Gerade als Franz im Begriff war, sich auf eine längere Wartezeit einzurichten und gegen alle Regeln der althergebrachten Wiener Anständigkeit die Beine hochzulegen, um sich der Länge nach auf der Bank auszustrecken, ging drüben das Tor auf, und der Professor trat ins Freie. Wie schon beim ersten Mal überquerte er mit etwas wackeligem, aber dennoch einigermaßen forschem Schritt die Straße und hielt direkt auf die Bank zu.
»Bist du eigentlich schon einmal auf die Idee gekommen, zu läuten?«, fragte er. »Das würde einiges erleichtern.«
»Auf die Idee bin ich schon gekommen«, antwortete Franz, der längst aufgesprungen und Freud entgegengeeilt war, »nur hab ich mich nicht getraut, Sie zu stören!«
»Manchmal muss man Menschen eben stören, wenn man sie erreichen will!«, sagte Freud und überreichte Franz ein sorgfältig in Seidenpapier eingewickeltes Päckchen. »Hier hast du deinen Schal zurück: Er ist gewaschen und gebügelt und duftet wie eine Rosenhecke. Die Damen haben ihr Bestes gegeben!«
»Meinen herzlichen Dank und ganz hochachtungsvolle Grüße in den ersten Stock hinauf, Herr Professor! Aber wollen Sie sich nicht setzen?«, sagte Franz mit einer einladenden Handbewegung. »Nein danke«, sagte Freud und warf einen verstohlenen Blick zum Wohnzimmerfenster im ersten Stock, in dem sich der klare Frühlingshimmel spiegelte, »wir machen heute einen Spaziergang!«
Sie stiegen die Berggasse hinauf, hielten sich an der Währingerstraße links, gingen im Bogen um die Votivkirche herum und weiter in Richtung Rathaus. Die Luft war mild, seit Wochen hatte es nicht mehr geschneit, und im Votivpark blühte viel zu früh der Flieder. Ein leichter Föhnwind war aufgekommen und trieb Unmengen von Flugzetteln, die zur sonntäglichen Wahl aufriefen, durch die Straßen. Ja zu Österreich stand darauf und Rot-Weiß-Rot – bis in den Tod! Franz hatte sich das Päckchen mit dem Schal unters Hemd gesteckt, wo es ihm leise knisternd den Bauch wärmte. Da hatten also die Damen ihr Bestes gegeben, dachte er und versuchte, seinen Stolz nicht wie eine Laterne vor sich her zu tragen. Immer wieder blickte er aus den Augenwinkeln zum Professor, der mit kleinen Schritten neben ihm ging. Sein Stock klackerte in gleichmäßigem Rhythmus aufs Pflaster, als müsste er sich den Weg erst ertasten. Dabei atmete er flach und unregelmäßig und entließ jedes Mal beim Ausatmen ein leise zischendes Geräusch. Am liebsten hätte Franz ein bisschen gekichert. Oder gleich laut aufgelacht. Eigentlich war er sich in der Nähe sogenannter »gescheiter Leute« immer ein bisschen linkisch und fehl am Platz vorgekommen. Mit dem Professor aber war das anders. Dieser alte Herr war nicht einfach nur gescheit. Am See galt man ja schon als belesen, wenn man die Überschriften des Gemeindeblättchens oder den Fahrplan im Timelkamer Bahnhof einigermaßen entziffern konnte. Und auch die vielen Doktoren und Studienräte aus Wien, München oder Salzburg, die sich im Sommer scharenweise ans Ufer legten, um sich ihre weißen Fischbäuche rosig aufbrennen zu lassen, erwiesen sich spätestens nach ein paar Litern Bier beim Goldenen Leopold als im Grunde genommen doch recht einfache, um nicht zu sagen geradezu geistlos vor sich hin fabulierende Gemüter. Der Professor hingegen war dermaßen klug, dass er sich die Bücher, die er lesen wollte, gleich auch selber schreiben konnte. Genau so ist das, dachte Franz und lächelte in sich hinein, während sie im Schatten des langgestreckten Universitätsgebäudes dahingingen. Aber da war noch etwas anderes. Ein einzelner Gedanke, der jäh auftauchte wie ein kleines Erschrecken und sich tief in seinem Inneren schnell zu einem anhaltenden Gefühl ausbreitete. Einem Gefühl, das da drinnen jetzt seinen Platz beanspruchte und sich – so viel war klar – nicht mehr so leicht verscheuchen lassen würde: Er hatte Mitleid mit dem Professor. Vieles an ihm rührte ihn irgendwie. Der schiefe Kiefer zum Beispiel. Oder der immerzu leicht gebeugte Rücken. Die schmalen, eckigen Schultern. Die alten Finger, die sich fleckig und dürr am Knauf seines Gehstocks festhielten. Dieses Altwerden ist doch eigentlich ein einziges Elend, dachte Franz wehmütig und gleichzeitig ein bisschen wütend. Was nützte die ganze Gescheitheit, wenn einen die Zeit ja doch irgendwann erwischte?
Vor dem Rathaus hatten sich Kinder und Jugendliche zu kleinen Grüppchen versammelt. Sie lungerten an den Ecken, blockierten Arm in Arm die Gehsteige oder liefen lachend und schreiend über den Platz und schwenkten ihre Mützen und Hakenkreuzfähnchen. Vereinzelt standen Polizisten herum und schauten dem Treiben mit auf dem Rücken verschränkten Armen zu. Ein Volksschulbub in kurzen Hosen krähte »Sieg Heil!« und ließ sich mit ausgestreckten Armen und Beinen rücklings ins Gras fallen. Über die Ringstraße brauste der Freitagnachmittagsverkehr. Motoren knatterten, Pferdehufe rappelten übers Pflaster, Fiakerkutscher schnalzten mit den Zungen und ließen ihre dünnen Peitschen durch die Luft zischen. Die Gehsteige waren bevölkert mit durcheinanderplappernden Menschen. Es war warm, die Sonne schien, ein angenehmes Lüftchen wehte. Es ging ins Wochenende, es ging voran, es ging um die Zukunft, es tat sich was in der Stadt, im Land, draußen in der Welt. Ein Diesellastwagen mit einer Gruppe von Arbeitern auf der Ladefläche rumpelte langsam vorüber. Die Männer schwenkten ihre Hüte und schrien im Chor Parolen gegen Hitler und für die österreichische Arbeiterschaft. Einer der Männer sprang vom fahrenden Wagen seiner Schiebermütze hinterher, die er hoch in die Luft geworfen hatte und die vom Wind davongetragen worden war. Er kam ungeschickt auf, stürzte und blieb regungslos auf der Seite liegen. Sofort bildete sich eine kleine Menschenmenge um ihn. Der Wagen fuhr weiter.
Franz und der Professor ließen das Burgtheater links liegen und gingen in den Volksgarten. Auch hier blühte überall der Flieder. Die hohen Hecken und die Bäume dämpften den Straßenlärm, und von der dicht mit Gras überwucherten Erde stieg eine kühle Feuchtigkeit auf. Franz war noch nie hier gewesen. Gerne wäre er ein bisschen herumgegangen und hätte sich umgesehen, und noch viel lieber wäre er insgeheim mit dem Professor unter einen der Büsche gekrochen, um in der grünen Blätterdämmerung ungestört alles Mögliche zu besprechen. Doch Freud steuerte zielsicher auf das gegenüberliegende Ende des Parks zu, wo sie in einer Heckennische unter einer alten Kastanie eine leere Bank fanden und sich setzten. Vorsichtig griff Franz in seine Brusttasche und zog eine wunderschöne Hoyo de Monterrey heraus. Freud nahm die Zigarre entgegen, hielt sie sich vors Gesicht und betrachtete eine Weile ihre Silhouette, ehe er sie in den Mund steckte und anzündete. Während des Spaziergangs hatten sie kein Wort gesprochen, und auch jetzt saßen sie schweigend nebeneinander. Der Professor paffte kleine Rauchwolken in die Luft und knarrte mit dem Kiefer. Irgendwo weit weg brüllte jemand »Heil Hitler!«. Ein Juchzer war zu hören. Ein helles Gelächter. Dann wieder die gedämpften Geräusche des Straßenverkehrs.
Mit einem unterdrückten Ächzen lehnte sich der Professor zurück, blinzelte eine Weile in das vom Sonnenlicht durchblitzte Blättergewirr hinauf und sagte schließlich: »Du lässt dich unsere Zusammenkünfte ja einiges kosten!«
»Wie bitte, Herr Professor?«
»Eine Zigarre dieser Qualität ist nicht gerade preiswert.«
»Dafür ist sie an den fruchtbaren Ufern des Flusses San Juan y Martínez von tapferen Männern geerntet und von schönen Frauen in zarter Handarbeit gerollt worden«, sagte Franz und nickte ernst.
»Wobei sich mir in diesem Zusammenhang nicht ganz erschließen will, warum ausgerechnet die Tapferkeit so eine herausragende Eigenschaft kubanischer Tabakbauern sein soll«, widersetzte Freud. »Doch das nur nebenbei. Wenn wir aber andererseits schon von schönen Frauen sprechen: Ich hoffe, dass deine Bemühungen, das weibliche Geschlecht betreffend, zum Erfolg geführt haben. Wie auch immer dieser Erfolg ausgefallen sein mag.«
»Genau deswegen wollte ich mit Ihnen sprechen«, sagte Franz bitter. »Meine Bemühungen haben nämlich zu überhaupt nichts geführt. Obwohl ich mir da wiederum gar nicht so sicher bin. Ich weiß es einfach nicht. Im Grunde genommen weiß ich überhaupt nichts!«
»Immerhin ist diese Erkenntnis der erste Schritt im steilen Stiegenhaus zur Weisheit«, erwiderte Freud. »Aber lass uns erst einmal versuchen, ein bisschen Licht in die Verdunkelungen zu bringen: Hast du sie gesucht?«
»Ja, Herr Professor.«
»Hast du sie gefunden?«
»Ja, Herr Professor!«
»Hast du sie gefragt, wie sie heißt?«
»Ja, Herr Professor!«
»Soll ich dir vielleicht jedes Wort einzeln aus der Großhirnrinde pressen?«
»Nein, Herr Professor. Sie heißt Anezka!«
»Böhmin?«
»Ja. Aus einem an den Hügel Viničný wie an einen dunklen Liebhaber geschmiegten, wunderschönen Dorf namens Dobrovice im Landkreis Mladá Boleslav.«
»Ein Hügel wie ein dunkler Liebhaber?«
Franz nickte traurig. Freud kramte ein Streichholz aus seiner Schachtel, entzündete es und hielt es behutsam an die Glutfläche, die etwas unregelmäßig zu geraten drohte.
»Die böhmische Küche ist ja wirklich ganz wunderbar«, sagte er und betrachtete versonnen seine nun wieder gleichmäßig glühende Hoyo.
»Ja, wunderbar …«, murmelte Franz. Gegenüber, auf der anderen Seite des immer noch winterkahlen Rosenbeetes, gingen zwei verwitterte Damen vorüber und warfen spitze Blicke auf die Männer, die da so selbstverständlich die gewohnheitsrechtlich eigentlich ihnen zustehende Bank besetzt hielten. Aus der entgegengesetzten Richtung kam ein Parkwächter herangeschlendert. Er grüßte, indem er kurz eine Hand an seinen Mützenschirm hob, und fing an, mit einem dünnen Stecken in dem Mistkübel neben der Bank herumzustochern.
Die Herren mögen entschuldigen, meinte er nebenbei, es sei halt wegen der Bomben. Und natürlich, fügte er hinzu, wegen all der anderen von der Stadtverwaltung nicht tolerierbaren Gegenstände.
Um welche Gegenstände es sich denn dabei genau handle, wollte Freud wissen.
Der Parkwächter zuckte mit den Schultern. Das könne man nicht sagen, meinte er, allerhöchstens werde man es herausfinden, wenn man einen dieser Gegenstände fände.
Warum man denn ausgerechnet in den Volksgartenmistkübeln verdächtige Gegenstände und Bomben zu finden glaube, fragte Freud.
Warum denn nicht, gab der Parkwächter zu bedenken, warum denn nicht ausgerechnet und gerade in den Volksgartenmistkübeln? Schließlich könne man in so ein Bombenlegerhirn ja nicht hineinschauen. Aber jetzt müsse man schon verzeihen, der Volksgarten sei schließlich nicht klein und Mistkübeln gäbe es in Wien wie Sand am Meer. Einen angenehmen Tag, die Herren, auf Wiedersehen.
»Gut«, sagte Freud, nachdem der Wächter hinter der Hecke verschwunden war. »Und was genau war jetzt mit dir und dieser Anezka?«
»Ich habe sie berührt«, sagte Franz. »Und es war das Schönste, was ich je erlebt habe!«
»Das freut mich. Ich hoffe, sie hat dich ebenfalls berührt?«
»Natürlich! Und wie! Überall! Und jede Stelle, die sie berührt hat, brennt noch immer! Mein ganzer Körper brennt wie Zunder!«
Freud tippte nachdenklich mit dem Mittelfinger an seine Zigarre. »Die Liebe ist ein Flächenbrand, den niemand löschen will und löschen kann«, sagte er und sah zu, wie die Ascheflöckchen langsam auf den Kies hinuntertrudelten.
»Ich schon!«, rief Franz aus und sprang mit einem wilden Satz von der Bank. »Ich kann und ich will ihn löschen! Ich möchte doch nicht als Aschehäufchen im Hinterzimmer einer Trafik enden!«
»Setz dich wieder hin und hör auf, in aller Öffentlichkeit herumzuschreien!«, befahl Freud mit plötzlicher Schärfe. Franz gehorchte. »Und jetzt noch einmal ganz in Ruhe: Du hast sie also wiedergesehen. Du weißt, wie sie heißt. Du weißt, woher sie kommt. Ihr habt euch berührt. Und weiter?«
»Danach war sie verschwunden.«
»Schon wieder?«
»Das ist es ja: Sie war einfach weg! Nicht einmal die Frauen im gelben Haus haben mir sagen können, wo sie ist.«
»Die Frauen im gelben Haus?«
»Alles Böhminnen. Außer der alten Frau mit ihrem Schwein.«
Der Professor hob seinen Blick gegen den Himmel, als würde er sich von dem strahlenden Blau dort oben irgendeinen brauchbaren Zuspruch erwarten. Aber da kam nichts. Mit einer müden Bewegung nahm er seinen Hut ab und setzte ihn auf eines seiner Knie.
»Wenn das Schwein für den weiteren Verlauf der Geschichte keine nennenswerte Bedeutung hat, möchte ich dich bitten, fortzufahren und zum Ende zu kommen, und zwar noch bevor die Welt untergeht, was, wie wir wissen, demnächst geschehen kann!«
»Entschuldigung, Herr Professor«, sagte Franz zerknirscht. »Sie war also verschwunden. Aber nach ein paar Wochen hab ich sie wiedergefunden. Ich hab mich am gelben Haus hinter einen Schutthaufen gesetzt und sie abgepasst, dann bin ich ihr nachgegangen. Bis in den Prater. Bis in die Grotte. Die Grotte ist ein Kabarett. Oder ein Tanzlokal. Oder beides. Jedenfalls außen grün, innen rot; verraucht, stickig, eine Unmenge von Kerzen und so weiter. Ich hab was zu trinken bestellt und als Erstes ist Monsieur de Caballé aufgetreten.«
»Wer?«
»In Wirklichkeit heißt er Heinzi. Er erzählt Witze und macht Hitler zum Hund. Die Kellnerin hat ihn an einer Leine abgeführt, und die Musik ist losgegangen.«
»Was für eine Musik?«
»Weiß nicht. Ziemlich rhythmisch, irgendwie auch traurig. Jedenfalls ist dann Anezka aufgetreten.«
»Na endlich.«
»Ja. Aber eigentlich war es gar nicht Anezka, sondern eine Indianerin namens N’tschina. Beziehungsweise es war natürlich schon Anezka, nur eben in einem Indianerkostüm, mit Perücke und Feder und allem Drum und Dran. Und sie hat getanzt. Allerdings war das kein normaler Tanz. Es war ein ziemlich … aufregender Tanz.«
»Könntest du dich vielleicht etwas genauer ausdrücken?«
»Sie hat sich ausgezogen. Sie hat ihren Bauch, ihren Busen und ihren Hintern ins Scheinwerferlicht gehalten.«
»Und ich nehme an, das war das Schönste, das du in deinem Leben je gesehen hast?«
»Ja, das war es. Obwohl ich das ja alles schon gekannt habe. Das Fürchterliche daran ist nur, dass diesmal noch ein Haufen anderer Männer dabei war! Ich bin jedenfalls gegangen und hab mich vor dem Eingang auf eine Mülltonne gesetzt. Später ist sie auch rausgekommen. Allerdings nicht alleine. Monsieur de Caballé war bei ihr!«
»Heinzi?«
»Ja. Er hat ein Messer aus seiner Hose gezogen, hat sich aber gleich wieder beruhigt und mich in Frieden gelassen. Wir haben geredet, Anezka und ich, und sie hat mich währenddessen so kalt angesehen. Dafür hab ich sie gehasst. Gleichzeitig hat sie mir leidgetan. Weil sie vor diesen Männern ihren Hintern ins Licht halten muss. Ich selbst hab mir aber noch viel mehr leidgetan. Und da hab ich gegen die Tonne getreten und Anezka beleidigt, und sie hat mir einen Kuss gegeben und ist gegangen, und ein Falter ist vom Himmel gefallen und alles, alles, alles war vorbei.«
Der Professor schloss die Augen und nahm einen tiefen Zug von der Hoyo. Mit der anderen Hand fasste er sich ans Kinn und bewegte den Unterkiefer gegen den Druck seiner Finger vorsichtig nach beiden Seiten. Plötzlich ließ er seine Hand in den Schoß fallen und drehte den Kopf zu Franz.
»Liebst du sie?«
»Wie bitte, Herr Professor?«
»Liebst du dieses böhmische Pratermädel?«
»Ha!«, lachte Franz hell auf und schlug sich mit der Hand klatschend auf den Oberschenkel. Und gleich noch einmal hinterher: »Ha!« Aber natürlich!, wollte er sagen. Aber selbstverständlich! wollte er dem Professor mit einer plötzlich in ihm aufsteigenden, fast beängstigenden Fröhlichkeit ins Gesicht schreien, in den Volksgarten und in die ganze Welt hinausbrüllen. Ja, was war das überhaupt für eine Frage? Was sollte das denn, bitteschön, für eine überflüssige, idiotische, an den Haaren herbeigezogene und alles in allem völlig blödsinnige Frage sein! Natürlich liebte er sie! Selbstverständlich liebte er sie! Er liebte, liebte, liebte sie! Mehr als alles andere in der Welt! Mehr sogar als das eigene Herz und das eigene Blut und das eigene Leben! Ungefähr das und noch viel mehr wollte Franz dem Professor entgegenschreien. Doch merkwürdigerweise brachte er nichts davon heraus. Kein Wort. Keine Silbe. Stattdessen blieb er einfach stumm. Und auch ein weiteres Lachen, das ihn gerade eben noch im Hals gekitzelt hatte, war einfach stecken geblieben und löste sich jetzt nur langsam auf, wie eines dieser gelben Brausezuckerln, die die alte Frau Seidlmeier in ihrem winzigen Nußdorfer Lebensmittelgeschäft den Kindern manchmal zugesteckt hatte und die erst so schön britzelten im Mund, dann aber recht schnell nichts als verklebte Zähne und einen bitteren Nachgeschmack hinterließen. Franz ließ den Kopf sinken.
»Ich weiß es nicht«, sagte er leise. »Eigentlich war ich mir sicher. Aber jetzt weiß ich es nicht mehr.«
Freud nickte langsam. Wieder bemerkte Franz, wie zerbrechlich er war. Ein kleiner, eckiger Totenkopf, der nur noch wie durch ein Wunder auf dem dürren Hals zu balancieren schien. In seinem Bart hatten sich ein paar Ascheflöckchen verfangen. Am liebsten hätte Franz sich nach vorne gebeugt und sie eins nach dem anderen herausgezupft.
»Also gut«, sagte Freud. »Ich schlage vor, dass wir jetzt erst einmal die Begrifflichkeiten klären. Ich vermute, wenn wir von deiner Liebe sprechen, meinen wir in Wahrheit deine Libido.«
»Meine was?«
»Deine Libido. Das ist die Kraft, die Menschen ab einem gewissen Alter antreibt. Sie schafft ebenso viel Freude wie Leid und hat, etwas vereinfacht gesprochen, bei Männern ihren Sitz in der Hose.«
»Auch bei Ihnen?«
»Meine Libido ist längst überwunden«, seufzte der Professor.
Plötzlich raschelte es neben der Bank. Im nächsten Moment kam ein kleiner Vogel aus der Hecke geflattert und setzte sich direkt vor die Füße der beiden Männer in den Kies. Er hatte den Körperbau eines Sperlings, doch sein Gefieder sah aus wie gebleicht, mit einigen fahl-gelblichen Flecken an der Seite. Seine Augen waren rot. Eine Weile saß der Vogel reglos da, dann breitete er die Flügel aus, duckte sich und fing an, sich im Kies zu wälzen. Dabei wackelte er mit dem Schwanz und schüttelte sein Gefieder. Genauso plötzlich, wie er damit begonnen hatte, hörte er auch wieder auf. Mit zwei Hüpfern bewegte er sich auf die Bank zu, verharrte für einen Moment, flog schließlich auf und zog in einem weiten Bogen in Richtung Schottenring davon.
»Jetzt sind sogar schon die Spatzen verrückt geworden«, sagte Franz und wischte mit dem Fuß über den Kies.
»Das war der Pestvogel«, murmelte Freud. »Es heißt, dass er immer nur vor dem Ausbruch von Seuchen, Kriegen und anderen Katastrophen auftaucht.« Die Zigarre in seiner Hand knisterte. Ein leichter Wind war aufgekommen und rauschte in den Baumkronen.
»Wird es denn eine Katastrophe geben, Herr Professor?«
»Ja«, sagte Freud und blickte dem Pestvogel hinterher, der längst irgendwo hinter dem Burgtheater verschwunden war.
»Herr Professor, ich glaube, ich bin ein riesengroßer Depp«, sagte Franz nach ein paar Augenblicken angestrengt nachdenklichen Schweigens. »Ein von hinten bis vorne verblödeter oberösterreichischer Schafsschädel.«
»Gratuliere, die Einsicht ist die Hebamme der Besserung!«
»Ich habe mich nämlich gerade gefragt, was meine dummen, kleinen Sorgen überhaupt für eine Berechtigung haben neben diesen ganzen verrückten Weltgeschehnissen.«
»Ich glaube, da kann ich dich beruhigen. Erstens sind Sorgen in Bezug auf Frauen zwar meistens dumm, aber selten klein. Und zweitens könnte man die Frage auch andersrum stellen: Was hat dieses ganze verrückte Weltgeschehen überhaupt für eine Berechtigung neben deinen Sorgen?«
»Sie machen sich lustig über mich, Herr Professor!«
»Nein, das mache ich nicht!«, widersetzte Freud und erhob statt des Zeigefingers energisch seine Zigarre »Das derzeitige Weltgeschehen ist nichts weiter als ein Tumor, ein Geschwür, eine schwärende, stinkende Pestbeule, die bald platzen und ihren ekeligen Inhalt über die gesamte westliche Zivilisation entleeren wird. Das ist zugegeben etwas drastisch und bildhaft formuliert, nichtsdestotrotz aber die Wahrheit, mein junger Freund!«
Franz spürte einen merkwürdigen Stolz in sich aufsteigen, der irgendwo hinter seiner Stirn zerplatzte und wie ein warmer Schauer in seinen Kopf hineinrieselte. Er war jetzt der Junge Freund des Professors.
»Die Wahrheit …«, wiederholte er mit einem nachdenklichen Kopfwiegen. »Legen sich die Leute auf Ihre Couch, um solche Wahrheiten zu hören?«
»Ach was«, sagte Freud und betrachtete mürrisch den kurzen Rest seiner Hoyo. »Würde man immer nur die Wahrheit sagen, wären die Ordinationen staubig und leer wie kleine Wüsten. Die Wahrheit spielt eine geringere Rolle, als man denkt. Das gilt für das Leben wie für die Analyse. Die Patienten erzählen, was ihnen einfällt, und ich höre zu. Manchmal ist es auch umgekehrt: Ich erzähle, was mir einfällt, und die Patienten hören zu. Wir reden und schweigen und schweigen und reden und ganz nebenbei erforschen wir gemeinsam die Nachtseite der Seele.«
»Und wie stellen Sie das an?«
»Wir tasten uns mühselig durch die Dunkelheit, um wenigstens hie und da auf etwas Brauchbares zu stoßen.«
»Und dafür müssen sich die Leute hinlegen?«
»Es ginge auch im Stehen, aber im Liegen ist es gemütlicher.«
»Ich verstehe«, sagte Franz. »Das erinnert mich irgendwie an früher. Manchmal hab ich mich im Sommer mitten in der Nacht aus der Hütte geschlichen, um mit ein paar Freunden in den Wald zu gehen. Jeder hat eine Kerze dabeigehabt, und die Bäume haben geflackert wie riesige Geister. Eine Weile sind wir dann so im Dunkeln herumgestolpert, aber was wirklich Interessantes haben wir eigentlich nie getroffen. Manchmal ist einer auf eine Nacktschnecke getreten. Aber das war es dann auch schon, und wir sind wieder nach Hause gegangen.«
»Ja, so war das«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu. »Das waren noch andere Zeiten, damals hat man sich nur vor Bäumen gefürchtet. Aber was begegnet Ihnen und Ihren Patienten denn so im Dunkeln, Herr Professor?«
»Im besten Falle Träume«, sagte Freud. Er legte den verbliebenen Zigarrenstumpen neben sich auf der Armlehne ab und sah zu, wie er ein letztes Mal aufglomm, bevor er endgültig erlosch. Vorsichtig nahm er die kleine Leiche und warf sie in den eben noch vom Parkwächter durchstocherten Mistkübel.
»Aber was ist denn jetzt mit mir?«, rief Franz aus. »Ich kann doch nicht bis an mein Lebensende in irgendwelchen Dunkelheiten herumstolpern und auf Nacktschnecken oder Träume treten! Sie haben ja gut reden, Sie haben die Libido längst überwunden, aber ich muss mich noch damit herumschlagen! Meine Hose platzt bald, und ich weiß nicht mehr weiter. Ich weiß nicht, ob ich Anezka wiedersehen soll. Ich weiß nicht, ob ich sie wiedersehen will. Ich weiß nicht einmal, ob ich sie wiedersehen kann. Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, ich weiß es nicht!«
Wieder war er aufgesprungen und hatte mehrmals die Strecke zwischen dem Rosenbeet und der Bank durchmessen. »Herrschaftszeitennocheinmal, was soll ich denn bloß machen?«, fragte er schließlich mit ermatteter Stimme und ließ sich wieder zurück auf die Bank fallen. »Helfen Sie mir doch, Herr Professor!«
Freud hob seine Hände, betrachtete sie einen Augenblick im Sonnenlicht und ließ sie wieder in seinen Schoß sinken.
»Ich glaube, ich kann dir da nicht helfen«, sagte er. »Die richtige Frau zu finden ist eine der schwierigsten Aufgaben in unserer Zivilisation. Und jeder von uns muss sie vollkommen alleine bewältigen. Wir kommen alleine zur Welt, und wir sterben alleine. Doch gegenüber der Einsamkeit, die wir empfinden, wenn wir zum ersten Mal vor einer schönen Frau stehen, wirken Geburt und Tod geradezu wie gesellschaftliche Großereignise. In den entscheidenden Dingen sind wir von Anfang an auf uns selbst gestellt. Wir müssen uns immer wieder fragen, was wir möchten und wohin wir wollen. Anders gesagt: Du musst deinen eigenen Kopf bemühen. Und wenn dir der keine Antworten gibt, frag dein Herz!«
»Von meinem Kopf ist nicht viel zu erwarten«, murmelte Franz. »Und mein Herz liegt zerschlagen in einem Haus in der Rotensterngasse.«
»Es wird dir nichts anderes übrigbleiben. Wenn du weiterhin den Ratschlag alter Männer einholst, bekommst du auch weiterhin keine befriedigenden Antworten. Und wenn du den Inhalt deiner Hose befragst, wird die Antwort zwar eindeutig sein, aber zu nichts als Verwirrungen führen!«
»Hm«, meinte Franz und legte eine Hand an seine Stirn, um das wilde Durcheinander seiner Gedanken dahinter ein wenig einzudämmen. »Könnte es vielleicht sein, dass Ihre Couchmethode nichts anderes macht, als die Leute von ihren ausgelatschten, aber gemütlichen Wegen abzudrängeln, um sie auf einen völlig unbekannten Steinacker zu schicken, wo sie sich mühselig ihren Weg suchen müssen, von dem sie nicht die geringste Ahnung haben, wie er aussieht, wie weit er geht und ob er überhaupt zu irgendeinem Ziel führt?«
Freud hob die Augenbrauen und öffnete langsam den Mund.
»Könnte das sein?«, wiederholte Franz. Freud schluckte.
»Warum sehen Sie mich denn so komisch an, Herr Professor?«
»Wie sehe ich dich denn an?«
»Ich weiß nicht. Als ob ich etwas unglaublich Blödsinniges gesagt hätte.«
»Nein, das hast du nicht. Das hast du ganz und gar nicht.«
Freud versuchte ein Lächeln, strich sich dann zerstreut mit den Fingern durch die Haare, nahm seinen Hut vom Knie, setzte ihn auf den Kopf und erhob sich von der Bank. »Ich glaube, für heute haben wir genug geredet. Bald geht die Sonne unter. Und wer kann schon sagen, ob sie jemals wieder aufgeht.«
Mit erstaunlich schnellen Schritten, zu denen sein Gehstock den Takt in den Kies schlug, ging der Professor in Richtung Ringstraße zurück. Eine Weile blieb Franz noch sitzen. Erst als der graue Hut endgültig hinter der Hecke verschwunden war, sprang er auf und rannte hinterher.
In der Berggasse verabschiedeten sie sich mit einem kurzen Händedruck. Freuds Finger fühlten sich trocken und leicht an. Wie Fischgräten, dachte Franz, wie die Gräten der vom Wurm befallenen Karpfen, die statt auf den Tellern der Wirtshausgäste bei den Katzen gelandet waren und deren Gerippe einem in den Händen zerbröselte, wenn man sie nach ein paar Wochen unter den havarierten Fischerbooten hervorzog.
Nachdem der Professor im Haus verschwunden war, legte Franz sein Ohr an die Tür und schloss die Augen. Das Holz war immer noch sonnenwarm, und drinnen verhallten Freuds Schritte im Stiegenhaus. Als er die Augen wieder öffnete und von der Tür zurücktrat, tat er die ersten Schritte noch ein bisschen zögerlich und vorsichtig. Aber bald schon marschierte er entschieden los, und zwar um die Ecke in das kleine Wirtshaus in der Türkengasse. Auf ein Gulasch und ein Seidel Bier.
Am Abend darauf saß der Rote Egon in seiner Souterrainwohnung in der Schwarzspanierstraße und lauschte, tief über sein Radio gebeugt, der Stimme Kurt Schuschniggs, aus der alle Widerstandskraft gewichen war. Es war die letzte Rede des Kanzlers an das Volk, das schon längst nicht mehr seines war. Von Hitlers massiven Gewaltandrohungen gezwungen, sagte er die Volksabstimmung für ein freies Österreich ab und gab seinen Rücktritt bekannt. Um bei der nun schon fast sicheren Grenzüberquerung der deutschen Truppen kein Blutbad zu provozieren, hatte er das Bundesheer angewiesen, keine Gegenwehr zu leisten. Er schloss die Ansprache mit den Worten: »So nehme ich denn in dieser Stunde Abschied vom österreichischen Volke mit einem Gruß, der tief aus meinem Herzen kommt: Gott schütze Österreich!« Kaum hatte er seine Rede beendet, ging auf den Straßen ein haltloses Gebrüll los. »Ein Volk! Ein Reich! Ein Führer!«, »Juda verrecke!« oder einfach nur unartikuliertes Schreien, Singen und Heulen. Der Rote Egon schaltete das Radio aus. Durch das staubtrübe Fensterchen, das direkt auf den Gehsteig hinausging, sah er die Beine der aufgescheuchten Wiener und Wienerinnen vorbeihasten, laufen, rennen. Er stand auf und trat zu seinem Kleiderkasten hinüber. Für einen Moment betrachtete er seine hagere Gestalt im Spiegelbild der angedunkelten Glastür, zupfte seinen Krawattenknopf zurecht und zog mit ein bisschen Spucke auf der Zeigefingerspitze seine linke Augenbraue nach. Dann öffnete er den Kasten, holte eine zu einem dicken Ballen zusammengerollte Stoffbahn sowie einen Hammer und ein paar Nägel heraus und verließ seine Wohnung, ohne abzuschließen. Im Stiegenhaus begegneten ihm die beiden Buben des Straßenbahnerehepaars aus dem zweiten Stock. Ihre kurzen Hosen schlackerten über den Knien, während sie mit spitzen Schreien auf die Straße hinausstürzten. Ein wenig außer Atem stieg der Rote Egon bis in den letzten Stock hinauf, gelangte über eine niedrige Tür auf den Dachboden, wo er mit der Fußspitze an einen leblosen Taubenkörper stieß. Er unterdrückte ein kleines Ekelgefühl und kletterte über eine Holzleiter durch eine Luke aufs Dach. Eine staubige Windböe schlug ihm ins Gesicht, und für einen Moment musste er die Augen schließen. Der Straßenlärm wogte gedämpft herauf, die einzelnen Stimmen von zehntausenden Wiener Bürgern vereinigten sich zu einem beständig an- und abschwellenden Ton, einer Art sirenenhaftem Heulen, unter dem die Stadt zu vibrieren schien. Vorsichtig ging er über die leichte Schräge bis ganz nach vorne an den Dachrand und setzte sich. Mit wenigen Hammerschlägen befestigte er ein Ende der Stoffbahn am geteerten Dachbelag, anschließend ließ er die Rolle einfach über die Regenrinne gleiten und hörte zufrieden, wie unter ihm die fünf Meter Stoff gegen die Hauswand und gegen das Dachgeschossfenster der unlängst verstorbenen Frau Hinterberger klatschten. Er steckte den Hammer und die restlichen Nägel sorgfältig in die Innentasche seines Sakkos, rutschte noch ein bisschen weiter nach vorne, schob seine Beine über die Dachkante und ließ sie über dem Gebrause der Schwarzspanierstraße baumeln. Aus einem offenen Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite drang der Duft von gebratenem Fleisch. Auf einem Schornstein hockten zwei Tauben. Hin und wieder richtete sich eine von ihnen auf und trippelte kurz im Kreis, während ihr Gefieder vom Wind zu einem luftigen Federnbausch aufgerichtet wurde. Der Rote Egon holte ein zerknittertes Päckchen Filterlose aus seiner Hosentasche, nahm eine heraus, legte sie sich auf die offene Handfläche und betrachtete sie eine Weile. Dann steckte er sie in den Mund und zündete sie an. Er inhalierte tief und mit geschlossenen Augen. Als nach genau sieben Zügen die Dachluke aufflog und drei Männer und eine Frau mit Hakenkreuzbinden, kurzen Totschlägern und mit vor Mordlust verzerrten Gesichtern aufs Dach gekrochen kamen, drehte er sich nicht einmal um. Er verlagerte sein Gewicht nach vorne, schnippte die Filterlose in die Tiefe und stürzte ihr hinterher.
»Hast du das gelesen?«, fragte Otto Trsnjek düster und schwenkte die Morgenausgabe der Reichspost über seinem Kopf. Franz schüttelte den Kopf. Er war in den vergangenen Tagen kaum zum Zeitunglesen gekommen, beziehungsweise hatte sich nicht sonderlich darum bemüht. Die Geschehnisse der letzten Zeit schwirrten wie ein Schwarm aufgeschreckter Fliegen in seinem Kopf herum, und kaum hatte er eine Zeitung aufgeschlagen, begannen sich die Buchstaben vom Papier abzuheben und in einem unverständlichen Durcheinander aufzulösen.
»Dann setz dich hin und höre zu!«, befahl der Trafikant. Franz unterbrach seine Arbeit, die darin bestand, die Zeitungen des Vortages aus den Regalen zu räumen und sie durch die aktuellen, nach frischer Druckerschwärze duftenden, zu ersetzen. Schnell stopfte er die Ausgabe des Bauernbündler, der wie fast alle Zeitungen in diesen Tagen einen beeindruckend abfotografierten Adolf Hitler auf dem Titelblatt trug, in die passende Stellage und ließ sich auf seinem Hocker nieder. Der Trafikant breitete die Reichspost vor sich aus und fing an zu lesen: »Feiger Anschlag vereitelt! Wie erst gestern bekannt wurde, konnte durch das mutige Eingreifen einiger Wiener und Wienerinnen ein hinterhältiger Anschlag auf die neue Geistesfreiheit unseres Reiches vereitelt werden …«
»Ha!«, rief Otto Trsnjek aus und schlug mit der flachen Hand auf die Verkaufstheke. »Hast du gehört: ›Neue Geistesfreiheit!‹« Noch einmal holte er aus, um seine Hand aufs Pult sausen zu lassen, beherrschte sich aber im letzten Moment und fuhr mit heiserer Stimme fort: »Der in gewissen Kreisen als ›Roter Egon‹ bekannte und berüchtigte Bolschewist und Arbeitslose Hubert Panstingl gelangte in den Abendstunden auf das Dach des von ihm bewohnten Mietshauses in der Schwarzspanierstraße. Dort konnte er ungestört zur Umsetzung seines Plans schreiten. Er entrollte ein offenbar eigenhändig hergestelltes Transparent, das mit seinen hier nicht wiederzugebenden Schmierereien auf verabscheuungswürdige Weise unser Reich, unser Volk und unsere hoffnungsfrohe Heimatstadt verunglimpfen sollte.«
Otto Trsnjek packte die Zeitung, hüpfte mit überraschender Behändigkeit hinter der Theke hervor, beugte sich zu Franz hinunter und brüllte ihm ins Gesicht: »Was bitteschön, soll denn an einer Heimatstadt, die ein derartig verlogenes und obendrein ungeschickt hingesudeltes Gestammel einer deutschtümeligen Drecksjournaille herausbringt, noch hoffnungsfroh sein!?«
Franz versuchte sich so klein wie möglich zu machen. »Hör dir an, wie es weitergeht!«, rief der Trafikant: »Nur dem Mut einiger schnell herangeeilten Hausbewohner und Passanten war es zu verdanken, dass es dem gefährlichen Sonderling nicht gelang, seine Attacke gegen das Wiener Bürgertum länger als nötig vorzutragen. Im vollen Bewusstsein der großen Gefahr, der sie sich aussetzten, bestiegen die Männer und Frauen das Dach, traten vor den verwirrten Attentäter und ersuchten ihn um die sofortige Aushändigung des besagten Transparents. Der feige Kommunist Panstingl dachte jedoch gar nicht daran, von seinem Vorhaben abzulassen, baute sich stattdessen herausfordernd vor den einfachen Leuten auf und bedrohte sie. Ob dabei auch eine Waffe im Spiel war, konnte bis Redaktionsschluss nicht geklärt werden, ist aber nach Aussagen der Betroffenen mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen.«
»Ha!«, schrie Otto Trsnjek jetzt wieder auf. »Eine Waffe! Der Rote Egon hat sich doch die Butter lieber mit den Fingern aufs Brot geschmiert, als ein Messer anzurühren!« Mittlerweile war sein Gesicht schweißnass und dunkelrot angelaufen. Mit dem ausgefaserten Ärmel seiner Wollweste wischte er sich über die Stirn und fuhr fort: »Bei seinem brutalen Angriffsversuch scheint der Täter jedoch das Gleichgewicht verloren zu haben und stürzte über die Dachkante in die Tiefe. Glücklicherweise wurde beim Aufprall auf das Trottoir niemand verletzt. Der Täter ist tot, und das schändliche Transparent konnte geborgen und vernichtet werden!«
Der Trafikant stand leicht wankend da und starrte für einen Moment auf die Zeitung in seinen Händen. Plötzlich lief ein Schauder durch seinen Körper. Mit raschen Bewegungen zerriss er die Blätter in immer kleinere Fetzen, die um ihn herum langsam zu Boden trudelten. Als er fertig war, ließ er langsam die Hände sinken. Seine Weste war verrutscht und hing ihm schief von den Schultern. Unter den leichten Bewegungen seines Beines knarrte leise der Schuh.
»Weißt du, was auf dem Transparent geschrieben war?«, flüsterte er. Franz schüttelte stumm den Kopf. »DIE FREIHEIT EINES VOLKES BRAUCHT DIE FREIHEIT SEINER HERZEN. ES LEBE DIE FREIHEIT! ES LEBE UNSER VOLK! ES LEBE ÖSTERREICH!«
Otto Trsnjeks Schuh hatte aufgehört zu knarren, er stand jetzt still. Doch schon im nächsten Augenblick löste er sich aus der Erstarrung, hüpfte mit kleinen Sprüngen hinter die Verkaufstheke zurück und setzte sich. Franz sah, wie er sich zurücklehnte und wie sein Gesicht langsam im Schatten hinter der Lampe verschwand.
Auch in dieser Nacht war das Einschlafen mühselig. Wie immer in letzter Zeit. Seit seiner Ankunft in Wien hatte Franz trotz seiner allabendlich wiederkehrenden Erschöpfung Schwierigkeiten, den lieben Schlaf zu finden, der ihn in seinem Bett am See stets so selbstverständlich umfangen und davongetragen hatte. Nun lag er also wieder da, auf dem Rücken, mit hinter dem Kopf verschränkten Händen und offenen Augen, und horchte in die Dunkelheit hinein. Draußen hatte sich das mittlerweile schon zur Gewohnheit gewordene Tagesheulen in das ebenfalls schon gewohnte Nachtwimmern verwandelt, das beständig durch die Straßen zu ziehen schien und selbst bis zu ihm, ins Trafikantenkämmerchen wehte. Hin und wieder gluckerte es in den Mauern. Und vom Verkaufsraum drang manchmal ein leises Rascheln herein. Mäuse vielleicht, dachte Franz, oder Ratten. Oder die Geschehnisse des letzten Tages, die, bereits zu ihrer eigenen Erinnerung geworden, aus den Zeitungen herausraschelten. Eigentlich ist es ja schon merkwürdig, dachte er weiter, wie die Zeitungen ihre ganzen Wahrheiten in großen, dicken Lettern herausposaunen, nur um sie dann gleich in der nächsten Ausgabe wieder kleinzuschreiben, respektive über den Haufen zu werfen. Die Wahrheit der Morgenausgabe ist praktisch die Lüge der Abendausgabe, dachte er, was allerdings wiederum für die Erinnerung keine allzu große Rolle spielt. Erinnert wird nämlich meistens sowieso nicht die Wahrheit, sondern nur das, was laut genug herausgebrüllt oder eben fett genug abgedruckt wird. Und wenn so ein Erinnerungsrascheln irgendwann lang genug angedauert hat, dachte er schließlich, wird daraus Geschichte. Er strampelte sich die Decke vom Körper und streckte die Arme weit von sich. Aus der Matratze heraus hörte er sein Herz schlagen, dunkel und leise stampfend wie ein Schiffsmotor. Schön klingt das, dachte er, während er zusah, wie sich sein Körper langsam vom Bett löste. Es fühlte sich gut an, war jedoch nur ein kurzer Flug. Jemand rief ihm etwas hinterher, und unten in der Tiefe schnauften die Dampfer über den See. Die Fische zeigten ihre Bäuche, und auf den Wellen schaukelte sanft ein schwarzer Hut. Das Fähnchen am Horizont war wirklich nicht mehr zu übersehen. »Entschuldigen Sie, aber Ihre Mutter winkt!«
Sein Herz pochte Franz wieder aus dem Schlaf, ein gleichmäßig lauter werdendes Pumpern. Inzwischen hatte er sich selbst einigermaßen erfolgreich dazu erzogen, seine Träume aufzuschreiben. Nacht für Nacht tastete er nach seinen Zündhölzern und kritzelte im flackernden Kerzenlicht einige verworrene Worte auf eines der karierten Schreibblätter, die er unter dem Bett deponiert hatte. Es war mühsam und zu Beginn brachte es nichts. Eigentlich tat er das nur dem Professor zuliebe und weil er insgeheim ein schlechtes Gewissen hatte, wenn er es nicht machte. Andererseits hatte sich gerade in den letzten Tagen doch auch eine gewisse Gewöhnung eingestellt. Oder eine Art Genugtuung über die eigene Überwindungsfähigkeit. Oder vielleicht sogar etwas wie ein kleines Erleichterungs- und Befriedigungsgefühl. So genau konnte Franz das nicht sagen, aber im Grunde genommen war ihm das auch egal. Er schrieb jetzt eben seine Träume auf und konnte danach – und das war immerhin der lohnenswerte Nebeneffekt des ganzen Aufwands – die nächsten Stunden friedlich, weil traumlos, schlafen.
Ein Flug über den Attersee, schrieb Franz mit seiner dahinkrakelnden Kinderschrift, jemand schreit mir hinterher, die Dampfer sind schön, die Fische nicht. Der Professor hat anscheinend seinen Hut verloren, und von irgendwo weit weg winkt die Mutter herüber. Er legte Zettel und Bleistift unters Bett und blies die Kerze aus. Für ein paar Augenblicke flackerte es hinter seinen Lidern noch nach. Aha, dachte er, offenbar gibt es also nicht nur ein Erinnerungsrascheln, sondern auch ein Erinnerungsflackern. Er musste ein bisschen kichern. Seit er das Salzkammergut verlassen hatte, quetschte er Gedanken aus sich heraus, von denen er nie angenommen hätte, dass sie in ihm stecken könnten. Das meiste davon war wahrscheinlich ein unglaublicher Blödsinn. Aber irgendwie interessant. Er drehte sich zur Seite, schloss die Augen und spürte seinem eigenen Davontreiben hinterher.
Fast genau drei Sekunden später saß er aufrecht im Bett und hielt den Atem an. Ein Lärm hatte ihn in die Wirklichkeit zurückgerüttelt, ein Krachen und Splittern, das die Nacht zu zerreißen schien. Dann wieder Stille. Franz sprang auf und rannte in den Verkaufsraum hinaus. Vor ihm, im fahlen Frühmorgenlicht, herrschte ein unglaubliches Chaos. Die Auslage war eingeschlagen, die Tür hing schief in ihren Angeln, von den Rahmen ragten lange Splitter in den Raum. Der Boden war übersät von Glasstückchen, zwei umgekippte Zeitungsständer lagen quer übereinander, überall verstreut waren Zeitungen, Zigarrenkisten, Tabakschachteln, offene Bleistiftdosen und einzelne Zigaretten. Draußen auf dem Gehsteig bauschten sich lose Zeitungsseiten und wanderten zur anderen Straßenseite hinüber wie leise raschelnde Geister. Franz tat einen zögerlichen Schritt. Unter seinen ledernen Hausschuhen, die ihm der Trafikant vor einiger Zeit gegen acht unbezahlte Überstunden überlassen hatte, knirschte das Glas. Vom Türrahmen tropfte eine zähe Flüssigkeit und sammelte sich am Boden zu einem glänzenden Fleck. Und dann sah er dieses Etwas auf der Verkaufstheke. Ein schwarzes Ding, ein dunkler Körper, ein nasser Haufen, der sich über die Theke ausbreitete. Für einen Moment schien es ihm, als ob es atmete, sich ganz langsam hob und senkte und wieder hob. Ein unangenehmer Geruch ging davon aus, ranzig, süß, aber auch ein bisschen säuerlich. Es war der Geruch von altem Fleisch, von Blut und Scheiße. Vorsichtig beugte er sich näher heran. Die Atembewegungen waren natürlich Einbildung gewesen. Auf der Theke lagen die Innereien eines oder mehrerer großer Tiere. Labbrige Gewebefetzen, glänzende Fettbrocken und das pralle, von einem Netz feiner Adern durchzogene Darmgekröse. Als Franz einen Schritt zurücktrat, knackste etwas unter seinem Fuß. Zwischen den Glasstücken lag ein abgeschlagener Hühnerkopf und blickte mit bläulichen, toten Augen zu ihm herauf.
Als Otto Trsnjek um sechs Uhr morgens pünktlich zur Ladenöffnung kam, sagte er kein Wort. Schweigend betrachtete er die Angelegenheit: den über den Eingang schief hingeschmierten Schriftzug HIER KAUFT DER JUD!, den kübelweise ausgekippten Dreck, die Scherben, das Blut, die Hühnerköpfe, den stinkenden Gedärmehaufen auf der Verkaufstheke und seinen Lehrling Franz, der zusammengesunken auf dem Hocker in der fensterlosen Auslage saß und aufs Pflaster hinausstarrte. Lange stand er einfach nur so da, unbeweglich und stumm. Schließlich öffnete er den Mund, um etwas zu sagen, aber mehr als ein kleiner Ton, kaum lauter als das Platzen eines Spuckebläschens, kam dabei nicht heraus. Also machte er sich an die Arbeit.
Zusammen fegten sie das Glas vom Boden, stopften die Innereien und die Hühnerköpfe in große Leinensäcke, die sich schnell mit Blut vollsogen. Sie schrubbten den Gehsteig, die Wände, die Dielen und Regale und packten die schmutzigen, aufgeweichten, zerbrochenen oder zerbröselten Zigarren und Zigaretten in einen Karton und deponierten den Haufen neben einem Mülltonnengrüppchen im Hinterhof. Anschließend zogen sie vorsichtig die letzten Splitter aus dem Auslagenrahmen, hängten die Tür aus, klopften die Scharniere gerade, hängten die Tür wieder ein und schrubbten noch einmal mit Essig und einem rosaroten, giftig riechenden Pulver über Dielen, Regale und Theke. Als sie nach ein paar Stunden mit dem Putzen fertig waren, stemmte der Trafikant die Krücken nebeneinander in den Boden, legte seinen Beinstumpf sorgfältig auf den Griffen ab und atmete tief durch. »Zum Glasermeister gehen wir später«, sagte er dann, »jetzt holst du uns erst einmal zwei Bier!«
Sie tranken das Bier aus der Flasche, schweigend, langsam und mit kleinen Schlucken, der Trafikant auf seinem Platz hinter der Theke, Franz auf seinem Hocker. Es war ein steirisches Bier, dunkel und herb. Mittlerweile war es Nachmittag geworden, auf der Straße hasteten die Passanten vorbei, nur wenige beachteten die Trafik, kaum jemand hielt an, um einen Blick durch die scheibenlose Auslage ins Innere zu werfen. Einmal blieb ein ausgemergelter Hund stehen und schnüffelte am Eingang herum, wurde aber schnell von seinem Herrchen an die Leine genommen und weggezerrt. Auf der anderen Straßenseite ging eilig Frau Dr. Dr. Heinzl vorüber. Sie schien sehr auf ihren Weg konzentriert, hatte jedenfalls keinen Blick für die Trafik. Ein ältlicher Polizist steckte seinen Kopf zur Tür herein, sah sich kurz um, hob wortlos seine Hand zum Gruß an die Mütze und verschwand wieder. Irgendwo hinterm Wienerwald begann die Sonne unterzugehen, die Biere waren ausgetrunken, und Otto Trsnjek fing an, sich ein paar Worte zurechtzuräuspern. »Interessant«, sagte er, »dass man an einem ganzen Tag so wenig reden kann!«
In diesem Augenblick hielt ein altmodischer, dunkler Wagen vor dem Eingang, und drei Männer in grauen Anzügen stiegen aus. Unnötigerweise klopfte einer von ihnen an den offenen Türrahmen, ein etwas verhärmt aussehender Mann mit gelblichem Beamtengesicht: »Herr Trsnjek?«
»Wir schließen gleich«, sagte der Trafikant.
Der Mann verzog seinen Mund zu einem schiefen Lächeln. Sein rechtes Ohr leuchtete rosig im Abendlicht. Das kann schon sein«, sagte er, »aber erst dann, wenn wir es Ihnen sagen!«
»Schleichts euch, ihr Sauhund’!«, zischte Otto Trsnjek leise, und es klang, als wolle er den drei Herren ihre Hüte vom Kopf spucken. Der Verhärmte verharrte eine Sekunde, nickte darauf seinen Kollegen zu und trat einen Schritt zur Seite. Einer der Männer nahm die Tür, der andere trat direkt durch die Auslage hinein. Ohne erkennbare Ausholbewegung schlug er Franz seine Faust gegen das linke Ohr. Noch während Franz vom Hocker rutschte, spürte er, wie das warme Blut aus seiner Ohrmuschel schoss. Durch das Rauschen hindurch hörte er die Schreie des Trafikanten und das Reißen seiner Wollweste, als sie ihn packten und über die Theke auf den Boden zerrten. »Otto Trsnjek, ich verhafte Sie, wegen Besitz und Verbreitung pornografischer Druckerzeugnisse!«, rief der Verhärmte. Für einen Moment war es still. Obwohl der Trafikant mit gesenktem Kopf auf dem Boden kniete, glaubte Franz, an seiner Stirn einen dunklen Fleck zu erkennen.
»Wo hast denn die Wichsheftln versteckt?«, fragte der Verhärmte. Otto Trsnjek ließ seinen Kopf noch tiefer sinken. Einer der Männer trat ihn wuchtig gegen die Rippen. Mit einem grunzenden Geräusch kippte er zur Seite, legte seine Hände schützend vors Gesicht und zog sein Bein so eng wie möglich an den Körper. Auf ein Nicken seines Vorgesetzten ging der dritte Mann hinter die Theke, riss die Schublade auf, zog den schmalen Stoß »Zärtlicher Magazine« heraus und hielt ihn mit einem triumphierenden Grinsen in die Höhe.
»So einen Schund verkaufst du den Juden?«
Otto Trsnjek ruckte mit seinem Kopf und öffnete den Mund zu einem kaum hörbaren »Ja!«
»Seit wann geht das schon so?«
»Weiß nicht.«
Der Verhärmte nickte, und sein Kollege trat zu. Ein harter Tritt mit der Schuhspitze in die Nierengegend. Otto Trsnjek stöhnte dumpf und krümmte sich noch enger zusammen. Franz schloss die Augen. Das Rauschen in seinem Ohr war leiser geworden, der Schmerz fast verflogen. Plötzlich musste er an die Würmer denken, die er als Bub nach andauernden Regenfällen aus der saftigen Erde gezogen hatte und die sich in seiner Handfläche immer so blind und sinnlos gewunden hatten. Komisch fühlten sich diese Würmer an, glitschig, prall und kühl, und wenn man sie mit einer Nähnadel piekste, kringelten sie sich ganz klein zusammen und aus der Einstichstelle quoll ein dunkles Tröpfchen heraus.
»Also, noch einmal: Seit wann verkaufst du deine Drecksheftln an die Juden?«
»Immer schon …«, flüsterte der Trafikant.
»Mein lieber Herr Zeitungstandler, so etwas tut man doch nicht«, sagte der Verhärmte mit einem tadelnden Kopfschütteln. Er bückte sich, packte Otto Trsnjeks Kopf an den Haaren und hob ihn langsam vom Boden.
»Aber das stimmt doch gar nicht!« In der Ecke hatte sich Franz aufgerappelt und stand nun auf wackeligen Beinen da »Die Heftln gehören mir! Die hab ich mir gekauft! Alle miteinander! Weil ich mir so was eben manchmal gerne anschau!«
»Halt deine Goschn, Franz!«, zischte der Trafikant. »Du weißt ja überhaupt nicht, was du da redest!«
»Mit Verlaub, das weiß ich sehr wohl! Und außerdem: Die Wahrheit ist die Wahrheit und aus! Und wenn einer einen Blödsinn gemacht hat, muss er auch dafür einstehen können! Da werden Sie mir recht geben müssen, Herr Polizist, oder?«
Der Verhärmte ließ Otto Trsnjeks Kopf fallen wie einen faulen Apfel. Er richtete sich auf und starrte Franz an.
»Das Beste wird also sein, Sie nehmen mich gleich mit aufs Revier oder auf die Wachstube oder sonst irgendwohin. Die Heftln sind schließlich meine Heftln, ich hab sie gekauft und gelesen, ich hab mir die Bilder angeschaut, und ich hab sie in der Lade versteckt. Und wenn das alles ein Verbrechen sein soll, dann will ich, bitteschön, auch dafür geradestehen!«
»Halt deine blöde Goschn, du Trottel!«, presste der Trafikant hervor.
»Aber wieso denn?«, sagte der Verhärmte freundlich »Soll er doch ein bisserl reden, der Burschi! Wie heißt er denn überhaupt?«
»Mit Verlaub, ich bin kein Burschi, und heißen tu ich Franz Huchel!«
Der Verhärmte verschränkte seine Hände auf den Rücken und bewegte sich mit zwei, drei schleichenden Schritten auf Franz zu. »Ach so? Na dann sagen S’ halt, was Sie zu sagen haben, Herr Huchel!«
»Franzl …« Der Trafikant hatte erneut seinen Kopf gehoben. Die Schmerzen verzerrten ihm das Gesicht, und sein Blick irrte ein paar Sekunden lang zwischen den Zigarrenkisten in den Regalen herum, ehe er Franz fand. »Du bist mein Lehrbub … und obendrein ein Trottel. Und deswegen machst du jetzt genau das, was ich dir sage: Setz dich wieder hin und halt deinen blöden Mund!« Jetzt erst sah Franz die dünne Blutspur, die ihm übers Kinn lief, ein zartes Rinnsal, kaum breiter als ein Faden. Und auf einmal sah er auch die Verzweiflung in seinen Augen. Wie ein Schleier, dachte Franz, wie ein hauchzarter, dunkler Schleier. Und in diesem Moment war ihm alles klar. Für den Bruchteil einer Sekunde öffnete sich ein Fenster in die Zukunft, durch das die weiße Angst zu ihm hereinwehte, zu ihm, diesem kleinen, dummen, machtlosen Buben aus dem Salzkammergut. Mit einem unterdrückten Schluchzen ließ er sich auf die Knie fallen, umfasste mit beiden Armen den Nacken des Trafikanten und drückte seinen Körper an sich. »Lass mich, Franzl!«, flüsterte Otto Trsnjek heiser in Franz’ Haare hinein »Bitte, lass mich!«
Nachdem sie den Trafikanten auf den Rücksitz verfrachtet hatten und der Wagen nach mehreren Startversuchen mit knallenden Fehlzündungen die Währingerstraße hinaufgefahren und in die Boltzmanngasse eingebogen war, blieb Franz noch eine Weile vor der Trafik stehen. Es hatte leicht zu nieseln angefangen, ein warmer Frühlingssprühregen, unter dem das Straßenpflaster zu duften begann. Irgendwo, weit hinter irgendwelchen Dächern, war jetzt bestimmt ein Regenbogen zu sehen. Der Trafikant hatte nicht mehr geschrien und nichts mehr gesagt, widerstandslos hatte er sich abführen lassen und war, gestützt von den grauen Männern, zum Wagen gehüpft. Franz war noch einmal zurückgelaufen, um die Krücken zu holen, doch als er damit wieder herauskam, waren sie schon abgefahren. Nun lehnten sie wie zwei alte Stecken neben dem Eingang, nutzlos und schief. An den Scheiben der Fleischerei Roßhuber lief das Regenwasser in dünnen Bächen hinab. Dahinter säbelte die Silhouette des Fleischermeisters an einer Hinterhaxe herum. Den Abtransport des Trafikanten hatte er an seiner Eingangstür mit vor der Blutschürze verschränkten Armen und einem gekräuselten Lächeln beobachtet. Als der Wagen endgültig verschwunden war, hatte er mit einem kurz hervorgestoßenen Lachen seinen Kopf geschüttelt und war wieder hineingegangen. Franz stand immer noch da und rührte sich nicht. Das wäre es ja vielleicht, dachte er, einfach so stehen bleiben und sich nicht mehr bewegen. Dann würde die Zeit an einem vorbeitreiben, und man müsste nicht mehr mitschwimmen oder dagegen anstrampeln. Passanten eilten blicklos vorüber. Irgendwo plärrte ein Kind. Von den Beeten um die Votivkirche trillerten die Amseln herüber. Auf einem Fenstersims über dem Installationsbüro Veithammer flatterten für einen Moment zwei Tauben auf, ehe sie sich wieder in ihre Fensterecke zurückdrängten. Eine Windböe wehte Franz einen Sprühschleier ins Gesicht. Eigentlich angenehm, dachte er, schloss die Augen und wünschte sich, sie nie wieder zu öffnen. Da hörte er, wie ihn jemand von hinten mit dünner Stimme anhüstelte: »Interessiert sich hier noch irgendjemand für die Kundschaft, oder muss man sich vielleicht selbst bedienen?« Es war der Juristikar Kollerer. In seinen dicken Brillengläsern konnte Franz sich doppelt gespiegelt sehen, mit den beiden im dunstigen Nieselregen verschwommenen Votivkirchenspitzen im Hintergrund.
»Die Trafik hat selbstverständlich geöffnet, Herr Juristikar!«, sagte Franz. »Wie immer für Sie den Wienerwaldboten, den Bauernbündler und einen Langen Heinrich?«
Beim Glasermeister Staufinger bestellte Franz neue Scheiben, die dieser auch prompt lieferte und passgenau einsetzte. Zum ersten Mal seit vielen Jahren fiel mehr als nur schummriges Dämmerlicht in die Trafik. Die Straßenhelligkeit drang in jeden Winkel und ließ die Farben auf den Deckeln der Zigarrenkisten in neuer Frische und ungewohnter Buntheit erstrahlen. Allerdings waren jetzt auch die Spinnweben und die bräunlichen Feuchtigkeitsflecken an der Decke zu sehen. Franz kaufte einen Kübel weißer Farbe, lieh sich von der Installateursgattin Frau Veithammer eine Leiter, eine Malerschürze und einen großen Rosshaarpinsel und begann die Decke zu streichen. Als er damit fertig war, strich er die Wände und die Stuhlleisten, danach die Regale, die Schreibwarenvitrine, den Kleinwarenkasten, das Pfeifenzubehörschränkchen, die Verkaufsthekenbeine und schließlich den Tür- und den Auslagenrahmen. Mit dem letzten bisschen Farbe besserte er die kleinen Lackabsplitterungen an den Schubladengriffknöpfen aus und tupfte schließlich einen winzigen weißen Punkt an den Eingangstürknauf, einfach so, weil es ihm Spaß machte und irgendwie schön und freundlich und künstlerisch aussah. Hinter einem Stapel mit Liebesromanheftchen für die gepflegte Frau fand er Otto Trsnjeks fein gerahmte, etwas angestaubte Lesebrille. Er reinigte sie mit ein bisschen Spucke und seinem Hemdsärmel, wickelte sie in Zeitungspapier und verstaute sie sorgfältig unter der Theke. Er füllte die Tinte auf, tauchte die Füllfederspitzen in ein Wasserbad, spitzte die Bleistifte und glättete die Eselsohren im Buchhaltungsordner. An der Eingangstür stellte er sich auf die Zehenspitzen und putzte und rieb und ribbelte solange an den Glöckchen herum, bis sie glänzten wie Christbaumschmuck. Auf ein Stück Papppapier malte er in dicken, roten Lettern die Worte: SEHR VEREHRTE KUNDEN, DIE TABAKTRAFIK TRSNJEK BLEIBT GEÖFFNET – TRETEN SIE EIN, SIE WERDEN BEDIENT! und klebte das Schild in Augenhöhe von innen an die Tür. Er ging zur Frau Veithammer hinüber, um ihr die Leiter, den Pinsel, die Schürze sowie eine schnell gerupfte, leuchtendgelbe Votivkirchenbeetblume zu bringen, wusch sich hernach die Farbe von den Händen und den Staub aus den Haaren und ließ sich schlussendlich müde und nach Kernseife duftend in Otto Trsnjeks Sessel sinken. Ein paar Augenblicke saß er so da und hörte dem ledrigen Knarren unter seinem Hintern zu, dann holte er ein schönes, großes, kariertes Blatt Papier aus der Schublade und begann zu schreiben:
Liebe Mama,
das ist mein erster Brief an Dich. Und eigentlich nicht nur an Dich, es ist überhaupt mein erster. Was ich Dir nämlich alles schreiben will, passt gar nicht auf eine einzige Karte. Wobei ich im Moment schon wieder gar nicht mehr weiß, was genau ich eigentlich habe erzählen wollen. Und das ist jetzt wiederum typisch. In letzter Zeit funktioniert mein Kopf nicht mehr so, wie er soll. Als ob ihn jemand zwischen seine großen Hände genommen und ordentlich durchgeschüttelt hätte, so fühlt sich das an. Deswegen also erst einmal der Reihe nach und in aller Ruhe und von vorne: Bei uns in Wien ist es sehr schön. Nach dem langen Winter kommt der Frühling aus allen Löchern und Ritzen hervorgekrochen. Überall blüht irgendetwas. Die Parks sehen fast schon aus wie auf den Ansichtskarten, und aus jedem liegengebliebenen Pferdeapfel sprießt ein Maiglöckerl. Die Leute sind ganz verrückt, rennen herum wie kopflose Hendln und kennen sich nicht aus. Wenn Du mich fragst, liegt das nicht nur am Frühling, sondern vor allem an der Politik. Es sind komische Zeiten gerade. Oder vielleicht waren die Zeiten immer schon komisch, und ich habe es nur nicht bemerkt. Bis vor Kurzem war ich ja noch ein Kind. Und jetzt bin ich noch kein Mann. Darin liegt die ganze Misere. Und damit sind wir auch schon beim nächsten Thema angelangt: mit dem Mädelchen (ich habe Dir ja geschrieben!) ist es erst einmal oder endgültig doch nichts geworden. Frag nicht warum, es ist halt so. Vielleicht ist die Liebe nichts für mich. Vielleicht bin ich nichts für die Liebe. Ich weiß es nicht. Weißt Du es vielleicht? Weißt Du, ob ich zur Liebe tauge? Weißt Du, was die Liebe ist? Weißt Du überhaupt irgendetwas über die Liebe? Ehrlich gesagt, fühlt es sich ziemlich komisch an, die eigene Mutter solche Sachen zu fragen. Irgendwie genierlich. Aber auf die Entfernung geht es. Jedenfalls bin ich gespannt, was Du sagst. Übrigens und apropos Entfernung: Du musst mir unbedingt vom See schreiben. Die Karten sind zwar schön, aber Bilder sind eben nur Bilder und können schwindeln. Genauso wie diese überschminkten Titelblattgesichter in der Trafik. Die schauen Dich an, dass Du glaubst, sie meinen Dich ganz persönlich, und in Wirklichkeit schauen sie nur in eine Kamera hinein und denken an ein saftiges Rindsgulasch und kriegen jede Menge Geld dafür. Na ja, Du siehst: Mit der Kopfdurchschüttelung habe ich nicht übertrieben. Wenn der Brief einen roten Faden gehabt hätte, dann wäre er spätestens jetzt verlorengegangen oder zumindest ausgefranst. Deswegen also lieber schnell zur nächsten Thematik. Der Professor und ich sind inzwischen Freunde. (Und das kannst Du mir ruhig glauben!) Obwohl wir beide ja fast ständig arbeiten, verbringen wir möglichst viel Zeit miteinander. Wir sitzen auf der Bank, gehen in den Park und reden allerhand. Er raucht. Ich nicht. Ich frage ihn dies und das. Und er fragt mich dieses und jenes. Zwar wissen wir beide oft keine Antworten, aber das ist egal. Unter Freunden darf man auch einmal nichts wissen. Der Altersunterschied macht uns übrigens nichts aus. Da können die Leute schauen und sich das Maul zerreißen, wie sie wollen – uns ist das egal. Obwohl der Professor andererseits natürlich wirklich sehr alt ist. Manchmal, wenn ich ihn mir so anschaue, glaube ich, dass er aus irgendwelchen längst vergangenen Zeiten zu uns herübergewachsen ist. So wie der alte Zwetschgenbaum der sich hinter der Hütte so krumm und schief zum Ufer hinunterbeugt. Dass er ein Jud ist, stört mich überhaupt nicht. Wenn es mir der Otto Trsnjek nicht erzählt hätte, hätte ich es wahrscheinlich gar nicht bemerkt. Ich weiß sowieso gar nicht, warum die Leute alle derart draufhauen auf die Juden. Auf mich wirken sie eigentlich ganz anständig. Die Wahrheit aber ist: Ich mache mir schon ein bisschen Sorgen. Um den Professor und überhaupt. Wie gesagt: komische Zeiten. Und jetzt geht es auch schon zu einer weiteren, leider ziemlich unangenehmen Angelegenheit: Der Otto Trsnjek ist nämlich krank geworden. Nicht schlimm, aber immerhin. Die Leber vielleicht, oder die Nieren, oder irgendeine andere Innerei. Wenn Du mich fragst, ist es wegen dem ungesunden Essen. In Wien ist ja das Essen fast noch fetter als bei uns. Und mit nur einem Bein kann man auch keine großen Sprünge machen, sportlich gesehen, meine ich. Jedenfalls bleibt er erst einmal ein paar Tage zuhause, und es muss abgewartet werden. Ich werde ihm in Deinem Namen eine gute Besserung wünschen, wenn es recht ist?
Liebe Mama, oft bin ich traurig und weiß warum. Oft bin ich aber auch traurig und weiß nicht warum, und das ist fast noch schlimmer. Manchmal wünsche ich mich selbst an den See zurück. Natürlich weiß ich, dass das nicht mehr so einfach geht. Ich habe schon zu viel gesehen und gerochen und geschmeckt. Ich weiß noch nicht wohin, aber es wird weitergehen. Und deswegen höre ich jetzt auf mit der Raunzerei. Ich trage nämlich wegen Otto Trsnjeks Abwesenheit ab sofort die vorübergehende Verantwortung eines geschäftsführenden Trafikanten und muss dementsprechend nach vorne schauen. Wenn Du möchtest, liebe Mama, sei stolz auf mich!
Dein Franz
Das Geschäft blieb zwar nicht ganz aus, doch es lief schlecht. Die jüdischen Kunden waren fast allesamt verschwunden. Vielleicht hatten sie wegen der Vorkommnisse der letzten Zeit die Trafik gewechselt, wie sich Franz dachte, oder sie hockten in ihren Wohnungen, hielten still und hatten das Lesen und das Rauchen vorübergehend eingestellt. Nur der alte Herr Löwenstein kam wie eh und je und besorgte sich seine ein oder zwei Schachteln Gloriette. Die schlechten Ohren, die noch schlechteren Augen und überhaupt die ganze sich langsam in seinem Körper ausbreitende Altersschwächlichkeit, machten ihn unempfänglich gegen die sich in der Stadt ausbreitenden und für das Volk Moses’ doch insgesamt eher unlustigen Vorgänge, wie er einmal erzählte und hernach leise kichernd zur Tür hinausdatterte.
Aber auch die nichtjüdischen Kunden machten sich rar. Vermutlich weil sie abwarteten, wie sich alles entwickeln würde, die Situation insgesamt und insbesondere die der Trafik, die ja angeblich »Zärtliche Magazine« an Juden verkauft hatte und jetzt von irgend so einem komischen Waldbauernbuben geführt wurde. Denn abwarten war ja bekanntlich sowieso immer die beste und vielleicht sogar die einzige Möglichkeit, die verschiedenen Schwierigkeiten der Zeit unbeschadet an sich vorbeiströmen zu lassen.
Die wenigen Leute, die noch kamen, hatten sich verändert. Viele trugen nun braune Hemden, manche hatten Hakenkreuzbinden oder zumindest kleine Hakenkreuzanstecker am Kragen, und die meisten schienen öfter zum Friseur zu gehen als früher. Außerdem hatten sie ein seltsames Leuchten in den Augen. Ein irgendwie zuversichtliches oder hoffnungsfrohes oder beseeltes, im Grunde genommen aber auch ein eher dümmliches Leuchten war das, ganz genau konnte Franz das nicht auseinanderhalten, jedenfalls leuchteten sie und sprachen mit lauter, klarer Stimme. Der gedämpfte Plauderton der Bestell- und Verkaufsgespräche, der sich immer so gut in die Schummrigkeit der Trafik eingefügt hatte, war einem forschen und klangvoll scheppernden Ausdruck gewichen. Es hörte sich an, als ob die Kunden erst jetzt wirklich wussten, was sie wollten, beziehungsweise immer schon gesucht hatten. Immer mehr Leute grüßten mit »Heil Hitler!« und reckten dabei ihren Arm in die Höhe. Franz, dem das ein bisschen übertrieben vorkam, gewöhnte sich an, darauf mit einem unverbindlichen: »Danke, Ihnen auch!« zu antworten.
Mit dem Zeitungslesen hatte er beinah gänzlich aufgehört, die Zeitungen waren sowieso fast ausschließlich mit denselben, immer wiederkehrenden Inhalten gefüllt. Hatte man den Wienerwaldboten gelesen, kannte man auch den Bauernbündler, hatte man die Reichspost durch, konnte man sich das Volksblatt gleich sparen und so weiter. Es war, als ob die Redaktionen sich jeden Tag zu einer einzigen, riesigen Konferenz versammelten, um zur Wahrung einer scheinbaren Objektivität wenigstens die Überschriften untereinander abzustimmen und hie und da ein paar Textunterschiedlichkeiten in die ansonsten völlig gleichlautenden Artikel einzubauen. Meistens ging es um Adolf Hitler. In kürzester Zeit hatte sich der kleine Oberösterreicher in die Köpfe seiner Landsleute hineingesetzt und würde daraus sicher so schnell nicht wieder verschwinden. Alle waren sie ganz vernarrt und blöd nach diesem zackigen Mann mit dem Rauhaarbärtchen. Dabei war Heinzi eindeutig der bessere Hitler, dachte Franz, ein zumindest auf die ersten Blicke viel bemerkenswerterer Reichskanzler, einer mit weitaus mehr Zackigkeit und weitaus größerer Strahlkraft. Franz dachte oft an Monsieur de Caballé mit dem Messer in der Hose. Aber noch viel öfter dachte er an Anezka. Manchmal schrieb er ihren Namen auf ein Blatt Papier, einfach so, in Großschrift und mit Otto Trsnjeks teuerster Tinte. Oder, wenn gerade kein Papier zur Hand war, mit kleiner Schrift auf den Rand einer alten Zeitung. In einer stillen Stunde nach Ladenschluss fing er damit an, ihren Namen auf seine linke Handfläche zu schreiben, einmal, zweimal, noch einmal und immer so weiter. Er schrieb ihn auf jedes einzelne Fingerglied, auf Kuppen, Kanten und Knöchel, kritzelte ihn winzigklein auf die Gelenksfältchen und noch ein bisschen kleiner unter die Nagelränder. Nachdem auf der Hand kein freier Fleck mehr übrig war, krempelte er seinen Ärmel hoch und schrieb auf dem Arm weiter: Anezka auf dem Handgelenk, Anezka zwischen Adern und Härchen auf dem Unterarm, Anezka auf dem Ellbogen, auf dem Oberarm und in großen, wild geschwungenen Buchstaben um die Schulter herum.
An einem strahlenden Montagmorgen im April betrat der seit vierunddreißig Jahren für den Abschnitt Alsergrund/Rossau zuständige, stark übergewichtige und eben deswegen auch ziemlich kurzatmige Briefträger Heribert Pfründner die Trafik, wartete wie immer ab, bis die Glöckchen ausgeklingelt hatten, nuschelte dann ein leicht verraunztes »Heilitler!« vor sich hin, schmiss gemeinsam mit ein paar Prospekten, dem monatlich erscheinenden Bezirksblatt und einer Einladung zur feierlichen Eröffnung des Ersten Ottakringer Turnerbundheimes einen eierschalengelben Umschlag auf die Verkaufstheke, tippte zum Abschied mit zwei Fingern an seine schweißnasse Schläfe und keuchte wieder hinaus. Franz sperrte die Trafik zu, verzog sich in sein Kämmerchen, setzte sich an den Bettrand und betrachtete den Umschlag, der im rechten oberen Eck eine Briefmarke zu Ehren des stolzen österreichischen Heerführers Radetzky und links daneben den zart hingestrichenen Namenszug der Mutter trug. Er öffnete ihn mit vor Ungeduld zittrigen Fingern und begann zu lesen:
Mein lieber Franzl,
recht herzlichen Dank für Deinen Brief. Du hast so schön geschrieben, und ich habe mich sehr gefreut. Bei uns ist es warm. Der Schafberg schaut freundlich, und der See ist silbrig oder blau oder grün, wie er gerade will. Drüben haben sie große Hakenkreuzfahnen ins Ufer gepflanzt. Die spiegeln sich im Wasser und sehen ganz akkurat aus. Überhaupt sind alle auf einmal ganz akkurat und rennen mit wichtigen Gesichtern herum. Stell Dir vor, sogar im Wirtshaus und in der Schule hängt jetzt der Hitler. Direkt neben dem Jesus. Dabei weiß man doch gar nicht, was die beiden voneinander halten. Leider ist das schöne Auto vom Preininger beschlagnahmt worden. So nennt man das heute, wenn Sachen verschwinden und irgendwo anders wieder auftauchen. Wobei: Sehr weit ist das Auto nicht gekommen. Der Herr Bürgermeister fährt nämlich jetzt damit durch die Gegend. Seitdem der Herr Bürgermeister ein Nazi geworden ist, geht ihm vieles leichter von der Hand. Überhaupt wollen auf einmal alle Nazis sein. Sogar der Förster rennt mit einer leuchtendroten Armbinde im Wald herum und wundert sich, dass er nichts mehr schießt. Apropos: Erinnerst Du Dich an unseren Ausflugsdampfer Hannes? Den haben sie neu gestrichen und umgetauft. Jetzt glänzt er wie ein gelutschtes Zuckerl und heißt »Heimkehr«. Allerdings ist ihm gleich bei der ersten Fahrt unterm neuen Namen der Dieselmotor explodiert, und man hat die Leute mit den alten Ruderbooten ans Ufer bringen müssen. Ach Franzl, mein lieber Bub, wo soll das alles hingehen? Der Preininger ist tot, und Du bist so weit weg. Manchmal lieg ich im Bett und heul in die Polster hinein, weil niemand mehr da ist, auf den ich aufpassen kann. Und niemand, der auf mich aufpasst. Doch es passieren auch schöne Sachen: Stell Dir vor, ich hab eine Arbeit gefunden! Der Goldene Leopold hat seit Neuestem nämlich ein paar Gästezimmer, da mach ich dreimal in der Woche sauber. Der Verdienst ist bescheiden, aber manchmal kriegt man ein Trinkgeld. Einmal hat mich der Wirt abgepasst und auf ein Gästebett geschmissen. Da hab ich ihm gesagt, dass ich mit dem Obersturmbannführer Graleitner aus Linz befreundet bin und dass dem so etwas sicher nicht gefallen wird können. Da hat der Wirt einen Schrecken bekommen und irgendetwas von einem blöden Missverständnis zusammengestottert. Seitdem lässt er mich in Ruhe. Wenn der wüsste, dass ich den Obersturmbannführer Graleitner nur erfunden habe!
Dass der Otto Trsnjek krank geworden ist, tut mir sehr leid. Ich hoffe, es geht ihm bald besser. Bitte schicke ihm meine herzlichsten Genesungswünsche! Hinter der grantigen Trafikantenhaut steckt nämlich eine zarte Menschenseele. Glaube ich zumindest. Es ist ja bestimmt nicht leicht, ein Bein im Schützengraben liegen zu lassen. Vor allem, wenn man sich fragt: für wen denn eigentlich? Da ist es kein Wunder, wenn auch die Seele ein bisschen wackelig daherkommt, oder?
Ehrlich gesagt, weiß ich nicht genau, was ich von Deiner Bekanntschaft mit dem Herrn Professor Freud halten soll. So ganz recht ist es mir nicht. Früher hab ich Dir den Umgang mit den anderen Buben ja noch verbieten können, wenn mir einer nicht gepasst hat. Die Zeiten sind vorbei. Du bist jetzt alt genug und wirst schon wissen, was Du machst. Aber bitte bedenke: Auch wenn die Juden noch so anständig sind, was nützt ihnen das, wenn sich um sie herum die ganze Anständigkeit schon längst verabschiedet hat?
Mein lieber Franzl, dass es mit dem Mädelchen einstweilen oder für immer nichts geworden ist, tut mir natürlich leid. Insbesondere, weil ja bekannt ist, wie gut die Böhminnen kochen. Andererseits: Wer weiß, für was das gut war! Manchmal muss man das eine gehen lassen, damit das andere kommen kann. Du fragst mich, ob ich irgendetwas über die Liebe weiß. Die Wahrheit ist: Ich weiß nichts darüber. Obwohl ich sie kennengelernt habe. Keiner weiß etwas über die Liebe. Und doch haben sie die allermeisten schon erlebt. Die Liebe kommt und geht, und man kennt sich vorher nicht aus, und man kennt sich nachher nicht aus, und am allerwenigsten kennt man sich aus, wenn sie da ist. Und deswegen lass Dir eines sagen: Niemand taugt für die Liebe, und trotzdem oder gerade deswegen erwischt sie fast jeden von uns irgendwann einmal!
Es bricht mir das Herz, wenn ich höre, dass Du manchmal traurig bist. Was soll ich Dir da sagen? Es gibt so viele Sorten Traurigkeit, wie es Lebensstunden gibt. Und wahrscheinlich noch ein paar mehr. Da ist es egal, ob Du weißt, woher diese oder jene Traurigkeit kommt. Das gehört zu unserem Leben. Wenn Du mich fragst, sind sogar die Tiere traurig. Und vielleicht auch die Bäume. Nur die Steine nicht. Die liegen einfach nur so herum und machen nichts. Aber wer will das schon?
Mein lieber Franzl, isst Du denn auch genug? Du warst immer so dünn! Man hat Dich gar nicht mehr gesehen, wenn Du in den See gesprungen bist. Dünn und glatt und weiß, wie ein junger Saibling im Frühling. Ich weiß, das dürfte ich Dir gar nicht erzählen: Manchmal gehe ich an die Kiste mit Deinen Sachen. Dann ziehe ich einen von Deinen alten Pullovern heraus, halt ihn mir ans Gesicht und riech daran. Ich glaube, mit den Jahren werden die Leute immer komischer. Ich hab schon graue Haare, aber wenigstens ist der Hintern noch einigermaßen fest. Der Wirt ist mir zu blöd und zu ungustiös, aber seit ein paar Tagen hat einer von den neuen Fremdenführern ein Aug auf mich geworfen. Er ist ein fescher Kerl mit Schnurrbart und großen Händen. Wir werden sehen, was draus wird. Jetzt muss ich aufhören und ins Wirtshaus hinüber gehen. Ein paar Uniformierte aus München haben sich einquartiert, die machen viel Lärm und noch mehr Dreckwäsche. Ich hätte Dir so gern ein Blech mit Erdäpfelstrudel geschickt, aber bei der Post heutzutage weiß man ja nicht so recht. Mein lieber, lieber Bub, ich hab Dich immer in meinem Herzen!
Deine Mutter
Franz betastete mit den Fingerspitzen das fein geriffelte Briefpapier. Eine merkwürdige Empfindung stieg wie eine dicke Luftblase in seinem Inneren auf, blubberte an der Wirbelsäule entlang und schlüpfte durch den Nacken in den Hinterkopf, wo sie noch eine Weile weich und angenehm herumwaberte. Deine Mutter hatte sie geschrieben, und nicht Deine Mama, wie auf den Ansichtskarten oder wie früher immer, wenn sie auf dem Küchentisch eine hingekritzelte Nachricht hinterlassen hatte. Kinder haben Mamas, Männer haben Mütter. Er faltete den Brief zusammen und steckte seine Nase hinein. Er roch nach modrigen Stegplanken und trockenem Sommerschilf, nach verkohlten Rindenstückchen, zerlassenem Butterschmalz und der mehlbestäubten Küchenschürze seiner Mutter.
In dieser Nacht träumte Franz von seinem seligen Vater, einem Waldarbeiter aus Bad Goisern, den er nie kennengelernt hatte, da er nur wenige Tage vor seiner Geburt von einer morschen Stieleiche erschlagen worden war, und der angeblich zu Lebzeiten kaum mehr gesprochen hatte als im Tode. Im Traum gingen sie zwischen stillen Feldern einen Weg entlang. Franz war noch klein und hatte Staub in den Haaren. Hoch über ihnen glühte die Sonne, und der Vater verschmolz mit seinem eigenen Schatten. Sie kamen zum großen Amt und betraten die marmorglänzende Eingangshalle. In der Mitte saß ein dicker Mann und stempelte in rasender Geschwindigkeit seine Schreibtischunterlage ab. Schnell reihte sich eine Menschenschlange vor ihm auf, jeder wollte einen Stempel, doch der Dicke hörte nicht auf das Bitten und Flehen. Immer wieder ließ er den Stempel auf seine Unterlage hinuntersausen. Die Schläge hallten wie Kanonenschüsse durch den Raum, während ein goldenes Horn laut und scheppernd große Zeiten ankündigte. Der Vater nahm Franz an der Hand und versuchte sich in die Menschenschlange zu drängeln. Er hatte Angst, Seine Hand war trocken und rau wie ein Stück Holz. Verzeihung, sagte er immer wieder, mehr zu sich selbst als zu den Leuten, Verzeihung, Verzeihung, Verzeihung. Genau!, sagte der dicke Postbeamte triumphierend, und stieß dem Vater seinen Stempel auf die Stirn: ZUKUNFT stand drauf, und zwischen den Buchstaben lief in dünnen Spuren das Blut hinunter. Franz erwachte schweißüberströmt und mit einem seltsamen Flimmern hinterm Herzen. Noch während des halbbetäubten Heraustrudelns aus dem Schlaf schrieb er seinen Traum auf ein Blatt Papier:
Ein Spaziergang mit dem Vater, die Sonne brennt, und wir gehen ins große Amt, wo ein dicker Mann herumstempelt, der Vater drängelt und entschuldigt sich dafür, das goldene Horn plärrt, und der Dicke stempelt dem Vater das Wort ZUKUNFT mitsamt einer Platzwunde aufs Hirn.
Den ganzen Vormittag hatte er den Zettel vor sich auf der Verkaufstheke liegen und bemühte sich, nicht beständig darauf zu starren. Dieser dicke Mann war doch irgendwie armselig, dachte er bei sich, trotz seiner insgesamt recht imposanten Erscheinung. Armselig und auch ein bisschen einsam in seiner eingebildeten Großartigkeit, und noch dazu gefangen im Traum eines ihm völlig unbekannten Trafikantenlehrlings. Man müsste in die Köpfe der Leute hineinschauen können, dachte er, aber nur während des Schlafes. Tagsüber wollte man ja eigentlich gar nicht wissen, was vorgeht in den Leuten, außerdem war von so einem durchschnittlichen Kopfinhalt ohnehin nicht übermäßig viel zu erwarten. In der Nacht aber, dachte er weiter, in den stillen, dunklen Stunden, sähe die Sache schon anders aus. Da stünde einem die eigene Vorsicht nicht mehr im Weg, und alle Ängste, Begehrlichkeiten, und Spinnereien könnten ungehemmt durchs Hirn geistern. Franz hätte gerne mit jemandem über seine Träume gesprochen, am liebsten mit Anezka, zur Not auch mit dem Professor oder mit Otto Trsnjek oder wenigstens mit irgendeinem Kunden. Aber bis nach Mittag betraten nur zwei Menschen die Trafik: Frau Veithammer, die sich die neue Ausgabe der Illustrierten Wochenpost holte und sich bei der Gelegenheit gleich über ihren unlängst verstorbenen Gatten beschwerte, der nicht einmal im Grab etwas Gescheites zusammenbrächte, da die Blumen über ihm schon zu verwelken begännen, bevor sie überhaupt richtig zu blühen begonnen hätten, sowie ein kleines Mädchen, das nach einem mittelweichen Bleistift fragte und mit seinen winzigen Fingern die Groschen einzeln in Franz’ Hand hineinzählte. Von beiden war natürlich in Bezug auf Trauminhalte nichts Erhellendes oder sonst irgendwie Brauchbares zu erwarten. Aber vielleicht, dachte Franz, kommt es ja gar nicht drauf an, sich über Träume und deren möglichen Sinn oder wahrscheinlichen Unsinn auszutauschen, vielleicht geht es einzig und alleine darum, die Träume vollkommen erwartungslos mitzuteilen, sie praktisch wie im Lichtspielhaus einfach vom Kopfinneren auf die leere Leinwand der Außenwelt zu projizieren und damit im zufällig vorbeikommenden oder absichtsvoll herantretenden Betrachter irgendetwas zu wecken, mit ein bisschen Glück sogar etwas von Belang, Bedeutung oder Dauerhaftigkeit. Er atmete schwer aus und ließ sich in den Sessel zurücksinken. Das Herumtappen in derartig fremden und dunklen Gedankengängen erschöpfte ihn. Sein Blick fiel durch die Auslage auf die gegenüberliegende Häuserreihe. Eines der Fenster war fast vollständig mit Grünpflanzen zugewachsen, in der Schummrigkeit dahinter bewegte sich das weiße Unterhemd eines hin- und hergehenden Mannes. Franz seufzte. Er musste an den Wald denken, an das beruhigende Rauschen der Bäume und an das Vogelgezwitscher, das trotz seiner lärmenden Allgegenwärtigkeit die Waldesruhe niemals zu stören schien. An der Auslagenscheibe klebte in Blickhöhe ein grünlicher Vogelscheißebatzen. Stadtvögel zwitschern nicht, sondern schreien, dachte er missmutig. Außerdem scheißen sie einem auf den Hut und auf die Auslage und legen sich zum Sterben in irgendeine Dachbodennische, wo sie nichts weiter hinterlassen als ihre verstaubten Gerippe, ein paar Federn und ein bisschen Gestank. Er seufzte noch einmal, tiefer sogar noch als beim ersten Mal, und fast gleichzeitig mit dem Seufzer kam ihm eine Idee: Er holte etwas Klebeband aus der Schublade, nahm den Zettel mit seinem Traum, schrieb ins rechte obere Eck das Datum, ging damit auf die Straße hinaus und klebte ihn direkt über den Scheißebatzen an die Scheibe. Er trat einen Schritt zurück und betrachtete das kleine Traumplakat. Dann schloss er die Augen und atmete tief die frühlingshafte Wienerluft ein. Für einen winzigen Moment flackerte das Wort ZUKUNFT rosig und hell wie eine Prater-Leuchtschrift hinter seinen Lidern auf. Da knatterte auf der Straße hinter ihm ein mit Eisblöcken beladener Lieferwagen der Vereinigten Wiener Eisfabriken vorbei, und er ging in die Trafik zurück.
Die ersten Menschen, die der aufgeklebten Absonderlichkeit an der Auslage der Trsnjek-Trafik nähere Beachtung schenkten, waren drei Rentnerinnen, die ihre runzligen, wie aus Wurzelholz geschnitzten Gesichter so nah wie möglich an den Zettel heranreckten. Franz, der reglos im Schatten der Verkaufstheke saß, beobachtete, wie sie die Augen zukniffen, bis diese beinahe gänzlich in ihren Faltennestern verschwanden, und wie sich ihre welken Lippen im stummen Chor bewegten, um die Worte zu entziffern. Keine der drei schien auch nur das Geringste zu verstehen. Eine Weile standen sie mit offenen, zahnlosen Mündern da, dann trippelten sie davon. Als Nächstes blieben zwei Mädchen in hellen Mänteln vor der Auslage stehen. Nachdem sie den Zettel gelesen hatten, legten sie ihre Hände wie kleine Dächer über die Augen, lehnten ihre Köpfe gegen die Scheibe und schauten in den Verkaufsraum hinein. Als sie Franz sahen, liefen sie kichernd davon. Noch während er zusah, wie sich ihre beiden Atemhauchflecken an der Scheibe auflösten, kam schon der nächste Passant heran: ein Arbeiter mit ölverschmiertem Gesicht und einer schiefen Selbstgedrehten im Mundwinkel. Mit gerunzelter Stirn überflog er die Worte, überlegte kurz, betrat dann die Trafik und baute sich vor der Verkaufstheke auf. Was denn das solle, wollte er wissen, die Sache mit der komischen Schmiererei auf dem Zettel da draußen.
Gar nichts, sagte Franz, zumindest nichts Besonderes.
Das könne er sich nicht so richtig vorstellen, meinte der Arbeiter, weil irgendein völlig unbedeutendes Geschreibsel klebe man ja nicht einfach so an die Auslagenscheibe, nur weil einem fad oder langweilig oder beides auf einmal sei.
Das möge zwar sein, sagte Franz, aber was für den einen bedeutsam sei, das sei für den anderen vielleicht eher uninteressant bis nutzlos.
Der Arbeiter starrte auf seine Schuhspitzen und ließ seine Selbstgedrehte nachdenklich in den anderen Mundwinkel hinüberwandern. Ob ihn der junge Trafikant für einen Trottel halte, fragte er leise, einen, der selber nicht entscheiden könne, was für ihn nutzlos oder bedeutsam sei.
Das sei natürlich überhaupt nicht so gemeint gewesen, antwortete Franz wahrheitsgemäß, die Trotteln säßen heutzutage anderswo.
Wo denn, wollte der Arbeiter wissen.
Eigentlich überall, meinte Franz, nur nicht hier in der Trafik.
Der Arbeiter nickte. Da könne der junge Herr Trafikant vielleicht recht haben, meinte er, trotzdem wolle er jetzt endlich wissen, was es, Herrgottsakrament, mit diesem Zettel auf sich habe.
Ein Traum, sagte Franz, nichts weiter als ein Traum.
Von der Selbstgedrehten löste sich ein Ascheflöckchen und trudelte langsam auf die Dielen hinunter.
Wenn das alles sei, meinte der Arbeiter enttäuscht, dann sei es tatsächlich eher nutzlos, zumindest was ihn persönlich betreffe.
Genau das habe er ja gesagt, antwortete Franz, allerdings werde sich eine eventuelle Nutzlosigkeit erst noch herausstellen. Denn vielleicht, fuhr er fort, vielleicht könne so ein wildfremder, an eine Auslage geklebter Traumzettel irgendwann doch bei einem zufällig vorbeikommenden Betrachter etwas bewirken oder bewegen, man wisse nie.
Ja, sagte der Arbeiter mit einem müden Seufzer, man wisse wirklich nie. Ob er aber jetzt erst einmal eine Packung Orient-Tabak, zwei Schachteln Zündhölzer und das Sport-Blatt mitnehmen könne?
Aber selbstverständlich könne er das, sagte Franz, dafür sei so eine Trafik schließlich da.
Von da an klebte Franz jeden Tag einen neuen Zettel neben die Tür. Jeden Morgen, schon vor der Ladenöffnungszeit, trat er im Schlafanzug und mit wirrer Bettfrisur auf die Straße hinaus und klebte einen frisch geträumten Traum an die nachtkühle Auslagenscheibe. Und das blieb nicht unbemerkt. Noch waren die Neugier und die Vergesslichkeit der Menschen stärker als ihre Angst, und die Trafik, die bis vor Kurzem »Zärtliche Magazine« an Juden und Kommunisten verkauft hatte, war jetzt eben die Trafik mit den merkwürdigen, kleinen Geschichten an der Scheibe. Wer vorbeikam und den Zettel entdeckte, der blieb auch stehen, um ihn zu lesen. Die meisten starrten kurz und ausdruckslos darauf und gingen dann weiter. Manche empörten sich wortlos, indem sie angewiderte Gesichter aufsetzten. Andere wiederum schüttelten die Köpfe und riefen ein paar Beschimpfungen gegen die Eingangstür. Hin und wieder jedoch konnte Franz beobachten, wie jemand beim Lesen ein wenig nachdenklich wurde und diese kleine Nachdenklichkeit still mit sich davontrug. Die Leute lasen zum Beispiel:
9. April 1938
Ein Lied wird gesungen, es geht um die Liebe, aber die Melodie eiert vor sich hin, jemand lacht und springt gleich danach von der Votivkirche, aber die Erde ist ja weich, und die Blumen blühen in allen Farben, niemand hat den toten Mann gesehen, und ein Kranich zieht ein Kreuz über den Himmel.
Oder:
12. April 1938
Ich stehe mit der Mutter am See, ein Dampfer kommt auf uns zu, ich habe Angst, aber die Mutter nimmt mich an der Hand: ES IST GUT, DU BIST JA MEIN KIND, doch der Dampfer fährt einfach weiter, der See schwankt, die Mutter ist weg, und der Dampfer kracht in das Herz hinein.
Oder:
15. April 1938
Im Prater geht ein Mädchen, es steigt ins Riesenrad, überall blitzen Hakenkreuze, das Mädchen steigt immer höher, plötzlich brechen die Wurzeln, und das Riesenrad rollt über die Stadt und walzt alles nieder, das Mädchen juchzt, und sein Kleid ist leicht und weiß wie ein Wolkenfetzen.
Den Zettel mit dem Wolkenfetzenkleid fand insbesondere Frau Dr. Dr. Heinzl bemerkenswert, die ihre Wege von der anderen Straßenseite wieder herüberverlegt hatte. Lange stand sie mit gekräuselter Stirn vor der Auslagenscheibe und las den Abschnitt mehrmals hintereinander. Irgendwie fühlte sie sich vielleicht an irgendwas erinnert, unmöglich zu sagen an was. Doch sehr unangenehm kann es nicht gewesen sein, denn als sie schließlich mit leicht gesenktem Kopf in Richtung Schwarzspanierstraße davonging, lachte sie aufs Straßenpflaster hinunter, ein kleines, helles Lachen, wie ein fallengelassenes Schmuckstück.
Eine Woche nach Otto Trsnjeks Abtransport hatte Franz zum ersten Mal versucht, mit dem Trafikanten Kontakt aufzunehmen, beziehungsweise überhaupt erst einmal seinen Aufenthaltsort in Erfahrung zu bringen. Auf der Polizeiwache Alsergrund waren die anwesenden Beamten zwar freundlich, hatten aber erstens keine Zeit und zweitens andere Sorgen. Auf der Polizeiwache »Innere Stadt« war der diensthabende Schalterbeamte zwar weit weniger freundlich, konnte jedoch immerhin auf die für solche Fälle zuständige, erst unlängst eingerichtete Dienststelle der Geheimen Staatspolizei verweisen. Also machte sich Franz auf den Weg zum Morzinplatz, wo sich die Gestapo im ehemaligen Hotel Metropol einquartiert hatte, einem pompösen Gebäude mit dicken Marmorsäulen am Eingangsbereich, vor dem nun drei hohe Hakenkreuzstandarten in der sanften Frühlingsluft klackerten. Hinter den Fenstern der oberen Stockwerke fand geschäftiges Treiben statt, Männer in Uniform oder Frauen in grauen Kostümen mit Aktenstößen in den Armen eilten hin und her oder hielten kurz an, wechselten ein paar Worte, nickten, lächelten und salutierten. Hin und wieder legte jemand seine Mütze auf dem Fensterbrett ab, rauchte in den Frühling hinaus und ließ seinen Blick in Richtung Kahlenberg schweifen. Nur die Fenster der untersten Etage waren dunkel und blind, verborgen hinter Gittern und schweren Rollläden aus Metall.
Franz betrat die Eingangshalle, wo ihm sofort ein Portier in blauer Uniform entgegenkam: »Kann man dem jungen Herrn vielleicht irgendwie behilflich sein?«
»Hoffentlich!«, sagte Franz und lauschte für einen Moment, wie seine Stimme in der Weite des Raumes verhallte. »Ich heiße nämlich Franz Huchel und bin auf der Suche nach einem unschuldigen, nichtsdestotrotz aber mitgenommenen oder verhafteten oder verschleppten Trafikanten namens Otto Trsnjek!«
»Unschuldig ist in diesem Haus erst einmal niemand«, sagte der Portier und verzog seinen Mund zu einem angestrengten Lächeln. »Zumindest niemand, der keine Uniform trägt. Hat denn der junge Herr schon eine schriftliche Eingabe gemacht?«
Franz schüttelte den Kopf. »Eigentlich wollte ich überhaupt nichts einreichen, sondern lediglich den Trafikanten Otto Trsnjek dahin zurückholen, wo er hingehört: in seine Trafik!«
»Ohne Eingabe keine Auskünfte«, sagte der Portier.
Franz blickte zur Decke, an der ein riesiger, mit unzähligen Glasteilchen bestückter Luster hing. Kurz kam es ihm vor, als hätte der Luster angefangen, sich zu bewegen und ganz langsam um seine eigene Achse zu drehen. Er senkte seinen Blick wieder. »Dann komme ich eben wieder!«, sagte er.
»Wie meinen?«, fragte der Portier.
»Dann komme ich eben wieder. Morgen. Übermorgen. Den Tag danach. Und so weiter. Jeden Tag zur gleichen Zeit, nämlich zu Mittag. Und zwar so lange, bis mir jemand sagt, wo sich der Otto Trsnjek befindet, wie es ihm geht und wann ich ihn nach Hause mitnehmen kann!«
Und das tat Franz auch. Jeden Tag um Punkt zwölf Uhr mittags sperrte er die Trafik ab, nahm einen kleinen Umweg über die Berggasse (wo er insgeheim hoffte, die gebeugte Silhouette des Professors hinter einem der Vorhänge im ersten Stock zu entdecken), ging danach über den Franz-Josefs-Kai zum ehemaligen Hotel Metropol hinüber, marschierte durch die hohe Eingangshalle, trat vor den Portier und sagte: »Grüß Gott, ich hätte gerne etwas über den Aufenthaltsort des Trafikanten Otto Trsnjek gewusst!«
In den ersten Tagen hatte der Portier sich noch bemüht, hatte unter Aufbringung seiner ganzen verbeamteten Geduldsfähigkeit versucht zu antworten und allerhand von amtlichen Eingaben, behördlichen Anträgen, vorgefertigten Formularen und vorschriftsmäßigen Dienstwegen erzählt. Doch da dieser impertinente Bursche zu alldem zwar immerzu freundlich nickte, sich ansonsten aber ziemlich ungerührt gab und sich, nachdem er ungefähr eine Viertelstunde stur wie ein Esel dagestanden war, höflich verabschiedete, nur um am nächsten Tag pünktlich um Viertel nach zwölf wieder dazustehen und nach diesem Trafikanten zu fragen, begann der mühselig über viele Dienstjahre ausgebildete Berufsgleichmut des Portiers zu bröckeln, bis er endgültig in sich zusammenbrach. Und als Franz an einem flirrenden Montagmittag erneut vor ihm stand und sagte: »Grüß Gott, ich hätte gerne etwas über den Aufenthaltsort des Trafikanten Otto Trsnjek gewusst!«, antwortete der Portier nur mehr mit einem kaum wahrnehmbaren Zucken seiner Schultern. Dann griff er zum Hörer des schwarzen Telefons, das hinter ihm an der Wand angebracht war, wählte eine zweistellige Nummer und murmelte ein paar unverständliche Worte hinein. Etwa zehn schweigsame Sekunden später flog neben dem Telefon eine Tapetentür auf, und ein Mann in einem beigefarbenen Leinenanzug kam heraus. Er schien zu lächeln, als er auf Franz zuging, doch bei genauerem Hinsehen war es nur ein Schatten unter seinem hellblonden, fast weißen Oberlippenbärtchen. Ein Schattenlächeln, dachte Franz noch, da war der Mann schon bei ihm, riss ihm den Kopf an den Haaren zurück, drehte ihm mit einem blitzschnellen Griff einen Arm auf den Rücken und schleifte ihn durch die Eingangshalle ins Freie.
Franz spürte das Pflaster unter seinen Fersen und die Hand des Mannes, die sich wie eine Holzklemme um seinen Unterarm spannte, er sah den leicht bewölkten Himmel über sich und die drei Hakenkreuzstandarten. Dann gab es einen Ruck, sein Arm war plötzlich frei, und im nächsten Moment knallte er mit dem Gesicht auf den Boden. Er taumelte in ein schwarzes Loch und hörte ein merkwürdiges Geräusch. Wie ein feuchtes Zweiglein in der Glut, dachte er noch, bevor er versank. Als er einige Augenblicke später wieder ins Licht zurücktauchte, blickte er direkt auf die Schuhe des Blonden. Es waren glänzend geputzte Halbschuhe, aus weichem Leder gearbeitet und aufwändig vernäht. Kein Riss, kein Fleck, kein Staubkorn, nur feines, glattes, makelloses Leder. Franz hob den Kopf und blickte in das Gesicht des Mannes. Von hier unten, im Gegenlicht des Mittagshimmels, sah das Bärtchen aus wie flimmernder Bast. Neben ihm tauchte der blau bemützte Kopf des Portiers auf.
»Besser wird vielleicht sein, der junge Herr kommt nicht mehr hierher. Es könnte nämlich sonst passieren …« Er machte eine Pause, in der er sich umständlich räusperte und ein paar unsichtbare Körnchen aus den Augen blinzelte, »sonst könnte es nämlich passieren, dass er länger im Hotel Metropol zu Gast bleibt, als es ihm angenehm ist. Hat der junge Herr das denn verstanden?« Franz nickte. Der Portier zog ein schneeweißes Taschentuch aus seiner Brusttasche. Er entfaltete es sorgfältig, hielt es gegen das Licht wie ein Sonnensegel und betastete mit der Spitze seines Ringfingers den fein gestickten Saum und die akkurat gebügelten Falten. Dann bückte er sich, drückte es Franz zwischen die Finger und sagte: »Wisch dir das Blut aus dem Gesicht, Burschi. Und geh nach Hause.«
Erst als die beiden wieder im Gebäude verschwunden waren, presste sich Franz das Taschentuch gegen den Mund. Sofort tränkte sich der Stoff mit hellem Blut. Die Zunge war geschwollen und lag heiß und fremd in der Mundhöhle. Einer der Schneidezähne wackelte. Franz fasste ihn vorsichtig mit den Fingerspitzen und zog daran. Mit einem kleinen Ruck gab er nach. Es war ein schöner, glatter Zahn. Nur die Wurzel war scharfkantig abgebrochen und blutig. Er würde ihn in die Schublade seines Nachtkästchens legen, dachte Franz, gleich neben die Karten und den Brief der Mutter und den kleinen Körper des aus der Nacht gefallenen Falters.
Drei Wochen später, am Morgen des 17. Mai 1938, kündigte sich der Sommer an. Ein angenehm laues Lüftchen trieb die Nachtkühle aus den Straßen und über die Donau weit in die Schwechater Ebenen hinaus. Überall in der Stadt gingen die Fenster auf, Decken und Polster wurden ausgeschüttelt, und Daunenfedern schwebten durch die Luft wie weiße Blüten. In der Früh standen vor den Bäckern die Schichtarbeiter und die Hausfrauen Schlange, und es roch nach frischen Semmeln und Kaffee. Die ersten Straßenbahnen quietschten träge aus ihren Remisen, und da und dort dampften auf dem Pflaster die Pferdeäpfel der Milchhaflinger. Am Naschmarkt hatten die Standler längst schon ihre Waren ausgelegt, und am alten Stand des noch älteren Herrn Podgacék stritten sich die ersten Pensionistinnen um die größten Karfiolköpfe und die mehligsten Erdäpfel. Auf der Praterhauptallee trafen sich die Gewichtheber der Straßenbahner Sportvereinigung zum letzten Frischlufttraining vor dem großen Kampf gegen die Germania. Lustlos dehnten und streckten sie ihre Glieder und blickten gähnend über die Kastanienbäume hinweg, wo die Riesenradgondeln in der Morgensonne glänzten. Im Keller der Gestapo-Dienststelle, in der ehemaligen Wäscherei des Hotels Metropol, mussten sich fünfzehn jüdische Geschäftsleute nackt ausziehen und mit den Händen über dem Kopf auf die Abholung zum Einzelverhör warten. In der Mitte des Raums waren ihre Kleider zu einem Haufen zusammengeworfen, dessen Spitze eine Mütze bildete, kariert und zerknautscht wie die Mütze eines amerikanischen Stummfilmkomikers. Am Gleis II des Wiener Westbahnhofs saßen vierhundertzweiundfünfzig politische Gefangene zusammengedrängt in den hinteren Waggons eines Sonderzugs und warteten auf die Abfahrt nach Dachau. Am gegenüberliegenden Bahnsteig saßen eine alte Frau und ein kleiner Bub nebeneinander auf einer Bank und bissen abwechselnd von einem großen Butterbrot ab. Hoch über ihnen, unter dem Bahnhofsdach, purzelten ein paar Schwalben aus einer dämmrigen Ecke, zischten ins Freie und verschwanden in Richtung Hütteldorf. Als das Pfeifsignal zur Abfahrt losschrillte und der Zug sich in Bewegung setzte, hüpfte der Bub von der Bank und lief winkend und lachend den Bahnsteig entlang. In diesem Augenblick geschah etwas Seltsames: Alle Gefangenen an den Fenstern winkten zurück. Der Bub rannte bis zum Ende des Bahnsteigs. Dann blieb er stehen und legte seine Hand über die Augen. Noch von Weitem, als der Zug sich allmählich im Gegenlicht der Morgensonne auflöste, sah er aus wie ein riesiger, davonkriechender Wurm mit unzähligen winkenden Gliedern.
Ungefähr um diese Zeit keuchte der Briefträger Heribert Pfründner mit seiner steinschweren Posttasche die Berggasse hinauf. Er schwitzte stark, hatte Bauchweh und immer noch den Geschmack des Frühstückskaffees seiner Frau im Mund: schal, fad und zudem ein bisschen bitter. So wie das ganze Briefträgerleben, dachte Heribert Pfründner missmutig, zumindest vor neun Uhr morgens. Seit die Nazis sich auch in der Postzentrale eingenistet hatten, bekamen die Wiener ihre Briefe bereits in aller Herrgottsfrühe, was zur Folge hatte, dass Heribert Pfründner wie die anderen Kollegen noch eine Stunde früher aus den Federn kriechen musste und der Kaffee ihm noch schaler, fader und bitterer im Magen herumzuschwappen schien, als er das in den letzten dreiunddreißig Dienstjahren sowieso schon getan hatte. Dabei könnte man jetzt auch an einem See oder Teich oder wenigstens irgendeinem nicht übermäßig von Gelsenschwärmen verseuchten Wienerwaldtümpel sitzen, seine geschwollenen Füße ins Wasser tauchen und an nichts denken, dachte er, oder zumindest am Donauufer liegen, das dritte Seidel Bier trinken und der Zeit zuschauen, wie sie träge an einem vorbeirinnt. Vor der Berggasse 19 lungerten wie immer seit einigen Wochen die beiden Zivilen herum, schiefe Gestalten mit zigarettengelben Gesichtern und schattigen Augen.
»Heilhitler!«, murmelte der Briefträger und nestelte mit seinen schweißigen Händen am Schlüsselbund herum, um das Tor aufzusperren und zu den Briefkästen zu gelangen. Auch diesmal hielten sie ihn auf. Immer hielten sie ihn auf. Immer wollten sie wissen, was sich denn in der Posttasche befände. Immer ließen sie sich vor allem die an Professor Sigmund Freud adressierten Briefe zeigen, hielten die Umschläge gegen das Licht, entzifferten die Absender und versuchten mit ihren zigarettengelben Fingern den Inhalt zu ertasten. Und immer behielten sie einen oder mehrere davon bei sich. Heute waren es zwei: ein großer, schwerer Umschlag, mit zerfließender Füllfederschrift an den »Höchstverehrten Herrn Professor Dr. Freud« adressiert, sowie ein hellblaues Briefchen mit leicht abgestoßenen Kanten. Wahrscheinlich aus England, dachte Heribert Pfründner, oder vielleicht aus Holland, jedenfalls aus irgendeinem Land mit einer streng und doch irgendwie gütig dreinschauenden Königin auf den Briefmarken. Er sperrte auf, verteilte die Post schnell auf die Briefkästen und ging mit einem wortlosen Nicken. Längst waren die verdächtigen Briefe in den ausgebeulten Manteltaschen der Zivilen verschwunden. Und vielleicht, wer weiß, hatten sie ja sogar recht, dachte Heribert Pfründner, immerhin war dieser Freud erstens ein Professor und zweitens ein Jud, und bei beidem konnte man bekanntlich nie so genau wissen. Mit Sicherheit aber war er der beste Postkunde im Abschnitt, dementsprechend hatte die Tasche nach dem Einwurf in der Bergasse 19 auch dieses Mal einen großen Teil ihres Gewichtes verloren, was die verbleibende Dienststrecke weit angenehmer und leichter zu bewältigen machte. Und als der Briefträger Heribert Pfründner schließlich in die Währingerstraße einbog und im klaren Frühmorgenlicht vor sich die magere Gestalt des jungen Trafikanten Franz Huchel ins Freie treten sah, da verspürte er in den Waden bereits dieses wohltuend kühle, federleichte Gefühl, das das nahende Ende der Schicht ankündigte.
Die ganze Nacht hatte Franz sich durch wirres Traumgepolter gewälzt, ein rasendes Durcheinander aus Worten, Tönen und Bildern. Das Aufwachen war eine Erlösung, und obwohl sich schon mit dem ersten Wachblinzeln die Erinnerung aufzulösen begann wie eine Nebelschwade in der Morgendämmerung, bemühte er sich, das ganze Chaos wenigstens mit ein paar Worten aufs Papier zu bringen. Mit immer noch etwas verschleiertem Blick trat er kurz darauf vor die Trafik und klebte den Zettel an die Auslagenscheibe. Ein kurzer Schmerz blitzte in seinem Mund auf. Schon wenige Tage nach seinem letzten Besuch bei der Gestapo waren die Zunge und der Kiefer wieder abgeschwollen, und er hatte sich einigermaßen an das neue Loch im Mund gewöhnt. Insgeheim mochte er die Zahnlücke sogar, und während er mit der Zungenspitze daran herumspielte und die glatten Wände der Nachbarzähne und den weichen, warmen Boden des langsam verheilenden Zahnfleisches ertastete, dachte er an Anezka, an ihre Zähne, ihre Lücke, ihre rosige Zunge.
»Heilitler! Darf ich?« Auf weichen Sohlen war der Briefträger von hinten herangetreten, beugte sich nun, gekonnt ein gewisses Interesse vorgebend, nah an die Auslage heran und las:
17. Mai 1938
Eine Straßenbahn bimmelt durch den Wald, die Hasenaugen sind dunkle Tropfen, in den Bäumen hängen Gondeln, und über den Wolken hockt die weiße Angst, etwas nagt an meinen Wurzeln, hätte man vielleicht die Glut löschen sollen?
»Aha«, sagte der Briefträger und versuchte sich aus seiner leichten Erstarrung herauszuruckeln. »Interessant. Vor allem die Stelle mit dem Hasen!«
»Ja«, sagte Franz. »Haben Sie Post für mich?«
»Ach so, selbstverständlich«, nickte der Briefträger und holte aus seiner mittlerweile angenehm schlaffen Tasche das letzte Paket der Tagestour: eine längliche, in braunes Packpapier gewickelte und akkurat verklebte Schachtel. »Ich darf bitten: heute sogar ein behördliches Packerl!«
Franz nahm das Paket und bedankte sich. Mit einem kurzen Grunzlaut, der wahrscheinlich wohlwollende Freundlichkeit vorstellen sollte, tippte sich der Briefträger an seine Mütze und machte sich leichten Fußes auf die letzten hundert Meter des Weges, seinen vorauseilenden und freudigen Gedanken an das erste Vormittagsbier hinterher.
Franz trug das Paket hinein, legte es auf die Verkaufstheke und betrachtete es im Licht der kleinen Lampe. Die Sendung war an ihn persönlich gerichtet. An Herrn Franz Huchel, Geschäftsführung Tabaktrafik Trsnjek, Wien 9, Währingerstraße. Der Absender war amtlich blau gestempelt und lautete: Der Inspekteur der Sicherheitspolizei, Wien 1, Morzinplatz 4. Für einen Moment spürte Franz, wie sich in seinem Brustkorb das Wort »Geschäftsführer« zu einem angenehm warmen Gefühl des Stolzes ausweitete, dann riss er das Paket auf und öffnete die Schachtel. Ganz oben lag das Anschreiben, ebenso amtlich blau gestempelt, mit der Maschine getippt und undeutlich unterschrieben:
Der Inspekteur der Sicherheitspolizei
Wien 1, den ….. 16. Mai 1938…..
…………L VII – 75 / 39 g…………
Bitte in der Antwort vorstehendes Geschäftszeichen und Datum anzugeben
An
Herrn Franz Huchel
Geschäftsführer der
Tabaktrafik Trsnjek
Währingerstraße
Wien 9
Betrifft: Rücksendung persönlicher (Wert-)Gegenstände
Anlagen: 1
Zur oben genannten Angelegenheit erlauben wir uns, Sie hiermit vom Ableben des Ihnen bekannten Trafikanten Herrn Otto Trsnjek in Kenntnis zu setzen. Herr T. ist in der Nacht zum 14. Mai in den Räumlichkeiten der Gestapo-Leitzentrale, Wien 1, Morzinplatz 4, seinem nicht näher zu bestimmenden Herzleiden erlegen. Die Bestattung durch die Stadt Wien fand am 15. Mai 1938 am Wiener Zentralfriedhof, Gruppe 40, Zeile IV, 2 statt.
Herr T. wurde im April dieses Jahres erkennungsdienstlich erfasst und angeklagt wegen
des Verdachts der staatsfeindlichen Betätigung,
des Vergehens gegen die öffentliche Ruhe und Ordnung,
des Vergehens nach dem Heimtückegesetz,
des unrechtmäßigen Besitzes von parteiamtlichen Stampiglien.
Über die Beschlagnahmung und die Einziehung der Vermögensstücke und Vermögenswerte (so vorhanden) wird in den nächsten Wochen befunden. Bis dahin sind alle Rechte und Ansprüche Dritter an diesen Vermögensstücken und Vermögenswerten unrechtens. Für diesen Zeitraum wird Herr Franz Huchel, geb. am 7. August 1920 in Nußdorf am Attersee, per einstweiliger Verfügung ermächtigt, die zur Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebes notwendigen Vorkehrungen zu treffen und die vorläufige Geschäftsführung der Tabaktrafik Trsnjek zu übernehmen.
Zu unserer Entlastung schicken wir Ihnen die anfallenden persönlichen Wertsachen des Herrn Trsnjek zurück. Es sind dies:
1 Schlüsselbund
1 Geldbörse (leer)
1 Foto (unbekannte Person)
1 Wollweste
1 Paar Schuhe
1 Hose (beschädigt)
Abschrift: B/MA/G
Verw. Rat Dr. Kernsteiner
Unterschrift …………………
Franz legte das Schreiben auf den Stapel mit den Magazinen für die moderne Frau und breitete die Sachen auf der Verkaufstheke aus: die Schuhe in die Mitte, links davon das Wollwestenbündel, den Schlüsselbund oben am Rand der Schreibunterlage, die Geldbörse neben das Tintenfass und das Foto direkt in den Lichtkegel der Schreibtischlampe. Das Bild zeigte Otto Trsnjek als jungen Mann in Uniform, er stand mit dem Rücken an eine Ziegelmauer gelehnt. Das linke Bein war angewinkelt und gegen die Mauer gestemmt. Neben seiner Schulter hing, vielleicht an einem Nagel oder an einem schlampig vermauerten Ziegel, seine Mütze. Er sah müde aus. Es schien, als wolle er sein komplettes Körpergewicht an die Mauer abgeben. Er blickte knapp an der Kamera vorbei irgendwo in eine weite Ferne. Die Sachen auf der Verkaufstheke sahen schön aus. Man müsste das malen, dachte Franz, oder den Fotografen vom Ponykarussell engagieren, der könnte sie abfotografieren. Ein kleines Trafikantenstillleben. Er nahm die akkurat zusammengefaltete Hose, schlug sie vor seiner Brust auseinander, hielt sie gegen die Auslagenscheibe und ließ den Hosenstumpfzipfel im Gegenlicht pendeln. Das Gewebe war dünn und fadenscheinig. Hätte der Trafikant die Hose noch eine Weile getragen, so hätte sein Knie bald wie durch ein zart vergittertes Fensterchen ins Freie hinausschauen können. Franz legte sie auf die Verkaufstheke zurück, schloss die Trafik ab und ging in sein Kämmerchen. Er zog die Tür hinter sich zu und starrte eine Weile in die Dunkelheit. Plötzlich knickten seine Beine ein, und er sank neben seinem Bett auf den Boden. Und dort blieb er liegen und weinte, bis er keine Tränen mehr hatte.
Kurz vor Ladenschluss stand er auf und ging wieder nach vorne. Er faltete Otto Trsnjeks Hose zusammen und ging mit ihr in die Fleischerei Roßhuber hinüber. Der Fleischermeister und seine Frau standen hinter der Theke und pressten schwere Fleisch- und Fettstücke durch eine Faschiermaschine. Frau Roßhuber stopfte die dunkelroten, gelben und bläulichen Brocken an der einen Seite hinein, während ihr Mann an der anderen Seite den trägen Schwall rosiger Würmer in Empfang nahm, zu Haufen formte, in Fettpapier wickelte und die faustgroßen Päckchen eins neben dem andern auf eine Blechplatte patschen ließ. Als die Tür aufging und der Trafikantbub von nebenan hereinkam, hoben sie nicht einmal den Kopf, bückten sich nur noch umso gewissenhafter an die Maschine heran. Doch als Franz die kleine Schwingtür neben dem Eiskasten aufstieß und zu ihnen hinter die Theke kam, einfach so, ohne zu grüßen, ohne zu fragen, ohne überhaupt irgendetwas zu sagen, da stutzten sie, richteten sich auf, traten einen Schritt zurück und verschränkten ihre blutigen Unterarme vor ihren blutigen Schürzen.
»Was willst?«, fragte der Fleischermeister und blickte auf die Bodenfliesen hinunter, wo das Blut und das Eiswasser zu seltsamen Schlieren zusammenliefen. Franz legte die Hose neben die fettigen Päckchen auf das Blech und sagte: »Die hat dem Otto Trsnjek gehört. Jetzt ist er tot.«
Roßhuber wurde blass. Wie Marmor, dachte Franz, wie einer von diesen Marmorheiligen, die in den Kirchen herumstehen und die Leute mit ihren kalten Steinaugen anschauen: groß, blass und starr. Der Fleischer öffnete seinen kleinen Kindermund. Seine Zähne waren schmal und gelb, das Zahnfleisch rosig wie die Fleischwürmer, die hinter ihm noch immer aus der Maschine krochen. »Und was haben wir damit zu tun?«, fragte er.
»Ihr habt seine Trafik beschmiert«, sagte Franz. »Ihr habt ihn beschimpft. Ihr habt ihn verraten. Und ihr habt ihn erschlagen!« Der Fleischermeister hob seinen schweren Kopf und starrte Franz stumm gegen die Stirn.
»Jetzt sag halt was!«, sagte seine Frau und wischte sich nervös ein paar Bröckchen Faschiertes von den Armen. Roßhuber hob die Schultern, ließ sie wieder sinken, schnaufte, zupfte seine Schürze zurecht, stierte vor sich hin, schnaufte noch einmal, schwieg.
»Vielleicht hat er ja nichts mehr zu sagen.« Franz trat einen Schritt zum Fleischermeister hin und blickte ihn an. Über die Marmorwangen huschten rosarote Flecken, wie letzte Wolkenfetzen nach einem Abendgewitter. In seinem Mundwinkel hing ein glitzerndes Spuckebläschen. Franz hob seine Hände und betrachtete die glatte Haut auf seinen Handrücken. »Die Mutter hat immer gesagt, ich hab ganz zarte Händ’. Zart, weiß und weich, wie von einem Mädchen. Ich hab das nie hören wollen, aber mittlerweile glaube ich, sie hat recht …« Er ließ seine Hände wieder sinken. Dann holte er mit der Rechten aus und verpasste dem Fleischermeister einen klatschenden Schlag ins Gesicht.
Roßhuber rührte sich nicht. Er rührte sich nicht und gab keinen Laut von sich. Er stand nur da und stierte durch Franz hindurch, schwer, stumm und unbeweglich. Das Bläschen in seinem Mundwinkel war geplatzt. Seine Wange war leicht gerötet, und unter dem Jochbein waren zwei schmale Abdrücke zu sehen.
»Eduard!«, sagte die Frau mit vor Entsetzen verzerrtem Gesicht in die kühle Verkaufsraumstille hinein. »Eduard, jetzt mach halt was!«
Doch der Fleischermeister machte nichts. Erst lange nachdem Franz Otto Trsnjeks Hose unter den Arm genommen und die Fleischerei verlassen hatte, bewegte er sich wieder. Ganz langsam hob er beide Hände und ließ mit einem langgezogenen, dumpfen Stöhnen sein Gesicht in die Handflächen sinken.
Liebe Mama,
ich hätte Dir gerne wieder eine Karte geschickt (es sind ein paar neue gekommen, besonders imposante, mit Karlskirche, Geranien, Gloriette und so weiter). Aber gewisse Worte vertragen keine Bilder, sondern brauchen ein Kuvert. Weil ich es nicht besser sagen kann, sag ich es eben so wie es ist: Gestern ist der Otto Trsnjek gestorben. Sein Herz ist einfach stehengeblieben. Vielleicht hat es nicht mehr mitgewollt, mit dem ganzen Leben, mit der Zeit und mit allem anderen. Gemerkt hat er wahrscheinlich gar nichts. Ganz friedlich ist er eingeschlafen. Und zwar im Burgenland, dort wo er herkommt. Bitte liebe Mama, sei nicht traurig. Oder bitte sei doch traurig. Der Otto Trsnjek hat es nämlich verdient. Aber das weißt Du sowieso besser als ich. Ich bleib jetzt erst einmal hier. Weil: Was soll man denn sonst tun? Außerdem muss die Trafik weitergeführt werden. Unbedingt muss es weitergehen. Und es gibt ja auch wirklich genug zu tun. Alles rundherum ist irgendwie im Aufbruch, kommt mir vor. Hoffentlich bricht nicht alles auseinander. Was bleibt, ist der See. Die Berge und die Wolken werden sich länger darin spiegeln als die paar dürren Hakenkreuzstangeln, das kannst Du mir glauben! Liebe Mama, hiermit endige ich den traurigen Brief und umarme Dich herzlich,
Dein Franz
Die Stille und die Weite, dachte Franz, während er auf dem Kahlenberg in der Nähe der Stefaniewarte auf einem vom Blitz getroffenen, schwarzen Baumstamm hockte und auf Wien hinabblickte, die Stille und die Weite, das Klare und das Tiefe, das Dunstige und das Heimliche, die Sonne, der Regen, die Stadt, der See, der Berg. Wobei gerade dieser Kahlenberg natürlich kein Berg ist, dachte er weiter, zumindest kein ernstzunehmender Berg, wie es zum Beispiel der Schafberg ist, oder der Hochleckenkogel, oder gar das Höllengebirge. Im Salzkammergut würde der Kahlenberg höchstens als Hügel durchgehen, dachte er, wenn überhaupt. Eher als unwesentliche Erhebung, oder als Anhöhe, oder einfach nur als großer Erdhaufen mit ziemlich schütterem Waldbewuchs. Aber die Wiener denken da anders, dachte er weiter, für die Wiener gilt der Kahlenberg nicht nur als richtiger Berg, sondern noch dazu als der schönste, der höchste und als der vor allem an Sonn- und Feiertagen von der naturhungrigen Bevölkerung überrannteste Berg der gesamten Umgebung. Jetzt allerdings, am frühen Abend an einem ganz normalen Wochentag war kein Mensch zu sehen. Niemand stolperte im Unterholz auf der Suche nach Ruhe oder Eierschwammerln herum, niemand schrie seinen Dackeln, seinen Kindern und seiner eigenen guten Laune hinterher, und niemand breitete seine Wolldecke aus, um eine späte Jause mitsamt den dazugehörigen warmen Bieren zu genießen. Franz war alleine. Und wenn der Kahlenberg auch nur die vom lieben Gott verpfuschte Nachbildung eines richtigen Berges war, war es doch irgendwie schön hier oben. Man konnte still vor sich hin denken, es roch nach Sonne und Wald und das sonst immer gegenwärtige Stadtgetöse drang nur als zarte Ahnung herauf. Nach dem kurzen Besuch in der Fleischerei war er zurück in die Trafik gegangen. Er hatte den zweiten Brief seines Lebens an die Mutter geschrieben, hatte dann die Sachen des Trafikanten, mit Ausnahme der Hose, feinsäuberlich in einen großen Zigarettenkarton gepackt, einen Zettel mit der Aufschrift HERRN OTTO TRSNJEKS LETZTE DINGE draufgeklebt und sie unter der Verkaufstheke verstaut. Er hatte die Kunden bedient, eine Lieferung mit Schulheften (vierzig Seiten, zwanzig Seiten, glatt, liniert, kariert, mit und ohne Rand) entgegengenommen und die hochwertigen Zigarren in ihren Kisten gewendet, um sie vor der Feuchtigkeit zu schützen. Vor allem aber hatte er seit Langem wieder einmal Zeitung gelesen, wenn auch nicht alle Blätter, so doch zumindest die meisten, und wenn schon nicht von vorne bis hinten, so doch zumindest zum größeren Teil. Pünktlich um sechs hatte er sich schließlich an die Tagesabrechnung gemacht. Aber schon während er den Stöpsel von Otto Trsnjeks Füllfeder abschraubte, war ihm irgendwie komisch zumute, und als er dann die ersten Zahlen in die Buchhaltung kritzelte, überkam ihn eine nie gekannte, schmerzhafte Sehnsucht, und seine Hand begann so heftig zu zittern, dass hintereinander drei dicke Tintentropfen von der Federspitze tropften und genau in der Mitte der Saldospalte drei stachelige, schwarzblaue Kleckse bildeten. Franz wollte hinaus, ins Freie, an die Luft, in den Wald, auf den Berg, selbst wenn der Berg nichts weiter war als ein Erdhaufen am Wiener Stadtrand. Er schraubte die Füllfeder wieder zu, machte sich nicht einmal die Mühe, mit seinem Schwämmchen die Tintenflecken aufzutupfen, sperrte die Trafik ab und eilte dem würzigen Ostwind entgegen, in Richtung Kahlenberg.
Der Baumstamm, auf dem er saß, war immer noch sonnenwarm und roch angenehm modrig. An einer Stelle krochen rote Käfer durcheinander, krabbelten unter ein fauliges Rindenstück, kamen wieder hervor, verschwanden wieder. Wer nichts weiß, hat keine Sorgen, dachte Franz, aber wenn es schon schwer genug ist, sich das Wissen mühsam anzulernen, so ist es doch noch viel schwerer, wenn nicht sogar praktisch unmöglich, das einmal Gewusste zu vergessen. Er ließ einen der Käfer auf seinen Zeigefinger krabbeln. Sofort begann er wie wild um die Fingerkuppe herumzurennen. Behutsam setzte er ihn zurück aufs Rindenstück und sah zu, wie er im Gewimmel verschwand. Die Rücken der Käfer sahen aus wie kleine Ritterschilde, ihre Beinchen wie winzige, umherzuckende Buchstaben, die immer neue Worte, Sätze, Geschichten bildeten, während sie da so über den saftigen Kahlenbergboden krabbelten. Er musste an die Zeitungen denken, an die Schlagzeilen. So viel Aufregung, so viel gedrucktes Geschrei. Und doch war alles in Ordnung, schienen sie zu sagen, im Grunde genommen lief alles prächtig, wunderbar, hervorragend, ja geradezu fabelhaft! Natürlich wurde gerade Geschichte geschrieben – aber wann wurde das nicht? Umbrüche fanden statt – aber waren die nicht auch nötig? Staatsfeindliches Vermögen von Kommunisten und Querdenkern wurde beschlagnahmt – aber war das nicht nur gerecht? Jüdische Besitztümer wurden eingezogen, ihre Geschäfte geschlossen und von braven Bürgerinnen und Bürgern weitergeführt – aber waren das nicht einfach nur längst überfällige Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in unserer gemütlichen Wienerstadt? In unserem duldsamen, gottgeliebten Staate Österreich? Es geht ja voran! Es ist ja was los! Es tut sich ja allerorten was! Eröffnung der Ausstellung Entartete Kunst im Künstlerhaus! Schockierend! Der Führer in Italien! Der Führer in München! Der Führer in Salzburg! Der Führer überall! Unglaublich! Mussolini hält eine Rede! Goebbels spricht in Düsseldorf! Toll! Jüdische Kampfansage an England! Der Wettbewerb der Reichsbahnschützen findet in Wien-Kagran statt! Ein Kommunist bringt sich um! Noch einer! Und noch einer! Aber hatten sie es nicht auch ein kleines bisschen verdient, verehrte Leserinnen und Leser? Heute große Blumenschau in Favoriten! Eintritt für Kinder und Kriegsversehrte umsonst! Wo gibts denn so etwas! Der Prater wird von behördlicher Seite vom ausländischen Gesindel gesäubert! Heute Freibier für alle! Morgen große Flugschau! Kommen Sie alle! Sehen Sie sich das an! Bringen Sie Ihre Familie mit! Haben Sie heute schon gelacht? Unser Bild zeigt den Führer bei der Besichtigung der unüberwindbaren Atombunker! Das Wetter in der Ostmark: windig und leicht bewölkt! Heute im Theater: Lisa, benimm dich! (Komödie)! Morgen im Kino: Die kluge Schwiegermutter (Komödie)! Die Welt dreht sich! Alles ist gut! Im Lichtspielhaus wurde gestern ein Kind geboren! Es lebe hoch! Die Gestapo feiert Dienstjubiläum! Bald ist Muttertag! Bald ist Weihnachten! Wien, Wien nur du allein, du sollst die Stadt meiner Träume sein!
Franz blickte über die Stadt. Die Sonne stand tief, die Dächer glänzten, hie und da blitzte ein verirrter Sonnenstrahl herauf, und die Donau wand sich silbrig zwischen den Häusern hindurch und verschwand in den weiten, dunklen Auen. Dort irgendwo musste die Trafik liegen. Daneben die Votivkirche. Der Morzinplatz. Die Oper. Der Prater mit dem Riesenrad. Das Riesenrad, unter dessen Schatten jetzt gleich die Vorstellung beginnen würde. Jeden Moment würde der Echsenmann die Türen schließen. Das Narbenmädchen würde noch einmal über die von Bier und Schnaps feuchte Theke wischen und dann die Scheinwerfer anmachen. Monsieur de Caballé würde auf die Bühne kommen. Die Witze. Hitler. Der Hund. Das wunderbare Grammofon. N’tschina, das scheue Mädchen aus dem Indianerland. Alles wie immer, alles wie sonst. Er schloss die Augen. Was sollte man noch denken, an einem solchen Tag, in solchen Zeiten, alleine auf einem Berg, der gar kein Berg war, ein paar rote Käfer und eine verrückt gewordene Stadt zu Füßen? Alles war denkbar. Alles war möglich. Wer das Gesindel vom Straßenpflaster fegt und die jüdischen Ratten aus ihren Löchern bläst, wer Hakenkreuze ins Seeufer pflanzt und einen Dampfer »Heimkehr« nennt, wer Trafikanten erschlägt und Mütter auf ungemachte Betten wirft, wer tagsüber am Heldenplatz eine Legion von Händen gegen den Himmel reckt und abends brüllend durch die Gassen rennt, der würde auch das Riesenrad aus seinen Angeln heben oder eine kleine, grüne Grotte in den Erdboden stampfen.
Mit einem Mal spürte Franz einen Schmerz an seiner linken Hand, ein leichtes Brennen an den Fingergliedern, an Kuppen, Kanten und Knöcheln. Winzige Brandherde, die sich rasch vermehrten, sich zu feinen Glutlinien verzweigten: über das Handgelenk, den Unterarm, den Oberarm, die Schulter. Hunderte füllfederspitzenzarte, hell brennende Namenszüge. Anezka, dachte Franz, Anezka. Und dann lief er los. Verzweifelt stürzte er den Abhang hinunter. Der Boden unter seinen Füßen war weich und feucht, die Felsbrocken waren mit dunklem Moos überwachsen, und über ihm rauschten die Baumkronen. Er rannte, so schnell er konnte, und hörte seinen eigenen Atem wie das Keuchen eines Fremden. Und für einen Moment wusste er nicht mehr, ob die Zweige, die ihm ins Gesicht, gegen die Brust und an die Arme schlugen, Wirklichkeit waren oder ob er sich in seinem eigenen Traum befand, ob er hellwach oder träumend die steilen Hänge des Kahlenberges hinunterflog.
Die Vorstellung ging schon ihrem Ende zu, als Franz eine Stunde darauf atemlos und mit erdverklebten Schuhen die Grotte betrat. Die Echse reckte ihm ihr Köpfchen entgegen, erließ die Hälfte des Eintrittsgeldes und öffnete die Tapetentür. N’tschina hatte offenbar bereits ausgetanzt und die Bühne verlassen. In den bierstumpfen Augen der Männer glühte immer noch der Funken, den sie dort entzündet hatte. Im Scheinwerferlicht stand ein dicklicher Mann mit Halbglatze. Er trug einen zitronengelben Anzug, schwenkte seine Arme durch die Luft und sprach mit heiserer Fistelstimme ins Publikum. Hinter der Theke stand das Narbenmädchen. Ihr Gesicht flackerte im Kerzenlicht, die Narbe auf ihrer Wange sah aus wie gezeichnet, scharf und dunkel. Sie begrüßte Franz mit einem kurzen Nicken. An einem Tisch im Hintergrund saßen drei Männer in schwarzer Uniform. Einer von ihnen, ein jüngerer Mann mit weichen Gesichtszügen und käsiger Haut trug einen Dolch an einer Kette um die Hüfte, die aus einer Reihe silbriger Totenköpfchen bestand. Der Conférencier auf der Bühne erzählte einen Witz. Was man heutzutage eigentlich von einem Judenweib in Sachen Haushaltsführung erwarten dürfe, wollte er wissen. Jemand brüllte ihm die Antwort entgegen, alle lachten und klatschten, und der Zitronengelbe machte ein erstauntes Gesicht. Franz ging in einem Bogen um die Bühne herum und verschwand durch die Tür dahinter. Am Ende eines finsteren Ganges war eine weitere Tür. Ein Lichtstreifen schimmerte darunter hervor, und die Angeln knarrten leise, als er sie öffnete. Der Raum war winzig und hell erleuchtet, ein Geruch nach Schweiß und Schminke lag in der Luft. An einem Wandtisch saß Anezka vor einem von bunten Lämpchen umrahmten Spiegel. Sie trug immer noch ihr Kostüm, die Feder in ihrem Haar zitterte, als Franz eintrat. »Ah, der Burschi!«, sagte sie mit einem Lächeln und wischte sich mit einem Schwämmchen die Kriegsbemalung von den Wangen.
»Anezka«, sagte Franz, und der Name fühlte sich seltsam fremd an, wie noch nie ausgesprochen. »Wo ist der Heinzi?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Weg. Mitgenommen von Gestapo.«
»Warum?«
»Wegen Witze. Und andere Sachen.«
Franz starrte auf ihr Spiegelbild. An einer Stelle war ein Stück aus dem Glas gebrochen. Es sah aus, als hätte sie eine dunkle Kerbe an der Stirn.
»Hast du schon ein Paket bekommen?«, fragte er leise.
»Was für Paket?«
Er schluckte. »Weiß nicht. Gar keins. Ist vielleicht auch Blödsinn …« Inzwischen hatte sie alle Farben weggewischt und fing an, eine Zeigefingerspitze weißer Creme auf Stirn und Wangen zu verteilen. Das Weiß gab ihrem Gesicht etwas Maskenhaftes. Franz musste an die Totenmaske denken, die hinter dem Altar in der Nußdorfer Kapelle hing. Sie zeigte das Antlitz irgendeines Dorfheiligen, dessen Name und Herkunft sowie die Gründe seiner angeblichen Heiligsprechung über die Jahre verloren gegangen waren und der je nach Blickwinkel oder Lichteinfall wahlweise freundlich oder verschlagen in den Kirchenraum schaute und den Kindern während der Sonntagsmesse Angst machte. Eigentlich konnte ihn niemand leiden, aber bislang hatte sich noch kein Pfarrer getraut, ihn abzuhängen und im Kirchenkeller in der Kiste mit den alten, von der Zeit zerfressenen Gebetsbüchern zu verstauen, schließlich wusste man ja doch nie so genau, und sicher ist sicher, denn Gottes Wege sind unergründlich.
Anezka hatte die Creme inzwischen eingerieben. Sie löste ein paar Haarnadeln, zog sich mit einer raschen Bewegung die Perücke vom Kopf und hängte sie an einen Haken neben dem Spiegel. Sie bürstete sich die Haare aus der Stirn und blickte Franz mit rosig glänzendem Gesicht an.
»Wohin ist Zahn gegangen?« fragte sie.
»Weiß nicht«, sagte Franz und befühlte mit der Zungenspitze das glatte Zahnfleisch in der Lücke. Anezka legte die Bürste weg, stand auf und trat nah an ihn heran. Er konnte ihre Schminke riechen, die Kohlepartikelchen an ihren Wimpern, ihre Haut, ihren Schweiß, ihren Atem.
»Hast scheenes Loch im Mund!«, sagte sie und lachte. »Schaust jetzt aus wie ich!«
»Ja«, sagte Franz und schluckte. Plötzlich fühlte er, wie sich ein kleines Schwindelgefühl in ihm ausbreitete. Vielleicht war es die stickige Luft in der Grotte. Vielleicht war er zu schnell gerannt. Er machte einen Schritt nach vorne und zwei Schritte nach rechts und starrte für einen Moment gegen die Wand. Komisch, dachte er, dass man sich in einem so kleinen Raum verirren kann. Die Wand war grob verputzt und fleckig. An einer Stelle steckte ein Haken, an dem ein ausgefranster Faden hing und sich leicht bewegte. Franz spürte sein Herz, ein großes, warmes Pochen in seiner Brust. Irgendwo am Kahlenberghang oder in den Wiener Außenbezirksgassen musste er es abgehängt haben und jetzt erst hatte es ihn wieder eingeholt. Der Faden hörte auf, sich zu bewegen. Das Schwindelgefühl war vorbei. Franz drehte sich um, ging die zwei Schritte zu Anezka zurück, legte eine Hand an ihre Wange und begann zu sprechen, sprudelnd und ohne nachzudenken: »Anezka, ich versteh es ja selber nicht, alle sind verrückt geworden, die Leute schmeißen sich von den Dächern, den Otto Trsnjek haben sie umgebracht, und wer weiß, was gerade mit dem Heinzi geschieht, die Juden hocken auf den Gehsteigen und putzen das Pflaster, als Nächstes sind die Ungarn dran oder die Burgenländer, oder die Böhmen oder was weiß ich, wer sich das Hakenkreuz nicht ins Hirn brennen lässt, der ist dran, wer seinen Arm nicht in den Himmel streckt, kann schon im Hotel Metropol buchen, ein Zimmer ohne Wiederkehr, in Wien hat es sich ausgetanzt, und im Prater geht die schwarze Pest um, hast du es nicht gesehen, die sitzen schon draußen, saufen ihr Bier und warten nur darauf, den nächsten Trafikanten oder Juden oder Witzeerzähler ins Feuer zu schmeißen, Anezka, ich weiß nicht, ob du mich noch willst, und ich weiß nicht, ob ich dich noch will, das ist jetzt auch egal, draußen sitzt die SS und klingelt mit den Sporen, aber vielleicht können wir weggehen, wir beide zusammen, mein ich, irgendwohin wo es ruhig ist, nach Böhmen von mir aus, hinter den dunklen Hügel, oder ins Salzkammergut, die Mama hätt bestimmt nichts dagegen, ich könnte eine Trafik aufmachen, und wir könnten heiraten, einfach so, weil dem lieben Gott ist das sowieso egal, und du wärst dann eine …«
In diesem Augenblick ging die Tür auf, und der käsige junge Mann kam herein. Er hatte seine Mütze unter den Arm geklemmt und blickte sich interessiert um. An seiner Dolchkette klickerten die Totenköpfchen. Franz fühlte, wie sich seine Nackenmuskeln anspannten. So, dachte er, gleich wird die Tür noch einmal aufgehen, und noch mehr schwarze Uniformen werden hereinpoltern. Oder schweigend hereinschleichen wie große, schwarze Vögel. Am liebsten wäre er einfach aus der Garderobe und aus der Grotte gerannt, den ganzen Weg zurück, den Kahlenberg hinauf, auf der anderen Seite gleich wieder hinunter und immer weiter, die Donau entlang, bis zu ihrer Quelle und darüber hinaus. Aber das ging jetzt nicht mehr. Hier stand er. Hier stand Anezka. Und das war alles. Er atmete einmal tief aus und einmal tief ein, trat dann einen Schritt nach vorne, verschränkte die Arme vor der Brust und sagte: »Mein werter Herr, ich möchte Ihnen in aller Höflichkeit mitteilen, dass es mir ehrlicherweise volkommen egal ist, ob Sie eine schwarze Uniform anhaben oder eine blaue oder eine gelbe und ob Sie Totenköpfe oder Kieselsteine oder hinterfotzige Gedanken um den Bauch hängen haben. Allerdings überhaupt nicht egal ist mir dieses böhmische Mädchen hier. Sie ist nämlich Künstlerin und hat ansonsten niemandem etwas getan. Außer, dass sie mich geküsst, respektive erweckt hat und deswegen unter meinem ganz persönlichen Schutz steht. Darum möchte ich Sie, mein werter Herr, hiermit inständig und aufrichtig ersuchen, uns doch in Ruhe zu lassen. Und wenn es ums Verrecken nicht anders gehen will und Sie Ihrem Sturmführer oder Bannführer oder Sturmbannführer oder sonst irgendeinem anderen Führer unbedingt von der Arbeit etwas mitbringen müssen, dann nehmen S’ halt in Gottes Namen mich mit!«
Der junge Mann blinzelte. Seine Wimpern waren lang und sanft geschwungen, seine Stirn hoch, glatt und weiß. Er blickte zu Anezka. Sie seufzte, schien kurz zu überlegen, blies sich eine verirrte Haarsträhne aus der Stirn und seufzte noch einmal. Dann trat sie an ihn heran, umfasste mit beiden Armen seinen Oberköper, schmiegte sich an ihn und legte ihre Wange an seine Schulter, genau an die Stelle, wo zwei dicke, weiße Kordeln von den Schulterklappen herunterbaumelten.
»Ach so ist das«, sagte Franz nach einer Weile. Anezka blinzelte träge.
»Ja, so ist das«, antwortete sie. Franz blickte zur Decke hoch. Für einen Moment kroch ihm ein Gedanke hinter die Stirn, so schmutzig und gemein wie der Lurch, der dort oben zwischen den Bretterritzen heraushing. Doch er verscheuchte ihn wieder. Stattdessen hätte er gerne mit bloßen Händen ein Loch in die Wand gerissen und wäre einfach hindurchgegangen, nur ein paar Pratergässchen weiter bis zum Riesenrad. Er hätte gerne eine der Gondeln bestiegen und sich so lange im Kreis drehen lassen, bis der Schmerz vorüber war. Anezkas rosiger Zeigefinger spielte mit den Kordelschnüren an ihrer Wange. Der junge Mann hatte seine Hand an ihren Nacken gelegt und fing an ihren Haaransatz zu kraulen.
»Man müsste vielleicht …«, sagte Franz und stockte.
»Was?«, fragte Anezka und legte ihre Hand auf die Hand in ihrem Nacken.
Franz zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht« sagte er. »Ich weiß es wirklich nicht.« Dann drehte er sich um und ging.
Als er sich an den Tischen vorbei zum Ausgang drängelte, legte der zitronengelbe Conférencier gerade eine elegante Verbeugung hin und schwenkte dabei seinen Hut über der schweißnassen Glatze. Und noch nachdem er die Grotte längst verlassen hatte und durch die schmale Bretterzaungasse langsam in Richtung Riesenrad steuerte, konnte er hinter sich den gedämpften Applaus hören. Er musste an die Fledermäuse denken, die er als Bub so oft beobachtet hatte und die tagsüber fast reglos an der Decke der Unteracher Kalksteinhöhle hingen und sich erst kurz nach Sonnenuntergang wie auf ein stilles Zeichen von der Decke lösten und in einem gewaltigen Schwarm in die Nacht hinausrauschten.
Seitdem die Nazis mittlerweile in ganz Wien und dementsprechend natürlich auch in der Wiener Postzentrale endgültig das Sagen haben, dachte der Briefträger Heribert Pfründner während er die letzten Meter die Berggasse hinaufstapfte, hat sich ja immerhin nicht alles zum Schlechten und zugegebenermaßen manches vielleicht sogar zum Guten verändert, so viel muss man denen ehrlicherweise schon zugestehen. Zum Beispiel, dachte er weiter, heißen die Briefmarken jetzt Postwertzeichen und sind insgesamt schöner, weil bunter und irgendwie beeindruckender als früher, mit den Adlern und Menschenmengen und Danziger Wappen und den vielen anderen Sachen. Auf manchen Marken war jetzt auch der Führer abgebildet. Im Grunde genommen und trotz der ganzen Deutschtümelei war der Führer immer noch ein Österreicher, dachte Heribert Pfründner, ein waschechter Oberösterreicher aus der zwar schönen, aber doch recht unscheinbaren Ortschaft Braunau am Inn, und also wird der schon wissen, was für so ein Land mitsamt seinen Einwohnern und Postkunden alles gut ist. Wenn nämlich der Führer nicht wüsste, was er macht, wäre er schließlich kein Führer, sondern allerhöchstens Bürgermeister oder Gemeinderatsvorsitzender oder Gemeinderatskassenwart von Braunau am Inn. Obwohl manche Sachen schon auch fragwürdig daherkommen, dachte er, während er den blechernen Geräuschen nachhorchte, die die Kuverts und Postkarten in der Tiefe der Briefkästen des Eckhauses Berggasse/Währingerstraße erzeugten. Zum Beispiel diese Geschichten mit den Juden, die man in letzter Zeit immer öfter hörte: ob es nicht eigentlich doch ein bisschen eine Sauerei war, die Juden aus ihren Wohnungen, Geschäften und Ämtern, insbesondere auch aus allen Postämtern zu schmeißen und sie obendrein noch auf den Knien die Gehsteige auf und ab rutschen zu lassen? Oder diese ungute Sache mit den Briefen, von der man sich in Kollegenkreisen hinter vorgehaltener Hand erzählte. Von ausgedehnten Kellergeschossen unter der Postzentrale war da die Rede, von gleißend hellen Räumen, in denen hunderte Männer und Frauen im Schichtbetrieb Briefe öffneten und je nach Inhalt entweder zur endgültigen Verschickung freigaben oder der Postobrigkeit zur eingehenderen Begutachtung zukommen ließen. Und wirklich musste man ja mittlerweile schon fast jeden zweiten Brief im aufgeschlitzten Kuvert zustellen, was natürlich nichts anderes als eine ausgemachte Schande für jeden einigermaßen ehrenhaften Briefträger und damit insbesondere auch für ihn, Heribert Pfründner, den bekanntermaßen ehrenhaftesten Briefträger des Abschnittes Alsergrund/Rossau und darüber hinaus, darstellte. Aber gut, dachte er, was ging ihn das alles an: Er selber bekam schon lange keine Post mehr, und die wenigen Jahre bis zur Rente würde er auch noch irgendwie herunterkeuchen. Außerdem war er kein Jude, sondern ursprünglicher Obersteiermärker und hatte dementsprechend einen bis in die Steinzeit sauber nachvollziehbaren Stammbaum.
In solchen und noch ganz anderen Gedanken war Heribert Pfründner schließlich in der Währingerstraße vor der kleinen Trafik angelangt, kramte aus seiner mittlerweile angenehm schlapp von der Schulter baumelnden Posttasche ein Exemplar des Alsergrunder Bezirksblattes sowie ein paar bunte Prospekte heraus, warf einen kurzen Blick auf den heutigen Traumzettel an der Auslagenscheibe, stieß die Tür auf und betrat den Verkaufsraum mit einem für seine Verhältnisse ziemlich wohlgelaunt dahingenuschelten »Heilitler!«
Hinter der Theke blickte Franz von seiner Buchhaltung auf, mit der er sich schon die halbe Nacht und den ganzen Morgen herumgemüht hatte, und nickte dem Briefträger entgegen. »Lieber Herr Postler«, sagte er müde, »den Hitler können Sie sich sonstwo hinstecken, ansonsten wünsche ich Ihnen einen guten Morgen!«
Heribert Pfründner tat, als ob er nichts gehört hätte, räusperte sich umständlich, knarzte ein bisschen mit seinem ledernen Posttaschenschulterriemen, blickte in den Zeitschriftenregalen umher, gähnte, zupfte an seinem Krawattenknoten und räusperte sich noch einmal.
»Sie werden es ja sicher gehört haben«, sagte er endlich und beugte sich etwas näher zur Verkaufstheke hin. »Wo Sie doch gewissermaßen in näherer Bekanntschaft mit dem Herrn Professor stehen!«
»Mit welchem Professor denn?«
»Na mit dem Deppendoktor.«
»Das kann schon sein«, sagte Franz und tat recht uninteressiert. Obwohl er insgeheim ein wenig geschmeichelt war von dieser quasi öffentlich-amtlichen Einschätzung seiner Beziehung zu dem Professor. Besonders sorgfältig tupfte er mit seinem Tintenschwämmchen die Füllfederspitze ab. »Was genau soll ich denn da gehört haben?«
»Na, dass der Professor fortgeht. Raus aus der Berggasse, raus aus Wien, raus aus Österreich, mitsamt Familie und Wohnungseinrichtung und allem Drum und Dran!« Franz nickte. Etwas Ungutes stieg ihm in den Hals, pfropfte sich dort für einen Augenblick fest, bevor es weiter hinaufstieg, sich irgendwo hinter den Augen ausweitete und seinen ganzen Kopf zu füllen schien. »Soso«, sagte er und blickte auf die Spalten hinunter, in denen seine tintenfrischen Einträge zu einem einzigen blauen Zahlenbrei verschwammen.
»Ja, so ist das«, setzte der Briefträger mit einem eifrigen Nicken nach, »weil der Professor ist ja auch einer von denen. Ein Jud, meine ich. Und als Jud auf der einen Seite und als Professor auf der anderen wird er sich halt gedacht haben: Bevor es endgültig ungemütlich wird, geh ich lieber!«
»Aha«, sagte Franz, »wohin will er denn gehen?« Heribert Pfründner richtete sich auf und zuckte mit den Schultern. »Nach England angeblich. Dort hat er vielleicht seine Ruhe. Außerdem gibt es eine Königin und wahrscheinlich noch genug Deppen, die ihm was für seine Ideen bezahlen.«
»Aha«, wiederholte Franz. »Und wann soll es losgehen?«
»Morgen, Herr Trafikant«, sagte der Briefträger und schleuderte mit einer runden Bewegung seines Oberkörpers die nach vorne gerutschte Posttasche auf den Rücken zurück. »Morgen Nachmittag um drei!«
Nachdem der Briefträger die Trafik verlassen hatte, dauerte es eine Weile, bis Franz’ innerlich erglühter Kopf einigermaßen abgekühlt und imstande war, sinnvolle Handlungen einzuleiten. Jetzt ging also auch der Professor. Alle gingen. Es war, als ob sich die ganze Welt aufmachte, irgendwohin zu gehen. Dabei war er selbst doch gerade erst gekommen! Er verstaute Buchhaltung und Schreibzeug in der Verkaufstheke, ging nach hinten, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, kämmte sich mit den Fingern durch die Haare, ging wieder nach vorne, suchte aus der Kiste mit den Hoyos drei besonders schöne, pralle und duftende Exemplare heraus, wickelte sie in den Kulturteil eines Bauernbündlers, steckte sich das Päckchen unters Hemd, sperrte die Trafik zu und machte sich auf den kurzen Weg zur Berggasse Nr. 19.
Die beiden Zivilen waren schon von Weitem zu erkennen. Dicht nebeneinander saßen sie auf der kleinen Bank, einer hatte seinen Kopf in den Nacken gelegt und schien die Tauben in den Dachrinnen zu beobachten, der andere saß in leicht vornübergebeugter Haltung und starrte aufs Pflaster hinunter. Es sah aus, als säßen sie seit sehr langer Zeit so da, die Hintern an die Bank genagelt und völlig unbeweglich, doch als Franz am Tor angelangt war und seinen Zeigefinger auf die Ordinationsklingel des Professors legte, standen sie plötzlich hinter ihm.
»Wo willst denn hin?«, fragte der Jüngere der beiden.
»Na da hinein«, antwortete Franz.
»Zu wem?«
»Zum Professor.«
»Wozu?«
»Ich bring ihm seine Theaterkarten!«
»Was für Theaterkarten?«
»Burgtheater selbstverständlich«, sagte Franz. »Erste Reihe Mitte Parkett. Schiller, glaub ich, oder Goethe. Jedenfalls was Ernstes!«
Der ältere Kollege trat einen Schritt an Franz heran, blickte ihm aber nicht in die Augen, sondern schien eine Stelle an seiner Stirn oder irgendwo knapp darüber zu fixieren. »Für Juden gibt es heute keine Vorstellung«, sagte er. Und auch morgen nicht. Und übermorgen schon gar nicht. Für Juden hat es sich endgültig ausgespielt. Und deswegen schleichst dich jetzt wieder mitsamt deinen Theaterkarten, und zwar schnell. Sonst steck ich sie dir so tief in dein Oarschloch hinein, dass sie nicht einmal ein Kuhdoktor finden wird!«
Franz ging langsam die Berggasse hinunter. Die Zivilen waren zur Bank zurückgekehrt und hatten wieder ihre Haltung eingenommen: Kopf in den Nacken mit Blick auf die Tauben, hängender Kopf mit Blick aufs Straßenpflaster. Nach ungefähr fünfzig Metern bog er in die Porzellangasse ein und blieb stehen. Unter seinem Hemd knisterte das Päckchen. Die Hoyos dufteten sogar durch das Zeitungspapier hindurch. Vorsichtig spähte er um die Ecke. Die Männer saßen unverändert da, grau und bewegungslos wie Denkmäler. Ihnen gegenüber, nur wenige Schritte neben dem Eingangstor zur Professorenwohnung, hatte ein Kohlehändler sein Geschäft. Die Holzverschläge zur Kellerluke standen offen, die Straße war fast bis zur Mitte der Fahrbahn eingeschwärzt vom Kohlestaub. Franz musste an Anezkas Wimpern denken. Schwarz, dachte er, schwarz wie das Herz des Teufels. Ein lauter werdendes Scheppern und das Getrappel schwerer Hufe kündigten einen Bierwagen an, der sich vom Donaukanal her näherte. Der Kutscher schnalzte mit der Zunge, die Pferde machten einen Satz nach vorne, der Wagen beschleunigte und holperte zügig die Berggasse herauf. Es war ein großer Wagen, beladen mit acht riesigen Fässern und zwei Lehrbuben, die ihre Beine von der Ladefläche baumeln ließen. Als der Wagen sich zwischen ihn und die Zivilen schob, lief Franz los. Geduckt trabte er neben den schulterhohen Rädern her, machte auf Höhe der Kohlenhandlung einen scharfen Schlenker und war mit drei Schritten an der pechschwarzen Luke. Er fasste die Einrahmung mit beiden Händen, schwang sich hindurch, glitt auf dem Hintern die kurze Kohlenrutsche hinunter, landete auf einem leise klackernden Bruchkohlenhaufen und sah sich um. Überall war Kohle: zu Haufen zusammengeschaufelt, in Säcke abgepackt, als Briketts zu glänzend schwarzen Mauern gestapelt, als vereinzelte Brocken überall auf dem Boden verstreut. Unter einem Fensterchen an der Rückwand stand ein schmutziger Schreibtisch, davor drei übereinandergeschichtete Kohlesäcke als Sitzgelegenheit. Franz stieg auf den Tisch, steckte seinen Kopf ins Freie und blickte in einen menschenleeren Hinterhof. Hohe, graue Mauern, in der Mitte eine alte Kastanie, da und dort ein offenes Fenster, ein paar verdrückte Geranien, der Geruch nach feuchtem Kalk, gekochtem Kohl und Gemeinschaftsklos. Franz zog sich hoch und kroch hinaus. Über eine niedrige Hoftür gelangte er ins Stiegenhaus der Nr. 19. Er ging in den ersten Stock, hielt kurz an, um seinen hämmernden Puls etwas zu beruhigen, und drückte dann auf die Klingel. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, nämlich genau siebenundvierzig Herzschläge, bis sich die Tür öffnete und im Spalt Annas schmales Gesicht erschien.
»Guten Tag, ich hätte, bitteschön, gerne Ihren Herrn Papa, gesprochen!«, sagte Franz.
»Mein Vater ordiniert nicht mehr.« Ihre Stimme war hell und weich. Ihre Augen waren braun wie die des Professors, nur etwas dunkler und ruhiger.
»Ich komme ja auch nicht, um ordiniert zu werden«, erklärte Franz und reckte ihr angriffslustig sein Kinn entgegen, »sondern sozusagen als näherer Bekannter!«
Anna Freud hob die linke Augenbraue. Franz hatte Menschen immer bewundert, die dieses Kunststück zustande brachten. In Nußdorf waren es, soweit er sich erinnern konnte, nur zwei: der alte Volksschullehrer Langelmaier und seine Mutter. Er selber hatte sich jahrelang bemüht, zuhause vor dem kleinen Spiegel oder am Ufer übers Wasser gebeugt, hatte aber im Grunde genommen nie mehr als eine merkwürdige Stirnverzerrung geschafft. Anna löste die Sicherheitskette und öffnete die Tür. Sie trug einen fast bodenlangen, bis zum Hals zugeknöpften und ziemlich abgetragenen Wollumhang, eine Art Abend- oder Morgen- oder Hausmantel. Ihre Füße waren nackt.
»Komm mit!«, sagte sie und ging voran. Durch das Wartezimmer und über ein kahles Vorzimmer gelangten sie in einen weiteren Raum. Anna öffnete das einzige Möbelstück, einen fast deckenhohen Kasten, in dem nebeneinander ungefähr zwanzig akkurat gebügelte Hosen hingen. Sie holte eine davon heraus, erdfarben und mit hoher Stulpe.
»Zieh die an!«
Jetzt erst fiel Franz auf, wie schmutzig er war. Der Rutsch in den Keller hatte seine Hose schwarz eingefärbt, und bei jedem Schritt sonderte er kleine Kohlenstaubwölkchen ab. Anna drehte sich zum Fenster, verschränkte die Arme und senkte leicht den Kopf. In der Spiegelung konnte Franz sehen, dass sie die Augen geschlossen hatte. Vorsichtig schlüpfte er aus seiner Hose und zog stattdessen ihre an. Eine Frauenhose, etwas weit an den Hüften, etwas eng an den Waden, etwas kurz insgesamt, aber es ging. Als er fertig war, drehte sie sich um und nickte.
Über mehrere fast leere Räume, in denen nur da und dort ein paar Kisten an den Wänden gestapelt waren, gelangten sie vor das Behandlungszimmer des Professors. Anna pochte dreimal mit den Fingerspitzen gegen die Tür, öffnete sie dann behutsam und bedeutete Franz mit einer knappen Kopfbewegung einzutreten.
Er brauchte einige Augenblicke, um den Professor in dem bis auf wenige Möbel leergeräumten Zimmer zu entdecken. Er lag auf einer unförmigen Couch, den Kopf auf einem Haufen dicker Polster gelagert, den Rest des Körpers unter einer schweren Wolldecke verborgen. Im Raum befanden sich außer der Couch nur noch ein riesiger Kachelofen sowie eine Glasvitrine voller seltsamer Figuren, Männchen und Tierfratzen.
»Was willst du denn hier?« Die Stimme des Professors hatte sich endgültig in das brüchige Knarzen eines morschen Astes verwandelt. Er schien abgenommen zu haben. Noch zerbrechlicher, als Franz ihn in Erinnerung hatte, lag sein Kopf auf den Polstern. Sein Kiefer sah aus, als wäre er irgendwie seitlich weggerutscht, und befand sich in ständiger Bewegung. Mit vorsichtigen Schritten trat Franz über das Parkett auf die Couch zu.
»Sind Sie krank, Herr Professor?«, fragt er so leise, dass er sich für einen Augenblick selbst kaum zu verstehen glaubte.
»Seit ungefähr vierzig Jahren«, nickte Freud. »Nur dass ich mittlerweile meine Zeit mit einer Wärmflasche auf der Couch verbringe, die eigentlich für andere bestimmt war. Übrigens würde ich dir gerne einen Sitzplatz anbieten, aber ich fürchte, unsere Sessel sind entweder bereits verschifft oder werden bereits von irgendwelchen strammen Nationalistenhintern eingesessen!«
»Ich stehe gerne, Herr Professor!«, sagte Franz schnell. »Ich hab gehört, Sie fahren weg?«
»Ja«, ächzte Freud und rappelte seine Knie unter der Decke zu einem spitzen Dreieck auf.
»Wohin denn?«
»Nach London.« Der Professor rückte seine Brille auf der Nase zurecht. »Wieso steckst du eigentlich in Annas Hose?«
»Ihre Tochter war so freundlich … und da hab ich … ich bin ja über den Hinterhof … durch den Kohlenkeller … weil doch draußen die Gestapo sitzt …«
»Die Gestapo …«, wiederholte der Professor, und es hörte sich an, als fiele ihm ein Brocken aus dem Mund.
In diesem Moment wurde ihr Blick fast gleichzeitig nach oben gelenkt, wo sich direkt über der Couch ein Weberknecht seinen Weg über die Zimmerdecke zitterte. In einem weiten Bogen tänzelte er in eine Ecke, blieb stehen, wippte noch ein bisschen aus und rührte sich nicht mehr.
»Ich hab Ihnen etwas mitgebracht!«, sagte Franz. Er zog das Päckchen unter seinem Hemd hervor, wickelte vorsichtig die drei Zigarren aus dem Kulturteil und bot sie dem Professor an. Freuds Gesicht hellte sich auf. Mit einem unerwartet lebhaften Schwung warf er die Decke zur Seite und setzte sich auf. Jetzt erst erkannte Franz, dass er einen Anzug trug: einen tadellosen Einreiher aus grauem Flanellstoff, mit Weste, gestärktem Hemdkragen und korrekt gebundenem Krawattenknopf. Aber keine Schuhe. Freuds Füße, klein und schmal wie Kinderfüße, steckten in dunkelblauen Socken, von denen der rechte in der Gegend des äußeren Großzehenrandes offenbar schon mehrmals gestopft worden war.
»Eine für jetzt, eine für die Reise, eine für England, hab ich mir gedacht«, sagte Franz.
Freud betrachtete die drei Zigarren mit einem sanften Wiegen seines Kopfes, schließlich nahm er eine davon mit spitzen Fingern und ließ sie in seiner Sakkotasche verschwinden.
»Die ist für das Königreich!«, sagte er. »Die ersten Züge in Freiheit!«
Er nahm die beiden anderen Zigarren, hielt sie gegen das Fensterlicht, betastete sie behutsam, machte einen tiefen Atemzug und presste, von einem begeisterten Rasseln begleitet, heraus: »Hast du schon einmal etwas so Herrliches, etwas so Wunderbares, etwas in seiner Unvollkommenheit so Vollkommenes zwischen den Zähnen gehabt?« Franz dachte an die Lianen, die er früher gemeinsam mit den anderen Buben aus dem Unterholz gerissen, mit Hilfe eines Taschenmessers in fingerlange Stücke geschnitten und auf dem Rücken liegend am Steg geraucht hatte. Der Geschmack war grausig, holzig und bitter, aber niemand ließ sich etwas anmerken. Stattdessen rauchten alle blass und still in den Himmel hinauf und versuchten den immer wieder neu aufkeimenden Hustenreiz zu unterdrücken. Manchmal verzog sich einer ins Schilf, um gebückt zwischen den hohen Halmen ins Wasser zu reihern, in dem sich alsbald die silbrigen Saiblinge um die Bröckchen stritten.
»Nein, ich glaube noch nicht, Herr Professor.«
Der Alte schob seinen Kiefer zu einem schiefen Lächeln zurecht. »Dann wird es Zeit, mein junger Freund!«
Auf ein Nicken des Professors ging Franz zögernd zur Vitrine hinüber und holte einen von einem kopflosen Terrakottareiter und einem kleinen, aber ziemlich aufrechten Marmorphallus flankierten Aschenbecher aus schwerem Bleikristall heraus. »Ich weiß nicht so recht, Herr Professor, ich hab das noch nie versucht.«
»Im Versuch erschaffen sich die Welten neu«, meinte Freud fröhlich. »Außerdem möchte ich zum Abschied nicht alleine rauchen.«
»Setz dich!«, fügte er nach einem weiteren rasselnden Atemzug hinzu und tätschelte mit seiner linken Hand die Polsterung neben sich.
»Auf die Couch?«
»Auf die Couch!«
Franz setzte sich vorsichtig. Die Couch fühlte sich überraschend hart an. Hart wie die Stunden, die von den Patienten darauf verbracht wurden, dachte er, und trotzdem aber nicht ganz ungemütlich. Wenn der Professor neben ihm eine Bewegung machte, spürte er sie sofort. Es war ein bisschen, als ob sie nun auch körperlich miteinander verbunden wären.
Die ersten Züge rauchten sie schweigend. An der Decke hatte sich der Weberknecht wieder zu bewegen begonnen, tastete sich ein paar Schritte aus seiner Ecke heraus, lief jedoch gleich wieder zurück und schien endgültig zu erstarren.
Franz hatte beim ersten Zug einen heftigen Hustenreiz unterdrücken müssen, beim zweiten einen Brechreiz und jetzt, beim dritten, wurde ihm kurz schwindelig, und er hatte das Gefühl, langsam nach vorne aufs Parkett zu kippen. Irgendwie schaffte er es aber doch, sich eine gewisse innere Aufrichtung zurechtzubalancieren, und von da an ging es besser. Und schon nach dem ungefähr siebten oder achten Zug spürte er neben dem leichten Lähmungsgefühl in der Zunge ein sich tief in seinem Inneren ausbreitendes, ofenwarmes Wohlbefinden.
»Ich habe natürlich gehört, was Herrn Trsnjek widerfahren ist«, sagte der Professor und räusperte sich in seine kleine Faust hinein. »Es tut mir sehr leid.«
»Ja«, sagte Franz nach einer Weile. »Jetzt bin ich der Trafikant.«
Ein gelbliches Dämmerlicht breitete sich im Zimmer aus. Draußen rauschte die Kastanie, und in dem Stückchen Himmel über dem Hof zogen dunkelgraue Wolken auf. Freud zog sich einen Deckenzipfel über den Schoß. »Und nun wird es auch noch kalt!«, sagte er mürrisch und rieb seine Füße aneinander.
»Sie sollten sich etwas Warmes anziehen, Herr Professor. Eine Wollweste vielleicht. Oder einen Janker. Oder Sie könnten diesen Kachelofen einheizen. Und überhaupt würde es insgesamt nicht schaden, ein bisschen mehr auf die Gesundheit zu achten. In Ihrem Alter meine ich!«
Der Professor winkte schwach ab: »Mein Alter hat jede Gesundheit längst hinter sich gelassen.«
»Ich erlaube Ihnen nicht, so etwas zu sagen, Herr Professor!«, sagte Franz und erhob streng seinen Zeigefinger.
»Kindern und Greisen sollte man noch viel mehr erlauben. Aber lass uns von ganz anderen Beschwerden sprechen: Wie geht es deiner böhmischen Dulcinea?«
»Sie heißt nicht Dulcinea, sondern Anezka, und es ist vorbei. Oder besser gesagt: Es hat nie angefangen. Vielleicht war das Ganze sowieso nur ein riesengroßer Irrtum.«
»Die Liebe ist immer ein Irrtum.«
»Sie ist jetzt mit einem Nazi zusammen. Ein Offizier. Oder General. Oder was weiß ich was. Jedenfalls einer von der SS, ganz in Schwarz und mit silbrigen Totenschädeln am Gürtel …«
Franz stockte. Plötzlich spürte er den Blick des alten Mannes auf sich. Sie sahen sich einen Augenblick schweigend an. Seine Augen, dachte er, diese seltsamen, braunen, hellen, glänzenden Augen sehen aus, als ob sie nicht mitaltern würden mit dem Rest des Körpers. Freud öffnete den Mund und ließ ein wenig Rauch zwischen den Zähnen entweichen, der an den Nasenflügeln vorbei, unter den Brillengläsern hindurch und über die Stirn langsam nach oben kroch.
»Als ich damals in Timelkam in den Zug gestiegen bin, hat mir das Herz wehgetan«, fuhr Franz fort, »und als mir die Anezka zum ersten Mal davongerannt ist, da hätten zehn Doktoren nicht ausgereicht, den Schmerz wegzubehandeln. Aber immerhin hab ich ungefähr gewusst, wohin ich gehe und was ich will. Jetzt ist der Schmerz fast weg, aber ich weiß gar nichts mehr. Ich komme mir vor wie ein Boot, das im Gewitter seine Ruder verloren hat und jetzt ganz blöd von da nach dort treibt.«
»Da haben Sie es eigentlich viel besser, Herr Professor«, fügte er nach einem kurzen Schweigen hinzu. »Sie wissen genau, wo Sie hingehen.«
Freud seufzte. »Immerhin kommen mir die meisten Wege schon irgendwie bekannt vor. Aber eigentlich ist es ja gar nicht unsere Bestimmung, die Wege zu kennen. Es ist gerade unsere Bestimmung, sie nicht zu kennen. Wir kommen nicht auf die Welt, um Antworten zu finden, sondern um Fragen zu stellen. Man tapst sozusagen in einer immerwährenden Dunkelheit herum, und nur mit viel Glück sieht man manchmal ein Lichtlein aufflammen. Und nur mit viel Mut oder Beharrlichkeit oder Dummheit oder am besten mit allem zusammen kann man hie und da selber ein Zeichen setzen!«
Er verstummte, senkte den Kopf und blickte dann zum Fenster. Es hatte leicht zu nieseln begonnen. Die Blätter der Kastanie glänzten nass. Irgendwo knallte eine Tür, und jemand rief etwas Unverständliches. Danach war es wieder still.
»Diese Kastanie …«, murmelte Freud. »Wie oft habe ich sie schon blühen gesehen …«
»Gibt es in London auch Kastanien, Herr Professor?«
»Ich weiß es nicht.« Freud zuckte mit den Schultern und sah Franz an. An den Rändern seiner Brillengläser konnte Franz sich selbst gespiegelt erkennen: ein dünnes Männlein mit grotesk verzogenen Gliedmaßen. Plötzlich ging ein Ruck durch den Körper des Professors, er steckte seine Zigarre zwischen die Zähne, stieß sich mit beiden Fäusten von der Couch ab, kam irgendwie in die Höhe und stand eine Sekunde leicht wankend da. Dann ging er mit knacksenden Kniegelenken zur Zimmerecke, wo hoch über ihm der Weberknecht hockte.
»Warum um alles in der Welt darf der hierbleiben, während ich, der weltberühmte Begründer der Psychoanalyse, gehen muss!«, stieß er wütend hervor, reckte seinen Arm in die Höhe und schüttelte dem Tier drohend seine Faust entgegen. Der Weberknecht erzitterte kurz, hob ein Bein, setzte es wieder ab und bewegte sich nicht mehr. Freud blickte ihn eine Weile herausfordernd an. Schließlich ließ er seinen Arm sinken und starrte stumm gegen die vom Rauch angebräunte Tapete.
»Ich glaube, so ein Weberknecht hat es bestimmt auch nicht immer leicht, Herr Professor!«, sagte Franz vorsichtig in die Stille hinein. Freud sah ihn an, als hätte er soeben etwas völlig Neues entdeckt, eine völlig unbekannte Lebensform, die sich während einer langen Abwesenheit auf seiner Couch ausgebreitet hatte. Mit einer müde flatternden Handbewegung winkte er ab. Dann nahm er einen Zug von seiner fast schon erloschenen Hoyo, bewegte sich mit kleinen Schritten zur Couch zurück und ließ sich langsam, wie nach einer ungeheuren Anstrengung, hineinsinken. Mittlerweile war es im Zimmer noch dämmriger geworden. Draußen grollte von weit her Donner heran, und die Kastanie schien sich in der Enge des Hofes zu ducken. Im Haus war es fast vollkommen still, nur hie und da drang ein gedämpftes Geräusch aus einem der entfernt gelegeneren Zimmer zu ihnen.
Franz spürte die Atemzüge des Professors neben sich, manchmal begleitet von einem leisen Räuspern. Das Aneinanderreiben der Professorensocken war zu hören, kurz darauf eine Folge knackender Geräusche aus dem Parkettboden, das Knistern der Zigarrenglut. Dann wieder Stille.
»Übrigens hab ich mir doch keines Ihrer Bücher gekauft«, sagte Franz. »Erstens sind sie ziemlich teuer, zweitens unglaublich dick, und drittens ist in meinem Kopf sowieso gerade kein Platz für solche Sachen.«
»Allerdings habe ich Ihren Rat befolgt und angefangen, meine Träume aufzuschreiben«, fügte er hinzu. »Die meisten davon sind wahrscheinlich Blödsinn, aber ein paar komische sind schon dabei. Ich meine nicht zum Lachen komisch, sondern eher so merkwürdig komisch. Ich weiß nicht, wo die überhaupt alle herkommen. Weil ich mir nämlich nicht vorstellen kann, dass in meinem Kopf solche merkwürdigen Sachen ganz von alleine heranwachsen können. Oder was glauben Sie, Herr Professor?«
Freud murmelte etwas Unverständliches und streckte seine Beine von sich. Franz kicherte: »Jedenfalls schreibe ich sie jeden Tag auf einen Zettel und klebe sie an die Auslage. Ob das was bringt, kann man noch nicht sagen. Für mich selber, meine ich. Aber der Trafik tut es gut. Die Leute bleiben stehen, drücken ihre Nasen gegen die Scheibe und lesen, was mir in der Nacht durch den Schädel geweht ist. Und wenn sie schon einmal stehen geblieben sind, kommen sie manchmal auch herein und kaufen etwas.«
»Genau so ist das, Herr Professor!«, fuhr er nach einer Pause fort und musste wieder kichern. Eine warme Welle von Wohligkeit durchströmte seinen Körper. Gleichzeitig war ihm ein bisschen schwindlig. Aber angenehm schwindlig, so als ob er nicht auf einer alten Couch, sondern auf dem noch viel älteren, morschen, schon halb im See versunkenen Südufersteg säße, der immer so schön schwankte über den anrollenden Dampferwellen. Vielleicht lag es ja an seiner an den sonnigen Ufern des Flusses San Juan y Martínez geernteten und von zarten Frauenhänden gerollten Hoyo, dachte er und betrachtete eine Weile deren zarte Blätterhaut. Oder an der fast unwirklichen Nähe des Professors. Vielleicht lag es aber auch an irgendetwas ganz anderem, dachte er weiter, wobei es eigentlich völlig egal war, woher jetzt auf einmal diese warme Wohligkeit gekommen war: wohlig ist wohlig und aus. Mehr gab es darüber nicht nachzudenken. Gegen die Fensterscheiben patschten jetzt einzelne große Regentropfen, die vom Wind in glitzernden Schlieren nach allen Richtungen auseinandergetrieben wurden. In den Fenstern der gegenüberliegenden Hofseite gingen vereinzelt Lichter an.
»Sie werden es nicht wissen, Herr Professor«, sagte Franz und drehte langsam seine Zigarre zwischen den Fingern, »aber der Otto Trsnjek war gar kein Raucher. Der Otto Trnsjek war ein Zeitungsleser. Zeitungsleser und Trafikant. Wobei das für ihn ja quasi dasselbe war. Eigentlich komisch: Da sitzt einer jahrzehntelang in seiner Trafik und will nicht rauchen. Sitzt da, weiß praktisch alles über Zigarren, kennt ihre Herkunft und Qualitäten und Merkmale bis ins kleinste Detail und kann über ihr Innenleben erzählen wie ein Doktor über das Innere von einer Leich’ – hat aber nicht einmal das kleinste Futzelchen von einer Idee, wie sie eigentlich schmecken.«
»Das ist doch wirklich komisch«, wiederholte er noch einmal nachdenklich, nachdem er ein langes Stück Asche in den zwischen seinem und des Professors Oberschenkel platzierten Bleikristallbecher tippte. »Natürlich verstehe ich vom Rauchen auch noch nicht viel. Aber wenn Sie zurückkommen, bin ich schon weiter damit, das verspreche ich Ihnen. Und Sie kommen ja zurück. In jedem Fall und ganz bestimmt kommen Sie zurück. Weil Heimat ist Heimat, und Zuhause ist Zuhause. Und irgendwann wird sich der Hitler wieder beruhigt haben. Und alle anderen auch. Und alles wird wieder so sein wie früher. Oder was meinen Sie, Herr Professor?«
Freud machte ein murrendes Geräusch, und Franz ließ sich noch ein bisschen tiefer in die Polster sinken.
»In England soll es mehr regnen als im Salzkammergut. Also praktisch andauernd. So etwas kann ja nicht gesund sein für so einen etwas angereiften Herrn, wenn Sie mir den Ausdruck nachsehen wollen. Jedenfalls müssen Sie irgendwann einmal meine Mutter kennenlernen. Ich glaube nämlich, dass Sie beide sich gut vertragen würden. Die Mama versteht nämlich auch jede Menge von den Leuten und ihren Blödsinnigkeiten, da hätten sie genug zu reden miteinander. Außerdem kann sie Erdäpfelstrudel backen. Und zwar die einzig echten und richtigen: in der Eisenpfanne und im Butterschmalz gebacken, mit oder ohne Grammeln, mit oder ohne Linsen, ganz wie es Ihnen gustiert …«
Franz verstummte. Es kam ihm vor, als hätte er noch nie in seinem Leben so viel geredet. Und vielleicht war das ja auch so. Früher war ihm das Nichtreden immer als äußerst erstrebenswert erschienen, was sollte man sich schon großartig erzählen in der Umgebung von Bäumen, Schilfhalmen oder Algen? Und die Mutter hatte sowieso nie gerne unnötige Worte gemacht. Die meisten Abende hatten sie schweigend zusammen in der Hütte gesessen, und das war auch schön so. Die Mutter. Wo war sie jetzt? Was machte sie? Ob sie gerade an ihn dachte? An ihren kleinen Franzl, der eigentlich gar nicht mehr so klein war? Franz blinzelte. Draußen prasselte der Regen gegen die Scheiben. Die Polster in seinem Rücken waren weicher als alles, was er bisher gespürt hatte. Mit Ausnahme der mütterlichen Arme. Und Anezkas Bauch. Und ihrer Kniekehlen. Und ihrer Schulterblatthügel. Und ihrer ganzen anderen Körperteile. In seinem Magen gluckerte es leise. Der Kachelofen in der Ecke antwortete mit einem leisen Knacken. An der Wand schwebte ein Schatten entlang. Auch in der Vitrine bewegte sich etwas. Ein etwa daumengroßer, hölzerner Krieger stellte sich auf die Zehenspitzen, hob langsam seine Hand und winkte wie zum Abschied. »Das ist natürlich Blödsinn«, sagte Franz leise. Oder dachte er laut. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so müde und schwer gefühlt.
»Herr Professor?«, fragte er. Seine Stimme zitterte leicht, er hielt sich die Zigarre vors Gesicht und sah, wie die Glut vor seinen Augen verschwamm. »Sie kommen doch zurück, oder …?«
Der Professor gab keine Antwort, und als Franz ihn anblickte, sah er, dass er eingeschlafen war. Sein Atem ging gleichmäßig, beide Hände lagen ruhig in seinem Schoß, der Stumpen zwischen seinen Fingern war längst erloschen. Franz legte seine Hoyo im Aschenbecher ab und beugte sich über den Alten. Er wirkte unglaublich zart. Wie die Figuren in seiner Vitrine, dachte Franz. So als könnte er, würde er im Schlaf von der Couch auf den Parkettboden rutschen, in tausend Stücke brechen. Oder einfach zu Staub zerfallen. Sein Kopf war nach hinten gekippt, der Mund stand leicht offen. Seine Haut sah aus wie vergilbtes Papier, tausendmal zerknüllt und wieder auseinandergefaltet. Er lag völlig ruhig, nur die Augen zuckten immer noch unter den Lidern hin und her, als wollten sie sich nicht abfinden mit der Stille und der Dunkelheit, die sie umgaben. Franz nahm ihm den kalten Rest der Zigarre aus der Hand und legte ihn in den Aschenbecher. Behutsam stopfte er einen der kleineren Polster zur Stütze hinter den Nacken, zupfte mit spitzen Fingern seinen geknickten Hemdkragen zurecht, und blies sachte ein paar Ascheflöckchen von der Krawatte. Dann nahm er die Decke, breitete sie über seinen Körper und strich mit der Hand über die Wolle. Er verharrte noch fast eine Minute an der Couch und beobachtete die ruhigen Atemzüge des Professors. Als er das Zimmer schließlich auf Zehenspitzen verließ, blickte er noch einmal zur Decke hoch. Der Weberknecht war verschwunden.
Am Nachmittag des nächsten Tages – es war der 4. Juni des Jahres 1938 – verließ Professor Dr. Sigmund Freud im schütteren Kreise seiner engsten Vertrauten und Familienangehörigen Wien, die Stadt, in der er fast achtzig Jahre seines Lebens verbracht hatte, um mit dem Orient Express über Paris in sein Londoner Exil zu gelangen. Die Formalitäten waren erledigt. Die Ausreisegenehmigungen waren erteilt, die Reichsfluchtsteuer, fast ein Drittel des gesamten Familienvermögens, war bezahlt, und ein Großteil des Haushalts, der Möbel und der Antiquitäten war entweder eingeschifft oder wartete in einem Lager auf die Überführung nach England. Wieso trotzdem an die zwanzig Koffer, Kisten und Taschen mit auf die Reise kamen, war dem Professor ein Rätsel, wie übrigens auch die Tatsache, dass das meiste davon ihm persönlich gehören sollte. Viel zu viel Besitz für einen alten Mann, dachte er, während er den Reisetag wie im Traum an sich vorbeiziehen sah, nur unnützer Ballast auf der letzten Strecke eines langen Weges. Anna hatte das Kommando. Sie hatte die Geschehnisse im Blick und die Dinge in der Hand. Sie hatte die beiden großen Taxis zum Westbahnhof bestellt, sie organisierte die Gepäckträger, kaufte die Fahrkarten und schob dem Schalterbeamten ein paar Münzen für die Sitzplatzreservierung zu. In ihrer Handtasche hatte sie Pässe, Visa und sonstige Unterlagen aller Mitglieder der kleinen Reisegesellschaft verwahrt, und in einem großen Korb schleppte sie einige Stücke kaltes Selchfleisch, einen Topf eigenhändig zubereiteter Krautfleckerln sowie einen beachtlichen Haufen in Geschirrtücher eingewickelter und immer noch warmer Semmelknödel mit. Ganz unten im Korb, hatte sie zudem eine Flasche Wermuth und winzige Gläschen versteckt. Für die ersten Meter nach der Grenze, hatte sie sich gedacht, ein Schluck auf die Freiheit. Als das Grüppchen, begleitet von den neugierigen Blicken und dem vielstimmigen Getuschel der Leute, die Ankunftshalle durchquerte, brach Annas Mutter in Tränen aus. Anna reichte ihr ein Taschentuch, streichelte ihr über den Kopf und bedeutete ihr dann unmissverständlich, sich zusammenzureißen und einfach weiterzugehen. Sie hatte Wien nie so geliebt wie ihre Eltern. Allerdings auch nicht so gehasst. Im Grunde genommen hatte sie gar keine nennenswerten Gefühle für ihre Geburtsstadt, und die Ausreise war für sie nicht mehr und nicht weniger als die letztendlich doch noch gelungene Flucht vor den Nationalsozialisten. Am Bahnsteig herrschte ein großes Gedränge. Es wurde geschrien, geheult und gelacht, Menschen lagen sich in den Armen, küssten oder stritten sich ein letztes Mal, riefen sich durch die offenen Zugfenster etwas zu, fanden sich laut durcheinanderredend zu kleinen Gruppen zusammen oder standen alleine neben ihrem Koffer, mit verwirrtem Blick und einer hellblauen Fahrkarte in der Hand.
Professor Dr. Sigmund Freud wollte aus irgendwelchen Gründen partout als Letzter einsteigen, doch seine Tochter schob ihn mit sanfter Gewalt vor sich her, die eisernen Stufen hinauf und in den Waggon hinein. »Lass mich, ich kann das alleine!«, sagte er, und das waren seine letzten Worte auf Wiener Boden.
Anna blickte noch einmal über den überfüllten Bahnsteig. Das Stimmengewirr der Menschen schien unter der hohen Hallendecke immer weiter anzuschwellen, darüber gellte schrill die Pfeife zur Abfahrt. Ein verspäteter Reisender hastete zu seinem Waggon, ein paar Halbwüchsige fielen sich theatralisch in die Arme, Blumen, Hüte und Zeitungen wurden geschwenkt, und überall leuchtete aus dem Durcheinander das Rot der Hakenkreuzarmbinden heraus. Als sich Anna endgültig abwandte, um einzusteigen, wurde ihr Blick noch einmal abgelenkt. Ganz hinten am Eingang zur Ankunftshalle, inmitten des dichtesten Gedränges, stand regungslos der junge Trafikant. Er stand mit dem Rücken zur Wand, sein Gesicht war ungewöhnlich weiß, er schien in ihre Richtung zu blicken, doch seine Augen waren auf die Entfernung nicht zu erkennen. Die Pfeife schrillte erneut, der Schaffner gab das Signal zur Abfahrt, und Anna stieg ein. Nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte und der Waggon mit einem schwerfälligen Rucken anrollte, atmete sie tief aus und lehnte ihre Stirn gegen die Scheibe. Das Glas war angenehm kühl, und als der Zug den Wiener Westbahnhof verließ, schien ihr die Nachmittagssonne direkt ins Gesicht.
Es ging jetzt wieder einigermaßen. Irgendwie geht es ja immer. Zumindest schien das Schlimmste überstanden, das tiefste Tal durchschritten und die allergemeinsten Unterleibsschmerzen überwunden zu sein. Sogar die Halluzinationen waren fast verschwunden. Vor nicht einmal eineinhalb Tagen war Franz auf Zehenspitzen übers Parkett im Wohnungslabyrinth der Familie Freud geschlichen, hatte die Eingangstür gesucht, schließlich auch gefunden und so behutsam wie möglich hinter sich ins Schloss gezogen. Schon während er zum Abschied mit der Fingerspitze den Namenszug des Professors auf dem Messingschildchen neben der Ordinationsklingel nachzeichnete, war ihm irgendwie komisch im Bauch geworden, und als er kurz darauf am unteren Treppenabsatz angekommen war, hatte sich dieses komische Bauchgefühl bereits in eine überwältigende Übelkeit verwandelt. Mit dem tapsigen Gang eines Hundewelpen bewegte er sich durch den Hausflur, wobei er sich für einen Moment im Stollen des alten Salzbergbaus verloren glaubte, den er vor vielen Jahren mit der Volksschulklasse im Rahmen eines Tagesausfluges nach Gmunden besucht hatte. Damals hatte er immer wieder heimlich an den Stollenwänden geleckt, um das Salz der tiefen Erde zu kosten, war aber jedes Mal vom staubigen Geschmack der Steine enttäuscht worden. So schnell diese Erinnerungen gekommen waren, so schnell lösten sie sich nun wieder auf, und Franz wankte ins Freie. Der Regen prasselte ihm ins Gesicht, die Berggasse hatte sich in einen Sturzbach verwandelt, und aus den Kanaldeckeln blubberte eine braune Suppe. Die Bank war leer. Doch als Franz sich von der Türklinke, die ihm kurz als Haltegriff gedient hatte, abstieß, um sich auf den Heimweg zu machen, bemerkte er hinter dem dichten Regenschleier in einer Toreinfahrt auf der anderen Straßenseite eine schattenhafte Bewegung. Weiter geschah jedoch nichts. Vielleicht lag es am Regen, vielleicht aber auch am staatspolizeilichen Auftrag, einen Eingang zu bewachen und keinen Ausgang – Franz konnte es recht sein, und so ging er nach Hause, ein bisschen verkrümmt und schlingernd, ansonsten jedoch nicht weiter behelligt.
Die Nacht und den nächsten Vormittag hatte er im Bett verbracht, unter ihm eine schwankende Tiefe und über ihm, auf dem Hintergrund der zerschlissenen Deckentapete, eine undeutliche Ansammlung merkwürdiger Gestalten, die wahlweise ihre Leiber aneinanderrieben, ihre Glieder umeinander schlangen oder ihre Mäuler aufeinanderpressten, ehe sie wieder auseinanderstoben und in der stickigen Zimmerluft verpufften. Manchmal waren seine Gedanken hinaus in den Verkaufsraum gewandert, zu den still in ihren Kisten ruhenden Zigarren, unter ihnen einige der Marke Hoyo de Monterey, was ihn jedes Mal gezwungen hatte, seinen Kopf in den direkt neben dem Bett platzierten Waschkübel zu stecken und den Dingen ihren freien Lauf zu lassen. Um die Mittagszeit wurde es dann etwas besser, und am Nachmittag um halb drei stieg er schließlich mit immer noch etwas weichen Beinen aus dem Bett und machte sich zu Fuß auf den Weg zum Wiener Westbahnhof.
Etwa eine Dreiviertelstunde später stand er am Bahnsteig inmitten des dichtesten Gedränges ganz hinten am Eingang zur Bahnhofshalle und beobachtete, wie der Professor in den Zug einstieg. Die Entfernung war zu groß, um seine Augen zu erkennen, aber er konnte sehen, wie seine Kiefer mahlten, als ihn seine Tochter die eisernen Stufen hinaufschob. Seine linke Hand umklammerte die Haltestange, die rechte hielt den Hut auf dem Kopf fest. Er wirkte in diesem Moment so schmal und leicht, dass es Franz nicht gewundert hätte, wenn Anna ihn auf den Arm genommen und wie ein Kind hineingetragen hätte.
Pünktlich nach Fahrplan um 15:25 fuhr der Zug an, nahm schnell Fahrt auf und verließ den Bahnhof in Richtung Westen. Franz schloss die Augen. Wie viele Abschiede kann ein Mensch eigentlich aushalten, dachte er. Vielleicht mehr, als man denkt. Vielleicht keinen einzigen. Nichts als Abschiede, wo man auch bleibt, wohin man auch geht, das hätte einem jemand sagen sollen. Für einen Moment hatte er das Bedürfnis, sich einfach nach vorne fallen zu lassen und mit dem Gesicht auf dem Bahnsteigtrottoir liegen zu bleiben. Ein liegengelassenes Stück Gepäck, verloren, vergessen, nur noch umtrippelt von neugierigen Tauben. Aber das ist doch völliger Blödsinn, dachte er wütend, schüttelte den Kopf und öffnete wieder die Augen. Ein letztes Mal blickt er über die Gleise, die im Sonnenlicht blitzten. Dann drehte er sich um und ging durch die Ankunftshalle zurück und hinaus in die Wiener Nachmittagshelligkeit. Der Himmel war strahlend blau, der Regen hatte den Asphalt reingewaschen, und in den Büschen sangen die Amseln. Vor dem Bahnhofseingang stand die Gaslaterne, an der Franz sich damals gleich nach seiner Ankunft in Wien festklammern musste. Wie lange war das her? Ein Jahr? Ein halbes Leben? Ein ganzes? Er musste über sich selbst lachen, über diesen komischen Buben, der hier seinerzeit an der Laterne gehangen hatte, mit dem harzigen Waldgeruch in den Haaren, einem Batzen Dreck an den Schuhen und ein paar verdrehten Hoffnungen hinter der Stirn. Und plötzlich wurde ihm bewusst, dass es diesen Buben nicht mehr gab. Weg war der. Abgetrudelt und untergegangen, irgendwo im Strom der Zeit. Wobei das alles ja schon recht schnell gegangen war, dachte er, vielleicht sogar insgesamt ein bisschen zu schnell. Irgendwie fühlte es sich an, als wäre er vor der Zeit aus sich selbst herausgewachsen. Oder einfach herausgetreten aus dem eigenen Ich, wenn man das so sagen konnte. Das Einzige was blieb, war die Erinnerung an einen schmalen Schatten unter einer Gaslaterne. Er atmete tief ein. Die Stadt roch nach Sommer, Pferden, Diesel und Teer. Über den Gürtel bimmelte eine Straßenbahn heran. Aus einem der Seitenfenster flatterte ein Hakenkreuzfähnchen. Er musste an die Mutter denken, die womöglich jetzt gerade auf einem sonnenwarmen Steg saß und ins flimmernde Ufergeplätscher hinunterweinte. Er dachte an Otto Trsnjek, dessen Krücken nutzlos in der Verkaufsraumecke lehnten. Und er dachte an den Professor, der die Stadtgrenze längst zurückgelassen haben musste und wahrscheinlich schon irgendwo über die niederösterreichischen Erdäpfelfelder in Richtung London sauste. Vielleicht könne man da und dort ein Zeichen setzen, hatte der Professor gesagt, ein kleines Licht in der Dunkelheit, mehr könne man nicht erwarten. Aber auch nicht weniger, dachte Franz und hätte fast laut aufgelacht. Die Straßenbahn bimmelte vorbei und bog in die Mariahilferstraße ein. Das Fähnchen am Fenster sah aus, als ob es tanzte.
»Eines ist ja schon irgendwie komisch: Je länger sich die Tage ziehen, desto kürzer kommt einem das Leben vor. Ein Widerspruch, aber so ist es halt. Und jetzt frage ich Sie: was tun die Leut, um sich das Leben zu verlängern und die Tage zu verkürzen? Sie reden. Sie reden, plappern, plaudern und erzählen, und zwar praktisch ohne jede Unterbrechung. Und auch wenn du manchmal glaubst, jetzt ist es endlich einmal ruhig, sagen wir zum Beispiel in der Kirch’ oder noch besser: auf dem Friedhof – bitteschön! – fangt schon wieder irgendjemand an zu palavern! Wahrscheinlich bleibt sich das sogar im Himmel oder unter der Erd’ gleich: Einer hat immer die Goschen offen. Aber ich sage Ihnen noch eines: Das meiste, von dem, was den Leuten den ganzen Tag so aus dem Gesicht fällt, kannst du gleich auf den Mist schmeißen! Weil nämlich zwar alle reden, aber keiner was weiß. Keiner kennt sich aus. Keiner ist im Bilde. Keiner hat eine Ahnung. Wobei: Heutzutage ist es vielleicht sowieso besser, nicht allzuviel Ahnung zu haben. Die Ahnungslosigkeit ist ja praktisch das Gebot der Stunde, das Nichtwissen das Leitmotiv der Zeit. Da kann man auch schon einmal hinschauen, ohne was gesehen zu haben. Oder hinhorchen und trotzdem nichts verstehen. Die Wahrheit ist die Wahrheit und aus, so sagt es sich für gewöhnlich. Ich aber sage: so ist es eben nicht! Zumindest bei uns, in unserer seligen Wienerstadt, gibt es so viele Wahrheiten wie Fenster, hinter denen Leut’ sitzen, die irgendetwas gesehen oder gehört oder gerochen oder immer schon gewusst haben wollen. Und was für den einen richtig ist, das ist für den anderen die größte Trottelhaftigkeit auf Gottes Erden und umgekehrt. Und jetzt geben S’ mir bitte einen Liter Milch, oder besser gleich zwei, weil was man hat, das hat man! Das Einzige, was übrigens in der Angelegenheit praktisch unstrittig ist: Es muss letzte Nacht gewesen sein. Und zwar so zwischen drei und vier. Das ist die Stunde der Ratten. Da haben die Politischen ausgeschrien, die Besoffenen nach Haus gefunden und die Milchlieferer sind noch nicht unterwegs. Was ein anständiger Mensch ist, der liegt um die Uhrzeit im Bett. Oder sitzt eben hinterm Fenster und stiert ins Dunkle hinaus. Aber natürlich: ein bisserl gehen die Meinungen schon auseinander. Die einen sagen, es war eher so um drei herum, die anderen meinen wiederum, es muss auf vier gegangen sein, weil es über den Dächern angeblich schon silbrig geworden ist. Ich aber behaupte: Einen Dreck war es silbrig! Es war stockdunkel, nicht einmal ein Zipferl vom Mond war zu sehen, die Straßen waren leer, und dementsprechend war alles hergerichtet für ein lichtscheues Gesindel. Wobei: Gesindel ist ja heutzutage relativ. Wer kann denn in die Köpfe von den Leuten hineinschauen? Die Absichten und Antriebe von einem Menschenhirn bleiben letztlich unergründlich, und was gestern noch ein Gesindel war, das setzt sich heute einfach einen anderen Hut auf und steht plötzlich als hochanständiger Mensch da. Aber bitte, man will ja nichts gesagt haben. Geben S’ mir bitte gleich auch noch zwanzig Deka Butter und drei Kilo Erdäpfel, aber nur die kleinen, mehligen, für einen ordentlichen Knödelteig. Also: Zwischen drei und vier ist es passiert. Und es war nur einer. Eine Person allein. Natürlich ein Mann, weil nämlich eine Frau auf eine derartige Hirnrissigkeit nicht einmal eine einzige Sekunde verschwenden würde. Die einen sagen, er war eher mittelalt. Die andern schwören Stein und Bein, dass er jung gewesen sein muss, weil er so schnell rennen hat können. Wie der Blitz soll der angeblich vom Morzinplatz herunter und die Berggasse hinaufgeschossen sein, nachdem alles vorbei war. Ein verwegener Bursch. Aber auch ein bisserl deppert, wenn Sie mich fragen. Wo die Verwegenheit daherkommt, kann nämlich die Blödheit nicht weit sein. Es ist ja nur das reine Glück, dass sie den nicht gleich erwischt haben. Praktisch das Glück des Depperten. Das muss man sich ja auch erst einmal vorstellen: Da lungern überall die Geheimen herum; an jedem Eck, vor jedem Geschäft, im Park, im Wirtshaus und sogar in der Kirch’, wo man hinschaut, sitzt oder steht einer herum – aber auf das eigene Hauptquartier vergessen s’! Wobei: So ganz vergessen haben sie es ja nicht. Immerhin sind ja dann doch irgendwann ein paar von denen angerannt gekommen. Aber erst nachdem es schon viel zu spät, der Morgen angebrochen und sozusagen die Flagge gehisst war. Apropos vergessen: Haben S’ einen guten Quargel? Nein, der ist nichts, der riecht mir nicht. Ein Quargel muss riechen, sonst ist es ja kein Quargel. Nehmen S’ ihn wieder weg, packen S’ mir zwei Bier ein und schreiben S’ mir dann die Rechnung, bittschön. Also, wie gesagt: stockdunkel, keine Sterne, kein Mond, kein Silberstreif über der Wienerstadt. Und deswegen kann schlussendlich auch keiner von den ganzen Fensterhockern wissen, wie sich die Angelegenheit genau abgespielt hat. Schauen tun die Leut’ ja nur aus reiner Boshaftigkeit. Weil aber die Boshaftigkeit einerseits neugierig, andererseits aber auch blind macht, sieht man eben nur das, was man sehen will! Unzweifelhaft jedenfalls ist, dass er sich, unbehelligt von der Gestapo und seinem eigenen Gewissen, direkt vor dem Hotel Metropol an einer von den drei großen Standartenmasten zu schaffen machen hat können. Die kennen Sie ja: die drei Hakenkreuzbanner, die den halben Platz verdunkeln und immer so penetrant knattern im Ostwind. Den mittleren hat er sich vorgenommen. Hat einfach die Leine gekappt und das schöne Hakenkreuz von seiner lichten Höh’ heruntergezogen und auf die staubige Erd’ fallen lassen. Ganz faltig und verdreckt ist es dagelegen, wie man es später gefunden hat, schad’ um den schönen Stoff. Angeblich hat er dann ein Packerl unterm Hemd hervorgezogen. Andere wiederum behaupten, ein solches Packerl hätte es nie gegeben, und er hätte das corpus delicti einfach so unverpackt mit sich herumgetragen. Wenn Sie mich fragen, sind solche Feinheiten im Endeffekt egal. Das Einzige, was zählt, sind die Wirklichkeiten und die schauen so aus: Die Leine hat er gekappt, das Adolfkreuz hat er in den Dreck geschmissen und stattdessen hat er seine Sach’ – ob aus einem Packerl oder nicht – festgemacht, aufgezogen und gehisst wie die heilige Flagge des Morgenlandes. Dann war er weg. Wie der Blitz. Dass er noch in den Nachthimmel hinauf salutiert haben soll, halte ich für ein Gerücht, wenn nicht gar für die blanke Übertreibungsangeberei von einigen wenigen Fensterhockern. Auf alle Fälle ist die Gestapo erst angerannt gekommen, als es heller Morgen war und sich dementsprechend schon halb Wien sein schadenfrohes Maul zerreißen hat können. Und jetzt muss man sich natürlich einmal die Gesichter von den Geheimen vorstellen! Praktisch eine einzige Entgleisung. Weil nämlich: am mittleren Fahnenmast, ganz oben an der Spitze und beschienen von den ersten Strahlen der Morgensonne, ist eine Hose gehangen. Und zwar eine braune Herrenhose mit Bundfalten, soweit man das von unten hat erkennen können. Die ist einfach so da oben gehangen, ein bisserl zerknittert, ein bisserl ausgebeult, ansonsten tadellos, also eigentlich unauffällig. Aber bekanntlich steckt ja gerade im Unauffälligen oft auch das Unerhörte. Und deswegen ist dann unten am Boden gleich das Theater losgegangen. Jeder hat sich mit jedem gestritten, und alle haben alle angeschrien, und vor lauter Aufregung hat man ziemlich lang nicht daran gedacht, die Hose von da oben herunterzuholen. Als dann aber endlich doch einer auf die Idee gekommen ist, an der Leine zu ziehen, ist etwas wirklich Bemerkenswertes passiert. Genau in dem Moment ist nämlich ein Wind aufgekommen. Ein plötzlicher Windstoß, eine Bö, ein Blaserl, wie auch immer Sie das nennen wollen. Jedenfalls hat dieser plötzlich einsetzende Wind sich in der Hose verfangen und sie sozusagen aufgerichtet. Und jetzt kann man sich natürlich vorstellen, wie sich die geheimen Gesichter endgültig in die verschiedensten Ausdrucksvariationen blöden Erstaunens oder erstaunter Blödigkeit verformt haben. Weil: Das war keine normale Hose. Es war praktisch nur eine halbe. Eine einbeinige Hose war das. Das andere Hosenbein war ungefähr auf Kniehöhe abgeschnürt. Der Wind ist also in diese einbeinige Hose hineingefahren, genau in dem Moment, wo man sie herunterholen hat wollen. Und da hat sich vor aller Augen etwas tatsächlich Merkwürdiges abgespielt: Eine Weile ist die Hose also einfach so herumgeflattert, aber dann, ganz plötzlich, ist sie stillgestanden, ist praktisch waagrecht in der Luft gelegen. Und für einen kurzen Augenblick hat dieses braune, zerknitterte und schon ein bisserl ausgebeulte Hosenbein dort oben im Himmel ausgesehen wie ein Zeigefinger. Wie ein riesiger Zeigefinger, der den Leuten einen Weg weist. Wohin der genau gezeigt haben soll, bleibt natürlich allerhöchstens Spekulation. In jedem Fall aber weg, wenn Sie mich fragen, weit, weit weg. So, und jetzt sind S’ so lieb und geben S’ mir noch ein Taferl Schokolad’. Mit Nüssen. Und zahlen möcht ich dann gern beim nächsten Mal, wenn’s Ihnen nicht pressiert. Ich danke recht schön, habe die Ehre und auf Wiederschauen!«
Die ganze Nacht über war Frau Huchel wachgelegen und hatte in die tiefe Dunkelheit zwischen den Deckenbalken hinaufgestarrt. Schon im Laufe des gestrigen Abends hatte sich eine merkwürdige Unruhe in ihr ausgebreitet, ein Unwohlsein, wie ein leichtes Fieber. Vielleicht sind das schon die weiblichen Hitzen, hatte sie gedacht, vielleicht ist es jetzt so weit. Sie hatte sich früh hingelegt, aber der Schlaf wollte nicht kommen, und so lag sie dann in ihrem Bett und starrte in die Dunkelheit hinauf und horchte in die Stille hinein. Die Stille in einer Fischerhütte, dachte sie, hört sich anders an als zum Beispiel die Stille im Wald. Oder die Winterstille unterm Schafberggipfel. Oder die Stille, die einem manchmal im Herzen sitzt. Die Geschichte mit dem feschen Fremdenführer hatte sich bald als Irrtum herausgestellt, nichts weiter als eine verwehte Fantasie, und vor wenigen Tagen war der Wirt wieder zudringlich geworden. In der Wirtshausküche hatte er ihr seine Hand in den Nacken gelegt und nach mehr gefragt. Auch diesmal hatte sie mit dem erfundenen Obersturmbannführer Graleitner gedroht, aber der Wirt hatte sich nicht beeindrucken lassen. Warum man diesen Herrn Graleitner eigentlich noch nie zu Gesicht bekommen habe, hatte er gefragt und dabei langsam seine Hand an ihrem Rücken hinuntergleiten lassen. Statt einer Antwort hatte sie das große Knochenmesser aus der Lade gezogen und dem schlagartig erstarrten Wirt mit einem einzigen ruhigen Schnitt vorne die Schürze aufgeschlitzt, die sich daraufhin wie ein schmutziger Vorhang geöffnet und die breiten Lenden des Wirten freigegeben hatte. Danach hatte sie das Messer in die hölzerne Küchenplatte gerammt und war gegangen. Jetzt war sie zwar arbeitslos, aber gar nicht so unglücklich damit. Die Luft war heiß, ihr Körper war heiß, und die Stunden krochen durch die Hütte wie träge Schatten. Als in der Abzugsluke über dem Herd der Mond auftauchte und den Raum mit seinem fahlen Licht füllte, legte sie ihre rechte Hand auf ihr Herz und weinte. Für ein paar Minuten fand sie Frieden, doch dann breitete sich die Unruhe wieder in ihr aus und vertrieb die letzten Tränen. Draußen flatterte ein Vogel aus dem Schilf, schlug mit den Flügeln hart gegen das Wasser und lachte wie ein heiseres Kind. In dem kleinen Fenster zur Seeseite ließ sich das erste Morgenlicht erahnen. Sie stand auf und ging hinaus. Barfuß ging sie zum See hinunter. Das Gras war feucht und kühl. Über die Wasseroberfläche zogen graue Dunstschleier, und dahinter waren die Umrisse des fernen Ufers zu erkennen. Lange stand sie so da, ließ sich die Füße vom Wasser umspülen und sah zu, wie sich der See langsam mit Licht füllte. Ein Schwarm junger Saiblinge flirrte um ihre Knöchel, hoch über ihr segelten Kormorane vorbei, und drüben lösten sich die drei großen Hakenkreuze aus dem Dunst. Die Mutter hörte ihr Herz pochen. Ein kleiner Schauder lief ihr den Rücken hinunter, und obwohl es warm war, zitterte sie. »Mein Bub«, sagte sie und schloss die Augen. »Wo bist du, mein Bub?«
Als Franz aufwachte, musste er lachen. Es war nur ein abgebrochener Laut, gegen die Zimmerdecke hinaufgeworfen, aber es kam ihm vor, als würde dieses Lachen dort oben zerplatzen und an der alten Tapete in alle Richtungen auseinanderperlen. Er blinzelte und rieb sich die Augen. Die Nacht war kurz gewesen. Fast zu kurz, um zu träumen. Einige wenige Traumfetzen hatten sich dennoch in ihn hineinverirrt und schimmerten jetzt noch schwach irgendwo tief in seinem Inneren nach. Schnell nahm er Bleistift und Zettel und schrieb sie mit flüchtig hingestrichenen Worten auf. Er stieg aus dem Bett, zog sich an und ging mit dem Zettel und einer Rolle Klebeband auf die Straße. Der Tag war strahlend heraufgezogen, die Währingerstraße lag in einer weichen Morgensonnenhelligkeit, und die ersten Passanten auf dem Weg zur Innenstadt schoben lange Schatten vor sich her. Franz stellte sich auf die Zehenspitzen, reckte seine Arme in die Höhe und gähnte. Wie immer war er pünktlich zur Ladenöffnungszeit aufgewacht. Was ein richtiger Trafikant ist, braucht keinen Wecker, hatte Otto Trsnjek einmal gesagt, und da hatte er recht gehabt. Franz machte sich daran, den Zettel an die Auslage zu kleben. Ein neuer Traum, ein neuer Tag, dachte er, und die Scheiben müssten auch wieder einmal feucht gewischt werden. Hinter sich hörte er das lauter werdende Blubbern eines Dieselmotors. Von der Votivkirche her näherte sich ein altmodischer, dunkler Wagen und hielt direkt vor der Trafik. Drei Männer stiegen aus, unter ihnen der Beamte mit dem verhärmten Gesicht.
»Wir hatten ja schon das Vergnügen«, sagte er. »Sollen wir uns trotzdem vorstellen?« Franz schüttelte den Kopf. Der Verhärmte zog ein Zigarettenetui aus seiner Manteltasche, holte eine dünne Zigarillo heraus, zündete sie an und beobachtete Franz, wie er mit den Zähnen Streifen vom Klebeband abriss und damit den Zettel sorgfältig an der Scheibe befestigte. Aus dem Motorraum des Wagens drang ein metallisches Knistern. »Na ja«, sagte einer der Männer traurig und wischte mit seiner Hand über das Blech. »Es wird halt Zeit.« Der Verhärmte sah ihn böse an, und der Mann verstummte. Hinter ihnen holperte eine Frau auf einem klobigen Fahrrad übers Pflaster und pfiff bei jedem Pedaltritt leise zwischen den Zähnen hervor. Auf der anderen Straßenseite ging ein Fenster auf, eine Hand mit einer Schere erschien und schnitt einer Geranie ihren Blütenkopf ab. Er plumpste auf das Fensterbrett und fiel von dort auf den Gehsteig hinunter, wo er leuchtend liegen blieb. Der Verhärmte seufzte, ließ seine Zigarillo auf den Boden fallen und trat sie aus. »Dass die Tage jetzt schon in aller Herrgottsfrühe so lang sein müssen«, sagte er mit einem müden Kopfschütteln: »Darf ich bitten?«
»Einen Augenblick noch«, bat Franz. Er beugte sich ein bisschen näher an den Zettel heran und klebte konzentriert einen weiteren Streifen darüber.
»Das hat doch keinen Sinn mehr, Burschi!«, sagte der Verhärmte.
»Was Sinn hat und was nicht, wird sich erst herausstellen«, sagte Franz. »Außerdem heiße ich Franz. Franz Huchel aus Nußdorf am See!«
»Meinetwegen kannst du auch der Franz aus den Tiroler Bergen sein«, sagte der Verhärmte freundlich, »oder der Hans aus Unterfladnitz oder sonst irgendjemand von sonst irgendwoher. Wir machen da keine Unterschiede. Im Hotel Metropol sind alle Gäste gleich. Also gehen wir jetzt, oder muss ich erst grantig werden?«
Franz riss zwei letzte Streifen von der Rolle und zog sie quer über den ganzen Zettel. Er legte seine flache Hand darauf und schloss die Augen. Der Zettel fühlte sich warm an, und es war, als ob die Scheibe darunter atmete, ein kaum merkliches Heben und Senken unter der Handfläche. Als er die Augen wieder öffnete, sah er, dass seine Finger zitterten.
»Ich muss noch zusperren«, sagte er. »Weil wer weiß schon, was sein wird.« Er schloss die Tür und drehte den Schlüssel dreimal um. Als er zwischen den Männern zum Wagen ging, glaubte er hinter sich immer noch das leise Klingeln der Glöckchen zu hören. Aber das ist ja Blödsinn, dachte er und stieg ein.
Fast sechs Jahre später, am Morgen des 12. März 1945, lag eine merkwürdige Stille über der Stadt. Die Nacht hatte sich verzogen wie Rauch und war einem trüben Dämmerlicht gewichen. Im Radio hatte man Gewitter angesagt und der Wind wirbelte den Staub in den Straßen auf und trieb einzelne Zeitungsblätter vor sich her. Seit einigen Tagen waren wieder Gerüchte über neuerliche Bombenangriffe zu hören, alle sprachen darüber, doch niemand wusste Genaueres. Wer nicht unbedingt auf die Straße musste, blieb zuhause oder verbrachte seine Zeit in Bunkern und Kellern. Nachts schimmerte es da und dort hinter Kellerfenstern in den unbeleuchteten Straßen, und wenn man sich bückte und durch die trüben Scheiben blickte, sah man die flackernden Gesichter von Menschen, die um ein paar Kerzen saßen und schweigend Karten spielten. Die Währingerstraße war fast menschenleer. Auf einer Bank saß eine alte Dame und streute Semmelbrösel zwischen die Tauben, die aufgeregt vor ihren Füßen herumtrippelten. Die Tauben waren die einzigen Vögel, die noch zu sehen waren in den Parks und auf den Straßen. Seit dem letzten Herbst waren alle anderen verschwunden. Eines frühen Morgens hatten sie sich wie auf einen geheimen Aufruf zu großen Schwärmen zusammengefunden und die Stadt in Richtung Westen verlassen. Die alte Dame stieß einen Schreckenslaut aus, als ihr eins der Tiere fast in den Schoß flatterte. Sie ließ das Säckchen mit den restlichen Bröseln in ihrer Manteltasche verschwinden, rappelte sich auf und humpelte leise schimpfend in den nächsten Hauseingang. Vom Gürtel her näherte sich mit schnellen Schritten eine junge Frau. Sie hatte den Kopf gesenkt und die Hände tief vergraben in den Taschen einer viel zu großen Männerjacke, die ihr wie ein Sack von den Schultern hing und bis über die Knie reichte. Als sie ihren Mund öffnete, um mit einem Zischen die Tauben zu verscheuchen, die sich um die letzten Futterreste stritten, waren für einen Augenblick ihre Zähne zu erkennen: klein und weiß schimmernd wie Perlen, mit einer ungewöhnlich großen Lücke genau in der Mitte.
Anezka überquerte die Straße und blieb stehen. Ein Kohlefuhrwerk kam ihr entgegen. Vorne schnauften zwei Haflinger ihren Atemdampf vor sich her, und auf dem Bock saß der Kohler. Seine Augen blickten dumpf und müde über die Köpfe der Pferde hinweg, zwei helle Flecken in dem schwarzen Gesicht. Mit polterndem Lärm fuhr der Wagen vorüber, und Anezka blickte ihm nach, bis er in die Boltzmanngasse einbog und verschwand. Sie ging am Installationsbüro Veithammer vorbei und gelangte ein paar Schritte weiter vor die Ladenfront der ehemaligen Tabaktrafik Trsnjek. Vom Rahmen der Eingangstür blätterte die Farbe, und die Auslagenscheibe war mit einer feinen Staubschicht bedeckt. Anezka legte ihre Stirn an das Glas und spähte ins Innere. Der Verkaufsraum war leer bis auf die alte Theke, die Wandregale und den Hocker, der wie ein totes Tier mit den Beinen nach oben in der Mitte des Raumes lag. Die Tür an der Hinterseite stand einen Spalt offen, dahinter war es dunkel. Anezka legte ihre Hände und die Wange gegen die Scheibe und schloss die Augen. Für einen kurzen Moment hatte sie das Gefühl, dass die Auslage, der Raum, der Boden, die Luft vibrierten. Sie hauchte gegen das Glas und strich mit dem Zeigefinger langsam zwei Linien durch die beschlagene Stelle. Als sie sich zum Gehen wandte, sah sie den Zettel neben der Tür. Eigentlich war es nur mehr ein Fetzen Papier, von der Sonne ausgegilbt und fast schwarz an den Rändern. Die untere Hälfte fehlte, war weggerissen worden oder hatte sich im Lauf der Jahre einfach gelöst. Der Rest hatte sich nur gehalten, weil er kreuz und quer von mehreren Streifen Klebeband überzogen war. Anezka erkannte die Schrift, ohne sie je zuvor gesehen zu haben. Sie war verblasst und unter der Staubschicht kaum noch zu lesen, die Buchstaben waren klein und wackelig, fast wie von einer Kinderhand hingekritzelt. Sie beugte sich nah heran und las:
7. Juni 1938
Der See hat auch schon bessere Zeiten gesehen, die Geranien leuchten in der Nacht, aber es ist ja ein Feuer, und getanzt wird sowieso immer, das Licht ver
Der Riss ging mitten durch das letzte Wort. Anezka atmete tief ein, dann löste sie behutsam das Klebeband, faltete den Zettel zusammen und steckte ihn in ihre Manteltasche. Noch einmal blickte sie ins Innere der Trafik, doch da war nichts. Sie tippte mit dem Finger sanft gegen die Scheibe und ging. Als sie an der ehemaligen Fleischerei Roßhuber vorbeikam, hatte sie wieder das Gefühl, dass die Luft um sie herum vibrierte. Doch diesmal war es keine Täuschung, und als sie auf Höhe der Votivkirche ihre Schritte beschleunigte und schließlich, so schnell sie konnte, zu laufen begann, war der Himmel längst erfüllt vom rasch anschwellenden Motorengeräusch der alliierten Bomberverbände, die sich wie ein riesiger, dunkler Schwarm von Westen her näherten und die Stadt in Schatten legten.