjunge in Sophies kleines Büro und legte ihr die Datenträger auf den Schreibtisch. Es waren drei CDs, die der Reihe nach nummeriert und auch mit den entsprechenden Jahreszahlen versehen waren. Sobald sie wieder allein in ihrem Büro war, schob sie die erste CD in das Laufwerk ihres Rechners. Entspannt lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und griff nach ihrem Kaffeebecher.
Die ersten, frühen Berichte überflog sie nur. Sie enthielten Informationen, die allgemein bekannt waren. Der blutjunge Constantin Afra wurde als Wahnsinnstalent mit einer angeborenen Musikalität und einer unverwechselbaren Stimme beschrieben. Es gab nicht eine einzige schlechte Kritik. Auftritte im Fernsehen, Konzerte und Aufnahmen – alles wurde sehr bejubelt. So ging es zunächst auch auf der zweiten CD weiter. Sophie fand Fotos, die Afra mit diversen Frauen zeigten. Sie alle waren damals bekannte Fotomodelle oder junge aufstrebende Schauspielerinnen. Schließlich sah man ihn dann nur noch in Begleitung seiner späteren Ehefrau. Es gab Bilder von Konzerten und sogar einige Interviews. Dann folgten zwei Fotos von Afras Hochzeit. Sophie betrachtete eine Weile die beiden Bilder, die das Brautpaar direkt nach der Trauung vor einem riesigen Kirchenportal zeigten.
Melanie Afra war auf den Aufnahmen in der Tat wunderschön. Hochgewachsen, fast so groß wie ihr frischgebackener Ehemann. Sie hatte die Figur einer Fitnesstrainerin und die nahezu hüftlangen blonden Rauschgoldlocken eines klassischen Weihnachtsengels. Glücklich lachend blickte sie Constantin Afra an, und unter halb gesenkten Lidern erwiderte er ihren Blick auf die gleiche Weise.
Perfekt wie Barbie, dachte Sophie mit einem Anflug von Sarkasmus, während sie die Braut betrachtete. Sie vergrößerte den Bildausschnitt, damit sie die Gesichter noch genauer betrachten konnte. Ja, Melanie Afra in ihrem prächtigen schneeweißen Kleid war wirklich hinreißend, doch der Bräutigam stand ihr in nichts nach. Constantin Afra trug ebenfalls Weiß. Das war nicht nur für den Anlass ungewöhnlich, sondern auch, weil der Sänger dafür bekannt war, dass er sich üblicherweise schwarz kleidete. Sein perfekt sitzender Anzug strahlte mit dem Brautkleid um die Wette und entsprach vollkommen der Mode der damaligen Zeit. Seine bronzefarbene Haut, die tiefschwarzen Haare und die dunkelrote voll erblühte Rose an seinem Revers bildeten neben dem herrlichen Brautstrauß den stärksten Kontrast auf dem Foto.
Natürlich hatte Sophie schon vorher gewusst, wie Constantin Afra aussah. In ganz Europa gab es wohl kaum einen Menschen, dem dieses Gesicht unbekannt war. Sie schmunzelte leicht und fuhr sich mit beiden Händen durch ihre kurzen dunkelbraunen Locken. „Fast zu schön, um wahr zu sein“, sagte sie leise zu sich selbst. Schöne Männer waren ihr schon immer suspekt gewesen. Dennoch verweilte ihr Blick eine ganze Weile, glitt dann auch noch einmal über das liebreizende Gesicht der jungen Frau an seiner Seite. Beiden Menschen konnte man ohne große Anstrengung die Liebe und das Glück von den Gesichtern ablesen. Ein heftiger Anflug von Mitleid durchfuhr Sophie unerwartet. Schon zwei Jahre nach diesen perfekten Aufnahmen hatte Constantin Afra seine bildschöne Frau bereits wieder verloren – und zu allem Überfluss verlor er am gleichen Tag auch noch einen guten Freund.
Die zweite CD endete hier, und Sophie wechselte abermals die Datenträger aus. Wie sie es bereits erwartet hatte, enthielt die dritte und letzte CD hauptsächlich Informationen zu genau diesem schrecklichen Tag.
An ihrem Todestag hielt sich Melanie Afra zusammen mit einem der besten Freunde ihres Mannes, Leonard Kampmann, in dessen Wochenendhaus auf. In fast jedem der vorliegenden Berichte war von einer Affäre der beiden die Rede. Viel wusste man jedoch nicht. Es hatte keinen Abschiedsbrief gegeben und offensichtlich auch niemanden in der Öffentlichkeit, der von dieser Beziehung gewusst hatte. Fest stand offenbar nur, dass Leonard Kampmann seine Geliebte erschossen hatte. Danach hatte er sich auf die gleiche Weise das Leben genommen. Den Berichten zufolge fand man die Leiche von Melanie Afra wie aufgebahrt im Schlafzimmer auf dem Bett vor. Kampmann hockte zusammengesunken auf dem Fußboden. Die Tatwaffe, eine kleine Pistole, lag direkt neben seiner halb geöffneten Hand.
Johannes Kramer hat recht, dachte Sophie. Für die Presse ist diese Geschichte tatsächlich ein gefundenes Fressen gewesen. Die Journalisten hatten sich auf den prominenten Witwer gestürzt wie eine Meute gieriger Hyänen auf eine fluchtunfähige und bereits blutende Beute. Es wurden die schlimmsten Vermutungen angestellt, und sein gesamtes Privatleben wurde in die Öffentlichkeit gezerrt. Man erlaubte ihm keine ruhige Minute mehr und ließ ihn sogar am Tag der Beerdigung nicht in Ruhe Abschied nehmen. Die letzten privaten Fotos, die existierten, zeigten somit einen sichtbar gebrochenen Constantin Afra am Grab seiner Frau.
Direkt nach der Beisetzung verschwand der Sänger von der Bildfläche und blieb fast ein ganzes Jahr lang wie vom Erdboden verschluckt.
Dann kam er plötzlich zurück – doch die Öffentlichkeit erfuhr nur, dass er sich vollkommen allein irgendwo in der Wildnis von Kanada aufgehalten hatte, um in Ruhe trauern zu können. Außerdem wurde bekannt, dass der einflussreiche Thomas Jenkins ihn inzwischen unter seine Fittiche genommen hatte.
Kurze Zeit später brachten Afra und seine alte Band bereits ein neues Album heraus. Erwartungsgemäß wurde es ein grandioser Erfolg. Allerdings lehnte der Sänger von nun an jede Anfrage nach einem Interview konsequent ab und begründete dies nur ein einziges Mal mit seiner tiefen Abneigung gegen jede Art von Reportern. Den Privatmann Constantin Afra schien es nicht mehr zu geben. Sein Anwesen vor den Toren Hamburgs wurde verkauft. Niemand wusste genau, wo Afra nun seinen Hauptwohnsitz hatte. Es kursierten die wildesten Gerüchte. Manche meinten, er wohne in einer luxuriösen Penthousewohnung hoch über der Stadt, andere waren davon überzeugt, dass er irgendwo auf einer kleinen britischen oder skandinavischen Insel lebte.
Wenn er Konzerte gab, ließ er sich von einem wahren Tross von Sicherheitsleuten abschirmen, und wenn er Preise bekam, holte er diese persönlich ab, bedankte sich höflich bei seinen Fans und verschwand direkt nach der Verleihung. Einladungen zu Partys, egal welcher Art, lehnte er stets freundlich, aber bestimmt ab.
Doch je weniger man über ihn erfuhr, desto erfolgreicher wurde er. Dem makellosen, unnahbaren und geheimnisvollen Constantin Afra haftete nun auch noch eine mitleiderregende Aura von unheilbarer Traurigkeit an. Das machte ihn endgültig zum Protagonisten in der Welt der modernen Musik und natürlich zum absoluten Liebling der Frauen. Sämtliche Experten waren sich darüber hinaus einig, dass Constantin Afra durch seine persönliche Tragödie musikalisch reifer und noch besser geworden war.
Seither heimste er Jahr um Jahr die wichtigsten Musikpreise ein – und Jahr um Jahr schien er noch ein kleines bisschen besser zu werden.
Inzwischen war Constantin Afra fast fünfunddreißig Jahre alt, und noch immer gehörte er zur absoluten Spitze.
Ja, er war tatsächlich sehr gut. Auch Sophie bewunderte durchaus sein Können. Es war bekannt, dass er mehrere Instrumente perfekt beherrschte, und seine dunkle und kraftvolle Stimme konnte man nicht wieder vergessen, wenn man sie einmal gehört hatte. Einige seiner schönsten Balladen gehörten auch zu ihren Lieblingsliedern.
Sophie lehnte sich zurück und blies nachdenklich ihre Wangen auf. „Du willst also tatsächlich mitspielen, Afra?“, fragte sie leise in die Einsamkeit ihres kleinen Büros hinein. Noch ein weiteres Mal holte sie sich das Bild von Melanies Beerdigung auf ihren Bildschirm zurück und vergrößerte es.
Obwohl er eine dunkle Sonnenbrille trug und den Kragen seines schwarzen wadenlangen Mantels hochgeschlagen hatte, erfasste man ohne Schwierigkeiten den immensen Kummer und die unendliche Trauer, die dieser Mann ausstrahlte. Seinen Kopf hielt er leicht gesenkt, und die dunklen Haare fielen ihm in die Stirn, sodass ein Teil seines Gesichts halb im Schatten lag. Dennoch erkannte Sophie die schmerzvoll zusammengepressten Lippen und den harten gepeinigten Ausdruck in seinem Gesicht. Seine breiten Schultern schienen ein wenig nach vorn gesackt zu sein, und in der rechten Hand, an der er noch immer den auffallend breiten Ehering trug, hielt er eine dunkelrote voll erblühte Rose.
Genau so eine Rose trug er am Tag seiner Hochzeit am Revers, dachte Sophie wehmütig. Und plötzlich ging ihr ein abstruser Gedanke durch den Kopf: So einen Mann betrügt man doch nicht!
Zwei Minuten später ließ sie sich bereits mit Johannes Kramer verbinden. „Hannes, ich bin dabei.“