Einmal die Woche bringt dich schon nicht um

Er hatte beim Packen eine Zigarette im Mund, und er kniff die Augen zusammen, damit kein Rauch hineinkam, weswegen sich unmöglich sagen ließ, ob er gelangweilt oder angespannt war, verärgert oder resigniert. Die junge Frau, die auf dem Chefsessel saß und wie ein Gast aussah, hatte auf ihrem hübschen Gesicht einen Klecks Morgensonne; er schadete ihr nicht. Das Beste an ihr aber waren wahrscheinlich ihre Arme. Sie waren braun, rund und gut.

»Süßer«, sagte sie, »ich verstehe nicht, warum Billy das nicht alles machen kann. Ich meine ja nur.«

»Was?«, sagte der junge Mann. Er hatte eine belegte Kettenraucherstimme.

»Ich meine, ich verstehe nicht, warum Billy das nicht alles machen kann.«

»Er ist zu alt«, antwortete er. »Mach doch mal das Radio an. Um diese Zeit könnte Musik aus der Konserve laufen. Versuch’s mal mit 1010.«

Die junge Frau langte hinter sich, nahm dazu die Hand mit dem goldenen Ehering und dem unglaublichen Smaragd am kleinen Finger daneben; sie öffnete die weißen Türen einiger Fächer, ließ etwas einschnappen, drehte etwas. Sie lehnte sich zurück und wartete, und plötzlich, ohne jeden Anlass, gähnte sie. Der junge Mann sah sie an.

»Ich meine, was für eine grässliche Zeit, um loszuziehen«, sagte sie.

»Ich sag’s ihnen«, sagte der junge Mann, während er einen Stapel gefalteter Taschentücher betrachtete. »Meine Frau sagt, es ist eine grässliche Zeit, um loszuziehen.«

»Süßer, ich werd dich ganz schrecklich vermissen.«

»Ich dich auch. Ich habe doch mehr weiße Taschentücher als die hier.«

»Doch, wirklich«, sagte sie. »Das ist alles so ein Mist. Meine ich. Und überhaupt.«

»Tja, so weit, so gut«, sagte der junge Mann und klappte den Koffer zu. Er zündete sich eine Zigarette an, schaute aufs Bett und ließ sich darauffallen …

Während er sich ausstreckte, wurden die Röhren des Radios warm, und ein Sousa-Marsch mit offenbar unbegrenzten Querpfeifen triumphierte voluminös ins Zimmer. Seine Frau schwang einen ihrer wunderbaren Arme nach hinten und bereitete dem ein Ende.

»Vielleicht wäre ja noch was anderes gekommen.«

»Nicht um diese verrückte Uhrzeit.«

Der junge Mann blies einen missglückten Rauchring an die Decke.

»Hättest ja nicht aufzustehen brauchen«, sagte er zu ihr.

»Ich wollte aber!«, sagte sie.

Seit drei Jahren ging das nun, und immerzu hatte sie mit ihm in Kursiven gesprochen.

»Nicht aufstehen!«, sagte sie.

»Versuch’s mal mit 570«, sagte er. »Da könnte was kommen.«

Seine Frau versuchte sich erneut an dem Radio, und beide warteten, wobei er die Augen schloss. Schon bald kam verlässlicher Jazz.

»Hast du denn genug Zeit, um dich so hinzulegen? Ich meine ja nur.«

»Mich so hinzulegen – ja. Es ist noch früh.«

Seine Frau schien plötzlich eine ziemlich ernste Mutmaßung anzustellen. »Ich hoffe nur, sie stecken dich in die Kavallerie. Die Kavallerie ist reizend«, sagte sie. »Ich finde diese kleinen Schwertdinger so hinreißend, die die da am Kragen haben. Und du reitest doch auch so gern und überhaupt.«

»Die Kavallerie«, sagte der junge Mann, die Augen geschlossen. »Da stehen die Chancen nicht besonders. Heute geht jeder zur Infanterie.«

»Wie grässlich, Süßer, ich wünschte nur, du würdest diesen Mann mit dem Dingsda im Gesicht anrufen. Den Oberst. Den, der letzte Woche bei Phyll und Kenny war. Beim Geheimdienst und so. Ich meine, du sprichst doch Französisch und Deutsch und so. Der würde dir doch mindestens ein Patent beschaffen. Ich meine, du weißt doch, wie unglücklich du als Gefreiter oder so was sein wirst. Ich meine, du redest ja nicht mal gern mit Leuten und so weiter.«

»Bitte«, sagte er. »Hör auf damit. Ich hab’s dir doch erzählt. Das mit dem Patent.«

»Also, dann hoffe ich, dass sie dich wenigstens nach London schicken. Ich meine, wo es ein paar zivilisierte Menschen gibt. Hast du denn Bubbys Feldpostnummer?«

»Ja«, log er.

Seine Frau war dabei, eine weitere offenbar schwerwiegende Mutmaßung anzustellen. »Ich hätte so gern etwas Stoff. Etwas Tweed. Irgendeinen.« Dann, fast im selben Moment, gähnte sie und sagte das Falsche. »Hast du dich von deiner Tante verabschiedet?«

Ihr Mann öffnete die Augen, setzte sich ziemlich abrupt auf und schwenkte die Beine auf den Boden. »Virginia. Hör mal zu. Ich bin gestern Abend nicht mehr ganz durchgekommen«, sagte er. »Ich möchte, dass du einmal die Woche mit ihr ins Kino gehst.«

»Ins Kino?«

»Das bringt dich nicht um«, sagte er. »Einmal die Woche bringt dich schon nicht um.«

»Nein, natürlich nicht, Süßer, aber –«

»Kein Aber«, sagte er. »Einmal die Woche bringt dich schon nicht um.«

»Natürlich gehe ich mit ihr hin, du verrückter Kerl. Ich hab ja bloß gemeint –«

»Das ist nicht zu viel verlangt. Sie ist nicht mehr jung oder so was.«

»Aber Süßer, ich meine, es wird doch wieder schlimmer mit ihr. Ich meine, sie ist so plemplem, das ist nicht mal mehr lustig. Ich meine, du bist ja nicht den ganzen Tag mit ihr im Haus

»Du auch nicht«, sagte er. »Und außerdem verlässt sie nie ihr Zimmer, außer ich gehe mit ihr irgendwo hin oder so was.« Er beugte sich zu ihr, saß beinahe auf der Bettkante. »Virginia, einmal die Woche bringt dich schon nicht um. Ganz im Ernst.«

»Natürlich, Süßer. Ich meine, wenn du es möchtest

Der junge Mann stand abrupt auf.

»Sagst du bitte der Köchin, dass ich fürs Frühstück bereit bin?«, fragte er und brach schon irgendwohin auf.

»Erst einen klitzekleinen Kuss«, sagte sie. »Du alter Soldatenjunge.«

Er beugte sich zu ihr, küsste sie auf ihren wunderbaren Mund und verließ das Zimmer.

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Er ging eine breite, mit einem dicken Läufer ausgelegte Treppe hinauf und wandte sich oben nach links. Er klopfte zweimal an die zweite Tür, auf deren Außenseite eine weiße, förmliche Karte aus dem alten Waldorf Astoria in New York geheftet war: Bitte nicht stören. Auf dem Rand der Karte stand, in verblasster Tinte geschrieben, eine Nachricht:

Bin auf der Kriegsanleihenversammlung. Bald zurück. Hol Tom für mich um sechs in Lobby ab. Seine linke Schulter ist höher als die rechte, und er raucht eine niedliche kleine Pfeife. Grüße, Ich.

Die Nachricht hatte der Mutter des jungen Mannes gegolten, und er hatte sie als kleiner Junge gelesen und seither noch hundertmal, und er las sie auch jetzt: im März 1944.

»Herein, herein!«, rief eine geschäftige Stimme. Und der junge Mann trat ein.

Am Fenster saß eine sehr hübsche Frau Anfang fünfzig an einem klappbaren Kartentisch. Sie trug einen reizenden beigefarbenen Morgenmantel und an den Füßen ein Paar außerordentlich schmutzige weiße Turnschuhe. »Na, Dickie Camson«, sagte sie. »Wie hast du’s denn nur geschafft, so früh aufzustehen, du fauler Bursche?«

»Kann schon mal vorkommen«, sagte der junge Mann und lächelte entspannt. Er küsste sie auf die Wange und betrachtete, eine Hand auf der Rückenlehne ihres Stuhls, beiläufig das riesige ledergebundene Buch, das aufgeschlagen vor ihr lag. »Wie läuft’s mit der Sammlung?«, fragte er.

»Prächtig. Einfach prächtig. Dieses Buch – du kennst es noch nicht, du schrecklicher Junge – ist nagelneu. Billy und Cook wollen ihre alle für mich aufheben, und du kannst mir deine aufheben.«

»Hast gerade amerikanische Zwei-Cent-Marken entwertet, hm?«, sagte der junge Mann.

»Keine schlechte Idee.« Er schaute sich im Zimmer um. »Wie geht’s mit dem Radio?«

Es lief derselbe Sender, den er unten gehört hatte.

»Prächtig. Ich habe heute Morgen die Übungen gemacht.«

»Also, Tante Rena, ich habe dich doch gebeten, diese verrückten Übungen sein zu lassen. Ich meine, du überanstrengst dich doch. Ich meine, das ist doch sinnlos.«

»Ich mag sie aber«, sagte seine Tante entschieden und blätterte weiter in dem Album. »Ich mag die Musik, die sie dazu spielen. Die ganzen alten Sachen. Und es erscheint mir doch unfair, die Musik zu hören und nicht die Übungen dazu zu machen.«

»Doch, es ist fair. Also lass es bitte. Etwas weniger Integrität«, sagte ihr Neffe. Er lief ein bisschen im Zimmer umher und setzte sich dann schwer auf die Fensterbank. Er blickte hinaus auf den Park, suchte zwischen den Bäumen danach, wie er ihr sagen konnte, dass er ging. Er hatte gewollt, dass sie die eine Frau im Jahr 1944 war, die von keinem die Sanduhr im Blick behalten sollte. Jetzt wusste er, dass er ihr seine eigene geben musste. Ein Geschenk für die Frau in den schmutzigen weißen Turnschuhen. Die Frau mit der Sammlung entwerteter amerikanischer Zwei-Cent-Marken. Die Frau, die die Schwester seiner Mutter war, die ihr auf den Rand alter Bitte nicht stören-Karten aus den Waldorf Nachrichten geschrieben hatte … Musste man es ihr denn sagen? Musste sie seine absurde, schimmernde kleine Sanduhr haben?

»Du siehst genauso aus wie deine Mutter, wenn du das mit der Stirn machst. Ja. Genau wie sie. Erinnerst du dich überhaupt noch an sie, Richard?«

»Ja.« Er ließ sich Zeit. »Sie ist nie gegangen. Sie ist immer gerannt und hat dann im Zimmer gerade noch abgebremst. Und immer wenn sie die Jalousien in meinem Zimmer hochzog, pfiff sie durch die Zähne. Meistens dieselbe Melodie. Als Junge hatte ich die ständig im Ohr, aber als ich älter wurde, vergaß ich sie. Dann am College – da hatte ich einen Zimmergenossen aus Memphis, der spielte eines Nachmittags alte Grammofonplatten, ein paar Bessie Smiths, ein paar Tea Gardens, und eines der Stücke hat mich fast umgehauen. Es war genau das Lied, das Mutter immer durch die Zähne pfiff. Es hieß ›I Can’t Behave on Sundays ’Cause I’m Bad Seven Days a Week‹. Später im Semester ist dann einer namens Altrievi betrunken draufgetreten, und seitdem habe ich es nicht mehr gehört.« Er hielt inne. »Das ist so ziemlich alles, woran ich mich noch erinnere. Bloß blödes Zeug.«

»Weißt du noch, wie sie aussah?«

»Nein.«

»Sie war ganz gut beieinander.« Seine Tante stützte das Kinn in einer ihrer schmalen, eleganten Hände ab. »Dein Vater konnte in einem Zimmer, wenn deine Mutter es verlassen hatte, nicht still sitzen wie ein normaler Mensch. Er nickte einfach nur idiotisch, wenn jemand mit ihm sprach, seine eigenartigen kleinen Augen auf die Tür geheftet, durch die sie gegangen war. Er war ein seltsamer, ziemlich grober kleiner Mann. Er machte nichts aus Interesse, außer Geld zu verdienen und deine Mutter anzustarren. Und mit deiner Mutter in dem komischen Boot zu segeln, das er gekauft hatte. Dabei trug er immer eine ulkige kleine englische Matrosenmütze. Er sagte, sie habe seinem Vater gehört. Deine Mutter versteckte sie immer, wenn sie mit ihm segeln musste.«

»Mehr haben sie nicht gefunden, oder?«, fragte der junge Mann. »Nur diese Mütze.«

Doch da war der Blick seiner Tante schon auf eine Seite des Sammelalbums gefallen.

»Oh, da ist eine schöne«, sagte sie und hielt eine Briefmarke ins Licht. »Er hatte so ein starkes Gesicht mit dieser eingeschlagenen Nase. Washington.«

Der junge Mann stand von der Fensterbank auf. »Virginia hat der Köchin gesagt, sie soll Frühstück machen. Ich gehe jetzt mal wieder runter«, sagte er. Doch anstatt zu gehen, trat er an den Kartentisch seiner Tante. »Tante Rena«, sagte er, »schenk mir mal kurz deine Aufmerksamkeit.«

Das intelligente Gesicht seiner Tante blickte zu ihm auf.

»Tante – mm – wir haben Krieg. Mm – ich meine, du hast es ja in der Wochenschau gesehen. Ich meine, du hast es doch im Radio gehört und so weiter, oder?«

»Selbstverständlich«, schnaubte sie.

»Na ja, ich muss hin. Ich muss einfach. Ich breche noch heute Vormittag auf.«

»Das wusste ich«, sagte seine Tante ohne Panik, ohne einen bitter-sentimentalen Bezug auf »den Letzten«. Sie ist wunderbar, dachte er. Sie ist die vernünftigste Frau der Welt.

Der junge Mann stand auf und stellte dabei seine Sanduhr leichthin auf den Tisch – die einzig mögliche Art. »Virginia wird dich viel besuchen kommen, Liebes«, sagte er zu ihr. »Und ziemlich oft mit dir ins Kino gehen. Nächste Woche läuft im Sutton ein alter W.C. Fields-Film. Du magst doch Fields.«

Seine Tante stand ebenfalls auf, schritt aber resolut an ihm vorbei. »Ich habe ein Empfehlungsschreiben für dich«, erklärte sie. »An einen Freund von mir.«

Sie war jetzt an ihrem Schreibtisch. Sie zog die oberste linke Schublade auf, eindeutig, und entnahm ihr einen weißen Umschlag. Dann ging sie wieder zurück zu ihrem Briefmarkentisch und gab ihrem Neffen beiläufig den Brief. »Ich habe ihn nicht zugeklebt«, sagte sie, »du kannst ihn lesen, wenn du willst.«

Der junge Mann schaute auf den Umschlag in seiner Hand. Er war in der ziemlich kräftigen Handschrift seiner Tante an einen Leutnant Thomas E. Cleve jr. adressiert.

»Er ist ein wunderbarer junger Mann«, sagte seine Tante. »Er ist in der Neunundsechzigsten. Er wird sich um dich kümmern, da mache ich mir gar keine Sorgen.« Eindrucksvoll setzte sie noch hinzu: »Ich wusste schon vor zwei Jahren, dass es so kommen würde, und da habe ich sofort an Tommy gedacht. Er wird sich deiner ganz hervorragend annehmen.« Sie drehte sich um, diesmal ziemlich vage, und ging weniger resolut zu ihrem Schreibtisch zurück. Wieder zog sie eine Schublade auf. Sie entnahm ihr ein großes, gerahmtes Foto von einem jungen Mann in einer Leutnantsuniform mit Stehkragen von 1917.

Unsicher ging sie zu ihrem Neffen zurück und hielt ihm das Bild hin, damit er es sehen konnte. »Das ist sein Bild«, teilte sie ihm mit. »Das ist Tom Cleves Bild.«

»Ich muss jetzt los, Tante«, sagte der junge Mann. »Wiedersehn. Es wird dir an nichts fehlen. Ich meine, es wird dir an nichts fehlen. Ich schreibe dir.«

»Wiedersehn, mein lieber, lieber Junge«, sagte seine Tante und küsste ihn. »Du gehst jetzt zu Tom Cleve. Er wird sich um dich kümmern, bis du dich eingerichtet hast und so weiter.«

»Ja. Wiedersehn.«

Seine Tante sagte abwesend: »Wiedersehn, mein liebster Junge.«

»Wiedersehn.« Er verließ das Zimmer und wäre auf der Treppe fast gestolpert.

Auf dem unteren Absatz nahm er den Umschlag, riss ihn in zwei, vier, dann acht Teile. Offenbar wusste er nicht, wohin mit dem Packen, also stopfte er ihn in die Hosentasche.

»Süßer. Alles ist kalt geworden. Deine Eier, alles.«

»Du kannst doch einmal pro Woche mit ihr ins Kino«, sagte er. »Das wird dich nicht umbringen.«

»Wer hat das denn gesagt? Habe ich das auch nur einmal gesagt?«

»Nein.« Er ging ins Esszimmer.