3. KAPITEL

Am späten Nachmittag saß Kira mit untergeschlagenen Beinen auf ihrem Sofa und versuchte zu arbeiten. Für das neue Buch von Christina fehlten noch immer ein paar letzte Zeichnungen, aber es fiel Kira heute ungewöhnlich schwer, sich in den kleinen, sehr müden Biber hineinzuversetzen, dem in der aktuellen Geschichte die Hauptrolle zugedacht war. Sie seufzte, schob ein wenig ihren Zeichenblock zur Seite und beugte sich vor, um einen ordentlich großen Schluck Kaffee zu trinken. Dann lehnte sie sich zurück und kaute nachdenklich auf dem Ende ihres Bleistifts herum. Erst nach einer ganzen Weile zog sie ihren Zeichenblock wieder zurück auf ihren Schoß und begann zu zeichnen. Sie ließ sich Zeit. Mit konzentrierter Miene erschuf sie Konturen, Schatten und den richtigen Ausdruck. Es dauerte fast eine volle Stunde, bis sie den Bleistift wieder beiseitelegte, um ihr Werk eingehend zu betrachten. Es war gelungen, fand sie sofort – ihre Zeichnung zeigte eindeutig das markante Gesicht von Finn Andersen. Mehrere Minuten lang schaute sie es an, dann legte sie ihre Zeichenutensilien beiseite und zog sich das Telefon heran.

„Ich habe mich in ihn verliebt, Tina.“

„Was?“

„Ich sagte, ich habe mich in den Mann verliebt, der Werners Dachzimmer renoviert. Es ist die einzige Erklärung, die mir einfällt, auch wenn ich es selbst kaum fassen kann. Ich kann es nicht glauben; der Kerl macht mir klar, dass er auf diesem speziellen Gebiet nichts von mir wissen will, und ich zeichne ihn, obwohl ich deinen blöden Biber zu Papier bringen wollte.“

„Upps! Da ich annehme, dass dieser Traumtyp nur wenig Ähnlichkeit mit einem müden Babybiber hat, ist die Lage also ernst.“

„Absolut.“

„Was willst du tun?“

„Ich dachte, das könntest du mir sagen.“

„Machst du Witze? Ich? Die Frau, die keinen Kerl länger als zwei Tage in ihrer Nähe erträgt? Tut mir leid, Prinzessin, du weißt genau, dass du da die vollkommen falsche Person zurate ziehst.“

Kira stöhnte missmutig in den Hörer. „Du bist meine beste Freundin, du Nichtsnutz! Wen soll ich denn – bitte schön – sonst fragen?“ Sie hörte Christina leise lachen.

„Du bist süß wie Kristallzucker, Liebes. Du wirst dieses Leckerli schon noch um den Finger wickeln, da mach ich mir überhaupt keine Sorgen.“

„Ich mach mir aber nun mal welche. Er ist nämlich völlig anders als andere Männer. Du kennst ihn eben nicht, Tina.“

„Aber du kennst ihn, ja? Nach knapp einer Woche, einem gemeinsamen Abendessen und einer Kanne Tee bei Gewitter! Na klar!“

„Du hast den Kuss vergessen.“

„Pardon, dass ich so gedankenlos war.“

„Jedenfalls haben die paar Tage ausgereicht, um mich gründlich in ihn zu verlieben, da beißt der Biber keinen Faden ab.“

Finn lag vollkommen angezogen auf seinem Bett und starrte an die Decke. Er war seltsam erschöpft von seinem Ausflug und auch hungrig, denn seit dem Frühstück hatte er nichts mehr gegessen. Eigentlich hatte er vorgehabt, ein Nickerchen zu halten, doch nun merkte er, dass er mal wieder nicht zur Ruhe kommen würde. Das war nichts Neues für ihn. Ächzend rollte er sich zur Seite und erhob sich. Sein Magen knurrte immer lauter, und seine Laune war auf dem Nullpunkt angelangt. Leise vor sich hin fluchend ging er nach unten, um nach etwas Essbarem zu suchen. Gerade als er die Kühlschranktür öffnete, klingelte sein Telefon.

Während er weiterhin im Kühlschrank herumkramte, klemmte er sich den Hörer zwischen Ohr und Schulter und meldete sich.

„Isst du mit mir?“

Sein Pulsschlag beschleunigte sich sofort. „Kira.“

Na endlich, dachte er, konnte sich aber nicht entscheiden, ob er sich darüber freuen sollte oder besser nicht.

„Was ist, Finn? Hast du etwa schon gegessen?“

„Äh … nein. Ich wollte mir grad was machen.“

„Na dann. Ich hab eine Bolognese gekocht.“

„Kira …“

„Na, essen musst du doch, oder? Du kannst dich ja mal bei Gelegenheit revanchieren, wenn du willst.“

Finn zögerte noch immer, dachte dann aber an Edgar Lengrien und dessen mahnende Worte. Edgar würde natürlich von ihm erwarten, dass er Kiras Einladung annahm, daran zweifelte Finn nicht im Mindesten.

„Ist noch Wein da?“

„Wenn du dich dann besser fühlst, kannst du gerne noch ’ne Flasche mitbringen, Finn.“

„Gut. Ich komme erst einmal mit dem Wagen, bin heute schon genug gelaufen. Gib mir … fünfzehn Minuten, okay? Ich will vorher noch schnell unter die Dusche springen.“

„Kein Problem, bis gleich.“ Sie legte auf.

Langsam ließ Finn den Hörer sinken, erst dann bemerkte er, dass er noch immer vor der geöffneten Kühlschranktür stand.

„Scheiße! Scheiße! Scheiße!“

Sein Fluchen dröhnte durch das ganze Haus. Mit einem lauten Knall warf er die Kühlschranktür zu und ging nach oben, um zu duschen.

Kira ließ den Hörer sinken und lächelte zufrieden in sich hinein. Sie hatte bereits geduscht und sich von Kopf bis Fuß mit duftender Lotion eingerieben. Nachdem sie das Mobilteil ihres Telefons aufs Bett geworfen hatte, wandte sie sich wieder ihrem Kleiderschrank zu. Es war heute Abend besonders wichtig, dass sie mit Bedacht wählte und dann die richtige Entscheidung traf. Ihre Kleidung durfte auf der einen Seite nicht zu eindeutig wirken, musste aber auf der anderen Seite verführerisch genug sein, um Finn Andersen auf die richtigen Gedanken zu bringen. Bereits nach wenigen Minuten hatte sie sich entschieden.

Als sie schließlich angezogen vor ihrem großen Spiegel stand, war sie sehr zufrieden mit sich. Die vier Jahre ihres Lebens, die sie während ihres Studiums als Zeichnerin in einem kleinen Modeatelier gearbeitet hatte, zahlten sich wirklich aus. Damals hatte sie auch so ganz nebenbei gelernt, mit welchen Mitteln sie ihr Aussehen ins rechte Licht setzen konnte. Sie hatte sich für eine eng anliegende, mausgraue Baumwollhose entschieden, die wie eine Röhrenjeans geschnitten war und ihre langen Beine betonte. Dazu trug sie ein raffiniert geschnittenes schwarzes Oberteil, das zwischen den Brüsten leicht gerafft war und sie somit unauffällig betonte. Der Ausschnitt zeigte gerade so viel vom Ansatz ihres Busens, wie nötig war, um die Fantasie eines Mannes anzuregen.

„Ob du es nun willst oder nicht, Finn Andersen“, sagte sie lächelnd zu ihrem Spiegelbild, „du wirst dich irgendwann von mir verführen lassen – jede Wette.“

Er war pünktlich. Zu ihrer großen Überraschung drückte er ihr zur Begrüßung sogar einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange. „Du siehst toll aus“, bemerkte er anerkennend.

„Danke. Komm doch rein. Das Essen ist gleich so weit. Du kannst den Wein für uns öffnen, wenn du willst. Den Korkenzieher findest du dort auf der Anrichte.“

Sein Blick folgte ihr, als sie sich wieder umdrehte, um in der Küche zu verschwinden. Nach einem tiefen Atemzug ging er schließlich hinüber zur Anrichte und griff nach dem besagten Korkenzieher.

„Das war die tollste Bolognese, die ich jemals gegessen habe, Kira.“ Finn lächelte ihr über den Tisch hinweg zu und griff nach seinem Glas, um ihr zuzuprosten. „Puh, ich bin pappsatt.“

„Das freut mich, Finn.“ Kira schob ihren Stuhl zurück und stand auf, um die Teller abzuräumen. Sofort erhob auch er sich. „Warte, ich helfe dir.“

„Nein, nein. Setz du dich in Ruhe aufs Sofa und genieße deinen Wein. Sei so lieb, und nimm bitte auch schon mal mein Glas mit rüber. Ich brauche jetzt dringend einen Kaffee. Wie sieht’s mit dir aus?“

„Nein, keinen Kaffee für mich, danke.“ Finn runzelte die Stirn und seufzte leise in sich hinein. Es passte ihm gar nicht, auf das Sofa umzuziehen. Hier an Kiras kleinem Esstisch fiel es ihm leichter, den richtigen Abstand zu ihr einzuhalten. Sie sah wirklich zum Anbeißen aus heute Abend, und er wollte nicht noch mehr in Versuchung geraten, nicht ein weiteres Mal die Kontrolle verlieren. Mit gemischten Gefühlen trug er die beiden Gläser hinüber zum Couchtisch und ließ sich auf dem samtweichen nachtblauen Sofa nieder. Insgeheim ärgerte er sich noch eine Weile darüber, dass sie keinen einzeln stehenden Sessel besaß, in den er sich hätte setzen können, doch dann griff er erneut nach seinem Glas und versuchte sich ein wenig zu entspannen.

Kira kam mit einem kleinen Tablett zurück und setzte es auf dem Couchtisch ab. Bevor sie sich neben ihm niederließ, schenkte sie sich eine Tasse Kaffee ein.

„Du willst wirklich keinen Kaffee, Finn?“

„Nein danke, wirklich nicht. Ist mir zu spät für Koffein.“

„Ich kann ohne Kaffee nicht leben“, erklärte sie lächelnd. „Ich trinke ihn zu jeder Tageszeit.“

„Hmm, ich habe früher auch viel mehr Kaffee getrunken – als ich noch bei der Polizei war.“

„In welcher Abteilung hast du gearbeitet?“

„Die meiste Zeit war ich bei der Drogenfahndung“, antwortete er kurz.

Kira nickte. Obwohl er das Thema Polizei von sich aus angeschnitten hatte, überkam sie erneut das Gefühl, dass er nicht gerne über diese Zeit in seinem Leben sprach. Da es ihr aber wichtig war, dass er sich heute Abend wohlfühlte, entschied sie sofort, nicht noch ein weiteres Mal nachzuhaken.

„Wie hast du eigentlich Werner Martinelli kennengelernt?“, wechselte sie stattdessen das Thema.

Finn zuckte innerlich ein wenig zusammen, und in seinem Magen machte sich ein nervöses Kribbeln breit. Er wusste, dass jetzt der Moment kommen würde, wo er ihr zum ersten Mal offen ins Gesicht lügen musste. Bisher hatte er ihr nur einige Dinge verschwiegen oder sie ein wenig beschönigt, aber nun konnte er es nicht mehr weiter hinausschieben. Er hatte geahnt, dass dieser Augenblick nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Jetzt würde er ihr also die Geschichte erzählen, auf die er sich zusammen mit Edgar Lengrien und Werner Martinelli geeinigt hatte.

„Durch einen gemeinsamen Bekannten“, sagte er. „Einen Anwalt. Ich habe sein Arbeitszimmer renoviert. Neue Bücherregale eingebaut und so weiter. Er ist im selben Golfklub wie Werner Martinelli.“

„Kennst du eigentlich auch meinen Vater, Finn?“

In Finns Magen schien sich langsam aber sicher eine Ameisenkolonie anzusiedeln, aber äußerlich war ihm nicht die kleinste Regung anzusehen, dessen war er sich sicher.

„Ich habe ihn mal im Fernsehen gesehen, aber ich weiß natürlich, dass er und Martinelli Geschäftspartner sind.“

Kira lachte auf. „Geschäftspartner sind sie, das ist wohl wahr. Aber vor allem ist Werner Martinelli auch ein Freund der Familie. Er war immer da – auch für mich.“

„Du magst ihn also sehr?“

„Oh ja. Er ist ein paar Jährchen jünger als mein Vater und hat mir oft viel mehr Verständnis entgegengebracht. Als ich noch ein Teenager war, habe ich sogar mal eine Zeit lang regelrecht für ihn geschwärmt. Ich denke, ich sollte als Tochter wohl ein schlechtes Gewissen haben, denn etwas später, als diese Jungmädchenschwärmerei ein Ende gefunden hatte, habe ich mir manchmal gewünscht, der tolle Onkel Werner wäre mein Daddy und nicht dieser nervige Typ, der sich ständig übertriebene Sorgen um mich machte und mir dauernd seine Wachhunde auf den Hals hetzte, egal wo ich mich auch gerade aufhielt.“ Wieder lachte sie. „Versteh mich jetzt nicht falsch, Finn. Ich liebe meinen Vater sehr. Auch er hat inzwischen dazugelernt. Heute sieht er zum Glück vieles gelassener, wenn es um mich geht. Ich habe ihm irgendwann ordentlich den Kopf gewaschen. Er hat unterdessen eingesehen, dass es ziemlich nervtötend sein kann, wenn man ständig das Gefühl haben muss, dass diese Dobermänner einem auf Schritt und Tritt an den Fersen hängen.“

„Dobermänner?“ Finn zog die Augenbrauen hoch.

„Ja, so nenne ich diese komischen Typen … du weißt schon, ich meine die Bodyguards.“

„Dobermänner also“, wiederholte Finn und unterdrückte ein Schmunzeln.

„Du solltest diese Typen mal sehen! Ganz im Ernst, Finn, die meisten von denen sehen tatsächlich aus wie Wachhunde. Kantige, leere Köpfe – nur lauter Muskeln. Furchtbare Gestalten, sag ich dir.“

„So so.“ Finns leichte Belustigung verschwand. Stattdessen musste er plötzlich den brennenden Wunsch unterdrücken, die Männer zu verteidigen, die ihm unterstellt waren. Kira urteilte nicht gerecht, und das ärgerte ihn. Die meisten seiner Männer bestanden durchaus nicht nur aus Muskeln, sondern hatten kluge Köpfe und waren hervorragende Strategen. Der Beruf des Personenschützers war eine ernst zu nehmende und verantwortungsvolle Tätigkeit, die man wirklich keinem hirnlosen Muskelprotz aufbürden durfte. Er war davon überzeugt, dass Kira niemals ernsthaft darüber nachgedacht hatte, dass diese Männer unter gewissen Umständen sogar ihr eigenes Leben für die Person riskierten, die sie beschützten.

„Ich denke, Bodyguards tun auch nur ihren Job“, sagte er und schluckte all die harten Erwiderungen herunter, die er ihr am liebsten entgegengeschmettert hätte.

Kira lächelte ein wenig. „Klar. Ach, einige von diesen Typen sind ja auch gar nicht so schlimm“, wiegelte sie ab. „Natürlich ist ihr Job auch nicht gerade leicht. Es ist nur so, dass … na ja, die Dobermänner haben wohl immer all den Unmut abbekommen, der sich eigentlich gegen meinen Vater richtete. Schließlich war er es, der sie erst auf mich angesetzt hat.“

„Mhmm.“ Finns Magen wollte sich einfach nicht beruhigen.

Am liebsten hätte er ihr in dieser Sekunde ins Gesicht gebrüllt, dass auch er einer von diesen Dobermännern war. Sogar der Ober-Dobermann, wenn man es genau nahm. Alles in ihm drängte danach, dieser Farce hier und jetzt ein schnelles Ende zu machen. Er fühlte sich miserabel. Niemals – das wurde ihm spätestens jetzt bewusst –, niemals würde er bei Kira Lengrien auch nur die geringste Chance haben, wenn sie ihn unter anderen Umständen kennengelernt hätte.

Aber er brüllte sie nicht an. Er blieb stumm und ließ sich nicht das Geringste anmerken – und zu seiner großen Erleichterung wechselte sie das Thema.

„Hast du eigentlich immer in Hamburg gelebt, Finn?“

Er nickte. „Ja. Ich kann mir auch nicht vorstellen, irgendwo anders leben zu müssen. Hamburg ist meine Stadt. Ich habe schon viele Städte gesehen, aber … keine ist wie sie. Diese Stadt hat irgendwie … die Nase im Wind.“

Kira lächelte sanft. „Stimmt“, sagte sie schlicht. „In welchem Stadtteil bist du groß geworden?“

„Meine Eltern leben in einem kleinen Häuschen am westlichen Stadtrand und genießen inzwischen ihren wohlverdienten Ruhestand, aber früher, als junger Mann, ist mein Vater zur See gefahren. Später dann, nachdem meine Mutter uns Kinder bekommen hatte, blieb er in Hamburg und arbeitete als Hafenlotse.“ Ein angedeutetes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Als ich nicht mehr ganz so klein war, bin ich oft bei ihm auf dem Lotsenboot gewesen. Praktisch immer, wenn ich Ferien hatte. Mein Vater hat oft gesagt, ich sei eine waschechte Hafenratte – ganz anders als meine Geschwister.“

Auch Kira lächelte. „Du hast also Geschwister?“, fragte sie.

„Ja. Eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder. Wir sind alle ziemlich genau ein Jahr auseinander.“

„Und? Gibt es Neffen und Nichten?“

Über Finns Gesicht huschte ein Grinsen. „Zum großen Leidwesen meiner Mutter gibt es sie nicht. Meine Schwester Mareike ist zwar glücklich verheiratet, aber eine echte Karrierefrau. Sie ist eine äußerst erfolgreiche und hoch angesehene Thoraxchirurgin und arbeitet als Oberärztin in einer Spezialklinik für Lungen- und Herzkrankheiten. Ihr Mann ist ebenfalls Mediziner und hat eine eigene Praxis. Es war von Anfang an klar, dass sie zugunsten ihrer Karrieren auf Kinder verzichten würden.“

„Und dein jüngerer Bruder?“

„Lukas?“ Wieder lachte er. „Oh, unser Lukas ist Lehrer für Deutsch und Geschichte an einer Privatschule. Außerdem ist mein kleiner Bruder der jüngste Literaturprofessor an der Hamburger Universität und damit der ganze Stolz unserer lieben Eltern. Nur leider …“, Finn zuckte mit den Schultern und grinste schief, „leider hat er noch nicht einmal eine Freundin. Sagen wir mal … seine Interessen liegen ganz woanders.“

„Hm, Männer?“

Finn lachte dunkel auf. „Oh nein! Er mag Frauen durchaus – das heißt, wenn er sie überhaupt mal wahrnimmt. Es sind eher die Bücher, Kira! Der Mann liebt nichts auf der Welt so sehr wie Bücher. Du solltest nur mal seine Wohnung sehen. Die reinste Bibliothek, sag ich dir.“

„Du willst mir doch nicht ernsthaft weismachen, dass dein Bruder mit … mhm, Anfang dreißig noch nicht eine einzige Freundin hatte?“

Noch immer grinsend schüttelte Finn seinen Kopf. „Na, ganz so schlimm ist es mit ihm nun doch nicht. Er hatte schon mal eine Freundin: Juliane, ein Mädchen aus der Nachbarschaft. Aber wenn du mich fragst, die Beziehung dümpelte über mehrere Jahre nur so dahin. Ich glaube, es war für beide Seiten eine echte Erleichterung, als Juliane sich endlich vollkommen entnervt von Lukas getrennt hat.“

Kira lachte. „Nur für deine Mutter nicht, nicht wahr? Ich meine, wegen der Enkel, die ihr damit mal wieder durch die Lappen gingen.“

Finns jungenhaftes Grinsen wurde noch eine Spur breiter, und es wurde ihm erst jetzt bewusst, wie sehr er sich unterdessen entspannt hatte. Nachdem er einen weiteren Schluck von seinem Wein getrunken hatte, lehnte er sich wieder bequem zurück und zwinkerte Kira zu. „Gut aufgepasst. So war es tatsächlich. Meine Mutter hat zetermordio geschrien.“

„Und du, Finn?“

„Ich? Du weißt doch bereits, dass ich nicht gebunden bin.“

„Ja schon, aber … es könnte doch früher anders gewesen sein, nicht wahr? Du bist schließlich keine zwanzig mehr.“ Kira drehte sich ihm noch ein wenig mehr zu und stützte ihren Unterarm auf der Rückenlehne der Couch ab. Das Glitzern in ihren tiefblauen Augen verriet ihre Neugierde und ließ ihn schmunzeln. Die lockere Wendung, die ihr Gespräch genommen hatte, tat ihm wirklich gut, und es beruhigte deutlich seine Nerven, dass er ihre Fragen nun frei und ehrlich beantworten konnte. Das Terrain, auf dem sie sich befanden, war unverfänglich genug.

„Ich muss dich enttäuschen, Kira. Ich habe noch keine längeren Beziehungen vorzuweisen.“

„Aber du warst doch sicherlich schon mal verliebt, oder?“

„Natürlich war ich das.“ Seine Mundwinkel zuckten verräterisch, als sie theatralisch die Augen verdrehte.

„Okay, okay, ich erzähl es dir ja schon! Meine erste Liebe hieß Caroline. Ich war fünfzehn, sie vierzehn, und ihr Haar hatte die Farbe eines Weizenfeldes in der Sommersonne. Wir knutschten so circa drei Wochen miteinander. Dann kamen … hmmm, warte mal … Petra, Nadine, Martina … Sabine … Yvonne, Birte … äh …“

„Oh Finn!“ Kiras Lachen schien seine Bauchdecke von innen zu kitzeln.

„Du wolltest es wissen.“

„Du bist unmöglich! Sei doch einmal ernst. Keine echten Gefühle?“

„Also gut. Um ehrlich zu sein, einmal … einmal war ich wirklich heftig verknallt.“

„Wer war sie?“

„Lena.“

„Lena also. Und weiter? Was wurde aus Lena?“

„Sie wurde die Frau meines besten Freundes und die Mutter seiner Kinder.“

„Oh!“

„Kein Grund, um gleich zu erschrecken, Kira. Es ist kein Beziehungsdrama aus dieser Geschichte geworden. Ich bin ziemlich schnell über die Sache weggekommen. Ich meine, ich habe immer schon geahnt, dass sie letztlich doch den Richtigen von uns beiden ausgewählt hat, aber … als der Schmerz in mir so verdammt schnell verrauchte und nur noch ein bisschen verletzte Eitelkeit übrig blieb, war ich mir sicher, dass es so ist. Mike … war der bessere Mann von uns beiden.“

Kiras Mundhöhle wurde trocken, und sie musste schlucken. Das lag nicht allein an dem, was er sagte, sondern wie er es sagte. Seine Stimme klang auf einmal hohl. Der leichte, fröhliche Unterton, der bis eben noch ihre Unterhaltung bestimmt hatte, war verschwunden, und sie sah einen dunklen, sichtbar heftigen Schmerz in seinen Augen aufglimmen. Dennoch wusste sie plötzlich mit unerschütterlicher Sicherheit, dass heute nicht mehr die Frau – Lena – dafür verantwortlich war, sondern dass dieser Schmerz ganz allein mit seinem Freund zusammenhing, von dem er soeben in der Vergangenheit gesprochen hatte.

Finn blieb plötzlich stumm. Er griff erneut nach seinem Weinglas und leerte es mit einem Zug. Kira beobachtete ihn dabei und hätte ihn am liebsten in ihre Arme gezogen, seinen Kopf an ihren Busen gedrückt und sein Haar gestreichelt. Stattdessen klemmte sie ihre Hände zwischen ihre Knie und sah ihn weiterhin unverwandt an.

„Was ist … mit deinem Freund, … mit Mike passiert?“, fragte sie schließlich mit rauer Stimme.

Sein dunkler Blick hob sich und er sah sie direkt an. Die unsägliche Qual in seinen Augen war so greifbar, dass sie Kiras Brust noch enger werden ließ.

„Er lebt nicht mehr.“ Finn stand unvermittelt auf, drückte sein Rückgrat durch und atmete tief ein. „Entschuldige, Kira, ich …, ich möchte wirklich nicht darüber sprechen.“

Obwohl sie fühlte, wie sehr ihr die Knie zitterten, erhob auch Kira sich. Instinktiv machte sie einen Schritt auf ihn zu, aber er wich zurück. „Nicht“, flüsterte er, dann räusperte er sich. „Es ist gut.“

„Es tut mir leid, Finn. Ich wollte mit meinen dummen Fragen keine alten Wunden aufreißen, glaub mir.“

Es war auch für ihn selbst erstaunlich, wie schnell er sich wieder in den Griff bekam, als er ihren mitfühlenden und zugleich schuldbewussten Blick auffing. Mutwillig versuchte er sich an einem warmen Lächeln, und es gelang ihm auch. „Natürlich wolltest du das nicht. Du konntest … es ja nicht wissen. Ich bin dir nicht böse, Kira. Wirklich nicht!“ Er holte tief und gründlich Luft. „Die Geschichte liegt schon einige Jahre zurück. Vielleicht kann ich … vielleicht werde ich irgendwann einmal in der Lage sein, darüber zu reden, aber nicht jetzt – und nicht heute, okay?“

„Du musst dich vor mir nicht rechtfertigen.“ Sie sah zu ihm auf und konnte plötzlich nur noch daran denken, wie sehr sie nach seiner Umarmung verlangte oder auch nur nach einer einzigen Berührung seiner kräftigen Hände. Das sehnsuchtsvolle Ziehen in ihrer Brust ließ ihr Herz schneller schlagen.

„Danke.“ Noch einmal atmete er geräuschvoll ein und wieder aus. „Hör zu, wir … heute ist doch Samstag, oder? Was hältst du davon, wenn wir runter zum Anleger fahren und einen Blick in den Gasthof werfen? Hab gehört, da soll am Samstagabend ordentlich was los sein.“

Sie standen sich gegenüber und sahen sich an. Sekundenlang. Dann senkte sich Kiras Blick, und sie starrte eine weitere endlose Sekunde auf seine breite Brust, an die sie sich in diesem Augenblick so gerne geschmiegt hätte. Als ob er ahnte, was sie gerade dachte, verschränkte er in genau diesem Moment die Arme und trat einen weiteren Schritt zurück. Kira räusperte sich und nickte. „Gute Idee. Ich hol mir nur eine wärmere Jacke von oben.“

Nebelschwaden zogen wie dicke Wattepakete über die Insel hinweg. Finn fuhr langsam, denn hier war man allein auf die Scheinwerfer des Autos angewiesen. Straßenlaternen gab es auf Sameland nur im Dorf, unten am Fähranleger. Kira saß stumm auf dem Beifahrersitz und starrte aus dem Seitenfenster. Finns Blick streifte ihr Haar, das sogar hier in der Dunkelheit zu leuchten schien, und sofort umfassten seine Finger das Lenkrad noch ein wenig fester. Es war wichtig gewesen, dass sie das Haus verlassen hatten, beruhigte er sich. Er hätte es nicht mehr viel länger ertragen – allein mit ihr. Sein Verlangen war von Minute zu Minute größer geworden, und er konnte sich nicht daran erinnern, jemals eine Frau so sehr begehrt zu haben wie jetzt Kira Lengrien. Und nun hieß es nur noch, irgendwie diese verdammte Autofahrt zu überstehen. Hier war sie ihm viel zu nah für seinen Geschmack. Ihr Anblick versetzte ihn in einen bedauernswerten Zustand, und ihr Duft berauschte seine Sinne. Möglichst unauffällig versuchte er, eine etwas angenehmere Sitzposition zu finden.

Angestrengt heftete er seinen Blick wieder auf die Straße.

Sie hatten nicht mehr miteinander gesprochen, seit sie im Auto saßen, und Finn hatte das dringende Bedürfnis, diese Stille zwischen ihnen wieder zu durchbrechen.

„Ich war heute spazieren“, sagte er, ohne seinen Blick von dem schmalen Sandstreifen der Straße vor ihnen zu nehmen. „Ich war oben an der Nordspitze.“

„Hmm, es ist schön dort, oder? So … ursprünglich.“

„Ja. Es ist schön dort.“ Er räusperte sich und warf ihr einen schnellen Seitenblick zu. „Wir könnten bei Gelegenheit ja mal zusammen dorthin gehen.“

„Ja, sicher.“ Kira hatte weiterhin konzentriert aus dem Seitenfenster gesehen, doch nun wandte sie sich ihm zu. „Willst du wirklich in den Gasthof?“ Ihre Stimme klang ein wenig heiser.

„Ja.“ Seine Finger verkrampften sich. „Ja, zum Teufel! Ich will in den Gasthof.“

„Halt an!“

„Was?“

„Halt sofort an, Finn.“

Er stöhnte auf und brachte den Wagen zum Stehen, aber er sah sie nicht an. Seine Hände blieben am Lenkrad, und er blickte stur geradeaus durch die Windschutzscheibe in den Nebel.

„Und jetzt? Hast du vielleicht irgendwas vergessen? Soll ich zurückfahren?“

„Oh Finn.“

Ihr Blick streichelte sein Profil. Dann hob sie langsam ihre linke Hand und fuhr ihm sanft durchs Haar. Er zuckte heftig zusammen unter dieser allzu zärtlichen Berührung, und seine Kiefer mahlten. Trotzdem blieb sein Blick fest nach vorne gerichtet.

„Kann ich jetzt weiterfahren?“, fragte er leise. Kira schloss kurz die Augen und ärgerte sich darüber, dass sie plötzlich gegen aufsteigende Tränen ankämpfen musste.

„Ja.“

„Gut.“

Ohne zu zögern legte er den Gang wieder ein und fuhr los. Kira atmete gründlich ein und wieder aus, um sich zu beruhigen. Warum war sie sich so sicher gewesen, er würde nur noch auf eine weitere Gelegenheit oder auf ein Zeichen von ihr warten? Warum hatte sie geglaubt, er würde sie sofort an sich ziehen, wenn sie ihm zu verstehen gab, dass sie noch immer dazu bereit war? Es sind seine Augen, dachte sie sofort und gab sich damit selbst die Antwort auf ihre Fragen. Sie hatte wieder dieses Glitzern in seinen Blicken gesehen und es für Verlangen gehalten, aber sie hatte es offenbar falsch interpretiert.

Schon wieder, Finn! Du hast mich schon wieder zurückgestoßen! Auch wenn es dieses Mal nicht so offensichtlich geschehen ist.

Finns Laune war fast auf dem Nullpunkt, als er seinen Wagen am Fähranleger abstellte. Kira hatte kaum noch ein Wort mit ihm gewechselt, seit sie ihn auf halber Strecke gebeten hatte anzuhalten, und er konnte ihr das noch nicht einmal übel nehmen. Eines stand jedenfalls für ihn fest: Wenn er sich nicht besser in den Griff bekam, würde er diesen Job nicht bis zum Ende ausführen können. Er musste es einfach schaffen, seine Hände von ihr zu lassen, ohne restlos durchzudrehen.

Finn zog den Zündschlüssel ab und sah sie an. Kira griff bereits nach ihrer Handtasche.

„Es tut mir leid“, sagte er leise. „Ich wollte vorhin nicht unhöflich sein, Kira. Es war nur … unser Gespräch über Mike hat mich ziemlich aufgewühlt, und all das steckte mir irgendwie noch in den Knochen.“ Das war gelogen und dazu auch noch unfair, weil er mit dieser Begründung eiskalt an ihr weibliches Mitgefühl appellierte, um sie wieder für sich einzunehmen, aber ihm blieb nichts anderes übrig. Genau wie er es erwartet hatte, wurde Kiras Blick sofort weich. „Es ist schon gut, Finn, mach dir darüber keine Gedanken mehr.“

„Du bist mir nicht böse?“ Sein jungenhaftes Lächeln ließ ihr Herz weit werden, und sie lächelte zurück. „Nein, ich bin dir nicht böse. Komm, du darfst mir ein Bier ausgeben.“

Der Gasthof der Brockmann-Brüder war genau so, wie Finn ihn sich vorgestellt hatte. Sowohl der mächtige Tresen als auch die Bänke und Tische waren aus hellem Eichenholz. Es gab geraffte Gardinen und blau-weiße Tischdecken. Die Einrichtung war typisch und strahlte die gewohnte friesische Gemütlichkeit aus. Sie brauchten eine kleine Ewigkeit, um sich zu einem kleinen, überraschenderweise noch freien Ecktisch durchzuschlagen, denn Kira wurde von allen Seiten stürmisch begrüßt und Finn fast allen anwesenden Einwohnern der Insel vorgestellt. Torben Brockmann stand hinter dem Tresen und nickte ihnen freundlich zu.

Während Finn sich bereits auf die kleine Eckbank fallen ließ, stand Kira noch einige Meter von ihm entfernt und unterhielt sich ein wenig mit Dr. Sander, den Finn insgeheim auf mindestens achtzig schätzte.

„Na, mein Schöner, was kann ich dir denn bringen?“

Finn sah auf und blickte in die himmelblauen Augen einer auffallend hübschen Blondine mit ungezähmten Locken.

„Hallo.“ Finn grinste. „Ein Bier wäre schön. Und … für die Dame dort hinten auch eins, bitte.“

„Ah, Kira. Du bist also mit Kira hier?“

„Ja, das bin ich.“ Er reichte ihr seine Hand. „Finn Andersen.“

„Freut mich, dich kennenzulernen. Ich bin Anna Brockmann. Meinen widerlichen großen Brüdern gehört dieser Laden hier.“

„Und du arbeitest hier?“ Er sah kurz nach Kira, aber sie stand noch immer bei Dr. Sander. Anna Brockmann folgte seinem Blick, dann sahen sie sich wieder an.

„Eigentlich nicht. Ich lebe und studiere in Hamburg, aber wenn ich schon mal hier bin, greife ich den beiden Vollidioten gerne ein bisschen unter die Arme. Dieser Laden trägt nämlich einen nicht gerade unerheblichen Anteil dazu bei, dass aus mir irgendwann einmal eine ordentliche Nachfolgerin für den alten Herrn dort hinten wird.“ Anna deutete auf Dr. Sander. „Wird Zeit, dass der gute Mann endlich seinen wohlverdienten Ruhestand genießen kann.“

„Du studierst also Medizin?“

„So ist es.“

„Alle Achtung, Goldlöckchen. Das sieht man dir nicht an.“

„Ich nehme das mal als Kompliment.“

„So war es auch gemeint.“ In stillem Einvernehmen grinsten sie sich an. Finn mochte Anna Brockmann, und das beruhte offensichtlich auf Gegenseitigkeit.

„Hast du schon bestellt?“ Kiras Frage unterbrach ihre kleine Unterhaltung. „Hallo Anna.“

„Hallo Kira, schön, dich mal wieder hier zu sehen. Ich sprinte eben kurz nach hinten und sage Olaf, dass du da bist. Der Gute kann es kaum erwarten, dich endlich wieder an seine Brust zu drücken.“

Nachdem Kira sich zu Finn gesetzt hatte, lächelte Anna ihm noch einmal zu.

„Euer Bier kommt sofort.“

„Danke“, sagte Finn.

„Anna ist die jüngere Schwester von Olaf und Torben“, erklärte Kira, als die Kellnerin wieder hinter einem Pulk von Menschen verschwand, die vor dem Tresen standen.

„Ich weiß. Wir haben uns ein wenig unterhalten. Sie ist nett.“

„Ja, das ist sie. Und sie hat einen unheimlich klugen Kopf. Sie studiert Medizin und will hier offenbar irgendwann den Inseldoktor spielen, zumindest nebenbei. Unser lieber Doktor Sander darf wegen seines hohen Alters schon seit Jahren nur noch Privatpatienten behandeln.“

„Mhmm, auch das weiß ich bereits.“ Er grinste.

Mit hochgezogenen Brauen schürzte Kira die Lippen und legte ein wenig ihren Kopf schief. „Oh, ihr scheint euch ja wirklich in kürzester Zeit tüchtig ausgetauscht zu haben“, stellte sie mit einem hörbaren Anflug von Sarkasmus fest. Finn grinste noch immer, als ein großer Schatten auf ihren Tisch fiel.

„Na, wenn das nicht mein süßer Feuerkopf ist!“ Der große, blonde Mann schaffte es gerade noch, zwei volle Bierkrüge auf der winzigen Tischplatte abzustellen, denn schon in der nächsten Sekunde sprang Kira mit einer einzigen fließenden Bewegung von der Bank auf und flog direkt in die bereits ausgestreckten Arme des Mannes, der dort mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht vor ihrem Tisch stand.

„Olaf!“

Finn beobachtete mit gemischten Gefühlen, wie die muskulösen Arme von Olaf Brockmann sich wie Schraubstöcke um Kiras schlanke Mitte legten und ihren Körper dabei ein gutes Stück vom Boden hochhoben. Für seinen Geschmack dauerte es viel zu lange, bis der Kerl Kira endlich wieder absetzte und seine Arme sie freigaben.

„Wie geht es dir, Prinzessin?“

„Mir geht es immer gut, wenn ich auf Sameland sein kann, das weißt du doch.“

„Du wirst von Jahr zu Jahr schöner, weißt du das?“

„Und du bist ein unverbesserlicher Schmeichler, Olaf!“

Kira stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte Olaf Brockmann einen Kuss direkt auf den Mund, dann drehte sie sich ruckartig zu Finn um. „Finn Andersen – Olaf Brockmann“, stellte sie die beiden Männer einander vor.

Auch Finn erhob sich jetzt und streckte dem anderen Mann seine Hand entgegen, die dieser auch sofort ergriff und mit einem anhaltend sympathischen Lächeln auf dem Gesicht leicht schüttelte: „Freut mich.“

„Ganz meinerseits“, erwiderte Finn tonlos.

Olaf Brockmann schaute sich bedauernd um. „Wenn ihr ein bisschen bleibt, könnten wir uns nachher noch ausführlicher unterhalten, Kira. Ich muss wieder zurück an meinen Herd, aber spätestens ab zehn wird es üblicherweise deutlich ruhiger. Du weißt ja, die Leute hier gehen meist recht früh schlafen.“

„Na klar, mach nur. Wir haben es nicht besonders eilig, nicht wahr, Finn?“

Finn konnte nur nicken, dann räusperte er sich. Olaf beugte sich noch einmal zu Kira herab und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Dann bis nachher, Prinzessin.“ Er nickte auch Finn zu und lächelte leicht, bevor er wieder durch eine geteilte Schwingtür hinter dem Tresen verschwand.

„Olaf kocht hier, musst du wissen. Er ist ein fantastischer Koch“, erklärte Kira, während sie noch immer auf die Tür sah, durch die Olaf Brockmann soeben verschwunden war. Ihre tiefblauen Augen glitzerten anhaltend vor lauter Wiedersehensfreude. In Finn brodelte die Eifersucht, und er musste ziemlich viel Energie aufbringen, um sich Kira gegenüber nichts anmerken zu lassen, denn sie hatte nicht übertrieben. Olaf Brockmann war wirklich ein ausgesprochen attraktiver Mann, das musste er wohl oder übel anerkennen.

Finn griff nach seinem Glas und prostete Kira zu, bevor er einen großen Schluck nahm. Kira tat es ihm nach.

„Was macht er dann hier auf der Insel?“, fragte Finn nach einer Weile.

„Bitte?“ Kira blickte ihn erstaunt an.

„Olaf. Na, wenn er doch so gut ist in seinem Job.“ Finns Gesicht blieb unbewegt.

„Na hör mal, Finn! Dies hier ist sein Elternhaus, und er hängt daran. Es war immer klar, dass die beiden Brüder den Gasthof übernehmen würden. Außerdem … sie lieben Sameland, vor allem Olaf.“ Sie schnaufte, um noch einmal ihren Unwillen über Finns Frage auszudrücken. „Weißt du, er hat in einem der größten Hotels in Hamburg gelernt und danach auch noch in mehreren berühmten Luxusschuppen in ganz Europa gearbeitet, um die nötigen Erfahrungen zu sammeln, bevor er wieder hierher zurückgekommen ist. Er ist wirklich gut, Finn.“

„Aha. Entschuldige, hab mich halt nur gewundert … vergiss es. Und sein Bruder? Was hat der gute Torben so alles drauf?“

„Torben hat das Hotelfach ebenfalls in Hamburg gelernt. Er ist der Hotelfachwirt und Olaf der Sternekoch. Ihre Eltern waren sehr stolz auf ihre Kinder.“

„Sie leben beide nicht mehr?“

„Nein. Sie sind schon vor ein paar Jahren im Abstand von wenigen Monaten gestorben. Beide hatten Krebs.“ Kira griff erneut nach ihrem Glas.

„Das ist schlimm.“ Finns Blick heftete sich auf Kiras Mund. Auf ihrer Oberlippe blieb ein wenig Schaum von dem Bier zurück, und sie leckte mit der Zungenspitze kurz darüber, um ihn zu entfernen. Eine neue Welle der Begierde erfasste seinen Körper und ließ Finn schlagartig alles andere vergessen. Die Geräusche der Gaststube, die Stimmen der anderen Menschen in diesem Raum, schienen ihn nur noch durch ein dickes Wattepolster zu erreichen. Noch während er Kira leicht benommen anstarrte, holte er geräuschvoll Atem, weil er plötzlich bemerkte, dass er die Luft angehalten hatte.

„Ist was?“, wollte Kira wissen.

Finn räusperte sich. „Nein, was soll sein?“

„Ich weiß nicht, Finn, manchmal hast du einen Blick drauf, da kann einem richtig angst und bange werden. So als ob … als ob du wirklich furchtbar wütend wärest. Gerade eben hast du wieder so geguckt.“

„Tut mir leid. Ich bin nicht wütend, wenn es dich beruhigt. Nur …“, er brach ab und kippte den Rest aus seinem Bierkrug auf einen Zug in sich hinein.

„Finn?“

„Ist wahrscheinlich einfach nicht mein Tag. Ich bin hundemüde.“

„Oh, würdest du lieber gehen? Mit Olaf kann ich ja auch noch ein anderes Mal …“

„Nein, wir bleiben. Mach dir keine Gedanken. Wenn du dich jetzt noch bereit erklärst zurückzufahren, werde ich mir einfach noch ein Bier genehmigen, und ich verspreche dir, meine Stimmung wird sich danach deutlich heben.“ Er setzte sein jungenhaftes Lächeln auf und zwinkerte ihr versöhnlich zu. Wenn sie schon mit diesem Brockmann reden wollte, würde er lieber dabei sein.

„Natürlich fahre ich zurück. Genieße du ruhig noch ein Bier.“ Kira schob ihren halb leeren Krug zurück und lächelte ebenfalls. „Ich steh da sowieso nicht so drauf.“

Finn wollte sich gerade erheben, um sich am Tresen ein neues Bier zu bestellen, als Anna Brockmann auch schon an ihren Tisch gerauscht kam.

„Na, ihr beiden Hübschen. Kann ich euch noch etwas bringen?“ Ihr keckes Lächeln galt allein Finn, Kira registrierte das sofort. Vor allem, weil Finn so ausgesprochen frech zurückgrinste und seine schlechte Laune ganz plötzlich wie weggewischt schien.

„Ich hätte gerne eine Cola“, sagte sie.

„Und mir kannst du noch so ein schönes großes Bier bringen, Goldlöckchen.“ Finns Grinsen vertiefte sich, und nun zwinkerte er Anna fröhlich zu.

„Ihr könnt jetzt auch rüber an den Tresen kommen“, schlug Anna vor, „es ist ja nicht mehr so viel los. Dort können wir uns alle zusammen besser unterhalten.“

Anna hatte recht, bemerkte Finn, als er sich im Gastraum umsah. Es war erheblich ruhiger geworden. In den letzten Minuten waren immer mehr Inselbewohner aufgebrochen. Am Tresen hockten nur noch eine Handvoll Männer, und an einem der anderen Tische saß Magda Quint mit einer weiteren Frau, die so ungefähr in ihrem Alter sein musste, aber viel älter wirkte. Als Finns und Magdas Blicke sich trafen, nickte sie ihm lächelnd zu. Er hob kurz seine Hand und erwiderte das Lächeln der Ladenbesitzerin.

Sie setzten sich an das ruhige Ende des Tresens und tauschten ein paar Floskeln mit Torben Brockmann aus. Einige Zeit später gesellten sich auch Anna und Olaf dazu. Anna setzte sich auf den freien Barhocker neben Finn, während Olaf bei seinem Bruder hinter dem Tresen blieb. Finn wunderte sich zwar selber ein wenig darüber, aber schon nach kurzer Zeit fühlte er sich sehr wohl in dieser lustigen kleinen Runde, und er musste zugeben, dass Olaf und Torben augenscheinlich recht nette Kerle waren. Zumindest Olaf in seiner offenen Art war Finn überaus sympathisch. Torben Brockmann wirkte deutlich zurückhaltender und war somit offensichtlich der ruhigere und introvertiertere Zwilling. Dennoch war es recht unterhaltsam, wie die Brockmann-Geschwister miteinander umgingen, und die Art und Weise erinnerte ihn auch ein wenig an seine eigene Familie. Schließlich hatte er selbst einen Bruder und eine Schwester, auch wenn in seiner Familie die Schwester die Erstgeborene war.

Nachdem ihre Freundin sich verabschiedet hatte, gesellte sich Magda Quint ebenfalls zu ihnen, und Olaf überredete die ältere Frau, sich noch ein bisschen dazuzusetzen. Finn entspannte sich zusehends, und das bemerkte auch Kira und war erleichtert darüber. Es gefiel ihr zwar nicht unbedingt, wie vehement Anna Brockmann versuchte, mit Finn zu flirten, aber verdenken konnte sie es ihr auch nicht. Außerdem fiel es ihr sowieso schwer, dem jüngsten Mitglied der Brockmann-Familie böse zu sein. Sie hatte Anna schon immer sehr gerngehabt.

Finn war bereits bei seinem vierten Bier, als Torben schließlich die alte Musikbox in Gang setzte. Zuerst trällerten die Frauen ein wenig die bekannten Schlager mit, aber dann kam Olaf Brockmann um den Tresen herum und griff nach Kiras Hand.

„Komm, Prinzessin, tanz mit mir.“

Kira zögerte zunächst einen Moment, rutschte dann aber doch von ihrem Barhocker. „Aber wehe, du trittst mir wieder auf die Zehen“, rief sie lachend und folgte ihm auf die freie Fläche in der Mitte des Gastraumes.

Finn blickte ihnen nach und bemühte sich, den Unmut zu ignorieren, den er dabei empfand. Eine Weile sah er Kira und Olaf zu, doch dann riss er ruckartig seinen Blick von den beiden los. Er hatte noch nicht einmal bemerkt, dass Anna Brockmann inzwischen aufgestanden war, um Torben hinter dem Tresen ein wenig beim Aufräumen zu helfen, und schob das sofort auf den Alkohol, den er unterdessen in sich hineingeschüttet hatte. Als er jetzt zu ihr hinsah, zuckte sie kurz mit ihren Schultern und lächelte ihm verständnisvoll zu. Finn konnte nichts dagegen tun, dass er die Mundwinkel hochzog. Noch vor wenigen Tagen hätte Anna Brockmann sicherlich einen gewissen Reiz auf ihn ausgeübt, doch jetzt fühlte er sich durch ihre Flirtversuche noch nicht einmal mehr richtig herausgefordert. Fast schuldbewusst sah er weiter zu ihrem Bruder, der nur ein paar Schritte neben ihr stand und bereits neue Biere zapfte. Aber Torben Brockmann hatte anscheinend nichts bemerkt, denn seine ganze Aufmerksamkeit galt offensichtlich seinem Zwillingsbruder und Kira. Obwohl Torbens Hände auf dem Zapfhahn lagen, schien er das tanzende Paar geradezu zu fixieren. Sein Gesicht war vollkommen unbewegt und der Blick starr. Finn stutzte kurz und sah genauer hin, aber da war der Moment auch schon vorbei. Torbens Konzentration galt bereits wieder den Bierkrügen. Finn fragte sich erneut, ob er doch schon angetrunkener war, als er gedacht hatte, und schüttelte sich innerlich. Sein Blick begegnete dem von Magda Quint. Sie lächelte leicht, stand auf und kam zu ihm herüber. Ihr Blick war voller Wärme, als sie sich direkt neben ihn stellte.

„Warst du schon an der Nordspitze, Finn?“, fragte sie mit sanfter Stimme.

„Ja.“ Er wunderte sich nicht einmal mehr darüber, dass Magda ihn jetzt duzte. Er hatte bereits mitbekommen, dass es hier auf der Insel selten förmlich zuging. Sogar den alten Dr. Sander schien hier jedermann zu duzen.

„Und? Hat es dir geholfen?“

Weil er nicht genau wusste, was er darauf antworten sollte, zuckte er nur ein wenig mit den Schultern. Magda Quint sah ihn unverwandt an.

„Es wird dir helfen. Geh wieder hin, Finn. Du kannst es gebrauchen – und die Insel auch.“

„Die Insel? Ich verstehe nicht …“ Unter ihrem eindringlichen Blick stieg ein merkwürdiges Gefühl in Finn auf, aber er konnte diese Empfindung nicht einordnen.

„Das musst du auch nicht. Du hast Kummer, aber der Kummer wird vergehen.“

„Mir kommt das … entschuldige.“ Finn räusperte sich, dann setzte er absichtlich ein Grinsen auf, um die seltsame Stimmung, die ihn erfasst hatte, wieder zu vertreiben. „Wenn du so mit mir sprichst, habe ich fast das Gefühl, du kannst mir bis in die Seele blicken, Magda Quint. Liegt das daran, dass ich heute Abend ein bisschen zu viel Bier intus habe oder daran, dass du es tatsächlich tust?“

Die ältere Frau lachte kurz auf. „Du darfst dir deinen Teil denken, Finn Andersen.“ Ihre Hand legte sich tätschelnd auf seine. „Ich könnte dir jetzt sagen, dass alles gut werden wird, aber das würdest du mir sowieso nicht glauben, nicht wahr? Irgendwie ist dir der Glaube an dein persönliches Glück abhandengekommen. Das ist verdammt schade und vor allem …“, ihr Blick wanderte kurz zu Kira und Olaf, „… im Augenblick ziemlich störend, würde ich sagen.“ Magda brachte es fertig, ihr anhaltendes Lächeln noch eine Spur wärmer erscheinen zu lassen. „Vielleicht erzählst du dieser alten Frau irgendwann einmal, wie es dazu gekommen ist, was meinst du?“

Finn lächelte ebenfalls. Erstaunlicherweise fühlte er sich nicht von Magda bedrängt oder gar ertappt. Auch empfand er das, was sie sagte, nicht als Einmischung einer fast fremden Person in seine Privatsphäre – obwohl sie das ja zweifelsohne war. Er wusste nicht weshalb, er nahm es einfach hin. Jedoch erkannte er ohne große Anstrengung, dass er es mit einem ganz besonderen Menschen zu tun hatte und dass sich dieser Mensch, warum auch immer, ehrlich um ihn sorgte.

„Was bist du für eine Frau, Magda Quint?“, fragte er mit ruhiger Stimme. „Du kennst mich doch kaum. Warum kümmert es dich, wie es mir geht?“

Ihr Blick hielt für mehrere Sekunden den seinen fest. „Du bist ein guter Mann. Das habe ich sofort gewusst, als ich dir zum ersten Mal in die Augen sah. Ich kann auch sehen, dass du in deinem Leben schon einige üble Dinge erleben musstest – aber das ist in Ordnung, denn so geht es vielen Menschen auf unserer Erde, und ich nehme mal an, dass der liebe Gott es für uns so vorgesehen hat. Du trägst noch immer eine ganze Menge Kummer mit dir herum, und die heiße Rothaarige dort hinten auf der Tanzfläche macht dir ebenfalls tüchtig zu schaffen – auch das ist in Ordnung, denn wenn du dir endlich mal die Mühe machen würdest, genau hinzuschauen, würdest du sehr schnell feststellen, dass Kira sowieso nur noch Augen für dich hat. Wie gesagt, all das ist in Ordnung, weil du es irgendwann bewältigen wirst. Aber es ist ganz und gar nicht in Ordnung, wenn du dich selbst infrage stellst, Finn! Das Leben ist nicht immer leicht, aber man sollte es trotzdem nicht vergeuden, findest du nicht auch? Es ist nämlich, verdammt noch mal, viel zu wertvoll! Es liegt alles in deiner Hand.

So wie ich das sehe, stehst du im Augenblick an einer Art Weggabelung und hast wohl eine ziemlich wichtige Entscheidung zu treffen. Du bist ein sehr kluger und starker Mann, das solltest du dir selbst mal wieder in Erinnerung rufen. Und du bist durchaus in der Lage, Verantwortung für dein Handeln zu übernehmen, oder nicht? Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du diese Insel gebraucht hast. Es ist dein eigenes Schicksal, das dich hierher …“ Magda brach ab, denn genau in diesem Moment kamen Kira und Olaf zurück an den Tresen, und Torben setzte die frischen Getränke vor ihnen ab. Finns Blick blieb noch für mehrere Sekunden mit dem von Magda verbunden, und er bedauerte zutiefst, dass ihr Gespräch unterbrochen worden war. Insgeheim nahm er sich vor, bald noch einmal mit der Ladenbesitzerin zu sprechen, denn nun war er sich sicher, dass Magda Quint tatsächlich in seine Seele geblickt hatte. Er glaubte eigentlich nicht an Übersinnliches oder an Menschen, die derartige Fähigkeiten haben könnten, aber Magdas Worte hatten ihn berührt, sogar tief berührt. Und er verspürte das dringende Bedürfnis, noch einmal ausführlicher mit dieser Frau zu reden. Auch das war neu für ihn, denn üblicherweise machte er fast alles mit sich allein aus, zumindest seit Mike nicht mehr lebte.

Kira griff lachend nach ihrer Cola und trank sie in einem Zug fast leer. „Puh, mir ist warm!“

Finn sah sie an und lächelte. Ihre Wangen glühten, und sie sah einfach zum Anbeißen süß aus, fand er. Auch Olaf nahm erst einmal einen großen Schluck von seinem Bier. „Ich sag euch, unsere Prinzessin hier hat nichts verlernt.“

Leben nicht vergeuden …

Weggabelung …

Entscheidung treffen …

„Lass uns gehen.“ Finns dunkle Stimme klang gedämpft, aber sehr bestimmt, und sein eindringlicher Blick ruhte fest auf Kiras Gesicht. Sie sah ihn an und atmete so tief ein, dass es fast einem Seufzen glich. Das leise Geräusch ließ Finn innerlich erschauern.

„Ja“, erwiderte sie schlicht. „Ich … gehe unsere Jacken holen.“

Der eindringliche Ausdruck in seinen dunklen Augen verursachte unter Kiras Bauchdecke ein Desaster. Schnell wandte sie sich ab, um tatsächlich die Jacken zu holen, die an einem Holzständer neben der Eingangstür hingen. Finn erhob sich. „Torben, ich möchte zahlen. Es wird langsam Zeit für uns.“ Insgeheim lächelte er über die eigene Formulierung. Intuitiv suchte er noch ein weiteres Mal den Blick von Magda. Sie lächelte wissend und nickte dann. „Einen schönen Abend noch.“

„Ebenso“, sagte er und legte kurz seine Wange an die der älteren Frau. „Ich melde mich in den nächsten Tagen mal bei dir. Ist das für dich in Ordnung, Magda?“

„Natürlich. Ich warte darauf.“

„Eure Zeche geht heute aufs Haus, Finn. Sozusagen als Willkommensgruß. War wirklich nett, dich kennenzulernen“, sagte Olaf.

„Oh danke. Ich fand es auch nett.“

Nachdem sie in ihre Jacken geschlüpft waren, verabschiedeten sie sich von den anderen. Finn übersah geflissentlich, dass Olaf Brockmann Kira noch einmal tüchtig herzte und an seine Brust drückte. Andererseits tat Finn dasselbe mit Anna Brockmann.

„Tschau, mein Schöner. Lass dich bald mal wieder bei uns sehen.“

„Ganz sicher. Bis bald, Goldlöckchen – und … fleißig weiterstudieren, hörst du!“ Finn drückte ihr einen schnellen Kuss auf die Wange, dann ergriff er Kiras Hand und zog sie hinter sich her.

Stumm überquerten sie die einsame, stille Straße und stiegen in Finns kleinen Geländewagen. Mit kurzen, knappen Anweisungen half er ihr, sich in dem ungewohnten Auto zurechtzufinden, dann lehnte er sich in seinem Sitz zurück und versuchte sich zu entspannen. Während der Fahrt wechselten sie kaum mehr als ein paar Worte, und Kira konzentrierte sich auf die schmale Fahrbahn. Der Nebel des frühen Abends war zum Glück verschwunden, und die Nacht war nun herrlich klar. Kurz bevor sie das Martinelli-Haus erreichten, sagte Finn: „Ich hole mir dann den Wagen morgen im Laufe des Vormittags bei dir ab, okay?“

„Ja, in Ordnung.“ Kira hustete trocken und hielt vor der Auffahrt des Hauses an. „Es war ein schöner Abend, nicht wahr?“

„Ja, es war schön“, antwortete er. „Bis morgen, Kira.“ Finn löste seinen Sicherheitsgurt und beugte sich zu ihr, um ihr einen schnellen Abschiedskuss auf die Wange zu hauchen. Kira kam ihm ein wenig entgegen. Seine rechte Hand hob sich, und er umfasste sanft ihren Hinterkopf, zog sie so noch ein Stück näher zu sich heran. Seine Lippen berührten die zarte Haut direkt unter ihrer rechten Schläfe; Kira schloss die Augen, um das wunderbare Gefühl seiner Nähe vollständig auszukosten. Finn ließ den Kuss ein wenig länger dauern, als es üblich war, und sog dabei gierig ihren Duft ein. Er grub seine Finger in ihr Haar und spürte ein leichtes Zittern, das durch ihren Körper schoss und sich sofort auf ihn übertrug. Dann endlich löste er sich von ihr, sah ihr tief in die Augen und betrachtete eingehend ihr Gesicht. Kiras Atem beschleunigte sich, und ihre herrlichen Lippen waren halb geöffnet. Finn hob noch einmal seine Hand und strich ihr über das Haar, während sein Blick ihr Gesicht abzutasten schien. Er blieb stumm, sah sie nur an.

„Finn.“ Ihre Zunge befeuchtete in Erwartung seines Kusses bereits ihre Lippen. Aber er küsste sie nicht. Es war, als hätte ihre zittrige Stimme ein gutes Stück der Spannung gelöst, die sich soeben zwischen ihnen aufgebaut hatte. Finn atmete laut und vernehmlich aus. „Nicht heute, Kira. Ich habe getrunken.“

„Du hast doch nur ein paar Biere getrunken“, erwiderte sie schwach vor Verlangen.

Er nickte. „Ich will einen klaren Kopf haben, wenn ich dich … Himmel, ja, du weißt doch längst schon, dass ich dich will, Kira! Ich habe noch niemals eine Frau so sehr gewollt wie dich. Ich will dich küssen, überall und stundenlang. Ich will dich lieben, nächtelang. Ich will … zum Teufel, ich rede Schwachsinn, aber was soll’s. Es ist falsch! Oh Gott, ja, es ist falsch, aber ich schaffe es einfach nicht, das wieder zu ändern. Ich kann an nichts anderes mehr denken, und das macht mich langsam aber sicher verrückt. Ich will dich nackt unter mir und auf mir, ich will, dass du vor Lust abhebst, wenn ich dich …“

Er brach entnervt ab und rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht, dann öffnete er abrupt die Beifahrertür, denn er hatte viel zu viel gesagt. „Meine Güte, ich habe wirklich zu viel getrunken! Schlaf gut, Kira.“

Finn sprang aus dem Wagen und ging mit großen Schritten die Auffahrt hinauf, ohne sich noch einmal umzusehen. Die Dunkelheit der Insel verschluckte ihn, noch bevor er die Haustür erreicht hatte. Kira stöhnte auf und lehnte sich in ihrem Sitz zurück. Das Blut rauschte ihr in den Ohren, ihr Herz klopfte so wild und wollte sich nicht beruhigen. Niemals zuvor hatte ein Mann so ungeniert mit ihr gesprochen. Seine unverblümten Worte hallten in ihr nach und schürten auch jetzt noch ihr heißes Verlangen. Sie war heftig erregt und wäre Finn am liebsten nachgelaufen, aber sie wusste auch, dass sie damit in diesem Augenblick überhaupt nichts erreichen würde. Es hatte sich etwas zwischen ihnen verändert, vorhin im Gasthof, das hatte sie deutlich gespürt. Ein winziger Moment, ein einziger Augenaufschlag hatte alles verändert. Finn hatte ihr soeben deutlich zu verstehen gegeben, dass er sie begehrte – und genau das hatte er offenbar gewollt. Nur das! Nicht mehr und auch nicht weniger.

Es ist schon erstaunlich, wie gut ich ihn schon kenne und verstehe, dachte sie, während sie angestrengt versuchte, sich wieder ein wenig zu beruhigen, indem sie bewusst langsam ein- und wieder ausatmete. Es dauerte trotzdem noch mehrere Minuten, bevor sie wieder in der Lage war, den Wagen zu starten und endlich loszufahren.

Finn war angetrunken genug, um geradewegs auf den Kühlschrank zuzusteuern und sich ein weiteres Bier zu genehmigen. Er öffnete die Flasche und setzte sie sofort an die Lippen. Noch während er gierig trank, löschte er bereits das Licht und stieg die Treppe hinauf. Oben angekommen, ließ er sich, so wie er war, auf das Bett fallen. Die Flasche in der Hand, schob er sich beide Kopfkissen in den Nacken und lehnte sich zurück, um einen weiteren Schluck zu nehmen. Allerdings war er noch nicht betrunken genug, um nicht genau zu wissen, was er soeben getan und vor allem, was er zu ihr gesagt hatte. Jetzt würde er die Folgen tragen müssen. Ein bitteres Lachen stieg in ihm auf.

Die Folgen?

Wenn Kira auch nur ein Wort ihrem Vater gegenüber erwähnen würde, wäre Finn endgültig am Ende. Und Kira würde unweigerlich erfahren, wer er wirklich war: ein Dobermann, der Ober-Dobermann ihres Vaters – auch wenn er das dann höchstwahrscheinlich nicht mehr lange bleiben würde. Sie würde ihn verachten. Und wenn Edgar tatsächlich herausfinden würde, dass Finn sein heiliges Töchterchen betatschte, wäre es mit seiner Karriere als Personenschützer ein für alle Mal vorbei. Edgar Lengrien war mächtig genug, um dafür zu sorgen, dass Finn Andersen in der gesamten Branche niemals wieder ein Bein auf die Erde bekommen würde.

Das wären die Folgen!

Dennoch gab es für ihn kein Zurück mehr. Die Entscheidung war ohnehin schon in der Sekunde gefallen, als er zum ersten Mal in Kira Lengriens meerblaue Augen gesehen hatte, das wusste er jetzt. Keine Macht der Welt konnte ihn jetzt noch aufhalten. Magda Quint hatte ihm heute Abend die Augen geöffnet. Er würde sein Leben nicht vergeuden, denn er würde Kira Lengrien lieben! Und wenn es auch nur für eine oder wenige Nächte sein sollte. Die Verantwortung dafür würde er eben tragen müssen. Ja, heute Abend war ihm bewusst geworden, dass Kira schon jetzt sein Leben verändert hatte.

Seit er sie kannte, dachte er vor dem Einschlafen nur noch an sie, sah stets ihr hinreißendes Gesicht vor sich. Die grauenvollen Bilder vom Tod seines besten Freundes waren zwar noch immer da, aber sie verfolgten ihn nicht mehr ganz so vehement. Kira beherrschte seine Gedanken – und seine Träume. Nur sie schien es für kurze Zeit zu schaffen, seine Dämonen in Schach zu halten.

Die Folgen?

Darüber wollte er jetzt nicht mehr nachdenken.

Finn erhob sich, stellte die leere Bierflasche beiseite und ging hinüber zum Schreibtisch. Der Computer lief, wie fast immer. Er hatte ihn vorhin ausschalten wollen, bevor er zu ihr gefahren war, aber dann hatte er es doch vergessen. Alles war ruhig in ihrem Haus. Auf dem Bildschirm sah er einen kleinen Lichtpunkt, der sich im ersten Stock ihres Hauses bewegte: Kira. Seiner Schätzung nach war sie nun ebenfalls in ihrem Schlafzimmer. Aus einem Impuls heraus griff Finn nach dem Hörer seines Telefons und wählte ihre Nummer. Es klingelte nur einmal, da hob sie auch schon ab.

„Ja?“

„Kira, ich bin’s.“

„Hallo Fremder!“

„Ich wollte dir noch mal eine gute Nacht wünschen.“

„Das ist … nett.“ Ihre Stimme klang wieder einmal ein wenig heiser. „Dann wünsche ich dir ebenfalls eine gute Nacht, Finn.“

„Ich denke an dich, Kira. Die ganze Nacht werde ich an dich denken.“

Sie blieb stumm, aber er konnte hören, wie schnell sie atmete, und eine Frau mit schnellem Atem war außerordentlich erregend. Mit geschlossenen Augen stellte er sich vor, wie sie jetzt mit dem Telefon am Ohr auf ihrem Bett saß.

„Kira? Sag was!“

„Ich … bis morgen, Finn.“ Dann legte sie auf.

Finn ließ den Hörer sinken und stand eine Weile unbewegt da. Er dachte an Mike, aber dieses Mal dachte er nicht an den toten Mike, sondern an den Freund, mit dem er jetzt gerne gesprochen hätte. Aber es gab noch mehr Menschen in seinem Leben, die ihn liebten, so wie er war, und ihm zuhören würden. Es war fast ein bisschen grotesk, dass diese Tatsache ihm erst jetzt bewusst wurde. Insgeheim hatte er die Brockmann-Geschwister heute Abend dafür bewundert, dass sie ihr Leben auf eine gemeinsame Basis gestellt hatten. Man spürte den Zusammenhalt dieser drei sofort, und Finn war es besonders leichtgefallen, die Verbundenheit der beiden Brüder nachzuempfinden. Auch Lukas und er hatten sich stets sehr nahegestanden, doch dann war das mit Mike passiert, und seither war vieles anders geworden. Seine Familie hatte sich liebevoll um ihn bemüht und tat das auch heute noch, besonders Lukas, aber Finn hatte sich nach und nach immer mehr in eine Art Schneckenhaus zurückgezogen und niemanden mehr an sich herangelassen.

Ein Blick auf seine Armbanduhr sagte ihm, dass Mitternacht schon lange vorüber war, aber das spielte keine Rolle. Sein Bruder brauchte im Gegensatz zu ihm selbst nur wenig Schlaf, das war schon immer so gewesen. Finn atmete noch einmal gründlich ein und wieder aus, dann wählte er Lukas’ Telefonnummer. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Lukas sich am anderen Ende meldete. Wie Finn es sich bereits gedacht hatte, klang die Stimme seines Bruders nicht verschlafen, sondern hellwach.

„Andersen.“

„Hallo, kleiner Bruder.“

„Finn? Verflixt noch mal, wo treibst du dich rum? Der Himmel weiß, warum du ständig dein Handy ausgeschaltet hast! Mann, warum besitzt du überhaupt eines, wenn du es nie benutzt? Mama wollte schon bei Lengrien anrufen, weil du dich jetzt schon seit fast drei Wochen nicht mehr bei ihr gemeldet hast. Ich meine, sie ist ja einiges von dir gewöhnt, aber …“

„Ich freue mich auch, deine Stimme zu hören, Lukas.“ Finn grinste den Hörer an, als sein Bruder ein missbilligendes Geräusch ausstieß, statt zu antworten. „Ich erledige nur einen Auftrag von Lengrien und bin zurzeit auf einer kleinen, netten Insel in der Ostsee.“

„Auf einer Insel?“

„Ja.“

Einige Sekunden lang blieb es still.

„Ist mit Mama und Papa alles in Ordnung?“, fragte Finn schließlich.

„Ja, alles in bester Ordnung. Sie haben sich gerade in einen Flieger gesetzt und sind in die griechische Sonne geflogen. Ich glaube, so langsam fängt unser alter Herr doch noch damit an, seinen Ruhestand zu genießen. Ich soll dich übrigens grüßen und dir die Ohren lang ziehen, wenn ich dich zu fassen kriege – und bevor du fragst, ja, unserem Schwesterchen geht es ebenfalls blendend. Sie ergötzt sich noch immer jeden Tag aufs Neue daran, anderen Menschen den Brustkorb zu öffnen.“ Lukas lachte kurz auf. „Finn, lassen wir jetzt mal den Small Talk über die Familie beiseite, okay? Es ist gleich ein Uhr, und dein Schlaf war dir immer ziemlich heilig. Du hast also ein Problem“, stellte Lukas schließlich in seinem gewohnt ruhigen Tonfall fest.

„Stimmt. Ein gewaltiges Problem sogar.“

„Rede! Ich bin ganz Ohr.“

Noch während Finn seinem Bruder alles erzählte, ging er wieder nach unten in die Küche, um sich einen starken Kaffee zu kochen. Einige Zeit später saß er mit dem dampfenden Becher in der einen und dem Telefonhörer in der anderen Hand am Küchentresen und wartete auf Lukas’ Reaktion.

„Finnegan, Finnegan! Du sitzt ganz schön in der Scheiße.“

„Was soll ich tun, Lukas? … Was würdest du an meiner Stelle tun?“

Lukas Andersen stieß ein Schnaufen aus. „Weißt du, mein normalerweise gut funktionierendes Hirn sagt mir, dass du auf der Stelle da verschwinden solltest. Sag nichts! Ich weiß ja, dass das schwierig werden könnte, aber wenn du noch halbwegs heil aus der Sache herauskommen willst, solltest du dich ab sofort von der Dame fernhalten! Sprich gleich morgen früh mit ihrem Daddy und erzähl ihm irgendwas. Schieb meinetwegen die Familie vor, was weiß ich. Lass dir was einfallen. Du musst von dieser verdammten Insel weg! Das ist ja fast, als hätte man dich mit dieser Sirene irgendwo eingeschlossen.“

„Du hast mich nicht verstanden, Lukas. Ich will hier gar nicht weg, verstehst du! Dafür ist es zu spät; dafür war es von Anfang an zu spät. Ich will sie – und ich werde sie mir nehmen!“

„Meine Güte, Finn, wie redest du denn! Mann oh Mann, wir leben doch nicht mehr im Mittelalter! Komm mal zu dir! Die Frau hat ja wohl auch noch ein Wörtchen dabei mitzureden, oder?“

„Kiras Wünsche unterscheiden sich nicht im Mindesten von meinen, glaub mir. Daran hat sie von Anfang an keinen Zweifel gelassen.“

Wieder stieß Lukas Andersen ein äußerst missbilligendes Grummeln aus. „Dann rede wenigstens mit ihr – und zwar vorher, hörst du! Leg die Karten auf den Tisch. Sag ihr, warum du wirklich auf dieser Insel bist. Wenn sie etwas für dich empfindet, wird sie deine Lage verstehen.“

„Du kennst sie nicht, Lukas. Sie ist … sie hat ihre festen Vorstellungen von Männern in meinem Beruf. Verstehst du, sie ist ganz anders aufgewachsen als wir. Außerdem ist sie … verdammt noch mal, ich will diese Frau ja schließlich nicht gleich heiraten, ich will … ich will sie ja nur …“

„Ich weiß, was du willst!“, unterbrach Lukas seinen Bruder schnell. „Ich kenne deine Einstellungen zu diesem Thema zur Genüge, mein Großer.“

„Im Grunde hältst du mich für den allerletzten Typen, nicht wahr?“

„Nein, ich glaube nur, dass du ein wenig dazu neigst, dich in deinen eigenen festen Vorstellungen und Grundsätzen zu verrennen. Du machst dir selbst das Leben schwer, Finn.

Sieh dich an! Du empfindest etwas für einen anderen Menschen und schiebst diese Gefühle sofort in eine bestimmte Schublade – natürlich sorgst du so in allererster Linie dafür, dass deine selbst auferlegte Isolation in keinem Fall durchbrochen werden kann.“

„Danke für die schnelle Psychoanalyse, Professor!“

Lukas ging nicht auf die sarkastische Bemerkung seines Bruders ein. „Das Schlimmste daran ist aber, dass du das Gleiche mit der Frau machst, die dich so bezirzt hat.“

„Wie meinst du das denn jetzt?“

„Na, du schiebst auch sie in eine von deinen Schubladen. Du hast dir deine Meinung über sie gebildet und basta. Du gibst ihr nicht die geringste Chance! Du kennst sie erst seit wenigen Tagen, und doch glaubst du fest daran, dass sie dich sofort zum Teufel jagen würde, wenn du ihr noch heute die Wahrheit über dich erzählst.“

„Ja, das würde sie auch tun.“

„Ja, wahrscheinlich hast du sogar recht, Finn. Sie wird es tun, denn du wirst nicht mit ihr sprechen! Du wirst sie weiterhin anlügen! Und dann, wenn sie es schließlich herausfindet, dass du ihr die ganze Zeit etwas vorgemacht hast, hat sie, meiner Ansicht nach, auch allen Grund dazu, dich in die Wüste zu schicken!“

„Verflucht, Lukas!“

„Du hast mich nach meiner Meinung gefragt.“

„Ja.“

Lukas lachte. „Herrje, Finn! In Wahrheit wolltest du dich nur aussprechen und gar keinen Rat von mir hören, stimmt’s? Aber damit kann ich ganz gut leben.“

„Ehrlich?“

„Ja, absolut. Du tust ja sowieso, was du willst. Das hast du immer schon getan. Ich bin jedenfalls für dich da, wenn du mich brauchen solltest.“

„Danke, Professor. Sag, wie geht es dir denn so?“

„Mhmm. Bist du daran jetzt wirklich interessiert? Es ist fast zwei Uhr.“

„Ich bin komischerweise hellwach – und ja, es interessiert mich wirklich, wie es dir geht.“

„Ich habe vorigen Monat meinen Lehrerjob an den Nagel gehängt und arbeite jetzt nur noch sporadisch an der Uni. Dann und wann ein Seminar, mehr ist nicht mehr drin.“

Finn stieß ein leises Lachen aus. „Na hör mal, ich dachte immer, du brauchst den Dozentenjob.“

„Ich habe mein Buch an den Mann beziehungsweise an den Verlag gebracht, Finn.“

„Ist nicht wahr! Mein kleiner Bruder, der Schriftsteller.“

„Tja. In ein paar Monaten kommt es auf den Markt.“

„Ich fasse es ja wohl nicht.“

„Was soll das denn heißen? Du hast doch immer behauptet, dass ich es irgendwann schaffen werde.“

„Ja klar, aber … du hast immer dagegengehalten, dass es schon genug Autoren gäbe, die diese tausendseitigen historischen Schinken schreiben würden.“ Finn grinste seinen leeren Kaffeebecher an und schob ihn auf dem Frühstückstresen ein bisschen hin und her. „Mann, ich bin echt stolz auf dich, Bruderherz!“

„Danke, Finn, das bedeutet mir sehr viel.“

„Und jetzt? Viel Arbeit?“

„Na, es geht. Die Arbeit ist für mich eigentlich erst einmal getan. Die Werbetour startet erst in zwei Monaten. Im Augenblick habe ich nicht viel zu tun. Ich schreibe bereits am nächsten Buch, lese und recherchiere ein bisschen, wie immer – ansonsten … Sag mal, wo liegt eigentlich diese gottverdammte Insel, auf der du dein Unwesen treibst?“

„Warum?“

„Nun, ich könnte doch einen kleinen Abstecher machen und dich für ein paar Tage besuchen. Vorlesungen habe ich im Moment so gut wie keine. Es würde also passen. Und lesen und schreiben kann ich schließlich überall.“

„Hey, das wäre großartig! Ich müsste natürlich zuerst Martinelli fragen, ob … aber das geht schon klar. Hier ist mehr als genug Platz im Haus. Und die Insel kommt deinem schwermütigen Akademiker-Naturell bestimmt sehr entgegen, Kleiner.“

„Ich war noch nie schwermütig und bin es auch heute nicht!“

„Na ja, jedenfalls bist du nicht gerade der Temperamentsbolzen, oder?“

„Aber du, oder was?“

„Na, im Gegensatz zu dir bin ich der reinste Entertainer. Spaß beiseite, Lukas, wenn du herkommst, musst du voll mitziehen. Es ist sehr wichtig, dass ich hier nicht auffliege, verstanden? Auf dieser Insel bin ich nur der Handwerker, der Werner Martinelli einen kleinen Gefallen tut und das mit einem erholsamen Inselaufenthalt verbindet. Nicht mehr und auch nicht weniger. Allerdings habe ich Kira gegenüber nur Wahrheiten über meine Familie erzählt, das macht es leichter. Du brauchst dich also nicht auch noch zu verstellen. Was mich angeht, weiß sie zwar, dass ich mal bei der Polizei war, aber mehr eigentlich nicht.“

„Schon klar! Ich werde mich nicht verquatschen, versprochen!“

„Na, dann sieh zu, dass du in den nächsten Tagen eine Fähre erwischt, Professor!“

Es dauerte noch einige Minuten, bevor sie endlich auflegten. Finn fühlte sich deutlich besser. Das Gespräch mit seinem Bruder hatte ihm gutgetan.