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Der Tod Dr. Uhuru Simbas, vormals Sylvester Roberts, im Untersuchungsgefängnis wurde von dem für die Nachbarschaftspflege zuständigen Beamten der Polizei von Brickhall, einem gewissen Inspektor Stephan Kinch, als »eine Chance eins-zu-einer-Million« beschrieben. Offenbar hatte Dr. Simba einen so schrecklichen Alptraum gehabt, dass er im Schlaf gellend aufschrie, was die sofortige Aufmerksamkeit der zwei wachhabenden Beamten erregte. Die Männer eilten zu seiner Zelle und sahen gerade noch, wie die noch im Schlaf befindliche Gestalt des riesigen Mannes unter dem unheilvollen Einfluss des Traums buchstäblich vom Bett abhob und dann zu Boden krachte. Beide Beamten hörten ein lautes Knacken; es war das Geräusch des brechenden Genicks Dr. Uhuru Simbas.
Der Tod war sofort eingetreten.
Die winzige Mutter des Toten, Antoinette Roberts, stand, in billigem schwarzen Hut und Kleid, auf der Pritsche des Lieferwagens ihres jüngeren Sohns, den Trauerschleier trotzig aus dem Gesicht nach hinten gefegt, und zögerte nicht, Inspektor Kinchs Worte aufzugreifen und sie ihm in das junge, kraftlose Gesicht mit dem Schlotterkinn zurückzuschleudern, dessen zerknirschte Miene von der Erniedrigung zeugte, die er einstecken musste, wenn seine Beamtenbrüder von ihm als Niggerjimmy und, schlimmer noch, als Pilz (was heißen sollte, dass er ständig im Dunkeln gehalten wurde) redeten und die Leute ihn von Zeit zu Zeit - beispielsweise in den gegenwärtigen bedauerlichen Umständen - von oben bis unten mit Scheiße überhäuften. »Ich will, dass euch klar ist«, deklamierte Mrs. Roberts vor der ansehnlichen Menge, die sich aufgebracht vor der High Street Polizeiwache versammelt hatte, »dass diese Leute mit unserem Leben spielen. Sie sitzen am längeren Hebel, wenn es um unsere Überlebenschance geht.
Ich will, dass ihr alle euch überlegt, was das hinsichtlich ihrer Achtung vor uns als Menschen bedeutet.« Und Hanif Johnson, Uhuru Simbas Anwalt gab von Walcott Roberts’ Lieferwagen seine eigene Klarstellung zum Besten, in der er darauf hinwies, dass der angeblich tödliche Sturz seines Mandanten aus dem unteren der beiden Betten in der Zelle erfolgt war, dass es in einer Zeit der extremen Überfüllung der Gefängnisse des Landes gänzlich ungewöhnlich sei, dass das andere Bett nicht belegt war, wodurch sichergestellt worden sei, dass es für den Tod mit Ausnahme der beiden Beamten keinen Zeugen gebe, und dass ein Alptraum keineswegs die einzig mögliche Erklärung für die Schreie eines Schwarzen in den Händen der Vollzugsbehörden sei.
In seinen abschließenden Bemerkungen, von Inspektor Kinch später »aufrührerisch und standeswidrig« genannt, zog Hanif eine Verbindung zwischen den Ausführungen des Beamten für Nachbarschaftspflege mit denen des notorischen Rassisten John Kingsley Read, der einmal die Nachricht vom Tod eines Schwarzen mit dem Slogan quittiert habe: »Einer weg; bleibt noch eine Million«. Die Menge murrte und brodelte; es war ein heißer und gehässiger Tag. »Bleibt heiß«, rief Simbas Bruder Walcott der Versammlung zu. »Dass mir keiner abkühlt. Behaltet eure Wut.«
Da Simba in der, wie er sie einmal genannt hatte, »Regenbogenpresse - rot wie ein Tuch, gelb wie Galle, blau wie die Lüge, grün wie Rotz« eigentlich schon verurteilt worden war, erschien sein Ende vielen Weißen als raue Gerechtigkeit, als verdienter Sturz eines blutrünstigen Ungeheuers. Vor einem anderen Gericht allerdings, einem stummen, schwarzen, war ihm ein wesentlich wohlgesonneneres Urteil zuteil geworden, und diese unterschiedlichen Einschätzungen des Verblichenen zogen im Anschluss an seinen Tod durch die Straßen der Stadt und fermentierten in der nicht enden wollenden tropischen Hitze. Die »Regenbogenpresse« war voll mit Simbas Sympathiebeweisen für Quazhafil, Khomeini, Louis Farrakhan, während auf den Straßen von Brickhall junge Männer und Frauen die leise lodernde Flamme ihrer Wut am Brennen hielten und sie weiter anfachten, eine Schattenflamme zwar, aber eine, die das Licht auslöschen konnte.
Zwei Nächte später, hinter der Charrington-Brauerei in Tower Hamlets, schlug der Omamörder erneut zu. Und in der darauffolgenden Nacht wurde eine alte Frau in der Nähe des Abenteuerspielplatzes im Victoria Park, Hackney, ermordet; einmal mehr war die grässliche »Unterschrift« des Mörders - die rituelle Gruppierung der Eingeweide um die Leiche des Opfers, deren genaue Anordnung der Öffentlichkeit nie bekanntgegeben worden war - dem Verbrechen hinzugefügt.
Als Inspektor Kinch grau und zerzaust im Fernsehen erschien, um die unglaubliche Theorie vorzutragen, ein »Kopierkiller« habe wohl irgendwie das Markenzeichen entdeckt, das so lange und so sorgfältig geheimgehalten worden sei, und daher den Deckmantel, den der verstorbene Uhuru Simba hatte fallen lassen, aufgenommen, hielt es der Polizeipräsident für geboten, als vorbeugende Maßnahme die Polizeistreifen auf den Straßen von Brickhall zu vervierfachen und eine so große Anzahl Polizisten in Bereitschaft zu halten, dass es sich als notwendig erwies, das gesamte Wochenend-Fußballprogramm der Hauptstadt abzusagen. In Uhuru Simbas altem Revier herrschte tatsächlich gereizte Stimmung; Hanif Johnson gab eine Erklärung heraus des Inhalts, dass die erhöhte Polizeipräsenz »eine Provokation und Verschärfung« darstelle, und im Shaandaar und Pagal Khana formierten sich Gruppen schwarzer und asiatischer Jugendlicher, entschlossen, sich den patrouillierenden Streifenwagen entgegenzustellen. Im Hot Wax war die Puppe, die zum Einschmelzen bestimmt war, niemand anderes als die transpirierende und bereits zerfließende Figur des Beamten für Nachbarschaftspflege. Und die Temperatur stieg unerbittlich an.
Gewalttätige Zwischenfälle häuften sich: Überfälle auf schwarze Familien in Sozialwohnblocks, Belästigungen schwarzer Schulkinder auf dem Nachhauseweg, Schlägereien in Kneipen. Im Pagal Khana spuckten ein rattengesichtiger Jugendlicher und drei seiner Kumpels zahlreichen Gästen auf das Essen; das daraus sich ergebende Handgemenge endete mit einer Anklage gegen drei bengalische Kellner wegen Beleidigung und Körperverletzung; das speiende Quartett dagegen wurde nicht festgenommen. Geschichten von Polizeibrutalität, von schwarzen Jugendlichen, die blitzartig in die Zivilfahrzeuge und Kleinbusse der Sondereinsatzpatrouillen gezerrt und, ebenso diskret und zerschunden und mit blauen Flecken übersät, wieder hinausgeworfen wurden, verbreiteten sich unter der Bevölkerung. Selbstverteidigungspatrouillen junger Sikhs, Bengalis und Afrowestinder - von ihren politischen Gegnern als Selbstjustizgruppen bezeichnet — begannen, den Stadtteil zu durchstreifen, zu Fuß und in alten Ford Zodiacs und Cortinas, entschlossen, nicht »untätig zuzusehen«. Hanif Johnson sagte seiner Freundin, Mishal Sufyan, die bei ihm wohnte, seiner Meinung nach werde beim nächsten Omamord die Sicherung durchbrennen. »Dieser Killer lacht sich nicht nur ins Fäustchen, weil er frei herumläuft«, sagt er. »Er lacht auch über Simbas Tod, und das können die Leute nicht verdauen.«
In einer ungewöhnlich schwülen Nacht kam Gibril Farishta durch diese kochenden Straßen und blies in sein goldenes Horn.
An jenem Abend, einem Samstag, acht Uhr, stand Pamela Chamcha zusammen mit Jumpy Joshi - der sich geweigert hatte, sie ohne Begleitung losziehen zu lassen neben dem Fotofix-Automaten in einer Nische der Haupthalle des Bahnhofs Euston und kam sich lächerlich konspiratorisch vor. Um acht Uhr fünfzehn trat ein drahtiger junger Mann auf sie zu, der ihr größer erschien, als sie ihn in Erinnerung hatte; sie folgten ihm wortlos, sie und Jumpy stiegen in seinen zerbeulten blauen Lieferwagen und wurden zu einer kleinen Wohnung über einem Stehausschank in der Railton Road, Brixton, gefahren, wo Walcott Roberts sie seiner Mutter, Antoinette, vorstellte. Die drei Männer, die Pamela später, aus Gründen, die sie als stereotyp erachtete, für Haitianer hielt, wurden nicht vorgestellt.
»Trinken Sie ein Glas Ingwerwein«, kommandierte Antoinette Roberts. »Ist auch gut für das Baby.«
Als Walcott mit den Honneurs fertig war, kam Mrs. Roberts, die in einem voluminösen und abgewetzten Sessel saß (ihre überraschend blassen Beine, streichholzdünn, ragten unter ihrem schwarzen Kleid hervor, um in rebellischen rosa Söckchen und vernünftigen Schnürschuhen zu enden, und reichten bei weitem nicht auf den Boden), zur Sache. »Diese Herren waren Kollegen meines Jungen«, sagte sie. »Wie sich gezeigt hat, war der Grund für seine Ermordung möglicherweise, dass er an einem Thema gearbeitet hat, das, wie man mir sagte, auch für Sie von Interesse ist. Wir glauben, dass die Zeit gekommen ist, offizieller vorzugehen, die Kanäle zu benutzen, die Sie repräsentieren.« An dieser Stelle reichte einer der drei schweigsamen »Haitianer« Pamela eine rote Plastikmappe. »Darin sind«, erklärte Mrs. Roberts sanft,
»umfassende Beweise für die Existenz von Hexenzirkeln in der ganzen Londoner Polizei.«
Walcott stand auf. »Wir gehen jetzt besser«, sagte er bestimmt. »Bitte.« Pamela und Jumpy erhoben sich. Mrs. Roberts nickte knapp, geistesabwesend, knackte mit den Gelenken ihrer schlaffhäutigen Hände. »Auf Wiedersehen«, sagte Pamela und sprach ein konventionelles Beileid aus.
»Mädchen, spar dir deinen Atem«, unterbrach Mrs. Roberts sie.
»Nagle mir nur diese Hexenmeister fest. Nagle sie durchs Herz.«
Walcott Roberts ließ sie um zehn in Notting Hill aussteigen.
Jumpy hatte einen bösen Husten und klagte über die Kopfschmerzen, die seit seiner Verletzung in Shepperton wiederholt aufgetreten waren, doch als Pamela einräumte, dass sie etwas nervös sei, weil sie das einzige Exemplar dieser explosiven Dokumente in ihrer Plastikmappe hatte, bestand Jumpy sofort darauf, sie zum Amt für multikulturelle Angelegenheiten von Brickhall zu begleiten, wo sie die Unterlagen kopieren wollte, um sie anschließend an bewährte Freunde und Kollegen zu verteilen. So kam es, dass sie um zehn Uhr fünfzehn in Pamelas geliebtem MG saßen und die Stadt Richtung Osten durchquerten, hinein in den sich zusammenbrauenden Sturm. Ein alter blauer Mercedes-Lieferwagen folgte ihnen, wie er auch schon Walcott gefolgt war, nämlich unbemerkt.
Eine Viertelstunde zuvor war eine Streife mit sieben kräftigen jungen Sikhs, in einen Vauxhall Cavalier gezwängt, über die Kanalbrücke beim Malayan Crescent in Süd-Brickhall gefahren.
Sie hörten einen Schrei von dem Treidelpfad unter der Brücke und sahen, nachdem sie hinuntergerannt waren, wie ein unauffälliger blasser Mann von mittlerer Größe und Statur, mit blondem Haar, das über haselnussbraune Augen fiel, aufsprang, ein Skalpell in der Hand, und von dem Körper einer alten Frau davonstürzte, deren blaue Perücke runtergefallen war und wie eine Qualle im Kanal trieb. Die jungen Sikhs holten den Mann mit Leichtigkeit ein und überwältigten ihn.
Um dreiundzwanzig Uhr hatte die Nachricht, dass der Massenmörder gefasst worden sei, jeden Winkel des Stadtteils erreicht, begleitet von einem Bündel von Gerüchten: die Polizei habe den Wahnsinnigen nur widerstrebend verhaftet, die Mitglieder der Patrouille habe man zum Verhör dabehalten, Vertuschung sei nicht auszuschließen. An Straßenecken bildeten sich Menschenansammlungen, und als sich die Kneipen leerten, kam es zu einer Reihe von Schlägereien. Es entstand Sachschaden: Bei drei Fahrzeugen wurden die Scheiben eingeschlagen, ein Videogeschäft wurde geplündert, ein paar Backsteine geworfen. Zu diesem Zeitpunkt, es war halb zwölf Uhr, Samstagnacht, die Clubs und Tanzlokale entließen allmählich ihre aufgeregten, energiegeladenen Gäste, erklärte der zuständige Polizeikommissar, in Abstimmung mit den vorgesetzten Stellen, dass im Zentrum von Brickhall nunmehr der Zustand des Aufruhrs herrsche, und ließ die ganze Wucht der Londoner Polizei auf die »Aufrührer« los.
Zum selben Zeitpunkt trat Saladin Chamcha, der mit Allie Cone in deren Wohnung mit Blick auf die Brickhall Fields zu Abend gegessen hatte, den Schein gewahrt, Anteilnahme bekundet, aufmunternde Unehrlichkeiten gemurmelt hatte, hinaus in die Nacht, traf auf eine Testudo aus behelmten Männern mit erhobenen Plastikschilden, die sich ihm in einem steten, unaufhaltsamen Trab über die Fields näherten, war Augenzeuge des Eintreffens riesiger,
heuschreckenschwärmender Helikopter, von denen Licht wie schwerer Regen herabfiel, sah das Vorrücken der Wasserwerfer; er gehorchte einem unwiderstehlichen Urreflex, ergriff die Flucht und rannte, nicht wissend, dass er die falsche Richtung eingeschlagen hatte, so schnell er nur konnte in Richtung Shaandaar.
Fernsehkameras kommen gerade rechtzeitig für die Razzia im Hot Wax.
Eine Fernsehkamera sieht das Folgende: weniger begabt als das menschliche Auge, beschränkt sich ihre Nachtsicht auf das, was die Jupiterlampen anstrahlen. Ein Helikopter schwebt über dem Nachtclub, uriniert Licht in langen goldenen Strömen; die Kamera versteht dieses Bild. Die Staatsmaschine stößt auf dessen Feinde herab. Und jetzt ist auch am Himmel eine Kamera; irgendein Nachrichtenredakteur hat die Kosten für Luftaufnahmen genehmigt, und so schießt ein Nachrichtenteam von einem anderen Helikopter herab. Es wird kein Versuch unternommen, diesen Helikopter davonzujagen. Der Lärm der Rotorblätter erstickt den Lärm der Menge. Auch in dieser Hinsicht ist das Videoaufnahmegerät weniger empfindlich als, in diesem Fall, das menschliche Ohr.
- Schnitt. - Ein von einer Sun-gun angestrahlter Mann redet schnell in ein Mikrofon. Hinter ihm ein Durcheinander von Schatten. Doch zwischen dem Reporter und dem wirren Schattenreich steht eine Mauer: Männer in Schutzhelmen mit Schilden. Der Reporter spricht mit ernster Stimme; Molotowcocktails Plastikgeschosse verletzte Polizisten Wasserwerfer Plünderungen, natürlich beschränkt er sich auf die Fakten. Aber die Kamera sieht, was er nicht sagt. Eine Kamera ist schnell defekt oder entwendet; ihre Zerbrechlichkeit macht sie anspruchsvoll. Eine Kamera erfordert Recht, Ordnung, die dünne blaue Linie. Um sich zu schützen, hält sie sich hinter der beschirmenden Mauer, beobachtet das Schattenreich von fern und natürlich auch von oben: das heißt, sie ergreift Partei.
- Schnitt. - Sun-guns strahlen auf ein neues Gesicht, hängebackig, gerötet. Das Gesicht bekommt einen Namen: Untertitelwörter erscheinen quer über seinem Uniformrock.
Inspektor Stephen Kinch. Die Kamera sieht ihn als das, was er ist: ein guter Mann vor einer unmöglichen Aufgabe. Ein Vater, ein Mann, der ein Gläschen nicht verschmäht. Er spricht: können-Sperrgebiete-nicht-dulden besserer-Schutz-für-die-Beamten-erforderlich sehen-Sie-die-Plastikschilde-fangen-Feuer. Er verweist auf organisiertes Verbrechen, politische Agitatoren, Bombenfabriken, Drogen. »Wir haben Verständnis dafür, dass manche dieser Jugendlichen glauben, sie hätten Grund zu klagen, aber wir wollen und können nicht die Prügelknaben der Nation sein.« Von den Scheinwerfern und den geduldigen, stummen Linsen ermutigt, geht er einen Schritt weiter. Diese Jugendlichen wissen gar nicht, wie gut sie es haben, meint er. Sie sollten sich einmal bei ihren Blutsverwandten umsehen. Afrika, Asien, die Karibik: das sind die Länder mit den wirklichen Problemen. Dort können Menschen über Missstände klagen, die ernstzunehmen sind.
Hier dagegen ist es doch gar nicht so schlecht, bei weitem nicht; hier gibt es kein Gemetzel, keine Folter, keine putschenden Militärs. Die Leute sollten schätzen, was sie haben, bevor sie es verlieren. Unser Land war immer friedlich, sagt er. Unsere fleißige Inselrasse. Hinter ihm sieht die Kamera Tragen, Rettungswagen, Schmerzen. Sie sieht menschenähnliche Figuren, die aus dem Innern des Hot-Wax-Clubs geschleppt werden, und erkennt die Abbilder der Mächtigen. Inspektor Kinch erklärt. Sie backen sie dort drin in einem Ofen und finden das witzig; ich kann das nicht finden.
Die Kamera betrachtet die Wachsmodelle mit Abscheu. Haben sie nicht etwas Hexenartiges an sich, etwas Kannibalisches, einen ungesunden Beigeschmack? Wurde hier Schwarze Magie getrieben?
- Die Kamera sieht zerbrochene Fensterscheiben. Sie sieht im Hintergrund etwas brennen: ein Auto, ein Geschäft. Sie kann nicht verstehen, nicht erklären, was das alles soll. Die Leute da verbrennen ihre eigenen Straßen. - Schnitt: - Ein hell erleuchtetes Videogeschäft. Ein paar Geräte laufen im Schaufenster; die Kamera, die delirierendste unter den Narzissen, sieht fern, schafft für einen Augenblick eine unendliche Reihe von Fernsehgeräten, die in einem weitentfernten Punkt miteinander verschmelzen. - Schnitt. - Ein ernster, in Licht getauchter Kopf: eine Studiodiskussion. Der Kopf redet über Banditen. Billy the Kid, Ned Kelly: das waren Männer, die für wie auch gegen etwas standen. Moderne Massenmörder, denen diese heroische Dimension fehlt, sind nichts als krank, Versehrte Wesen, als Persönlichkeiten total leer, ihre Verbrechen zeichnen sich aus durch eine Konzentration auf das Vorgehen, auf die Methodologie - sagen wir Ritual -, möglicherweise getrieben von der Sehnsucht des Unbedeutenden, wahrgenommen zu werden, sich aus der breiten Masse herauszuheben und für einen Augenblick ein Star zu werden. Oder durch einen verschobenen Todeswunsch: den Geliebten zu töten und damit das eigene Ich zu vernichten.
- Was davon ist nun der Omamörder? fragt ein Diskussionsteilnehmer. Und was ist mit Jack the Ripper? - Der wahre Bandit, beharrt der Kopf, ist ein dunkles Spiegelbild des Helden. - Diese Aufrührer etwa? kommt die fordernde Frage.
Laufen Sie nicht Gefahr zu verherrlichen, zu »legitimieren«? - Der Kopf schüttelt sich, beklagt den Materialismus der heutigen Jugend. Über Plünderungen von Videogeschäften hat der Kopf nicht gesprochen. Aber was ist dann mit den Veteranen? Butch Cassidy, die James-Brüder, Captain Moonlight, die Kelly-Bande. Die haben doch alle Banken ausgeraubt, oder? - Schnitt. - Später wird die Kamera wieder zu dem Schaufenster zurückkehren. Die Fernsehgeräte werden nicht mehr da sein.
Aus der Luft beobachtet die Kamera den Eingang zum Hot-Wax-Club. Die Polizei ist jetzt fertig mit den Wachsfiguren und holt die echten Menschen heraus. Die Kamera nähert sich den Verhafteten: ein hochgewachsener Albinomann; ein Mann in einem Armani-Anzug, der aussieht wie ein dunkles Abbild von Robert de Niro, ein junges Mädchen - vierzehn, fünfzehn? -, ein finsterer junger Mann, ungefähr zwanzig. Namen werden nicht eingeblendet; die Kamera kennt diese Gesichter nicht. Nach und nach allerdings kommen die Fakten zutage. Der Diskjockey des Clubs, Sewsunker Ram, bekannt als »Pinkwalla«, und der Besitzer, Mr. John Maslama, sollen wegen groß angelegten Rauschgifthandels - Crack, Brown Sugar, Haschisch, Kokain - angeklagt werden. Der Mann, der mit ihnen verhaftet wurde, ein Angestellter von Maslamas nahegelegenem Musikgeschäft Fair Winds, ist der Halter eines Lieferwagens, in dem eine nicht genannte Menge »harter Drogen« gefunden wurde, ebenfalls zahlreiche »heiße« Videorecorder. Der Name des jungen Mädchens ist Anahita Sufyan; sie ist minderjährig, soll einiges getrunken und, so wird angedeutet, mit wenigstens einem der drei Inhaftierten geschlechtliche Beziehungen unterhalten haben. Des Weiteren soll sie häufig die Schule schwänzen und mit bekanntermaßen kriminellen Elementen in Verbindung stehen: zweifellos eine Delinquentin. Ein angestrahlter Journalist wird diese Leckerbissen viele Stunden nach den Ereignissen der Nation vorsetzen, doch die Neuigkeit rast schon durch die Straßen: Pinkwalla! Und das Wax: sie haben es zerlegt - auseinandergenommen! Jetzt herrscht Krieg.
Dies jedoch ereignet sich an Schauplätzen, die - wie so vieles andere auch - die Kamera nicht sehen kann.
Gibril: bewegt sich wie in einem Traum, denn nach der tagelangen Wanderung durch die Stadt ohne Nahrung, ohne Schlaf, die Trompete namens Asrael sicher in einer Tasche seines Wintermantels verstaut, kennt er keinen Unterschied mehr zwischen Wach-und Traumzustand; er hat jetzt einen Begriff davon, was Allgegenwart sein muss, weil er sich durch mehrere Geschichten zugleich bewegt, da ist ein Gibril, der über die Untreue Alleluja Cones trauert, und ein Gibril, der über dem Totenbett eines Propheten schwebt, und ein Gibril, der heimlich über eine Pilgerfahrt zum Meer wacht, den Augenblick abwartet, in dem er sich zu erkennen geben wird, und ein Gibril, der jeden Tag stärker den Willen des Widersachers spürt, der ihn näher und näher zieht und ihn ihrer letzten Umarmung entgegenführt: der subtile, trügerische Widersacher, der das Gesicht seines Freundes angenommen hat, seines treuesten Freundes Saladin, um ihn einzulullen, um seine Wachsamkeit einzuschläfern. Und da ist ein Gibril, der die Straßen Londons durchstreift und versucht, den Willen Gottes zu verstehen.
Soll er das Werkzeug des Zorns Gottes werden?
Oder seiner Liebe?
Ist er Rache oder Vergebung? Soll die tödliche Trompete in der Tasche verbleiben oder soll er sie hervorziehen und blasen?
(Ich gebe ihm keine Anweisungen. Auch ich warte mit Interesse darauf, wie er sich entscheiden wird - auf das Ergebnis seines Ringkampfs. Charakter gegen Vorbestimmung: ein Freistilkampf. Zwei Stürze, zwei Aufgaben oder ein K.O. werden entscheiden.)
Ringend schreitet er durch seine vielen Geschichten voran.
Es gibt Zeiten, da sehnt er sich nach ihr, Alleluja, allein ihr Name eine Freude; aber dann entsinnt er sich der diabolischen Verse und wendet seine Gedanken ab. Das Horn in seiner Tasche will geblasen werden, doch er beherrscht sich. Die Zeit ist noch nicht reif. Nach Hinweisen suchend - was muss nun getan werden? - pirscht er durch die Straßen der Stadt.
Irgendwo sieht er in einem Abendfenster einen Fernseher.
Auf dem Bildschirm ist ein Frauenkopf, eine berühmte »Moderatorin«, die von einem ebenso berühmten, zwinkernden irischen »Gastgeber«, interviewt wird. - Was wäre das Schlimmste, das Sie sich vorstellen können? - Oh, ich glaube, das wäre, ja, das wäre bestimmt: an Heiligabend allein zu sein.
Da wäre man auf sich selbst zurückgeworfen, nicht, man würde in einen erbarmungslosen Spiegel schauen und sich fragen: und das soll alles sein? - Gibril, allein, er kennt den Treff nicht, geht weiter. Der Widersacher im Spiegel nähert sich im selben Tempo wie er, winkt ihm, streckt die Arme aus.
Die Stadt sendet ihm Botschaften. Hier an dieser Stelle, sagt sie, hat der holländische König beschlossen zu bleiben, als er vor dreihundert Jahren herüberkam. Damals war sie außerhalb der Stadt, ein Dorf, inmitten der grünen englischen Flur. Aber als der König kam, um sich niederzulassen, schössen die Londoner Plätze inmitten der Flur auf, erhoben sich rote Backsteingebäude mit holländischen Krenelierungen in den Himmel, damit seine Höflinge ein Dach über dem Kopf hatten.
Nicht alle Einwanderer sind machtlos, wispern die noch stehenden Gebäude. Sie zwingen ihrer neuen Erde ihre Bedürfnisse auf, bringen ihre Zusammenhänge in das neu gefundene Land mit, denken es sich neu. Doch aufgepasst, warnt die Stadt. Auch die Zusammenhanglosigkeit will ihr Recht. Bei einem Ritt über das Parkgelände, in dem er zu leben gewählt hatte - das er kultiviert hatte -, wurde Wilhelm III. vom Pferd abgeworfen, landete unsanft auf dem aufsässigen Boden und brach sich den königlichen Hals.
An manchen Tagen findet er sich zwischen wandelnden Leichen, Massen von Toten, die sich alle weigern zuzugeben, dass sie erledigt sind, Leichen, die meuternd fortfahren, sich wie Lebende zu benehmen, einkaufen, dem Bus nachlaufen, flirten, nach Hause gehen und vögeln, Zigaretten rauchen. Aber ihr seid tot, schreit er ihnen zu. Ihr Zombies, geht wieder zurück in euer Grab. Sie ignorieren ihn oder lachen oder schauen betreten oder drohen ihm mit der Faust. Er verstummt und eilt weiter.
Die Stadt wird undeutlich, amorph. Es wird unmöglich, die Welt zu beschreiben. Pilgerfahrt, Prophet, Widersacher verschwimmen, treiben in einen Nebel, tauchen wieder auf. So auch sie: Allie, Al-Lat. Sie ist der erhabene Vogel. Überaus begehrenswert. Jetzt erinnert er sich: Vor langer Zeit hat sie ihm von Jumpys Gedichten erzählt. Er möchte gern eine Sammlung machen. Ein Buch. Der daumenlutschende Künstler mit seinen infernalischen Ansichten. Ein Buch ist das Produkt eines Pakts mit dem Teufel, das den Faustischen Vertrag verkehrt, hatte Jumpy zu Allie gesagt. Dr. Faustus opferte die Ewigkeit für zwei Dutzend Jahre der Macht; der Schriftsteller akzeptiert die Zerstörung seines Lebens und gewinnt (aber nur, wenn er Glück hat) vielleicht nicht die Ewigkeit, so doch wenigstens die Nachwelt. Beide Male (das war Jumpys springender Punkt) gewinnt der Teufel.
Was schreibt ein Dichter? Verse. Was dudelt in Gibrils Hirn?
Verse. Was brach ihm das Herz? Verse und wieder Verse.
Die Trompete, Asrael, ruft aus der Manteltasche: Hol mich heraus! Jajaja: die Posaune des Jüngsten Gerichts. Zum Teufel mit allem, der ganzen elenden Schweinerei: bläh einfach nur die Backen und dann ruuti-tuut-tuut-Los, komm, jetzt wird gefeiert.
Wie heiß es ist: dampfend, drückend, unerträglich. Das ist nicht das Große London: nicht diese gemeine Stadt. Startbahn Eins, Mahagonny, Alphaville. Er wandert durch ein Sprachenwirrwarr. Babel: eine Verkürzung des assyrischen »babilu«. »Die Tore Gottes.« Babylondon.
Wo ist das?
- Ja. - Eines Nachts wandert er hinter den Kathedralen der Industriellen Revolution, den Endbahnhöfen Nordlondons. Der anonyme King’s Cross, die fledermausartige Drohung des Turms von St. Pancras, die rot-schwarzen Gasbehälter, die sich gigantischen eisernen Lungen gleich aufblähen und wieder zusammensinken. Wo einst Königin Boudicca in der Schlacht fiel, ringt Gibril Farishta mit sich selbst.
Der Goodsway. Oh, welch saftige Waren lungern in Hauseingängen und unter Wolframlampen, welche Köstlichkeiten werden auf diesem Weg angeboten!
Schaukelnde Handtäschchen, locken dich, silberngerockt, Netzstrumpfhosen: es sind nicht nur junge Waren (Durchschnittsalter dreizehn bis fünfzehn), sondern auch billige.
Sie haben kurze, identische Geschichten: alle haben sie irgendwo ein Baby weggepackt, alle wurden sie von zornigen, puritanischen Eltern aus dem Haus geworfen, keine ist weiß.
Luden mit Messern nehmen neunzig Prozent ihres Verdienstes.
Schließlich sind Waren nur Waren, besonders, wenn sie Ramsch sind.
Gibril Farishta auf dem Goodsway wird in Schatten und zu Lampen gerufen; und beschleunigt zunächst den Schritt. Was hat das mit mir zu tun? Blöde Massenmösen. Doch dann geht er langsamer und bleibt stehen, hört, wie etwas anderes ihm aus den Schatten und von den Lampen her zuruft, ein Bedürfnis, eine wortlose Bitte, verborgen unter den blechernen Stimmen von Zehn-Pfund-Nutten. Seine Schritte werden langsamer, halten inne. Er wird von ihrem Verlangen festgehalten. Wonach? Jetzt bewegen sie sich auf ihn zu, angezogen wie Fische an unsichtbaren Haken. Während sie sich ihm nähern, verändert sich ihr Gang, die Hüften wackeln nicht mehr, die Gesichter entsprechen ihrem Alter, trotz des dicken Make-ups. Als sie bei ihm sind, knien sie nieder. Was sagt ihr da, wer bin ich? fragt er und will hinzufügen: Ich kenne eure Namen. Ich bin euch schon einmal begegnet, woanders, hinter einem Vorhang. Zwölf seid ihr, wie damals. Aischa, Hafsah, Ramiah, Sawdah, Zainab, Zainab, Maimunah, Safia, Juwairiyah, Umm Salamah die Makhzumitin, Rehanah die Jüdin und die schöne Maria die Koptin. Schweigend verharren sie auf den Knien. Ihre Wünsche teilen sich ihm ohne Worte mit Was ist ein Erzengel anderes als eine Marionette. Kathputli, Marionette: Die Gläubigen beugen uns nach ihrem Willen. Wir sind Kräfte der Natur, und sie unsere Herren. Auch Herrinnen.
Die Schwere seiner Glieder, die Hitze, und in seinen Ohren ein Summen wie von Bienen an einem Sommernachmittag. Es wäre leicht, in Ohnmacht zu fallen.
Er fällt nicht in Ohnmacht.
Er steht inmitten der knienden Kinder, wartet auf die Luden.
Und als sie kommen, zieht er endlich sein unruhiges Horn hervor und presst es an die Lippen: den Würger, Asrael.
Nachdem der Feuerstrom aus dem Mund seiner goldenen Trompete gefahren ist und die nahenden Männer verzehrt hat, sie in ein Flammenkokon gehüllt und so vollkommen ausgelöscht hat, dass nicht einmal ihre Schuhe brutzelnd auf dem Gehsteig stehen, begreift Gibril.
Er geht weiter, in Richtung Brickhall, lässt die Dankbarkeit der Huren hinter sich, Asrael wieder in der geräumigen Tasche verstaut. Die Dinge werden klar.
Er ist der Erzengel Gibril, der Engel des Vortrags, die Macht der Offenbarung in Händen. Er kann Männern und Frauen in die Brust greifen, die Wünsche ihres innersten Herzens herausholen und wahrmachen. Er ist der Stiller der Wünsche, der Löscher der Lüste, der Erfüller der Träume. Er ist der Geist aus der Lampe, und sein Herr ist der Vogel Rok.
Welche Wünsche, welche Imperative sind in der mitternächtlichen Luft? Er atmet sie ein. Und nickt, so sei es, ja.
Es werde Feuer. Dieses ist eine Stadt, welche sich in Flammen gereinigt hat, gebüßt hat, indem sie bis auf die Grundmauern niedergebrannt ist.
Feuer, niederfallendes Feuer. »Dies ist die Strafe Gottes in seinem Zorn«, ruft Gibril Farishta in die Nacht des Aufruhrs hinein, »dass den Menschen ihre Herzenswünsche gewährt werden und dass sie von ihnen verzehrt werden.«
Billighochhäuser umschließen ihn. Nigger fressen Scheiße vom weißen Mann, meinen die unoriginellen Wände. Die Gebäude haben Namen: »Isandhlwana«, »Rorke’s Drift.« Doch eine Umänderungsaktion ist im Gange, denn zwei der vier Türme wurden umbenannt und tragen jetzt die Namen »Mandela« und »Toussaint l’Ouverture«. Die Türme stehen auf Stelzen, und in der Formlosigkeit des Betons darunter und dazwischen heult unablässig der Wind und strudelt Schrott: zerfallene Küchenteile, luftlose Fahrradreifen, Scherben zerbrochener Türen, Puppenbeine, Gemüsereste, die von hungrigen Katzen und Hunden aus Plastikmüllsäcken herausgezerrt wurden, Fast-food-Packungen, kollernde Dosen, zerronnene Aussichten auf einen Job, aufgegebene Hoffnungen, verlorene Illusionen, verbrauchte Wut, angehäufte Verbitterung, ausgekotzte Angst und eine rostende Badewanne. Er steht reglos da, während kleine Gruppen der Hausbewohner an ihm in unterschiedlichen Richtungen vorbeihasten. Einige (nicht alle) haben Waffen. Knüppel, Flaschen, Messer. In allen diesen Gruppen sind weiße ebenso wie schwarze Jugendliche. Er setzt die Trompete an die Lippen und beginnt zu spielen.
Kleine Flammenknospen sprießen aus dem Beton, genährt von den abgelegten Haufen Besitztümer und Träume. Da ist ein kleines, faulendes Häuflein Neid: es brennt grünlich in der Nacht. Die Feuer lodern in allen Regenbogenfarben, und nicht alle brauchen Brennstoff. Er bläst die kleinen Feuerblumen aus seinem Horn, und sie tanzen auf dem Beton, brauchen weder brennbares Material noch Wurzeln. Da, eine rosafarbene! Da, was wäre schön? Ich weiß: eine silberne Rose. Und nun erblühen die Knospen zu Büschen, erklimmen kletterpflanzengleich die Türme, greifen aus nach ihren Nachbarn, bilden Hecken aus buntschillernden Flammen. Es ist, als betrachtete man einen leuchtenden Garten, dessen Wachstum vieltausendmal beschleunigt wird, einen blühenden, sprießenden, wuchernden, verflochtenen, undurchdringlichen Garten, einen Garten dichter, verschlungener Chimären, der sich auf seine eigene hell strahlende Weise mit dem Dornbusch misst, der um den Palast der schlafenden Schönheit in einem ändern Märchen emporspross, vor langer Zeit.
Hier aber ist keine Schönheit, die drinnen schläft. Hier ist Gibril Farishta, der durch eine Welt aus Feuer geht. In der High Street sieht er Häuser, aus Flammen gebaut, mit Wänden aus Feuer, und Flammen, die gerafften Vorhängen gleich im Fenster hängen. Und um ihn herum schlendern, rennen, laufen Männer und Frauen mit wabernder, heißer Haut, in Jacken aus Feuer. Die Straßen werden rotglühend, schmelzen, ein Fluss in der Farbe des Bluts. Alles, alles steht in Flammen, während er sein fröhliches Horn trötet und den Menschen gibt, was sie begehren, Haare und Zähne der Bürger rauchen und sind rot, Glas verglüht, und über allem fliegen Vögel mit lodernden Schwingen.
Der Widersacher ist ganz nah. Der Widersacher ist ein Magnet, ist das Auge des Strudels, ist das unwiderstehliche Zentrum eines schwarzen Lochs, seine Gravitationskraft schafft einen Ereignishorizont, dem weder Gibril noch das Licht entkommen können. Hierher, ruft der Widersacher. Hier bin ich.
Kein Palast, nur ein Café. Und in den Räumen darüber eine Pension. Keine schlafende Prinzessin, sondern eine enttäuschte Frau, die, vom Rauch überwältigt, bewusstlos daliegt; und neben ihr, auf dem Boden neben dem Bett, ebenfalls bewusstlos, ihr Mann, der aus Mekka heimgekehrte Ex-Lehrer Sufyan. Während anderswo in dem brennenden Shaandaar gesichtslose Menschen am Fenster stehen und erbarmungswürdig um Hilfe winken, weil sie nicht schreien können (kein Mund).
Der Widersacher: da bläst er!
Als Silhouette vor dem Hintergrund des entflammten Café Shaandaar, da, das ist der Bursche!
Asrael springt unaufgefordert in Farishtas Hand.
Auch einem Erzengel kann eine Offenbarung zuteilwerden, und als Gibril, für den flüchtigsten aller Augenblicke, Saladins Blick erhascht - da, in diesem unendlichen Bruchteil eines Moments werden ihm die Schleier vom Gesicht gerissen -, sieht er sich mit Chamcha auf den Brickhall Fields wandern, in einer Schwärmerei befangen und die intimsten Geheimnisse seines Liebesspiels mit Alleluja Cone enthüllend - dieselben Geheimnisse, welche später unzählige böse Stimmen ins Telefon flüsterten -, hinter all diesen Stimmen erkennt Gibril nun das vereinende Talent des Widersachers, der guttural und hoch sein konnte, der beleidigte und schmeichelte, der beharrlich wie auch schüchtern war, der prosaisch und - ja! verseschmiedend war. Und endlich, jetzt, sieht Gibril Farishta zum ersten Mal ein, dass der Widersacher nicht einfach Chamchas Züge als Verkleidung angenommen hat, auch ist dies nicht im geringsten ein Fall paranormaler Besessenheit, von Leichenraub durch einen Eindringling aus der Hölle, kurz: dass das Böse Saladin nicht äußerlich ist, sondern irgendeiner Nische seiner wahren Natur entspringt, dass es sich in seinem Ich gleich einem Krebsgeschwür ausgebreitet hat, das Gute, das in ihm war, ausradiert, seinen Geist ausgelöscht hat, und dies mit Hilfe zahlreicher irreführender Finten und Kniffe, zuweilen auch scheinbar zurückweichend; während es tatsächlich, unter der Illusion der Besserung, in ihrem Schutz sozusagen, bösartig weiterwucherte; und jetzt füllt es ihn zweifellos aus, von Saladin ist jetzt nichts mehr übrig außer dem dunklen Feuer des Bösen in seiner Seele, das ihn ebenso mit Haut und Haaren verzehrt, wie das andere Feuer, buntschillernd und allumfassend, die schreiende Stadt verschlingt. Dies sind wahrlich »höchst schauerliche, böse, blut’ge Flammen, nicht wie die hehre Flamme eines gewöhnlichen Feuers«.
Das Feuer ist ein Bogen über dem Himmel. Saladin Chamcha, der Widersacher, der auch Spoono, mein alter Chumch ist, ist im Eingang des Café Shaandaar verschwunden.
Dies ist der Schlund des schwarzen Lochs; der Horizont schließt sich darum, alle anderen Möglichkeiten schwinden, das Universum schrumpft auf diesen einzigen und unwiderstehlichen Punkt. Gibril bläst einen ungeheuren Stoß auf seiner Trompete und stürzt durch die offene Tür.
Das Gebäude, das das Amt für multikulturelle Angelegenheiten von Brickhall beherbergte, war ein einstöckiges purpurnes Backsteinungeheuer mit kugelsicheren Fenstern, eine bunkerartige Schöpfung der sechziger Jahre, als man solche Formen als elegant empfand. Das Gebäude war nicht leicht zu betreten; die Tür war mit einer Sprechanlage ausgerüstet und gab den Weg auf einen schmalen Gang frei, der an einer Seite des Gebäudes entlangführte und vor einer zweiten Tür endete, welche ebenfalls mehrfach gesichert war.
Auch eine Alarmanlage war vorhanden.
Diese Alarmanlage, so sickerte später durch, war ausgeschaltet worden, möglicherweise von den beiden Personen - die eine männlichen, die andere weiblichen Geschlechts - , die sich mit Hilfe eines Schlüssels Zugang verschafft hatten. Von offizieller Seite verlautete, dass diese Personen Sabotage im Sinn gehabt hätten, eine »Insider-Sache«, da eine, die tote Frau, bei der Organisation, um deren Büroräume es sich handelte, beschäftigt war. Die Gründe für das Verbrechen blieben im Dunkeln, und da die Übeltäter in den Flammen starben, war es unwahrscheinlich, dass sie jemals ans Licht kommen würden. Ein »Eigentor« galt als die wahrscheinlichste Erklärung.
Eine tragische Geschichte; die tote Frau war hochschwanger gewesen.
Inspektor Stephen Kinch, der eine Erklärung abgab, in der diese Fakten genannt wurden, zog eine »Verbindung«
zwischen dem Brand im Brickhaller AMKA und jenem im Café Shaandaar, wo der zweite Tote, der Mann, einen halbfesten Wohnsitz hatte. Es sei möglich, dass der Mann der tatsächliche Feuerteufel war und die Frau, seine Geliebte, obwohl sie mit einem anderen Mann verheiratet war und noch immer mit diesem zusammenlebte, nichts weiter als die Gelackmeierte.
Politische Motive - beide Beteiligten waren für ihre radikalen Ansichten wohlbekannt - seien nicht auszuschließen, wobei das Wasser der extrem linken Grüppchen, in denen sie verkehrten, so trübe sei, dass es schwierig würde, je zu einem klaren Bild hinsichtlich der möglichen Motive zu gelangen. Ebenfalls sei möglich, dass die beiden Verbrechen, auch wenn sie von ein und demselben Mann begangen worden waren, unterschiedliche Beweggründe hatten. Möglicherweise war der Mann nur der gedungene Verbrecher, welcher das Shaandaar des Versicherungsgeldes wegen im Auftrag der inzwischen verstorbenen Besitzer niedergebrannt und das AMK A im Auftrag seiner Geliebten angezündet hatte, vielleicht aufgrund irgendeiner internen Vendetta?
Dass das Feuer im AMKA Brandstiftung war, stand außer Zweifel. Über Schreibtische, Papiere, Vorhänge sei etliches Benzin gegossen worden. »Man weiß vielerorts nicht, wie schnell sich ein Benzinfeuer ausbreitet«, erklärte Inspektor Kinch den kritzelnden Journalisten. Die Leichen, die so verbrannt waren, dass zum Zwecke der Identifizierung Zahnbehandlungsunterlagen herangezogen werden mussten, waren im Fotokopierraum aufgefunden worden. »Mehr wissen wir nicht.« Ende.
Ich weiß mehr.
Ich habe jedenfalls noch Fragen. Beispielsweise nach einem nicht näher gekennzeichneten blauen Mercedes-Lieferwagen, der Walcott Roberts’ Wagen und dann Pamela Chamchas MG
verfolgte. Nach den Männern, die aus diesem Lieferwagen stiegen, die Gesichter hinter Halloween-Masken versteckt, und just in dem Augenblick, als Pamela die Haustür öffnete, in die Büroräume des AMKA stürmten. Und danach, was in diesen Büroräumen wirklich geschah, da purpurne Backsteine und kugelsicheres Glas nicht ohne weiteres vom menschlichen Auge durchdrungen werden können. Und schließlich nach dem Verbleib einer roten Plastikmappe sowie der Dokumente, die sie enthielt.
Inspektor Kinch? Sind Sie noch da?
Nein. Er ist weg. Er hat keine Antworten für mich.
Hier kommt Mr. Saladin Chamcha, im Kamelhaarmantel mit dem Seidenkragen. Wie ein kleiner Gauner hetzt er die High Street entlang. Der nämliche, schreckliche Mr. Chamcha, der soeben einen Abend in Gesellschaft der verzweifelten Alleluja Cone verbracht hat, ohne auch nur einen Funken Reue zu verspüren. »Ich seh’ ihm auf den Fuß«, sagte Othello über Jago, »doch das ist Fabel.« Auch ist Chamcha nicht mehr fabelhaft; seine Menschlichkeit ist genügend Form und Erklärung für seine Tat. Er hat zerstört, was er nicht ist und nicht sein kann, hat Rache genommen, Verrat mit Verrat vergolten, und er hat es getan, indem er die Schwäche seines Feindes ausgenutzt, seine ungeschützte Ferse verletzt hat.
Darin liegt Befriedigung. Dennoch, da rennt Mr. Chamcha. Die Welt ist voller Wut und Geschehen. Die Dinge sind in der Schwebe. Ein Gebäude brennt.
Bumba, schlägt sein Herz. Dumba, bumba, dadum.
Jetzt sieht er das Shaandaar in Flammen stehen und kommt schliddernd zum Stehen. Die Brust ist ihm eng geworden - ba-dumba! -, und er hat Schmerzen im linken Arm. Er merkt es nicht, starrt auf das brennende Haus.
Und sieht Gibril Farishta.
Und dreht sich um, und rennt hinein.
»Mishal! Sufyan! Hind!« schreit der böse Mr. Chamcha. Das Erdgeschoß steht noch nicht ganz in Flammen. Er reißt die Tür zur Treppe auf, und ein sengender, grausiger Wind stößt ihn zurück. Drachenhauch, denkt er. Der Treppenabsatz ist ein Flammenmeer, die Flammen reichen vom Boden bis zur Decke.
Keine Möglichkeit, da durchzukommen.
»Jemand da?« brüllt Saladin Chamcha. »Ist da jemand?«
Doch der Drache donnert lauter, als er schreien kann.
Etwas Unsichtbares tritt ihm in die Brust, er taumelt zurück, er sinkt zu Boden, zwischen die leeren Tische. Duum, singt sein Herz. Nimm das. Und das.
Über seinem Kopf ist ein Lärm wie vom Getrappel einer Milliarde Ratten, gespenstische Nager, die einem geisterhaften Fänger folgen. Er blickt nach oben: die Decke steht in Flammen. Er kann nicht aufstehen. Während er hinaufblickt, löst sich ein Teil der Decke, und er sieht, wie ein Balken auf ihn zu fällt. Er kreuzt die Arme in schwacher Selbstverteidigung.
Der Balken heftet ihn an den Boden, bricht ihm beide Arme.
Seine Brust ist voller Schmerzen. Die Welt weicht zurück.
Atmen fällt schwer. Er kann nicht sprechen. Er ist der Mann der Tausend Stimmen, und keine ist mehr da.
Gibril Farishta, Asrael in der Hand, betritt das Café Shaandaar.
Was ist, wenn du gewinnst?
Wenn deine Feinde deiner Gnade ausgeliefert sind: wie verhältst du dich? Kompromisse sind die Versuchung der Schwachen; das ist der Test für die Starken. - »Spoono«, nickt Gibril dem gefallenen Mann zu. »Du hast mich echt reingelegt, ehrlich, du bist mir vielleicht einer.« Und Chamcha, der sieht, was in Gibrils Augen ist, kann das Wissen, das er da sieht, nicht leugnen. »Wa«, fängt er an, und gibt auf. Was hast du vor? Um sie herum fällt Feuer herab: ein grillender goldener Regen. »Warum hast du das getan?« fragt Gibril, tut dann die Frage mit einer Handbewegung ab. »Saublöde Frage. Könnte mich ebenso gut danach erkundigen, was dich hierhergetrieben hat. Saublöd, so was zu tun. Die Leute, wie, Spoono? Verrückte Idioten, weiter nichts.«
Jetzt sind sie auf allen Seiten von Flammenpfützen umgeben.
Bald werden sie eingekreist sein, ausgesetzt auf einer temporären Insel inmitten dieses tödlichen Meers. Chamcha erhält einen zweiten Schlag gegen die Brust und windet sich heftig. Im Angesicht dreier Tode - durch Feuer, durch
»natürliche Ursache« und durch Gibril - müht er sich verzweifelt, versucht zu sprechen, aber es kommt nur ein Krächzen. »Ve. Gir. Mmm.« Vergib mir. »Ha. Mil.« Hab Mitleid.
Die Tische brennen. Weitere Balken fallen herunter. Gibril scheint in Trance gefallen zu sein. Er wiederholt schwach:
»Saublöd, saublöd.«
Ist es möglich, dass das Böse niemals total ist, dass sein Sieg, gleich wie überwältigend, niemals absolut ist?
Betrachten wir diesen gefallenen Mann. Er wollte, ohne Gewissensbisse, einen Mitmenschen um den Verstand bringen, und beutete zu diesem Zweck eine völlig schuldlose Frau aus, zumindest teilweise aufgrund seines unmöglichen und voyeuristischen Verlangens nach ihr. Derselbe Mann jedoch hat, fast ohne zu zögern, in einem tollkühnen Rettungsversuch den Tod riskiert.
Was bedeutet das?
Das Feuer hat die beiden Männer eingeschlossen, überall ist Rauch. Es kann sich nur noch um Sekunden handeln, bis sie übermannt sind. Es gibt dringendere Fragen zu beantworten als die obigen saublöden.
Welche Wahl wird Farishta treffen?
Hat er eine Wahl?
Gibril lässt die Trompete fallen, bückt sich, befreit Saladin aus dem Gefängnis der herabgefallenen Balken und hebt ihn auf.
Chamcha, Rippen wie Arme gebrochen, stöhnt schwach, klingt wie der Weltschöpfungswissenschaftler Dumsday, bevor er eine neue Zunge aus feinstem Hinterteil bekam. »Za. Sch.« Zu spät. Eine kleine Flamme leckt am Saum seines Jacketts.
Beißender schwarzer Rauch erfüllt jeden nur möglichen Raum, kriecht ihm hinter die Augen, betäubt seine Ohren, verstopft Nase und Lungen. Doch da beginnt Gibril Farishta still auszuatmen, lang, ununterbrochen, andauernd, und als sein Atem Richtung Tür weht, schneidet er durch Rauch und Feuer wie ein Messer, und Saladin Chamcha, keuchend und ohnmächtig, ein Maultier in der Brust, scheint zu sehen - wird aber hinterher nie sicher sein, ob dem auch wirklich so war -, wie das Feuer sich vor ihnen wie das Rote Meer teilt, zu dem es geworden ist, und wie auch der Rauch sich teilt, wie ein Vorhang oder ein Schleier, bis vor ihnen ein deutlicher Weg zur Tür liegt, woraufhin Gibril Farishta rasch ausschreitet, Saladin über den Weg der Vergebung hinaus in die heiße Nachtluft trägt, so dass in einer Nacht, da die Stadt im Krieg liegt, in einer Nacht schwer von Feindschaft und Wut, ein kleiner versöhnender Sieg für die Liebe sich zuträgt.
Folgerungen
Mishal Sufyan steht vor dem Shaandaar, als sie
auftauchen, weint um ihre Eltern, wird von Hanif getröstet. Jetzt
bricht Gibril zusammen; Saladin noch immer auf den Armen, verliert
er zu Mishals Füßen das Bewusstsein.
Jetzt sind Mishal und Hanif mit den beiden bewusstlosen Männern in einem Rettungswagen, und während Chamcha eine Sauerstoffmaske auf Nase und Mund hat, redet Gibril, der an nichts Schlimmeres als Erschöpfung leidet, im Schlaf: ein wirres Gefasel von einer Zaubertrompete und dem Feuer, das er, wie Musik, aus ihrer Öffnung blies. Und Mishal, die Chamcha als Teufel in Erinnerung hat und inzwischen nichts mehr für unmöglich hält, wundert sich: »Glaubst du - ?« Doch Hanif ist entschieden, bestimmt. »Auf keinen Fall. Das ist Gibril Farishta, der Schauspieler, erkennst du ihn denn nicht? Der Ärmste spielt wohl nur eine Filmszene nach.« Mishal lässt nicht locker. »Aber Hanif«, und da wird er emphatisch. Mit sanfter Stimme, schließlich ist sie eben erst Waise geworden, bleibt er fest.
»Was hier heute Nacht in Brickhall geschehen ist, ist ein soziopolitisches Phänomen. Sitzen wir nicht irgendeinem verdammten Mystizismus auf. Es geht hier um Geschichte: um ein Ereignis in der Geschichte Großbritanniens. Um den Prozess der Veränderung.«
Sofort ändert sich Gibrils Stimme, ebenso sein Thema. Er erwähnt Pilger und ein totes Baby und wie in »Die zehn Gebote« und ein verfallendes Herrenhaus und einen Baum; denn nach dem reinigenden Feuer träumt er zum allerletzten Mal einen seiner Serienträume; und Hanif sagt: »Hör doch, Mishu, Liebling. Alles nur Schein, nichts weiter.« Er legt den Arm um sie, küsst sie auf die Wange, hält sie fest. Bleib bei mir.
Die Welt ist wirklich. Wir müssen darin leben; wir müssen hier leben, weiterleben.
In dem Moment schreit Farishta, noch immer im Schlaf, so laut er kann.
»Mishal! Komm zurück! Es ist nichts! Mishal, um Himmels willen, kehr um, komm zurück, komm zurück.«