An einem Sonntag im Spätsommer des Jahres 1937 zog ein ungewöhnlich heftiges Gewitter über das Salzkammergut, das dem bislang eher ereignislos vor sich hin tröpfelnden Leben Franz Huchels eine ebenso jähe wie folgenschwere Wendung geben sollte. Schon beim ersten fernen Donnergrollen war Franz in das kleine Fischerhaus gelaufen, das er und seine Mutter in dem Örtchen Nußdorf am Attersee bewohnten, und hatte sich tief ins Bett verkrochen, um in der Sicherheit seiner warmen Daunenhöhle dem unheimlichen Tosen zuzuhören. Von allen Seiten rüttelte das Wetter an der Hütte. Die Balken ächzten, draußen knallten die Fensterläden, und auf dem Dach flatterten die vom dichten Moos überwachsenen Holzschindeln im Sturm. Von Böen getrieben, prasselte der Regen gegen die Fensterscheiben, vor denen ein paar geköpfte Geranien in ihren Kübeln ersoffen. An der Wand über der Altkleiderkiste wackelte der eiserne Jesus, als könnte er sich jeden Augenblick von seinen Nägeln losreißen und vom Kreuz springen, und vom nahen Ufer war das Krachen der Fischerboote zu hören, die von den aufgepeitschten Wellen gegen ihre Uferpflöcke geschleudert wurden.
Als sich das Gewitter endlich ausgetobt hatte und sich ein erster zaghafter Sonnenstrahl über die rußschwarzen, von Generationen schwerer Fischerstiefel ausgetretenen Dielen bis an sein Bett heranzitterte, rollte sich Franz in einem kleinen Wohligkeitsanfall zusammen, nur um gleich darauf seinen Kopf unter der Decke hervorzustrecken und sich umzuschauen. Die Hütte war stehen geblieben, Jesus hing noch immer am Kreuz und durch das mit Wassertropfen besprenkelte Fenster leuchtete ein einzelnes Geranienblütenblatt wie ein zartroter Hoffnungsschimmer.
Franz kroch aus dem Bett und ging zur Kochnische, um einen Topf Kaffee mit fetter Milch aufzukochen. Das Brennholz unter dem Herd war trocken geblieben und flammte auf wie Stroh. Eine Weile starrte er in das helle Flackern hinein, als mit einem jähen Kracher die Tür aufflog. Im niedrigen Türrahmen stand die Mutter. Frau Huchel war eine schmale Frau in den Vierzigern, immer noch ganz ansehnlich, wenngleich auch schon etwas ausgemergelt wie die meisten Einheimischen, denen die Arbeit in den umliegenden Salzminen, den Viehställen oder den Küchen der Sommerfrischlerwirtshäuser zugesetzt hatte. Sie stand einfach nur da, eine Hand an den Türpfosten gelehnt, keuchend und mit leicht gesenktem Kopf. Die Schürze klebte an ihrem Körper, über ihre Stirn liefen die Haare in wirren Strähnen, und von ihrer Nasenspitze lösten sich einzelne Wassertropfen. Im Hintergrund ragte düster der Schafberg ins Wolkengrau, in dem da und dort schon wieder blaue Flecken auftauchten. Franz musste an das schief verschnitzte Marienbild denken, das irgendjemand in alten Zeiten an den Türstock der Nußdorfer Kapelle genagelt hatte und das mittlerweile fast bis zur völligen Unkenntlichkeit verwittert war.
»Bist nass geworden, Mama?«, fragte er und stocherte mit einem grünen Zweig im Herdfeuer herum. Die Mutter hob den Kopf, und da sah er, dass sie weinte. Die Tränen vermischten sich mit dem Regenwasser, und ihre Schultern bebten.
»Was ist denn passiert?«, fragte er erschrocken und stopfte den Zweig ins aufqualmende Feuer. Statt einer Antwort stieß sich die Mutter vom Türrahmen ab, kam mit ein paar unsicheren Schritten auf ihn zu, blieb dann aber mitten im Raum wieder stehen. Für einen Moment schien sie sich suchend umzusehen, dann hob sie mit einer hilflosen Geste ihre Hände und ließ sich nach vorne auf die Knie fallen.
Franz tat einen zögerlichen Schritt, legte seine Hand auf ihren Kopf und begann ungeschickt über ihr Haar zu streicheln.
»Was ist denn passiert?«, wiederholte er heiser. Plötzlich kam er sich seltsam und dumm vor. Bislang war es umgekehrt gewesen: Er hatte geheult, und die Mutter hatte ihn gestreichelt. Ihr Kopf unter seiner Handfläche fühlte sich zart und zerbrechlich an, unter ihrer Kopfhaut spürte er das warme Pulsieren.
»Er ist ertrunken«, sagte sie leise.
»Wer?«
»Der Preininger.«
Franz hielt inne. Ein paar Augenblicke ließ er seine Hand noch auf ihrem Kopf liegen, dann zog er sie zurück. Die Mutter strich sich die Strähnen aus der Stirn. Dann stand sie auf, nahm einen Zipfel ihrer Schürze und wischte sich damit übers Gesicht.
»Du verräucherst uns ja die ganze Hütte!«, sagte sie, nahm den grünen Zweig aus dem Herd und schürte das Feuer.
Alois Preininger war nach eigenen Angaben der reichste Mann im Salzkammergut. Tatsächlich war er nur der drittreichste, was ihn zwar maßlos ärgerte, ihn aber zu dem ehrgeizigen Stierschädel hatte werden lassen, als der er bekannt und berüchtigt war. Ihm gehörten ein paar Hektar Wald- und Weidefläche, ein Sägewerk, eine Papierfabrik, die vier letzten Fischereibetriebe der Gegend, eine unbekannte Anzahl größerer und kleinerer Seegrundstücke mitsamt dazugehörender Bebauung sowie zwei Fährschiffe, ein Ausflugsdampfer und das einzige Auto im Umkreis von angeblich über vier Kilometern: ein prächtiger, champagnerroter Wagen der Firma Steyr-Daimler-Puch, der allerdings wegen der vom salzkammerguttypischen Dauerregen ständig ausgewaschenen Straßen in einer rostigen Blechbaracke vor sich hin dauerte.
Alois Preininger waren seine sechzig Jahre nicht anzusehen, immer noch stand er voll im Saft. Er liebte sich selbst, seine Heimat, gutes Essen, starke Getränke und schöne Frauen. Wobei das mit der Schönheit eher subjektiv und daher relativ war. Im Grunde genommen liebte er alle Frauen, weil er eben auch alle Frauen schön fand. Franz’ Mutter hatte er vor Jahren beim großen Seefest kennengelernt. Sie stand unter der alten Linde, trug ein himmelblaues Kleid, und ihre Unterschenkel waren so hellbraun, glatt und makellos wie das hölzerne Lenkrad des champagnerroten Steyr-Daimler-Puch. Er bestellte frischen Bratfisch, einen Krug Most und eine Flasche Kirsch, und während sie aßen und tranken, versuchten sie erst gar nicht, aneinander vorbeizuschauen. Kurz danach tanzten sie Polka und später sogar Walzer und flüsterten sich dabei kleine Geheimnisse ins Ohr. Dann spazierten sie Arm in Arm um den sternengetupften See und fanden sich unvermutet in der Blechbaracke und gleich darauf im Fond des Steyr-Daimler-Puch wieder. Der Rücksitz war breit genug, das Leder weich, die Stoßdämpfer gut geschmiert, alles in allem war die Nacht ein Erfolg. Von da an trafen sie sich immer wieder in der Baracke. Es waren kurze, eruptive Zusammenstöße, die mit keinen Forderungen und keinen Erwartungen verbunden waren. Für Frau Huchel hatten diese angenehm verschwitzten Zusammenkünfte auf dem Rücksitz allerdings noch einen weiteren, fast noch ein bisschen angenehmeren Nebeneffekt: Pünktlich zu jedem Monatsende flatterte bei der Nußdorfer Sparkasse ein Scheck über einen nicht unerheblichen Betrag ein. Dieser regelmäßige Geldsegen ermöglichte ihr, die ehemalige Fischerhütte direkt am Seeufer zu beziehen, einmal täglich warm zu essen und zweimal im Jahr mit dem Bus nach Bad Ischl zu fahren, um sich im Café Esplanade eine heiße Schokolade und im nebenan gelegenen Stoffladen ein paar Meter Leinen für ein neues Kleid zu gönnen. Für ihren Sohn Franz wiederum hatte Alois Preiningers Liebesgroßzügigkeit den Vorteil, dass er nicht wie all die anderen jungen Burschen den ganzen Tag in irgendwelchen Salzstollen oder Misthaufen herumkriechen musste, um sich ein kärgliches Auskommen zu verdienen. Stattdessen konnte er von früh bis spät durch den Wald spazieren, sich auf einem der Holzstege die Sonne auf den Bauch scheinen lassen oder bei schlechtem Wetter einfach im Bett liegen bleiben und seinen Gedanken und Träumen nachhängen. Doch damit war es jetzt vorbei.
Wie seit fast vierzig Jahren – unterbrochen nur von einigen wenigen widrigen Ereignissen, wie dem ersten Weltkrieg oder dem Großbrand im Sägewerk – hatte Alois Preininger auch diesen Sonntagvormittag am Stammtisch des Wirtshauses Zum Goldenen Leopold verbracht, hatte einen Rehbraten mit Rotkraut und Serviettenknödel sowie acht Krügel Bier und vier Doppeltgebrannte zu sich genommen und mit seiner tief tremolierenden Bassstimme allerhand Bedeutendes über die oberösterreichische Volkstumspflege, den sich wie Krätze in ganz Europa ausbreitenden Bolschewismus, die vertrottelten Juden, die noch vertrottelteren Franzosen und die geradezu grenzenlosen Entwicklungsmöglichkeiten im Fremdenverkehrsgeschäft zum Besten gegeben. Als er dann schließlich um die Mittagszeit etwas schläfrig auf dem Uferweg nach Hause wankte, war es merkwürdig still um ihn herum. Keine Vögel waren zu sehen, keine Insekten zu hören, und sogar die Schmeißfliegen, die noch im Wirtshaus seinen schweißglänzenden Nacken umschwirrt hatten, waren verschwunden. Der Himmel hing schwer über dem See, die Wasseroberfläche lag völlig glatt da. Selbst das Schilf bewegte sich nicht. Es war, als ob die Luft geronnen wäre und die ganze Landschaft in ihre stille Bewegungslosigkeit eingeschlossen hätte. Alois dachte an die Schweinesülze im Goldenen Leopold: Die hätte er bestellen sollen, und nicht den Rehbraten, der ihm jetzt trotz der Doppeltgebrannten wie ein Ziegelstein im Magen lag. Mit dem Hemdsärmel wischte er sich den Schweiß von der Stirn und blickte über die Wasserfläche, die sich samtigweich und schwarzblau vor ihm ausbreitete. Dann zog er sich aus.
Das Wasser war angenehm kühl. Alois schwamm mit ruhigen Zügen und schnaufte in die geheimnisvolle, dunkle Tiefe unter ihm. Als er ungefähr in der Mitte des Sees angelangt war, fielen die ersten Tropfen und nach weiteren fünfzig Metern schüttete es bereits wie aus Kübeln. Ein gleichmäßiges Prasseln lag über der Wasseroberfläche, schwere Tropfeneinschläge, dicke Regenschnüre, die die Schwärze des Himmels mit der Schwärze des Sees verbanden. Wind kam auf und wurde bald zum Sturm, der die Wellenkämme zu Schaum schlug. Ein erster Blitz tauchte den See für einen Augenblick in ein unwirkliches, silbriges Licht. Der Donner war ohrenbetäubend. Ein Krachen, das die Welt auseinanderzureißen schien. Alois lachte auf und planschte wild mit Armen und Beinen. Er schrie vor Vergnügen. Noch nie hatte er sich so lebendig gefühlt. Das Wasser um ihn herum brodelte, der Himmel über ihm stürzte zusammen, aber er lebte. Er lebte! Er bäumte seinen Oberkörper aus dem Wasser und juchzte in die Wolken hinauf. Genau in diesem Moment schlug ein Blitz in seinen Kopf ein. Eine strahlende Helligkeit füllte sein Schädelinneres aus, und für den Bruchteil einer Sekunde fühlte er so etwas wie eine Ahnung von Ewigkeit in sich aufsteigen. Dann blieb sein Herz stehen, und mit einem erstaunten Gesichtsausdruck und eingehüllt in einen Schleier zartglitzernder Luftbläschen sank er auf den Grund.
Das Begräbnis fand auf dem Nußdorfer Gemeindefriedhof statt und war gut besucht. Viele Menschen aus der Gegend waren gekommen, um Alois Preininger zu verabschieden. Vor allem versammelten sich auffällig viele schwarz verschleierte Frauen um das Grab. Es wurde viel geweint und geschluchzt, und Horst Zeitlmaier, der dienstälteste Sägewerkvorarbeiter, legte die drei Fingerstummel seiner rechten Hand an die Brust und rang sich mit zittriger Stimme ein paar Worte ab: »Der Preininger war ein guter Mann«, sagte er, »hat, soweit man weiß, nie jemanden bestohlen oder betrogen. Und seine Heimat hat er geliebt wie kein zweiter. Schon als kleiner Bub ist er so gerne in den See gesprungen. Am letzten Sonntag zum allerletzten Mal. Jetzt wohnt er beim lieben Gott, und wir wünschen ihm alles Gute. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen!«
»Amen!«, antworteten die anderen. »Dabei hat er doch noch so einen Appetit gehabt!«, flüsterte jemand, und die Umstehenden nickten betroffen. Unter einem der schwarzen Schleier drang ein würgendes Schluchzen hervor, da und dort wurden noch ein paar Worte gewechselt – dann ging man auseinander.
Auf dem Heimweg lüftete Franz’ Mutter ihren Schleier und blinzelte mit roten Augen ins Sonnenlicht. Der See lag ruhig und matt schimmernd da. Im niedrigen Wasser stand ein Reiher und wartete reglos auf den nächsten Fisch. Am anderen Ufer tutete einer der Fährdampfer zum Ablegen. Der Schafberg stand dahinter wie gemalt und Schwalben flitzten durch die klare Luft.
»Der Preininger ist gegangen«, sagte sie und legte ihre Hand auf Franz’ Oberarm, »und die Zeiten werden nicht besser. Es liegt was in der Luft.« Unwillkürlich richtete Franz seinen Blick nach oben. Doch da war nichts. Die Mutter seufzte. »Du bist jetzt schon siebzehn Jahre alt«, sagte sie. »Aber du hast immer noch ganz zarte Hände. Zart und weich und weiß, wie von einem Mädchen. So einer wie du kann nicht im Wald arbeiten. Auf dem See schon gar nicht. Und die Sommerfrischler können auch nichts anfangen mit so einem.« Sie waren inzwischen stehen geblieben, immer noch lag ihre Hand warm und leicht an seinem Arm. Drüben hatte die Fähre abgelegt und begann langsam über den See zu stampfen.
»Ich hab ein bisserl nachgedacht, Franzl«, sagte die Mutter. »Es gibt da einen alten Freund. Der hat vor ewig langer Zeit eine Saison bei uns im See verplanscht. Otto Trsnjek heißt er. Und dieser Otto Trsnjek hat mitten in Wien eine Trafik. Eine richtige Trafik, mit Zeitungen, Zigaretten und allem Drum und Dran. Das alleine wär ja schon nicht schlecht, aber was das Ganze noch viel besser macht: Er schuldet mir einen Gefallen.«
»Wofür denn?«
Die Mutter zuckte mit den Achseln und zupfte sich mit spitzen Fingern eine Schleierfalte zurecht. »Die Saison damals war heiß, und wir waren jung und recht dumm im Schädel …«
Am Ufer ruckte der Reiher plötzlich mit seinem Kopf, stach mit dem Schnabel ein paar Mal in die Luft, breitete die Flügel aus und hob ab. Eine Weile verfolgten sie seinen Flug, bis er schließlich abtauchte und hinter dem Schilfstreifen verschwand.
»Mach dir keine Gedanken, Franzl, das war lange bevor du mir in den Schoß gefallen bist«, sagte sie. »Jedenfalls hab ich ihm geschrieben. Dem Otto Trsnjek nämlich. Ob er eine Arbeit hat für dich.«
»Und?«
Statt einer Antwort griff sich die Mutter unter ihre schwarze Strickweste und zog einen amtlich aussehenden Zettel hervor. Es war ein Telegramm mit blauen, akkuraten Druckbuchstaben: DER BUB SOLL KOMMEN STOP ABER NICHT ZU VIEL ERWARTEN STOP DANKE STOP OTTO STOP
»Und was heißt das jetzt?«, fragte Franz.
»Das heißt, du machst dich morgen auf den Weg nach Wien!«
»Morgen? Aber das geht doch nicht …«, stammelte er erschrocken. Im nächsten Moment gab sie ihm wortlos eine Ohrfeige. Der Schlag traf ihn so plötzlich, dass er zwei Schritte zur Seite taumelte.
Am nächsten Tag saß Franz im Frühzug nach Wien. Die dreizehn Kilometer zum Bahnhof von Timelkam waren er und die Mutter zu Fuß gegangen, um Geld zu sparen. Der Zug kam pünktlich, der Abschied war kurz, schließlich war alles gesagt und getan. Sie küsste ihn auf die Stirn, er tat ein bisschen grantig, nickte ihr zu und stieg ein. Während der alte Dieseltriebwagen Fahrt aufnahm, streckte Franz seinen Kopf zum Fenster hinaus und sah die winkende Mutter auf dem Bahnsteig immer kleiner werden, bis sie schließlich ganz verschwand, ein undeutlicher Fleck im morgendlichen Sommerlicht. Er ließ sich in seinen Sitz fallen, schloss die Augen und atmete so lange aus, bis ihm ein bisschen schwindelig wurde. Erst zweimal in seinem Leben hatte er das Salzkammergut verlassen: Einmal waren sie nach Linz gefahren, um einen Anzug für den ersten Schultag zu kaufen, und ein anderes Mal ging es mit der Volksschulklasse nach Salzburg, wo sie einem trostlosen Blechorchesterkonzert zuhörten und den Rest des Tages zwischen alten Gemäuern herumstolperten. Doch das waren nur Ausflüge, nichts weiter. »Das hier ist etwas anderes«, sagte er leise zu sich selbst, »etwas völlig und ganz anderes!« Vor seinem Inneren tauchte die Zukunft auf wie ein weit entfernter Uferstreifen aus dem Morgennebel: noch ein bisschen undeutlich und verwischt, aber doch auch verheißungsvoll und schön. Und auf einmal fühlte sich alles irgendwie leicht und angenehm an. Es war, als ob mit der verschwommenen Gestalt der Mutter auf dem Bahnsteig von Timelkam auch ein großer Teil seines Körpergewichtes zurückgeblieben wäre. Fast schwerelos saß Franz jetzt im Zugabteil, spürte das rhythmische Rattern der Schwellen unterm Hintern und raste mit der unvorstellbaren Geschwindigkeit von fast achtzig Kilometern pro Stunde in Richtung Wien.
Als der Zug eineinhalb Stunden später aus dem Voralpengebirge herausfuhr und sich die weite Helligkeit der niederösterreichischen Hügellandschaft vor ihm öffnete, hatte Franz bereits den kompletten Inhalt des mütterlichen Proviantpakets zusammengegessen und fühlte sich wieder so schwer wie eh und je.
Die Fahrt verlief ohne nennenswerte Vorkommnisse, eher langweilig. Nur einmal, auf dem Streckenabschnitt zwischen Amstetten und Böheimskirchen, musste der Zug einen außerplanmäßigen Halt einlegen. Ein heftiger Ruck ging durch die Waggons, und schnell verloren sie an Geschwindigkeit. Die Gepäckstücke purzelten aus den Netzen, ein ohrenbetäubendes Quietschen ertönte, überall Geschimpfe und Geschrei, dann ein weiterer Ruck, noch ein bisschen heftiger als der erste – und der Zug kam zum Stehen. Mit seinem gesamten Gewicht hatte sich der Lokführer an den gusseisernen Bremshebel hängen müssen, weil in einiger Entfernung auf den Schienen ein großer, dunkler, irgendwie haufenartiger, in jedem Fall aber verdächtiger Gegenstand aufgetaucht war. »Wahrscheinlich wieder die Sozis!«, knurrte der Schaffner, während er mit flatterndem Fahrkartenblock durch die Waggons nach vorne eilte. »Oder die Nazis! Wär aber sowieso egal: Ist eh alles das gleiche Gsindel!«
Wie allerdings bald klar wurde, handelte es sich bei dem verdächtigen Gegenstand lediglich um eine alte Kuh, die sich zum Sterben ausgerechnet die Gleise der Westbahnstrecke ausgesucht hatte und nun schwer und stinkend auf den Schwellen lag. Mit Hilfe einiger Fahrgäste und unter genauer Beobachtung von Franz, der, seine weichen Mädchenhände hinter dem Rücken verschränkt, in sicherer Entfernung stand, schaffte man es, den Kadaver von den Gleisen zu zerren. Unter dem wirren Gekrabbel der Fliegen schimmerten die dunklen Kuhaugen. Franz musste an die glänzenden Steine denken, die er als Bub so oft am Seeufer eingesammelt und danach in seinen prall gefüllten Hosentaschen nach Hause getragen hatte. Jedes Mal war er von einer kleinen Enttäuschung überrascht worden, wenn er die Hose über dem Hüttenboden ausschüttelte und die Steine dumpf und trocken über die Dielen kullerten und ihren unergründlichen Glanz verloren hatten.
Als der Zug schließlich mit nur zweistündiger Verspätung in den Wiener Westbahnhof eingefahren war und Franz aus der Bahnhofshalle ins grelle Mittagslicht hinaustrat, war seine kleine Melancholie längst wieder verflogen. Stattdessen wurde ihm ein bisschen schlecht und er musste sich am nächsten Gaslaternenmast festhalten. Als Erstes gleich einmal vor allen Leuten umkippen, da muss man sich ja genieren, dachte er wütend. Genau wie die käsigen Sommerfrischler, die es Sommer für Sommer gleich nach ihrer Ankunft am Seeufer reihenweise vom Hitzschlag getroffen ins Gras schmeißt und die hernach von gutgelaunten Einheimischen mit einem Kübel Wasser oder ein paar Ohrfeigen wieder ins Bewusstsein zurückgeholt werden müssen. Er klammerte sich noch fester an die Laterne, schloss die Augen und rührte sich so lange nicht mehr, bis er das Pflaster wieder sicher unter seinen Füßen spürte und sich die rötlichen Flecken aufgelöst hatten, die langsam in seinem Blickfeld vorbeipulsierten. Als er die Augen wieder öffnete, brach ein kurzer, erschrockener Lacher aus ihm heraus. Es war überwältigend. Die Stadt brodelte wie der Gemüsetopf auf Mutters Herd. Alles war in ununterbrochener Bewegung, selbst die Mauern und die Straßen schienen zu leben, atmeten, wölbten sich. Es war, als könnte man das Ächzen der Pflastersteine und das Knirschen der Ziegel hören. Überhaupt der Lärm: Ein unaufhörliches Brausen lag in der Luft, ein unfassbares Durcheinander von Tönen, Klängen und Rhythmen, die sich ablösten, ineinanderflossen, sich gegenseitig übertönten, überschrien, überbrüllten. Dazu das Licht. Überall ein Flimmern, Glänzen, Blitzen und Leuchten: Fenster, Spiegel, Reklameschilder, Fahnenstangen, Gürtelschnallen, Brillengläser. Autos knatterten vorüber. Ein Lastwagen. Ein libellengrünes Motorrad. Noch ein Lastwagen. Mit einem schrillen Bimmeln bog eine Straßenbahn um die Ecke. Eine Geschäftstür wurde aufgerissen, Wagentüren zugeschlagen. Jemand trällerte die ersten Takte eines Gassenhauers, brach aber mitten im Refrain wieder ab. Jemand schimpfte heiser. Eine Frau kreischte wie ein Schlachthuhn. Ja, dachte Franz benommen, das hier ist etwas anderes. Etwas völlig und ganz anderes. Und in diesem Moment nahm er den Gestank wahr. Unter dem Straßenpflaster schien es zu gären, und darüber waberten die verschiedensten Ausdünstungen. Es roch nach Abwasser, nach Urin, nach billigem Parfüm, altem Fett, verbranntem Gummi, Diesel, Pferdescheiße, Zigarettenqualm, Straßenteer.
»Ist Ihnen nicht gut, junger Mann?« Eine kleine Dame hatte sich zu Franz gestellt und blickte aus rötlich entzündeten Augen zu ihm hinauf. Trotz der Mittagshitze trug sie einen schweren Lodenmantel und hatte eine schäbige Pelzmütze auf dem Kopf.
»Aber nein!«, sagte Franz schnell. »Es ist nur so laut in der Stadt. Und es stinkt ein bisserl. Vom Kanal her wahrscheinlich.«
Die kleine Dame reckte ihm ihren Zeigefinger wie ein dürres Ästchen entgegen.
»Das ist nicht der Kanal, der da stinkt«, sagte sie. »Das sind die Zeiten. Faulige Zeiten sind das nämlich. Faulig, verdorben und verkommen!«
Auf der anderen Straßenseite holperte ein hoch mit Bierfässern beladener Pferdewagen vorüber. Einer der wuchtigen Pinzgauer bog seinen Schwanz in die Höhe und ließ ein paar Äpfel fallen, die ein eigens zu diesem Zweck hinterhertrottender, schmächtiger Bub mit bloßen Händen aufklaubte und in seinen Schultersack stopfte.
»Bist von weit hergekommen?«, fragte die kleine Dame.
»Von zuhause.«
»Das ist sehr weit. Da fährst am besten gleich wieder zurück!«
Im ihrem linken Auge war eine Ader geplatzt und hatte sich zu einem rosigen Dreieck erweitert. An ihren Wimpern klebten winzige Kohlenstaubklümpchen.
»Blödsinn!«, sagte Franz. »Es gibt kein Zurück, und außerdem gewöhnt man sich an alles.«
Er drehte sich um und ging, überquerte die stark befahrene Gürtelstraße, wich im letzten Moment einem daherbrausenden Autobus aus, sprang leichtfüßig über eine Lacke aus Pferdeseiche und bog in die gegenüberliegende Mariahilferstraße ein, so wie es ihm die Mutter gesagt hatte. Als er sich noch einmal umdrehte, stand die kleine Dame immer noch neben der Laterne am Bahnhofseingang, ein lodengrüner Zwerg mit übergroßem Kopf, in dessen feinen Pelzhaarspitzen das Sonnenlicht glänzte.
Otto Trsnjeks kleine Tabaktrafik lag im neunten Wiener Gemeindebezirk an der Währingerstraße, eingezwängt zwischen dem Installationsbüro Veithammer und der Fleischhauerei Roßhuber. Über dem Eingang war ein großes Blechschild angebracht:
Tabaktrafik Trsnjek
Zeitungen
Schreibwaren
Rauchwaren
seit 1919
Franz legte sich mit etwas Spucke seine Haare zurecht, knöpfte sich das Hemd bis ganz oben zu, was ihm seiner Meinung nach den Anschein einer gewissen Ernsthaftigkeit verlieh, holte tief Luft und betrat die Trafik. Am Türrahmen über seinem Kopf ertönte das Geklingel zarter Glöckchen. Durch die von Plakaten, Zetteln und Reklamebildern fast lückenlos zugeklebte Auslagenscheibe drang nur wenig Licht ins Innere, und es dauerte einige Sekunden, bis sich Franz’ Augen an die Düsterkeit gewöhnt hatten. Der Verkaufsraum war winzig und bis unter die Decke vollgestopft mit Zeitungen, Zeitschriften, Heftchen, Büchern, Schreibzeug, Zigarettenschachteln, Zigarrenkisten und verschiedenen anderen Rauch-, Schreib- und Kleinwaren. Hinter der niedrigen Verkaufstheke, zwischen zwei hohen Zeitungsstapeln, saß ein älterer Mann. Er hatte seinen Kopf tief über einen Aktenordner gebeugt und trug sorgfältig und konzentriert Zahlen in offenbar dafür vorgesehene Spalten und Kästchen ein. Eine dumpfe Ruhe füllte den Raum, nur das Kratzen der Federspitze auf dem Papier war zu hören. In den wenigen schmalen Lichtbalken flirrte der Staub, und ein intensiver Geruch nach Tabak, Papier und Druckerschwärze lag in der Luft.
»Servus, Franzl«, sagte der Mann, ohne von seinem Zahlen aufzusehen. Er sagte es leise, doch die Worte klangen überdeutlich in der Beengtheit des Raumes.
»Wieso wissen Sie denn, wer ich bin?«
»Dir hängt ja noch das halbe Salzkammergut an den Füßen!«, Der Mann zeigte mit seiner Füllfeder auf Franz’ Schuhe, an deren Kuppennähten ein paar Batzen dunkler Erde klebten.
»Und Sie sind der Otto Trsnjek.«
»Genau.« Mit einer müden Handbewegung klappte Otto Trsnjek seinen Ordner zu und ließ ihn in einer Schublade verschwinden. Dann stemmte er sich aus seinem Sesselchen heraus, verschwand mit einem merkwürdigen Hopser hinter den Zeitungsstapeln und kam gleich darauf mit zwei Krücken unter den Achseln wieder hervor. Soweit Franz erkennen konnte, war von seinem linken Bein nur noch der halbe Oberschenkel übrig. Der Hosenstoff unter dem Stumpf war zu einem Zipfel zusammengenäht und schlenkerte bei jeder Bewegung ein bisschen nach. Otto Trsnjek hob eine der Krücken und wies mit einer runden, fast zärtlichen Bewegung auf das Warensortiment im Verkaufsraum.
»Und das hier sind meine Bekannten. Meine Freunde. Meine Familie. Am liebsten möcht ich sie alle behalten.« Er lehnte eine seiner Krücken gegen die Theke und strich mit dem Handrücken sanft über die bunt durcheinanderglänzenden Titelblätter in einem der Regale. »Aber ich geb sie trotzdem her, jede Woche, jeden Tag, zu jeder Stund, von der Ladenöffnung bis zum Ladenschluss. Und weißt du auch warum?«
Franz wusste es nicht.
»Weil ich Trafikant bin. Weil ich Trafikant sein will. Und weil ich immer Trafikant sein werde. Und zwar bis es nicht mehr geht. Bis der Herrgott bei mir die Rollos herunterlässt. So einfach ist das!«
»Aha«, sagte Franz.
»Genau«, meinte Otto Trsnjek. »Und wie geht es deiner Mutter?«
»Eigentlich wie immer. Schöne Grüße soll ich ausrichten!«
»Danke«, sagte Otto Trsnjek. Und dann führte er seinen Lehrling in die Geheimnisse des Trafikantenlebens ein.
Franz’ hauptsächlicher Arbeitsplatz würde der kleine Hocker neben der Eingangstür sein. Dort solle er – wenn gerade nichts Dringlicheres anstehe – ruhig sitzen, nicht reden, auf Anweisungen warten und ansonsten etwas für Hirn und Horizont tun, sprich: Zeitungen lesen. Die Zeitungslektüre nämlich sei überhaupt das einzig Wichtige, das einzig Bedeutsame und Relevante am Trafikantendasein; keine Zeitungen zu lesen hieße ja auch, kein Trafikant zu sein, wenn nicht gar: kein Mensch zu sein. Aber natürlich könne man unter einer richtigen Zeitungslektüre nicht einfach nur das flüchtige Durchblättern eines oder vielleicht zweier armseliger Tagesblättchen verstehen. Eine richtige, weil eben Hirn und Horizont gleichermaßen erweiternde Zeitungslektüre beinhalte alle sich auf dem Markt (also auch in der Trafik) befindlichen Zeitungen, wenn schon nicht von vorne bis hinten, so doch zumindest zu einem größeren Teil, was da heiße: Aufmacher, Leitartikel, die wichtigsten Kolumnen, die wichtigsten Kommentare sowie die wichtigsten Meldungen aus Politik (Innen und Außen), Lokales, Wirtschaft, Wissenschaft, Sport, Kultur, Gesellschaft und so weiter. Das Zeitungsgeschäft bilde ja bekanntermaßen das Kerngeschäft jeder ernstzunehmenden Trafik, und der Kunde, respektive der Zeitungskäufer, wolle (sofern er nicht sowieso schon einer der vielen intellektuell oder emotional oder politisch an ein bestimmtes Druckerzeugnis gebundener Stammleser sei) vom Trafikanten dementsprechend beraten, informiert und gegebenenfalls mit sanftem Nachdruck oder nachdrücklicher Sanftmut an das für ihn, den Kunden, den Leser, den Zeitungskäufer, an diesem Tage, zu dieser Stunde, in dieser Stimmung einzig angemessene Blatt herangeführt werden. Ob Franz das jetzt auch richtig verstanden habe?
Franz nickte.
Dann das Rauchzeug. Mit den Zigaretten sei es ja noch einigermaßen einfach. Zigaretten könne schließlich jeder dahergelaufene Bauernlümmel, der sich vielleicht zufällig aus dem Salzkammergut oder sonst irgendwoher in eine Trafik hineinverirrt habe, verkaufen. Was beim Bäcker die Semmeln, das seien beim Trafikanten die Zigaretten. Bekanntlich kaufe man weder Semmeln noch Zigaretten wegen des Geschmacks oder des guten Aussehens, sondern einzig und alleine wegen des Hungers beziehungsweise der Sucht. Womit über den Semmel- respektive über den Zigarettenverkauf eigentlich schon alles gesagt und festgehalten wäre. Ganz anders – aber wirklich ganz anders! – verhalte es sich mit den Zigarren. Erst mit dem Verkauf von Zigarren nämlich werde aus einer ernstzunehmenden Trafik auch eine vollkommene Trafik; erst das Aroma, der Duft, der Geschmack und die Würze einer gehörigen Auswahl von Zigarren verwandle einen stinknormalen Zeitungsverkaufsstand mit Rauchwarenzubehör in einen Tempel sowohl des Geistes als auch des Genusses. Ob das für Franz so weit irgendwie nachvollziehbar sei?
Franz nickte und setzte sich auf seinen Hocker.
Das Problem, meinte Otto Trsnjek mit einem traurigen Blick auf das bis unter die Decke dicht mit Zigarrenkisten vollgeräumte Wandregal, das große Problem für das Zigarrengeschäft sei – so wie für vieles andere übrigens auch – die Politik. Die Politik verhunze nämlich grundsätzlich alles und jedes, und da sei es ziemlich egal, wer da gerade mit seinem breitgesessenen Hintern die Regierung bilde, ob der Kaiser selig, der Zwerg Dollfuß, sein Lehrling Schuschnigg oder drüben der größenwahnsinnige Hitler: Von der Politik werde alles und jedes verhunzt, verpatzt, versaut, verdummt und überhaupt irgendwie zugrunde gerichtet. Zum Beispiel das Zigarrengeschäft. Gerade und vor allem das Zigarrengeschäft! Es seien ja heutzutage kaum noch Zigarren zu kriegen! Die Lieferungen stockten, seien unzuverlässig und unberechenbar geworden, die Schwankungen in den Lagerbeständen seien enorm, mit stetiger Tendenz nach unten, so manche Kiste sei schon vor Wochen und Monaten leergekauft worden und stünde nur mehr hier zur Dekoration, praktisch als eine Art trauriges Andenken an bessere Zeiten!
»Genauso ist das und nicht anders«, sagte Otto Trsnjek und betrachtete Franz nachdenklich. Dann nahm er seine Krücken, bewegte sich mit wenigen Schwüngen wieder hinter die Theke, holte seinen Aktenordner aus der Schublade, klemmte seine Zungenspitze zwischen die Schneidezähne und fuhr fort, in seiner Buchhaltung herumzukratzen.
Von nun an erschien Franz jeden Tag pünktlich um sechs Uhr morgens in Otto Trsnjeks Tabaktrafik. Da er als Wohn-, Bade- und Schlafzimmer die kleine Lagerkammer direkt hinter dem Verkaufsraum zugewiesen bekommen hatte, war der Weg zur Arbeit angenehm kurz. Mit einer für ihn selbst überraschend frischen Morgenlaune sprang er von der Matratze, schlüpfte in seine Sachen, putzte sich über dem blechernen Waschkübel die Zähne, strich sich mit den nassen Fingern durch die Haare und ging nach vorne zur Arbeit. Die Vormittage verbrachte er meist ohne allzu viele Unterbrechungen zeitunglesend auf seinem kleinen Hocker neben der Eingangstür. Unter Otto Trsnjeks Anweisung schichtete er sich einen Stapel frischer Morgenblätter zurecht und nahm sich eins nach dem anderen vor. Zu Beginn war die Arbeit mühselig, und er musste sich oftmals zusammenreißen, um während des Lesens nicht vor Müdigkeit auf die Dielen zu kippen. Zuhause hatte es ja, mit Ausnahme des monatlich erscheinenden und von der Gattin des Bürgermeisters eigenhändig verfassten Nußdorfer Gemeindeblättchens, kaum jemals richtige Zeitungen gegeben. Nur auf dem Plumpsklo neben dem Holunderbusch hinter der Hütte lag immer ein kleiner Stoß von der Mutter auf handliche Größe zusammengerissener Zeitungsblätter. Hin und wieder hatte Franz vor dem Abwischen eine Überschrift, ein paar Zeilen oder vielleicht sogar einen halben Absatz gelesen, ohne daraus allerdings jemals einen sonderlichen Nutzen zu ziehen. Das Weltgeschehen glitt ihm damals noch durch die Hände und unterm Hintern hinweg, ohne seine Seele zu erreichen. Das schien sich jetzt zu ändern. Auch wenn es in den ersten Tagen noch recht schleppend ging, so gewöhnte er sich doch bald an den meist ziemlich gestelzten Reporterstil mitsamt seiner vielen, immer wiederkehrenden Formulierungsholprigkeiten und war sogar zunehmend in der Lage, aus den verschiedenen Artikeln ihren jeweiligen Sinn herauszuklauben. Nach ein paar Wochen schließlich konnte er die Zeitungen fast flüssig lesen, wenn nicht von vorne bis hinten, so doch zumindest zum größeren Teil. Und obwohl ihn die unterschiedlichen, manchmal sogar völlig gegensätzlichen Standpunkte und Sichtweisen gehörig durcheinanderbrachten, bereitete ihm die Lektüre doch auch irgendwie ein gewisses Vergnügen. Es war eine Ahnung, die da zwischen den vielen Druckbuchstaben herausraschelte, eine kleine Ahnung von den Möglichkeiten der Welt.
Manchmal legte er die Zeitungen beiseite und nahm eine Zigarre aus einer der vielen bunt bemalten Holzkisten. Er drehte sie nach allen Richtungen, hielt sie gegen einen Lichtspalt in der Auslage, betastete mit den Fingerspitzen ihre mürbe Blätterhaut und zog sie mit geschlossenen Augen schnuppernd unter seiner Nase hindurch. Jede Sorte hatte ihren ganz persönlichen Geruch, und doch trugen alle gemeinsam das Aroma einer Welt jenseits der Trafik, der Währingerstraße, der Wienerstadt, ja selbst des Landes und des ganzen weiten Kontinents in sich. Es duftete nach feuchter, schwarzer Erde, nach still vor sich hinmodernden Baumriesen, nach dem sehnsuchtsvollen Gebrüll der Raubtiere, das die Urwalddunkelheit erfüllte und nach dem noch sehnsuchtsvolleren Gesang der Negersklaven, der aus den hitzeflirrenden Tabakplantagen in den Äquatorhimmel hinaufstieg.
»Eine schlechte Zigarre schmeckt nach Pferdemist«, sagte Otto Trsnjek, »eine gute nach Tabak. Eine sehr gute Zigarre jedoch schmeckt nach der Welt!«
Er selbst war übrigens Nichtraucher.
In den ersten Wochen lernte Franz die Kunden kennen. Zwar gab es jede Menge Laufkundschaft, gehetzte Menschen, die hereingerannt kamen, atemlos ihre Wünsche hervorstießen, wieder hinausrannten und selten oder nie wieder gesehen wurden. Die meisten aber waren Stammkunden. Seit Otto Trsnjek im Jahr nach dem Krieg vom Invalidenentschädigungsgesetz die Trafik zugesprochen worden war, hatte er sich als feste Größe im Alsergrund etabliert. Niemand in der Gegend hatte ihn als jungen Mann gekannt. Eines Tages war er einfach da, war auf seinen Krücken die Währingerstraße heruntergeschwungen, montierte außen das große Blechschild und innen das Glockenspiel über der Eingangstür, setzte sich hinter die Verkaufstheke und gehörte seitdem zum Bezirk wie die Votivkirche oder das Installationsbüro Veithammer.
»Merk dir die Kunden. Präg dir ihre Gewohnheiten und Vorlieben ein. Das Gedächtnis ist das Kapital des Trafikanten!«, sagte er zu Franz. Und der bemühte sich. Zu Beginn fiel es ihm noch schwer, den Leuten ihre jeweiligen Angewohnheiten und Wünsche zuzuordnen, doch mit jedem Tag wurden die Verbindungen klarer. Nach und nach begannen sich aus dem unförmigen Kundendurcheinander einzelne Menschen mitsamt ihren Eigenheiten herauszulösen, bis Franz sie schließlich sogar mit Namen und dem dazugehörigen, in Wien überlebenswichtigen, Titel begrüßen konnte. Da war zum Beispiel Frau Dr. Dr. Heinzl, die die Universität nicht einmal als Gebäude erkannt hätte, geschweige denn sie jemals betreten hatte. Frau Dr. Dr. Heinzl war zweimal verheiratet gewesen, einmal mit einem jüdischen Zahnarzt und später mit einem schon bei der Hochzeit steinalten Juristen. Die beiden Herren folgten den meisten anderen Wienern auf ihren letzten Weg zum Zentralfriedhof, die Doktortitel jedoch blieben und wurden fortan von der Witwe Heinzl stolz durch die Gegend getragen. Außerdem trug sie eine bläuliche Perücke, fächelte sich auch im Winter mit einem Paar lachsfarbener Seidenhandschuhe beständig Luft ins Gesicht und verlangte jeden Tag mit leicht näselndem Aristokratenton ein Exemplar der Wiener Zeitung und der Reichspost. Der erste Kunde des Tages aber war der pensionierte Parlamentsdiener Kommerzialrat Ruskovetz. Der Kommerzialrat kam jeden Morgen kurz nach Ladenöffnung in Begleitung seines inkontinenten Dackels und verlangte nach dem Wiener Journal und einer Packung Zigaretten der Marke Gloriette. Manchmal wechselten er und der Trafikant einige wenige Worte über das hundsmiserable Wetter oder über die vertrottelte Regierung, während der Dackel gelbliche Tropfen auf die Dielen fallen ließ, die Franz anschließend mit einem feuchten Reibefetzen aufzuwischen hatte. Am Vormittag polterten die Arbeiter herein, holten sich das Volksblatt oder das Kleine Blatt und verlangten nach einzelnen Zigaretten, die Otto Trsnjek aus einem Einmachglas herausfischte und ihnen in die schwieligen Hände zählte. Obwohl manche von ihnen schon in der Früh nach Bier rochen und sie mit ihren klobigen Schuhen ziemlich viel Dreck von draußen mitbrachten, mochte Franz die Arbeiter. Sie redeten nicht viel, hatten kantige Gesichter und wirkten insgesamt wie die staubigen Brüder der heimatlichen Waldarbeiter. Um die Mittagszeit kamen dann die Rentner und die Studenten. Die Rentner fragten nach der Österreichischen Woche, die Studenten holten sich ein paar Egyptische, dazu die Wiener Zeitung, Schreibpapier und die neuesten Witzblätter. Am frühen Nachmittag erschien der alte Herr Löwenstein um ein oder zwei Schachteln Gloriette. Danach war die Zeit der Hausfrauen. Die Hausfrauen dufteten entweder nach Putzmittel oder nach Kirschlikör, erzählten viel und fragten viel und verlangten zwischendurch nach dem Kleinen Frauenblatt oder anderen interessanten Journalen für die moderne Dame. Der stark kurzsichtige Juristikar Kollerer schaute vorbei und kaufte seinen täglichen Langen Heinrich, eine dünne, langstielige Zigarillo, sowie je ein Exemplar des Bauernbündler und des Wienerwaldboten. In unregelmäßigen Abständen betrat der Rote Egon die Trafik. Der Rote Egon war ein bezirksbekannter Spiegelsäufer und – trotz des Parteienverbots – ein zu allen Gelegenheiten öffentlich und lautstark bekennender Sozialdemokrat. Seine Gestalt war hager, seine Miene finster, aber irgendwo hinter seiner hohen Stirn flackerte ein Feuer, das nie zu erkalten schien. Kaum hatte er die Tür aufgestoßen, begann er von Revolutionen zu erzählen, von Aufständen, Umbrüchen oder Umstürzen, die längst schon irgendwo im Gange seien und die die auf den Knochenmehlbergen der zermürbten, zerdrückten und zermahlenen Arbeiterschaft errichtete Kapitalistenwelt in ihre verdienten Trümmer reißen würden. Hernach starrte er meistens noch eine Weile düster in die Regale, entschied sich schließlich für eine Schachtel Filterlose, bezahlte und ging. Schulkinder purzelten herein und fragten nach Buntstiften oder Sammelbildchen, alte Damen wollten plaudern, alte Herren wollten ihre Ruhe und schweigend Titelbilder betrachten. Manchmal bat einer der männlichen Stammkunden mit verräusperter Stimme, einen Blick in die »Lade« werfen zu dürfen. Es war dies eine unauffällige Schublade unter der Verkaufstheke, die von Otto Trsnjek immer sorgfältig verschlossen gehalten und eben nur auf besonderen Kundenwunsch geöffnet wurde. Darin befanden sich die seit Jahren streng verbotenen, sogenannten »Zärtlichen Magazine« (beziehungsweise die »Wichsheftln« oder »Hobelbroschüren«, wie der Trafikant sie gegenüber Franz zu nennen pflegte). Die Männer blätterten ein bisschen darin herum, versuchten währenddessen eine möglichst uninteressierte Miene aufzusetzen und nahmen dann vielleicht ein, zwei von Franz blickgeschützt in braunes Packpapier eingewickelte Heftchen mit.
»Ein guter Trafikant verkauft nicht einfach nur Tabak und Papier«, sagte Otto Trsnjek und kratzte sich mit dem hinteren Ende der Schreibfeder an seinem Beinstumpf. »Ein guter Trafikant verkauft Genuss und Lust – und manchmal Laster!«
Eine Karte pro Woche, nicht mehr und nicht weniger, das war die Abmachung. »Franzl«, hatte die Mutter am Abend vor seiner Abreise gesagt und ihm dabei mit dem Rücken ihres Zeigefingers leicht über die Wange gestrichen, »du schreibt mir jede Woche eine Postkarte, weil eine Mutter muss wissen, wie es ihrem Kind geht!«
»Na gut«, hatte Franz gesagt.
»Aber richtige Ansichtskarten müssen es sein. Solche mit schönen Bildern vorne drauf. Damit tapezier ich den Schimmelfleck über dem Bett zu, und wenn ich sie mir anschaue, kann ich mir immer vorstellen, wo du gerade bist!«
In einer Ecke neben der Auslage befand sich ein schmales Gestell mit einer bunten Auswahl übereinandergereihter Gruß- und Ansichtskarten. Jeden Freitagnachmittag stand Franz davor und suchte sich eine davon aus. Die meisten zeigten irgendwelche bekannten Wiener Sehenswürdigkeiten: Stephansdom im rosigen Morgenlicht, Riesenrad unter den Sternen, Staatsoper festlich erleuchtet und so weiter. Fast immer entschied er sich für eine Karte mit Park oder Beet oder wenigstens mit Blumentöpfen vor den Fenstern der abgebildeten Häuser. Das Grünzeug und die Farben könnten die Mutter in einsamen Regenstunden vielleicht ein bisschen aufheitern, dachte er sich, außerdem passten sie besser zum Schimmelfleck. Er schrieb ein paar Zeilen, und die Mutter schrieb ein paar Zeilen, und beide hätten eigentlich lieber miteinander gesprochen oder wären zumindest schweigend nebeneinander gesessen und hätten dem Schilf zugehört. Mein lieber Franzl, wie gehts, liebe Mutter, danke gut, bei uns ist es schön, bei uns eigentlich auch, in der Stadt gibt es viel zu sehen, in Nußdorf nicht, aber das macht nichts, die Arbeit macht Spaß, von der Hütte müsste wieder einmal das Moos gekratzt werden, ich hab Dich lieb, Deine Mama, ich Dich auch, Dein Franz. Es waren Rufe aus der Heimat in die Fremde hinaus und wieder zurück, wie kurze Berührungen, flüchtig und warm. Franz legte die Karten der Mutter in die Schublade seines Nachtkästchens und sah zu, wie der Stapel Woche für Woche anwuchs, lauter kleine, glitzernde Atterseen. Manchmal, an stillen Abenden, kurz vor dem Einschlafen, konnte er es leise gluckern hören in der Lade. Aber das mochte auch Einbildung sein.
Anfang Oktober wehte der erste Herbstwind die Hitze aus den Straßen und die Hüte von den Köpfen der Passanten. Hin und wieder sah Franz eine Kopfbedeckung an der Trafik vorüberkollern, gleich gefolgt von ihrem hinterherstolpernden Besitzer. Es war kühl geworden, Otto Trsnjek hatte schon angedeutet, er würde vielleicht bald wieder den Kohleofen anheizen, und Franz hatte begonnen, eine etwas aus der Form geratene, braune Wollweste zu tragen, die ihm die Mutter vor Jahren während verschneiter Winterstunden im Schein des Herdfeuers gestrickt hatte. Trotz der unübersichtlichen Entwicklungen und der damit verbundenen noch viel unübersichtlicheren politischen Aussichten lief das Geschäft gut. »Die Leute sind ganz narrisch nach diesem Hitler und nach schlechten Nachrichten – was ja praktisch ein und dasselbe ist«, sagte Otto Trsnjek. »Jedenfalls ist das gut für das Zeitungsgeschäft – und geraucht wird sowieso immer!«
An einem trübgrauen Montagvormittag klingelten zaghaft die Glöckchen, und ein alter Herr betrat die Trafik. Er war nicht besonders groß und ziemlich schmächtig, eigentlich sogar dürr. Obwohl Hut und Anzug tadellos saßen, wirkten sie wie aus irgendwelchen alten Zeiten herübergerettet. Seine rechte Hand war von einem bläulichen Aderngeflecht überzogen und umklammerte den Knauf eines Gehstocks, während sich die Linke kurz zu einem flüchtigen Gruß hob, bevor sie wieder in einer der Jacketttaschen verschwand. Sein Rücken war leicht gekrümmt, der Kopf vorgereckt. Sein weißer Bart war akkurat gestutzt, und er trug eine runde, schwarzgerahmte Brille, hinter deren Gläsern die glänzend braunen Augen in beständiger Wachsamkeit herumhuschten. Das wirklich Außergewöhnliche an der Erscheinung des Alten aber war die Wirkung, die sie auf Otto Trsnjek ausübte. Sofort nach dessen Eintreten nämlich war er aufgestanden und hatte versucht, sich, ohne Krücken und mit einer Hand auf die Theke gestützt, möglichst aufrecht und gerade zu halten. Ein einziger kurzer Seitenblick hatte auch Franz zum Aufspringen bewegt, und so standen sie beide nun da und bildeten ein steifes Empfangskomitee für diesen dürren, alten Herrn.
»Guten Morgen, Herr Professor!«, sagte Otto Trsnjek und ruckelte unauffällig sein Bein zurecht. »Virginias, wie immer?«
Eines hatte Franz während seiner bisherigen Lehrzeit längst schon verinnerlicht: Sogenannte Professoren gab es in Wien wie Kieselsteine an der Donau. In gewissen Bezirken sprachen sich sogar die Pferdefleischhauer und Bierkutscher mit »Herr Professor« an. Diesmal jedoch war es etwas anderes. Die Art, wie der Trafikant diesen Herrn begrüßte, machte Franz sofort klar, dass das hier ein richtiger Professor war, ein ehrlicher und echter, einer, der seinen Titel nicht wie eine Kuhglocke vor sich her schwenken musste, um die ihm gebührende, professorale Anerkennung zu finden.
»Ja«, sagte der Alte mit einem kurzen Nicken, während er seinen Hut vom Kopf nahm und ihn bedächtig vor sich auf die Theke legte. »Zwanzig Stück. Und die Neue Freie Presse, bitte.«
Er sprach langsam und so leise, dass er nur schwer zu verstehen war. Dabei öffnete er kaum den Mund. Es war, als ob er jedes einzelne Wort nur unter erheblicher Anstrengung durch die Zähne gepresst bekäme.
»Selbstverständlich, Herr Professor!«, sagte Otto Trsnjek und nickte seinem Lehrling zu. Franz nahm eine Zwanziger-Kiste Virginias und die Zeitung aus den Regalen und legte sie auf die Theke, um sie in Packpapier zu wickeln. Er spürte den Blick des Alten auf sich gerichtet, der jede seiner Bewegungen genau zu verfolgen schien.
»Der da ist übrigens der Franzl«, erklärte Otto Trsnjek. »Kommt aus dem Salzkammergut und hat noch viel zu lernen.«
Der Alte reckte seinen Kopf noch ein Stückchen weiter vor. Aus den Augenwinkeln konnte Franz erkennen, wie sich seine Hautfalten, dünn wie Seidenpapier, über den Rand des Hemdkragens legten.
»Das Salzkammergut«, sagte er mit einer seltsamen Mundverzerrung, die wahrscheinlich ein Lächeln darstellen sollte. »Sehr schön.«
»Vom Attersee!«, nickte Franz. Und aus irgendwelchen Gründen war er zum ersten Mal in seinem Leben stolz auf dieses komische Regenloch namens Heimat.
»Sehr schön«, wiederholte der Professor. Dann legte er ein paar Münzen auf die Theke, nahm das fertige Paket unter den Arm und wandte sich zum Gehen. Mit einem Schritt war Franz an der Tür, um sie zu öffnen. Der Alte nickte ihm zu und trat hinaus auf die Straße, wo ihm sofort der Wind den Bart zerzupfte. Er riecht seltsam, dieser alte Herr, dachte Franz, nach Seife, nach Zwiebeln, nach Zigarren und interessanterweise irgendwie auch ein bisschen nach Sägespänen.
»Wer war denn das?«, fragte er, nachdem er die Tür zugedrückt hatte. Fast mit Gewalt musste er sich aufrichten, um die etwas gebückte Haltung, die er unwillkürlich eingenommen hatte, wieder aufzulösen.
»Das war Professor Sigmund Freud«, sagte Otto Trsnjek und ließ sich mit einem Ächzen zurück in seinen Sessel sinken.
»Der Deppendoktor?«, entfuhr es Franz mit einem kleinen Erschrecken in der Stimme. Natürlich hatte er schon von Sigmund Freud gehört. Der Ruf des Professors war ja mittlerweile nicht nur an die entlegensten Flecken der Erde, sondern sogar bis ins Salzkammergut gelangt und hatte dort die meist eher dumpfen Fantasien der Einheimischen angeregt. Von allerhand unheimlichen Trieben war die Rede, von ordinären Witzen, wölfisch heulenden Patientinnen und ausufernden Entblößungen in privater Sprechstunde.
»Genau der«, antwortete Otto Trsnjek. »Aber der kann noch viel mehr, als reichen Deppen ihre Schädel gerade richten.«
»Was denn?«
»Angeblich kann er den Leuten beibringen, wie ein ordentliches Leben auszuschauen hat. Nicht allen natürlich, sondern nur denen, die sich sein Honorar leisten können. Man erzählt sich, eine Stunde in seiner Ordination kostet so viel wie ein halbes Schrebergartengrundstück. Das kann aber auch ein bisserl übertrieben sein. Jedenfalls behandelt er die Leute, ohne sie anzurühren wie die anderen Doktoren. Wobei: Irgendwie rührt er sie schon an, nur eben nicht mit den Händen.«
»Mit was denn sonst?«
»Was weiß ich!«, Langsam wurde Otto Trsnjek ungeduldig. »Mit den Gedanken oder mit dem Geist oder mit sonst irgendeinem Blödsinn. Jedenfalls scheint es zu funktionieren, und das ist die Hauptsache. So, jetzt lies deine Zeitungen und lass mich in Frieden.«
Er beugte sich tief über einen Stapel Papier, den er aus der Schublade gezogen hatte, und fing an, mit seiner Feder und einem langen Holzlineal Striche darauf zu ziehen.
Franz legte seine Stirn gegen die Auslagenscheibe und spähte durch einen schmalen Lichtschlitz hinaus. Dort vorne ging der Professor mit seinem Paket unterm Arm die Währingerstraße hinunter. Er ging langsam, mit kleinen, vorsichtigen Schritten und leicht gesenktem Kopf.
»Der wirkt eigentlich recht umgänglich, der Herr Professor!«, meinte Franz nachdenklich. Otto Trsnjek seufzte und hob noch einmal den Blick aus den Tiefen seiner Strichreihen.
»Vielleicht wirkt er ja auf den ersten Blick umgänglich, aber wenn du mich fragst, ist er schon ein ziemlich trockener Knochen, trotz dieser ganzen Hirndoktorei. Außerdem hat er ein nicht unwesentliches Problem.«
»Was denn für eines?«
»Er ist ein Jud.«
»Aha«, sagte Franz. »Und was soll das für ein Problem sein?«
»Das wird sich noch herausstellen«, erwiderte Otto Trsnjek. »Und zwar bald!«
Eine Weile irrte sein Blick verloren in der Trafik herum, so als ob er irgendwo einen sicheren Ort zum Verweilen suchte. Dann hielt er inne und lächelte kurz in sich hinein. Schließlich beugte er sich wieder über seine Arbeit. Sorgfältig versuchte er mit dem Zipfel eines Schwämmchens einen Tintenfleck aufzutupfen, der sich zwischen den Linien ausgebreitet hatte.
Franz blickte immer noch zur Auslage hinaus. Diese Sache mit den Juden hatte er noch nie richtig begriffen. Die Zeitungen ließen kein gutes Haar an ihnen und auf den Fotografien und Witzezeichnungen sahen sie wahlweise lustig oder verschlagen oder meistens sogar beides zusammen aus. Wenigstens gab es in der Stadt welche, dachte Franz, echte Juden aus Fleisch und Blut, mit jüdischen Namen, jüdischen Hüten und jüdischen Nasen. Zuhause in Nußdorf gab es nicht einen einzigen. Allerhöchtens geisterten sie dort als schreckliche oder gemeine oder vertrottelte, in jeden Fall aber als irgendwie ungute Sagengestalten durch die Köpfe der Einheimischen. Vorne war der Professor gerade dabei, in die Berggasse einzubiegen. Eine Windböe fuhr ihm in die Haare und bauschte sie zu einem federleichten Gebilde auf, das für ein paar Sekunden über seinem Kopf wehte.
»Der Hut! Wo hat er denn seinen Hut!«, rief Franz erschrocken. Sein Blick fiel auf die Theke, wo immer noch die graue Kopfbedeckung des Professors lag. Er machte einen Satz, nahm den Hut und lief damit hinaus auf die Straße.
»Halt, stehenbleiben, wenn der Herr erlauben!«, schrie er laut und schlitterte mit rudernden Armen um die Ecke in die Berggasse hinein, wo er den Professor schon nach wenigen Schritten eingeholt hatte und ihm atemlos den Hut entgegenhielt. Sigmund Freud betrachtete für einen Moment seine etwas verbeulte Kopfbedeckung, nahm sie schließlich entgegen und zog im Gegenzug seine Brieftasche aus der Jacketttasche.
»Aber ich bitte Sie, Herr Professor, das war doch eine Selbstverständlichkeit!«, versicherte Franz mit einer abwehrenden Handbewegung, die ihm für seine Begriffe schon während der Ausführung ein bisschen zu ausladend geriet.
»Eine Selbstverständlichkeit ist heutzutage gar nichts mehr!«, sagte Freud und drückte mit dem Daumen eine tiefe Delle aus der Hutkrempe. Wie zuvor sprach er mit kaum geöffnetem Kiefer, leise und gepresst. Franz musste seinen Kopf ein wenig nach vorne neigen, um alles genau zu verstehen. Auf gar keinen Fall wollte er auch nur ein einziges Wort des berühmten Mannes überhört haben.
»Darf ich Ihnen behilflich sein?«, fragte er, und obwohl Freud sich Mühe gab, konnte er doch nicht schnell genug zurückzucken und somit verhindern, dass Franz ihm Paket und Zeitung unterm Arm hervorziehen und entschlossen an seine Brust drücken konnte.
»Meinetwegen«, murmelte er, setzte sich den Hut auf den Kopf und ging los. Franz fühlte sich zuerst noch ein bisschen komisch in der Bauchgegend, während er mit dem Professor die steile Berggasse hinunterging, so als ob irgendein schweres Gewicht ihn an die Bedeutung dieses Augenblicks gemahnen wollte. Doch schon nach wenigen Schritten hatte sich dieses komisch-schwere Bauchgefühl aufgelöst, und als sie schließlich die duftende Ankerbrotbäckerei der Frau Grindlberger passierten und er sich selbst in der mehlbestäubten Auslage gespiegelt sah, wie er da so marschierte, aufrecht und gerade, das Paket unterm Arm und warm beschienen vom Licht des Ruhms, das vom Professor auf ihn abstrahlte, da fühlte er sich auf einmal ganz stolz und leicht.
»Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Herr Professor?«
»Kommt auf die Frage an.«
»Stimmt es, dass Sie den Leuten ihre Schädel wieder gerade richten können? Und ihnen hernach beibringen, wie ein ordentliches Leben ausschaut?«
Freud nahm seinen Hut erneut ab, legte sich sorgfältig eine dünne, schneeweiße Strähne hinters Ohr, setzte den Hut wieder auf und sah Franz von der Seite an.
»Erzählt man sich das in der Trafik oder bei dir zuhause im Salzkammergut?«
»Weiß nicht«, sagte Franz und zuckte mit den Schultern.
»Wir rücken überhaupt nichts gerade. Aber wenigstens renken wir auch nichts aus, und das ist in den heutigen Ordinationen gar nicht so selbstredend. Wir können gewisse Verirrungen erklären, und in manchen eingebungsvollen Stunden können wir das, was wir gerade eben erklärt haben, sogar beeinflussen. Das ist alles«, presste Freud hervor, und es hörte sich an, als ob ihm jedes einzelne Wort Schmerzen bereiten würde. »Aber auch das ist nicht wirklich sicher«, fügte er mit einem kleinen Seufzer hinzu.
»Und wie stellen Sie das alles an?«
»Die Menschen legen sich auf meine Couch und beginnen zu reden.«
»Das klingt gemütlich.«
»Die Wahrheit ist selten gemütlich«, widersprach Freud und hüstelte in das dunkelblaue Stofftaschentuch, das er aus seiner Hosentasche gezogen hatte.
»Hm«, sagte Franz, »darüber muss ich nachdenken.« Er blieb stehen, blickte schräg nach oben und versuchte seine wild durcheinanderspringenden Gedanken auf einen Punkt weit über den Dächern der Stadt und seiner eignen Vorstellungskraft zu sammeln.
»Und?«, fragte der Professor, nachdem ihn dieser merkwürdige, ein wenig aufdringliche Trafikantenbub wieder eingeholt hatte. »Zu welchem Ergebnis bist du gekommen?«
»Erst einmal zu gar keinem. Aber das macht nichts. Ich werde mir Zeit nehmen, um noch länger darüber nachzudenken. Außerdem werde ich mir Ihre Bücher kaufen und sie lesen. Und zwar alle und von vorne bis hinten!«
Zum wiederholten Male seufzte Freud. Eigentlich konnte er sich überhaupt nicht entsinnen, jemals in so kurzer Zeit so oft geseufzt zu haben.
»Hast du nichts Besseres zu tun, als die angestaubten Schinken alter Herren zu lesen?«, fragte er.
»Was zum Beispiel, Herr Professor?«
»Das fragst du mich? Du bist jung. Geh an die frische Luft. Mach einen Ausflug. Amüsier dich. Such dir ein Mädchen.«
Franz sah ihn mit großen Augen an. Ein Zittern lief ihm durch den ganzen Körper. Ja, dachte er, ja, ja, ja! Und im nächsten Moment brach es aus ihm heraus: »Ein Mädchen!«, rief er derart gellend, dass die drei alten Damen, die sich auf der anderen Straßenseite eben erst zu einer kurzen Gassentratscherei zusammengerottet hatten, verschreckt ihre kunstvoll ondulierten Köpfe nach ihnen umdrehten. »Ja, wenn das so einfach wäre …!«
Endlich hatte er das ausgesprochen, was ihm schon seit langer Zeit, im Grunde genommen schon seit dem Tag, an dem seine ersten Schamhaare zaghaft zu sprießen begonnen hatten, sowohl das Hirn als auch das Herz umrührte.
»Bislang haben das noch die allermeisten geschafft«, meinte Freud und bugsierte mit seinem Gehstock zielsicher einen Kiesel vom Trottoir.
»Das heißt aber noch lange nicht, dass ich es schaffen werde!«
»Und warum ausgerechnet du nicht?«
»Da, wo ich herkomme, verstehen die Leute vielleicht was von der Holzwirtschaft und davon, wie man den Sommerfrischlern ihr Geld aus den Taschen zieht. Von der Liebe verstehen sie rein gar nichts!«
»Das ist nichts Außergewöhnliches. Von der Liebe versteht nämlich niemand irgendetwas.«
»Nicht einmal Sie?«
»Gerade ich nicht!«
»Aber warum verlieben sich dann alle Leute ständig und überall?«
»Junger Mann«, sagte Freud und hielt an. »Man muss das Wasser nicht verstehen, um kopfvoran hineinzuspringen!«
»Ach!«, sagte Franz in Ermangelung passenderer Worte, die die unermessliche Tiefe seines Unglücks zum Ausdruck bringen könnten. Und gleich noch einmal hinterher: »Ach!«
»Wie dem auch sei«, sagte Freud. »Wir sind angekommen. Darf ich um meine Zigarren und meine Zeitung bitten?«
»Aber natürlich, Herr Professor!«, sagte Franz mit hängendem Kopf und reichte ihm das Paket. BERGGASSE NR. 19 stand auf dem Schildchen über dem Hauseingang. Freud nestelte einen Schlüsselbund hervor, sperrte auf und lehnte seinen schmächtigen Körper gegen das schwere Holztor.
»Darf ich Ihnen …«
»Nein, du darfst nicht«, knurrte der Professor, während er sich schnell durch den Türspalt ins Innere drängte.
»Und denk daran«, schob er hinterher und reckte seinen Kopf noch einmal ins Freie. »Mit Frauen ist es wie mit Zigarren: Wenn man zu fest an ihnen zieht, verweigern sie einem den Genuss. Ich wünsche einen angenehmen Tag!« Damit verschwand er im Dunkel des Hausflurs. Mit einem leisen Knarren schloss sich das Tor, und Franz stand alleine im Wind.
(Karte mit frühlingshaft erblühtem Stadtpark und fliedergeschmücktem Fiaker im Vordergrund)
Liebe Mutter,
stell Dir vor, wen ich gestern kennengelernt habe: den Herrn Professor Dr. Sigmund Freud! Hast Du gewusst, dass er ein Jud ist? Und gleich bei der Trafik ums Eck wohnt? Ich habe ihn begleitet, und wir haben uns ein bisschen unterhalten. Sehr interessant! Ich glaube, wir werden uns jetzt öfters sehen. Wie geht es Dir? Mir geht es gut,
Dein Franz
(Karte mit vom goldenen Morgenlicht übergossenen Attersee und Schwänen)
Mein lieber Franzl,
das mit dem Professor Freud ist natürlich ein Blödsinn, oder? Wenn es aber kein Blödsinn sein sollte, frag ihn bitte einmal, ob das alles stimmt, was man so hört. Das mit den Trieben und den ganzen anderen Sachen. Oder nein, frag lieber doch nicht, wer weiß, was das für einen Eindruck macht. Dass er ein Jud ist, habe ich nicht gewusst. Das ist vielleicht nicht angenehm, aber man muss halt schauen. Bei uns hat es schon einmal geschneit. Heute geh ich in den Wald und hack mir einen Korb Holz. Ich hab Dich lieb,
Deine Mama
Die Worte des Professors hatten sich tief in Franz’ Seele eingebrannt. Insbesondere jene, bei denen es um Mädchen ging. Bislang haben das noch die meisten geschafft, hatte er gesagt. Und entgegen aller Zweifel, die Franz in dieser Beziehung hegte, hatte sich das gar nicht schlecht angehört, irgendwie zuversichtlich und unumstößlich. Überhaupt hatte die ganze professorale Erscheinung trotz ihrer altersgebrechlichen Bröckeligkeit auch etwas felsenhaft Unverrückbares. Na also gut, dachte Franz, wenn das so ist, wird man die Sache jetzt eben angehen müssen!
Und so schlüpfte er schon am nächsten Samstag, kurz bevor ihn die Trafik mit einem letzten, aufmunternden Geklingel ins Wochenende entließ, in seinen Sonntagsanzug, wusch sich sein Gesicht, den Hals und die Hände mit einem extra für diesen Anlass teuer erstandenen Stück Kernseife, schmierte sich einen Batzen Schweineschmalz in die Haare und zerrieb die Blütenblätter einiger prächtiger Königsrosen unter seinen Achseln, die er auf einem nächtlichen Streifzug aus den um die Votivkirche akkurat angelegten Beeten gepflückt hatte. Alsdann trat er glänzend und duftend auf die Straße, wo das milde Herbstlicht das Pflaster wärmte, und bestieg die Straßenbahn in Richtung Wiener Prater, um dort sein Glück in Gestalt eines passenden Mädchens zu finden.
Schon von Weitem konnte er das Riesenrad sehen, aber erst als er direkt darunter stand, konnte er die wahren Ausmaße dieses wunderlichen, stählernen Ungetüms ermessen. Das Riesenrad war nicht einfach nur groß, es war gigantisch. Die Wolken schienen kaum höher als der höchste Stahlträger zu hängen. Die Fahrgäste in den obersten Gondeln waren klein wie Insekten, und ihre Arme und Schals waren nur noch als winkende oder flatternde Winzigkeiten zu erkennen.
Im Gasthaus Zum eisernen Mann kaufte er sich ein Seidel Bier. Das Bier war kalt und spritzig, und als er sachte hineinblies, flog der Schaum in schneeweißen Wölkchen auf. Im Schankraum befand sich, außer einer ältlichen Bedienung mit tiefliegenden, traurigen Augen, keine einzige Frau. Also zahlte er und machte sich auf den Weg zum Spiegelkabinett. Ziemlich lange lief er in dem gläsernen Irrgarten herum, ohne den Ausgang zu finden, bis ihm schließlich ein Mann in kurzen Hosen den Weg ins Freie wies. Eine Weile stand er dann vor dem Aeroplankarussell und betrachtete so lange die im Kreis herumsausenden Flugzeuggondeln, bis ihm ein bisschen schwindlig wurde und er ins Gasthaus Zum Walfisch hinüberging und sich im Garten einen Einspänner bestellte. Der Kaffee war tiefschwarz, und das Schlagobers schmeckte fast so süß wie im Café Esplanade in Bad Ischl. Die großen Kastanien rauschten leise, zwischen den Blättern blitzte die Sonne hindurch, und im Kies hüpften die Spatzen. An den Tischen saßen Menschen, die das Vergnügen augenscheinlich längst schon gefunden hatten. Überall freundliche, offene Gesichter. Ein Stimmengewirr, das sich wie ein unsichtbarer Vogelschwarm im Garten verteilt hatte und aus dem hin und wieder ein einzelnes, helles Lachen herausflatterte. Diese ganze Fröhlichkeit legte sich Franz ein bisschen bitter aufs Gemüt. Er zahlte und ging zum Ponykarussell hinüber. Mit schweren Köpfen trotteten die Tiere im Kreis und trugen Kinder herum. Ein Mann mit einem riesigen Fotoapparat knipste Bilder, um sie später den Eltern zu verkaufen. Es wurde viel gelacht, umarmt und geküsst. Die jungen Mütter waren fast noch schöner als ihre Kinder, die jungen Väter standen stolz und aufrecht da und gaben Trinkgeld. Eines der Ponys hob mit einem Schnaufer den Schwanz und ließ ein paar Äpfel in den Sand plumpsen. In seinen Augen spiegelten sich der blaue Herbsthimmel und dahinter die Ahnung einer Freiheit jenseits aller Kinderhintern und Karusselle. Am benachbarten Stand kaufte Franz zwei fetttriefende, ungarische Fleischlaibchen und, um den penetranten Knoblauchgeschmack auszugleichen, eine riesige rosarote Zuckerwattenwolke. Das Übelkeitsgefühl, das ihn gleich danach überkam, spülte er mit einem weiteren Seidel Bier hinunter und ging zur Märchengrottenbahn, wo er sich als einziger Erwachsener in eines der hellblauen Wägelchen zwängte. Leicht ruckelnd ging die Fahrt durch eine von einer dicken Staubschicht bedeckten Fantasielandschaft. Überall standen, saßen oder gingen Märchenfiguren herum. Rotkäppchen stapfte durch den Wald, der Froschkönig hockte auf dem Brunnenrand, Rumpelstilzchen hüpfte ums Feuer und gleich dahinter ließ Rapunzel ihre Hanfhaare aus dem Turmfenster in die Tiefe. Franz dachte an zuhause. Früher hatte ihm die Mutter diese Geschichten aus einem abgegriffenen Buch vorgelesen. Er selbst war damals noch so klein, dass er sich bequem in ihrem Schoß zusammenrollen und den Worten lauschen konnte, die wie weiche, warme Tropfen auf ihn herunterfielen. Als Franz langsam am Aschenputtel vorbeiruckelte, kamen ihm die ersten Tränen, und bei der Fahrt um das Lebkuchenhaus schluchzte er bereits in seine offenen Hände hinein. Eine heiße Welle nach der anderen stieg in ihm auf und schüttelte ihn durch. Er dachte an die Hütte, an den Herd, an den See, an die Mutter, und hinter dem dichten Schleier seiner Tränen zog die Märchenlandschaft in einem einzigen verschwommenen Farbenstrom vorüber.
Als der junge Fahrgeschäftsgehilfe, der mit schläfriger Lässigkeit am Ausgang lehnte, sah, wie Franz zusammengekrümmt und mit tränennassem Gesicht aus der Grottendüsternis ins helle Sonnenlicht geruckelt kam, schnippte er im hohen Bogen seine Selbstgedrehte weg und raffte sein ganzes tröstendes Feingefühl zusammen: »Das Leben ist halt kein Märchen, Freunderl – aber irgendwann ist sowieso alles vorbei!«
Draußen rieb sich Franz ein paar Mal mit dem Ärmel übers Gesicht und schnäuzte sich in das Taschentuch, das er eigentlich nur zu dem Zweck dabei hatte, einem eventuell in Erscheinung tretenden Mädchen ihren Stuhl oder ihre heiße Stirn oder sonst irgendwas abzuwischen. Langsam ging er an den Fahrgeschäften vorüber, an Schießbuden und Fressständen, am Autodrom, am Watschenmann, an der Dicken Berta, am bunten Freudenrad und an der Großen Geisterbahn. Irgendwo tief in seinem Inneren plätscherte es noch einmal leise, eine letzte kleine Welle der Traurigkeit, dann war es vorbei.
Doch gerade, als er mit dem festen Entschluss, den Rest des Nachmittags in großen Mengen von Bier und anderen Getränken zu versenken, den schattigen Gastgarten des Stillen Zechers betreten wollte, wurde er von einer ganz anderen, weitaus größeren, heißeren und wilderen Welle erfasst, umspült und durchgeschüttelt: direkt vor ihm, in vielleicht zehn Metern Entfernung, stieg ein Gesicht in den Himmel auf, ein rundes Mädchengesicht, hell und lachend und umrahmt von einem Strahlenkranz strohblonder Haare. Es war das schönste Gesicht, das Franz (die vielen bunt geschminkten Titelbildgesichter aus Otto Trsnjeks Zeitschriftensortiment mit eingeschlossen) je in seinem Leben gesehen hatte. Und hoch oben, in schwindelerregender Höhe, blieb dieses Gesicht für einen Augenblick einfach stehen, ein rosiger Fleck in der blauen Weite des Himmels, stieß einen hellen Juchzer aus, sauste gleich darauf mit fliegenden Haaren hinunter, nur um eine Sekunde darauf wieder aufzusteigen. Und es war genau diese eine Sekunde, die Franz brauchte, um zu verstehen, dass er vor einer Schaukel stand. Eine riesige Schaukel, deren Gondeln wie Schiffe auf hoher See hinauf und hinunter schwangen. Auf einem Holzschild über dem Eingang war in ausladender Pinselschrift geschrieben: DAS GEWALTIGE STURMBOOT! HÖCHST AMÜSANT! FÜR GROSS UND KLEIN! ALLES ERFREUT SICH! ALLES LACHT! BITTE STEIGEN SIE EIN! Franz beschloss, sich nicht mehr zu rühren. Regungslos, den Blick immer auf das auf und ab sausende Mädchengesicht geheftet, wartete er, bis die Schiffsgondeln ausgependelt hatten und die Fahrgäste lachend und quietschend herausgetaumelt kamen. Als ihm das Mädchen (flankiert von zwei Freundinnen, die er allerdings nur als gestalt-, gesichts- und belanglose Schatten wahrnahm) schließlich entgegenkam, zwang er sich mit aller Kraft aus seiner selbstgewählten Erstarrung, ballte die Fäuste in den Hosentaschen und stellte sich ihr mit einer Entschlossenheit in den Weg, die plötzlich aus seinen unerforschten Tiefen hervorflammte und seinen Worten einen, wie ihm in diesem Moment vorkam, geradezu leuchtenden Nachdruck verlieh: »Guten Tag, ich heiße Franz Huchel, komme ursprünglich aus dem Salzkammergut und möchte mit Ihnen Riesenrad fahren!«
Interessanterweise fiel das Mädchen nicht in das Gelächter ihrer Begleiterinnen ein, sondern betrachtete ihn eine Weile wie eine Zoobesucherin ein vom Aussterben bedrohtes Tier, blieb schließlich mit ihrem Blick an seinen flackernden Augen hängen, aus denen sich die Entschlossenheit längst schon wieder verabschiedet hatte, und sagte: »Riesenrad nicht, aber schießen möcht ich, bitteschön!«
Genau genommen sagte sie nicht »möcht ich, bitteschön«, sondern »mecht ich, bittascheen«. Es war die leicht erkennbare Unfähigkeit der vielen in Wien ansässigen Böhmen, Umlaute auszusprechen. Eine Böhmin also, dachte Franz, ohne aus diesem Gedanken allerdings einen irgendwie brauchbaren Nutzen ziehen zu können, und bot ihr stumm seinen Arm an, um sie zur großen Schießbude zu geleiten. Erfreulicherweise verabschiedeten sich ihre beiden Freundinnen sofort, nur um sich gleich darauf an die breiten, mit beeindruckenden Reihen bunter Orden dekorierten Schultern zweier ziemlich bierseliger Bundesheeroffiziere zu hängen.
An der Schießbude erklärte ein Mann mit vernarbter Halbglatze und stumpfem Blick die Regeln: Man konnte wahlweise auf Zielscheiben, Luftballons oder auf bunte Türkenköpfe zielen. Schoss man einem der Türken ein Loch ins Gesicht, gab es ein paar Punkte mehr, traf man ihn an einer bestimmten Stelle auf der Stirn, klappte mit einem hölzernen Geräusch sein Turban nach vorne und man bekam eine Freirunde. Zu gewinnen gab es Zuckerstangen, Papierrosen und echte Lavendelsträußchen. Aus den Augenwinkeln sah Franz, wie sich das böhmische Mädchen vorbeugte, das Gewehr an die Wange legte und den Finger über dem Abzug krümmte. Es war ein kurzer Finger, rosig und rund. Überhaupt war alles rund an ihr: die kleinen Ohren, die Nase, die gewölbte Stirn, die geschwungenen Augenbrauen, die großen, braunen Augen. Ihr Blick war ruhig auf die schwarze Mitte der Zielscheibe gerichtet. Er wäre gerne in diesen Blick, in diese Augen eingetaucht, ein Kopfsprung mitten hinein in die Glückseligkeit. Er musste an das hölzerne Regenfass, zuhause, gleich neben dem Hütteneingang, denken. Das Wasser darin war anders als das Wasser im See. Es war bräunlich und trüb, außerdem roch es ein bisschen komisch. Einmal hatte der kleine Franz es nicht mehr ausgehalten, aus Neugier, und weil es so heiß war, mitten im August, zum Ende der Sommerferien. Sorgfältig hatte er jeden einzelnen der dünnbeinigen Wasserläufer von der Oberfläche geschnipst, dreimal tief Luft geholt und schließlich seinen Kopf mitsamt dem halben Oberkörper in die Tonne getaucht. Drinnen war es angenehm kühl. Im Wasser schwebten winzige Teilchen wie dunkler Schnee, und der Boden war bedeckt von einer dicken, schon halb vermoderten Laubschicht. Er streckte seine Arme aus und wühlte mit den Fingern in der Blättermasse. Es fühlte sich grauslig an. Schmierig und kalt, aber irgendwie auch schön. Ein kleiner Schauder durchlief ihn, als er mit den Fingerspitzen auf etwas Weiches, Pralles, Haariges stieß. Hinter dem dichten Schleier der Schwebeteilchen tauchte der Körper einer toten Ratte auf. Sie musste erst vor Kurzem in die Tonne gerutscht sein und hatte es wohl nicht mehr aus eigener Kraft geschafft, die bemooste Wand hinaufzuklettern. Sie lag auf der Seite, ihr Körper war fast vollständig erhalten, nur an der Stelle des linken Auges klaffte ein tiefes, schwarzes Loch. Franz begann zu schreien, die Ratte verschwand hinter den dicken Blasen seiner Atemluft. Er tauchte auf, kletterte aus dem Fass und begann zu rennen. Immer noch schreiend lief er ums Haus und weiter über die Wiese bis ans Ufer hinunter, wo die Mutter große Wäschestücke an die Leine zwischen den beiden Birken hängte. Er kroch unter ihren Rock, umklammerte ihre Knie und wusste, dass er für den Rest seines Lebens, zumindest aber bis zum Ende der Sommerferien, dort unten, in der Sicherheit zwischen den schmalen Schenkeln der Mutter sitzen bleiben würde.
»Plopp« hörte er, als sie abdrückte und ihr Schuss ins Schwarze traf. Sie machte einen kleinen Hüpfer auf den Zehenspitzen und quietschte vor Vergnügen, brachte jedoch das Gewehr gleich wieder in Stellung. Franz versuchte die Trockenheit in seinem Mund wegzuschlucken. Erst jetzt hatte er die Zungenspitze zwischen ihren Schneidezähnen bemerkt: ein rosiges Tierchen, das vorsichtig ins Freie hinausfühlte, kurz und feucht die Oberlippe antippte und in seine Höhle zurückschnellte, nur um sofort wieder aufzutauchen und die, in der Mitte von einer dunklen Lücke durchbrochene, wie eine Perlenkette schimmernde Zahnreihe abzutasten. Niemals hätte er es für möglich gehalten, dass ihn eine böhmische Zahnlücke einmal so aufrühren würde. Die Säfte wallten mit solcher Gewalt in seinem Körper herum, dass er für einen Augenblick fürchtete, seine innere Aufrichtung zu verlieren und wie ein ausgeleerter Sack zu ihren Füßen niederzusinken. »Plopp« machte es wieder, und einer der Türken verlor seinen Turban. »Bumm, tot!«, rief das Mädchen, und Franz musste hilflos mitansehen, wie sich ihre Oberlippe dabei ein kleines Stückchen nach vorne wölbte. Mit einem sanften Stups ihrer Hüfte forderte sie ihn auf, sein Gewehr anzulegen. Er gehorchte, aber seine Hände zitterten, und obendrein machte ihm eine schmerzhafte Erektion zu schaffen, die er zu verbergen suchte, indem er seine Lenden so eng wie möglich gegen die Schießbudenbretter presste. »Plopp« machte es auch bei ihm, doch der Schuss ging daneben. Das Mädchen lachte, der Schießbudenmann lachte, und sogar die Türkenköpfe schienen ihre goldenen Zähne seinetwegen zu blecken. Obwohl die Sonne inzwischen hinter den Dächern der Fahrgeschäfte verschwunden war, schwitzte er. Der Schweiß lief ihm in einem dünnen Rinnsal den Rücken hinunter und sammelte sich am Unterhosenbund. Er kniff ein Auge zu und drückte noch einmal ab. »Plopp«. Daneben. Am liebsten wäre er davongelaufen, weit weg, in seine Kammer hinter dem Verkaufsraum, nach Hause in sein Bett am See oder einfach nur zurück in die Grottenbahn, um dort im dunklen Märchenstaub bis ans Ende seiner Tage einsame Runden zu drehen. Da spürte er plötzlich ihre Hand auf seinem Hintern. Sie hatte das Gewehr abgelegt und lächelte ihn an. »Schießen kannst ned, aber a scheenes Popscherl hast!«, sagte sie, und in diesem Moment war ihm klar, dass er verloren war.
Sie gingen hinüber ins Schweizerhaus, wo in dem weitläufigen Gastgarten eine Musikkapelle aufspielte und die bunten Lampions in den Baumkronen aufglommen. Bei einem schnauzbärtigen Kellner bestellten sie zwei Krügel Budweiser und zwei Kartoffelpuffer, die beim Hineinbeißen zart knisterten und aus denen das heiße Fett herausquoll und auf die Tischdecken tropfte. Das Mädchen unterhielt sich auf Tschechisch mit dem Kellner, und während Franz dieser seltsam dunklen Sprachmelodie lauschte, betrachtete er die Wölbung ihrer Oberlippe mit dem verlorenen Blick eines Träumenden. Sie lachte, und der Schnauzbart lachte, und bevor Franz ihn um zwei weitere Krügel wegschicken konnte, beugte sie sich zu ihm über den Tisch, legte ihre Hand an seine Wange und gab ihm einen Kuss mitten auf die Stirn. »Jetzt tanzen!«, rief sie, und Franz’ Kopf begann zu leuchten wie die Lampions in der Kastanie über ihm.
Arm in Arm gingen sie quer durch die Tischreihen zum Tanzboden hinüber, und als sie das rhythmische Beben der Bretter unter ihren Füßen spürten, drehte sie sich zu ihm, legte eine Hand an seine Schulter, umfasste mit der anderen seine Taille und begann sich im Rhythmus der Musik zu wiegen. Franz konnte nicht tanzen und mochte nicht tanzen. Zuhause hatte er es immer abgelehnt, sich mit irgendwelchen prallen Bauernmädeln im Kreis zu drehen, deren Busen fast ihre Dirndl sprengten und die ihm aus glänzenden Mondgesichtern entgegengrinsten. Auch den Frühschoppen im Goldenen Leopold hatte er immer gemieden, und selbst beim sommerlichen Seefest war er stets ganz am Rande gesessen und hatte sich bewegungslos und still seinen weit über die Seefläche dahinfliegenden Gedanken gewidmet. Nun aber tanzte er. Erst waren seine Bewegungen noch ein bisschen steif und zögerlich, doch bald schon wurden sie weicher, geschmeidiger und freier, bis er schließlich in einem Augenblick seliger Geistlosigkeit losließ und sich in den Armen dieser runden, böhmischen Königin fallen, treiben, wiegen und schaukeln ließ. Er fühlte ihre Hand, die langsam an seiner Hüfte entlangwanderte und wieder auf seinem Hintern landete. Er sah ihr in die Augen, sah ihr Lächeln, sah ihre kleine Oberlippenwölbung und sah ihre Zahnlücke. Und als er ihren Busen an seinem Bauch spürte, gab er es endgültig auf, seine mittlerweile ins Ungeheure herangewachsene Erektion verbergen zu wollen.
Sie tanzten, bis ihre Füße brannten. Und jedes Lied war noch ein bisschen schmalziger und noch ein bisschen herzzerreißender als das vorhergehende: Du sollst mein Glücksstern sein, Merci Mon Ami, Ich werde jede Nacht von Ihnen träumen, Paris, du bist die schönste Stadt der Welt, Mein Herz ruft immer nur nach dir, o Marita und so weiter. Nach dem ungefähr zehnten Stück brauchten die Musikanten eine Bierpause und verließen die Bühne in Richtung Schank. Immer noch klebte das Mädchen an Franz’ überhitztem Körper, und plötzlich spürte er ihre Lippen an seinem Ohr. »Haben wir gesoffen, haben wir getanzt – und was machen jetzt?«, flüsterte sie und Franz brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, dass er wie ein glücklicher Idiot aus seinem feuerroten Gesicht herauslächelte. »Ich hab noch zweieinhalb Schilling«, sagte er mit leicht brüchigem Timbre. »Das sind entweder vier Krügel Bier, ein paar Runden auf dem Schießstand oder eine Doppelrunde im Riesenrad!«
Das Mädchen trat einen Schritt zurück und sah ihn an. Ein ungläubiges Erstaunen lag in ihrem Blick, und für einen winzigen Moment kam es Franz vor, als wären ihre braunen, warmen Augen erstarrt. Wie Bernstein, dachte er, wie die beiden Bernsteintropfen, die er einmal als Erstklässler in der Bad Ischler Heimatausstellung gesehen hatte, nur dunkler und größer und ohne eingeschlossenes Insekt darin. Doch schon in der nächsten Sekunde begannen ihre Augen wieder zu glänzen, ihre Gesichtszüge lösten sich und sie fing an zu lachen. Es war ein kurzes Lachen, hell und spitz, ähnlich dem Juchzer, den sie ganz oben auf dem Sturmboot ausgestoßen hatte. Sie umarmte Franz und drückte ihm einen Schmatzer auf die Wange. »Gleich wieder da, Burschi!«, sagte sie, drehte sich um und ging. Gebannt beobachtete Franz, wie ihr Hintern im Takt ihrer Schritte schaukelte, so wie er eben noch zum Rhythmus von Merci Mon Ami geschaukelt hatte. Wie das sanfte Wiegen der kleinen Fischerboote dachte er und sah, wie sie in der hölzernen Baracke verschwand, in der sich die Toiletten befanden. Dann ging er zum Tisch zurück, setzte sich und bestellte noch zwei weitere Krügel Bier.
Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde, bis er endgültig begriffen hatte, dass sie ohne ihn gegangen war. Vielleicht war sie, vom beständigen Gewusel der vielen kommenden und gehenden Gäste geschützt, durch den Gastgarten gelaufen, vielleicht hatte sie sich einfach durch den Hinterausgang neben der Küche fortgeschlichen. Jedenfalls war sie nicht mehr zu finden. Mehrmals war er die Tischreihen abgegangen, hatte jeden einzelnen Kellner nach ihr gefragt, sie drinnen in den leeren Gasträumen gesucht und sogar unter dem empörten Gekreische der Besucherinnen die Damentoilette betreten. Doch das böhmische Mädchen war weg.
Er stürzte die mittlerweile warm gewordenen Biere hinunter, verlangte mit schwerer Zunge die Rechnung und verließ den Gastgarten, in dem die Musik längst wieder aufzuspielen begonnen hatte und die Pärchen sich in enger Umarmung zu Was klopft da so weich in deiner Brust? wiegten. Mit hängendem Kopf, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, ging er durch den jetzt schon stark ausgedünnten Strom der Praterbesucher und hob den Blick erst wieder, als er direkt unter dem Riesenrad stand. Mit seinen restlichen Münzen erstand er eine Karte und bestieg als einziger Fahrgast den letzten Waggon der letzten Umdrehung dieses Abends. Als die Gondel sich mit einem dumpfen Rucken hob und langsam höher stieg, breitete sich unter ihr die lichtergesprenkelte Stadt aus. In der Tiefe das Pratergewusel. Dort der Stephansdom. Da die Votivkirche. Ganz hinten der Kahlenberg, ein dunkler Schattenriss im Nachthimmel. Franz legte seine Wange an das abgegriffene Holz eines Fensterrahmens und schloss die Augen. Und als der Waggon an der höchsten Stelle angekommen war und das Rad für einen Moment stillstand und Franz das leichte Schaukeln unter seinen Füßen spürte und draußen den Wind pfeifen hörte, ballte er die Faust, holte aus und schlug so fest gegen die Bretterwand, dass die beiden Tauben, die sich auf dem Gondeldach schon lange zur Ruhe gehockt hatten, erschreckt aufflatterten und in der Weite der Nacht verschwanden.
Am nächsten Morgen wurde Franz in seinem Kämmerchen von einem ungewöhnlichen Lärm geweckt. Draußen wurde die Tür mehrmals unter heftigem Geklingel aufgerissen und wieder zugeschlagen, wütendes Geschrei war zu hören. Franz erkannte Otto Trsnjeks aufgebrachte Stimme, unterbrochen vom heiseren Bass des Fleischermeisters Roßhuber und immer wieder übertönt vom Gejohle einer kleineren Menschenmenge. So schnell es ihm sein erbärmlicher Zustand erlaubte, stieg er aus dem Bett und schlüpfte in seine Sachen. Sein Kopf tat ihm weh, und die Knöchel seiner rechten Hand waren schmerzhaft geschwollen. Aus dem Spiegel starrte ihm blass und hohlwangig die Erinnerung an den gestrigen Abend entgegen. Er prustete in seinen Waschkübel hinein, gurgelte mit Seifenwasser, trocknete sich das Gesicht und ging hinaus. Um die Trafik hatte sich ein kleiner Auflauf gebildet, in dessen Mitte sich Otto Trnsjek und der Fleischermeister wie zwei lauernde Jahrmarktringer gegenüberstanden.
»Ach, bist du auch schon aufgekrochen?«, schrie ihm der Trafikant entgegen.
»Was ist denn los?«, stammelte Franz.
»Mach halt die Augen auf!«, Otto Trnsjeks Gesicht war dunkelrot, an seiner Schläfe wanden sich ein paar Adern wie ein Häuflein bläulicher Würmer. Mit einer seiner Krücken zeigte er zitternd vor Wut auf die Trafik. Das Trottoir und die Ladenfront waren mit einer rotbraunen Flüssigkeit beschmiert. Es sah aus, als hätte jemand mehrere Kübel Farbe oder Dreck verspritzt. An der Auslagenscheibe stand in großen, zerlaufenen Buchstaben: SCHLEICH DICH, JUDENFREUND!, und an der Mauer neben der Eingangstür prangte ein rundes Gebilde, ungeschickt und offensichtlich eilig hingeschmiert, trotzdem aber eindeutig als riesiges, menschliches Hinterteil mit rudimentären Gesichtszügen zu erkennen: ein sogenannter »Arsch mit Ohren«.
Franz trat einen Schritt an die Auslage heran und berührte mit einem Finger vorsichtig das »J« vom JUDENFREUND. Die Schmiererei war anscheinend mit einem groben Pinsel aufgetragen worden und fühlte sich eklig an – an den Rändern trocken und verkrustet, an den etwas dickeren Stellen immer noch klebrig und feucht. Zudem verbreitete sie einen widerlichen Gestank: ranzig, süßlich, aber auch ein wenig sauer.
»Was ist das?«, fragte er leise.
»Blut!«, schrie Otto Trsnjek. »Schweineblut! Von unserem liebenswerten Nachbarn Roßhuber höchstpersönlich hingeschmiert!«
»Was erst zu beweisen wäre«, meinte der Fleischermeister ruhig. »Außerdem ist das Blut nicht von einer Sau, sondern von einem Hendl. Das sieht ja wohl ein jeder!«
»Dann eben von mir aus von einem Hendl!«, brach es aus Otto Trsnjek heraus. »Und wer hat wohl den ganzen Tag mit den Viechern zu tun? Und wer ist so hirntot, sein Selbstporträt neben meine Tür zu pinseln? Und wer trägt schon sein halbes Leben das Hakenkreuz hinterm Revers und wartet nur auf die Gelegenheit, es hervorzukehren?«
»Was mir hinterm Kragen steckt, geht dich einen Scheißdreck an«, meinte Roßhuber und verschränkte seine riesigen Arme vor der Brust. »Und das Porträt trifft schon genau den Richtigen!«
»Und deine Händ’?«, brüllte Otto Trsnjek.
»Was ist damit?«
»Da klebt ja noch Blut dran!«
»Was soll denn sonst dran kleben? Immerhin bin ich ein Fleischhacker!«
Otto Trsnjek schluckte. Für einen Moment sah es so aus, als würde er seine Krücken fallen lassen und dem Fleischermeister an die Gurgel gehen. Doch plötzlich wandte er sich dem Kreis der Umstehenden zu, der sich immer enger um das Geschehen gezogen hatte und mittlerweile zu einer beachtlichen Menschenansammlung angewachsen war.
»Dieser Mensch!«, holte er aus. »Dieser sogenannte Fleischhacker – den man allerdings viel zutreffender als einen Wurstpanscher bezeichnen sollte, weil er nämlich seine Würste mit altem Fett und Sägemehl streckt –, dieser sogenannte Mensch und Wurstpanscher also, hat Blut an den Händen. Außerdem hat er Scheiße im Hirn und die schwarze Gemeinheit im Herzen. Und wenn man sich so umschaut, ist er damit nicht alleine. Bis jetzt hat nur eine Sau dran glauben müssen. Oder von mir aus ein paar Hendln. Bis jetzt ist nur das Geschäft eines Trafikanten besudelt worden. Aber hier und heute frage ich euch: Was oder wer kommt als Nächstes dran?«
Niemand sagte etwas, einige Leute grinsten, einige schüttelten den Kopf, jemand ging, andere kamen dazu und drängelten sich zwischen die Schaulustigen.
»Einer hat Blut an den Händen, und die anderen stehen da und sagen nix. So ist es immer!«, fuhr Otto Trsnjek fort, während Roßhuber mit einem schiefen Lächeln daneben stand. »So ist es immer, so war es immer, und so wird es immer sein, denn so steht es wahrscheinlich irgendwo geschrieben, und so ist es eingeimpft in die unendlich blöden Schädel des Menschengeschlechts. Aber in meinem eben noch nicht, meine Herrschaften! Mein Schädel geht noch so, wie er selber will. Ich tanz nicht mit auf eurer Veranstaltung. Ich pflanz mir kein Hakenkreuz hinters Revers, ich pansch keine Wurst, ich treib mich nicht im Dunkeln auf dem Trottoir herum, um unschuldige Häuser mit Arschgesichtern vollzuschmieren, ich schweige nicht, und an meinen Händen klebt kein Blut, sondern allerhöchstens Druckerschwärze!«
Plötzlich schien ihm die Kraft auszugehen. Sein Kopf sackte zwischen seine Schultern, und er starrte aufs Pflaster hinunter. Für einige Sekunden war es still vor der Trafik. Nur die Krückengriffe, um die sich Otto Trsnjeks Finger krampften, knirschten leise. Schließlich gab er sich einen Ruck. Mit einem lang gezogenen Schnaufer richtete er sich wieder auf, wandte sich dem Fleischermeister zu und spie ihm zusammen mit ein paar Spucketröpfchen die abschließenden Worte entgegen: »Und noch etwas, Roßhuber: 1917 hab ich für unser Land ein Bein in einem schlammigen Erdloch gelassen. Geblieben ist mir dieses eine hier. Es ist alt, ziemlich hüftsteif und fühlt sich manchmal ein bisserl einsam – aber für einen ordentlichen Arschtritt wird es notfalls immer noch reichen!«
Damit ließ er den Fleischermeister mitsamt den anderen Leuten stehen und verschwand mit zwei kräftigen Krückschwüngen in seiner Trafik. Hinter ihm knallte die Tür derart heftig ins Schloss, dass die Scheiben schepperten und sich das Gebimmel der Glöckchen zu einem geradezu stürmischen Fortissimo erhob.
In den Wochen nach diesen Ereignissen war Franz immer wieder in den Prater gefahren, um sich auf die Suche nach dem Mädchen zu machen. Stundenlang hatte er Straßen und Gassen durchstreift, war in Wirtshäusern gesessen oder vor dem Sturmboot herumgelungert, stets in der Hoffnung, das Gesicht mit den strohblonden Haaren irgendwo aufgehen zu sehen. Vergebens. Zudem war es in letzter Zeit ungemütlich geworden. Der Winter war in diesem Jahr früher als sonst hereingebrochen, mit dem kalten Nieselregen mischten sich erste Schneeflocken, und bald lagen die Fahrgeschäfte unter einer dichten Schneedecke, und eines nach dem anderen musste seinen Betrieb einstellen. Nur ein paar Buden, die Gasthäuser und das Ponykarussell trotzten der Kälte und dem Schnee. Frierend stand Franz vor dem Rondeau und beneidete die Pferde, denen mittlerweile ein wolliges Winterfell gewachsen war und die, unbelästigt von der Liebe und anderen Verirrungen, ihre Runden in den kalten Sand stapften.
Nachts lag er oft stundenlang wach, dachte an die böhmische Zahnlücke und wälzte sich in seiner eigenen Hitze. Fiel er schließlich doch in den ersehnten Schlaf, stürzten sofort wilde Träume auf ihn ein: Schweineblut tropfte von der Decke direkt in das runde Fass, das sein Schädel war, das Bett schaukelte hoch und höher, bis in dieses sonnenhelle Juchzen hinaus, durch eine riesige, schwarze Lücke hindurch und mit einem blauen Wägelchen in die ewige Grottendunkelheit hinein. Seine Mutter erschien und strich Otto Trsnjek mit dem Handrücken übers Bein, worüber Sigmund Freud so herzhaft lachen musste, dass ihm der Hut vom Kopf flog und er seine Flügel ausbreitete und hoch über den Votivkirchenspitzen der untergehenden Sonne hinterhersegelte.
Wenn es zu schlimm wurde, schlich Franz durch die kleine Hinterhoftür aus der Trafik und ging so lange ziellos durch die Straßen, bis das Hufgeklapper der Milchwägen zu hören war und über den vereisten Dächern der Wintermorgen graute. Dieses Gehen in den nachtstillen Straßen beruhigte ihn, er hörte den Schnee unter seinen Schritten knirschen und sah seinen Atemhauch wie ein zartes Fähnchen vor seinem Gesicht dahinwehen. Im frühen Dämmerlicht, wenn die Laternenwärter auf ihre Leitern stiegen und die Gaslaternen löschten und sich die ersten Arbeiter mit schattigen Gesichtern auf ihren Weg zur Frühschicht machten, bewegte er sich nur mehr in einem nebeligen Schwebezustand zwischen Wachen und Träumen. Und während er dann müde und langsam zur Trafik zurückschlich, begegnete ihm an jeder Ecke das böhmische Mädchen. Böhmisches Mädchen unter der Laterne. Böhmisches Mädchen hinterm Zaun. Böhmisches Mädchen im Hauseingang, das Gesicht von der Glut einer Zigarette erhellt. Böhmisches Mädchen im Schaufenster, die Arme nach ihm ausgestreckt und lächelnd.
(Karte mit Schönbrunner Schlosspark, laternenbeleuchtet und schneeüberzuckert)
Liebe Mutter,
jetzt bin ich schon eine ziemliche Weile hier in der Stadt, allerdings kommt mir ehrlich gesagt alles immer fremder vor. Aber vielleicht ist es ja so mit dem ganzen Leben: Man entfernt sich von Geburt an und mit jedem einzelnen Tag ein bisschen weiter von sich selbst, bis man sich irgendwann gar nicht mehr auskennt. Kann es sein, dass es wirklich so ist? Fragt mit vielen Grüßen,
Dein Franz
(Karte mit Attersee, grün schimmernd wie ein Schmuckstück, offenbar von einem Flugzeug oder einem Zeppelin aus aufgenommen)
Lieber Franzl,
hast Du Dich vielleicht verliebt? Das wäre nämlich eine Erklärung für Deine Zustände. Sich verlieben heißt ja bekanntlich: sich nicht mehr auskennen. Zu Deiner Frage kann ich Dir sagen: Das ganze Leben ist ein fortwährendes Auseinandergehen. Als Mutter weiß man das genau. Aber so ist es halt, und man gewöhnt sich daran. Ansonsten hoffe ich, Dir geht es gut und Du machst dem Otto Trsnjek keine Schande. Bei uns am See gibt es einstweilen nichts Neues, und das ist eigentlich auch ganz angenehm. Es grüßt Dich mit einer festen Umarmung,
Deine Mama
»Du schaust schlecht aus«, sagte Otto Trsnjek, ohne von seiner Buchhaltung aufzusehen.
»Was?«, fragte Franz verwirrt und hob den Kopf, der ihm gerade wieder nach vorne auf die Brust gekippt war. Seit er im Prater sein Glück gefunden und gleich darauf wieder verloren hatte, waren mittlerweile zwei Monate vergangen. Zwei Monate voller trüber Tage und schlafloser Nächte.
»Schlecht schaust du aus!«, wiederholte Otto Trsnjek. »Hundsmiserabel, um genau zu sein. Wie des Todes unseliger Großvater. Kalkweiß, zaundürr, hundemüde und mindestens zehn Jahre älter, als du bist. Wenn das so weitergeht, kannst du nächstes Jahr Rentengeld beantragen.«
»Nein, nein, mir geht es gut«, sagte Franz schnell und bückte sich nach der Zeitung, die seinen schlaffen Händen entglitten war. »Vielleicht macht mir das Wetter irgendwie zu schaffen, aber sonst ist alles in Ordnung.«
»Was stimmt denn nicht mit dem Wetter?«
»Es ist … ein bisserl kalt.«
»Es ist ja auch Winter.«
»Ja«, seufzte Franz leise, »Winter.«
Über den Brillenrand hinweg blickte der Trafikant zu seinem Lehrling, der jetzt seinen Kopf tief im Wirtschaftsteil zu verbergen suchte.
»Und was, außer dem überaus ungewöhnlichen Umstand, dass der Winter dieses Jahr schon im Dezember über uns hereingebrochen ist, bedrückt dich sonst noch?«
Es dauerte einige Sekunden, bis Franz seinen Widerstand aufgab. Doch dann ließ er die Zeitung endgültig auf die Dielen gleiten, sprang vom Hocker auf und rief voller Verzweiflung gegen die staubige Decke: »Ich habe mich verliebt!«
In einem winzigen Moment, ungefähr halb so lange wie es braucht, eine Schlagzeile zu überfliegen, hatte Otto Trsnjek die Brisanz des Themas erkannt. »Jesusmariaundjosef«, entfuhr es ihm, »das ist schlimm!«
»Mehr als schlimm!«, rief Franz aus. »Es ist eine Katastrophe! Was soll ich denn jetzt bloß machen?«
Otto Trsnjek überlegte. Schließlich zuckte er mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Geh ins Hallenbad und schwimm ein paar Runden. Das ist gut für die Knochen und macht die Gedanken frei!«
Franz ließ die Hände sinken und sah ihn an. Zum ersten Mal bemerkte er, wie klein der Trafikant war. Es war, als ob er geschrumpft wäre in letzter Zeit. Bald würde er sich endgültig aufgelöst haben, im staubigen Schatten seiner Zeitschriftenstapel.
»Ins Hallenbad?«
Otto Trsnjek kratzte sich hinterm rechten Ohr. Sein Blick wanderte langsam über die Verkaufstheke, glitt über deren Rand auf den Boden hinunter, kroch in kleinen Bögen über die Dielen und blieb schließlich irgendwo knapp vor Franz’ Schuhspitzen hängen.
»Hör zu, ich verstehe nichts mehr von diesen Dingen. Früher vielleicht, da war in der Hinsicht noch was los mit mir. Frag deine Mutter, die wird sich wahrscheinlich daran erinnern. Aber das ist lange her. Ein halbes Menschenleben. Die Wahrheit ist: Mit dem Bein ist auch meine Jugend im Schützengraben liegen geblieben. So ist das und nicht anders. Das ist manchmal bitter, hat aber im Grunde genommen auch seine angenehmen Seiten. Mittlerweile kann mir die Liebe nichts mehr tun. In der Beziehung habe ich meine Ruhe, und wenn ich mich aufregen will, lese ich Zeitung. In der Welt passieren genug Unsinnigkeiten, da brauch ich so etwas nicht auch noch in meiner Trafik. Wenn ich dir also einen bescheidenen Rat erteilen darf, mein patscherter Lehrbub: Such dir für solche delikaten Sachen eine andere Ansprach’, und lass mich damit in Frieden.«
Er lächelte ein wenig verlegen, blies dann sorgfältig die Spitze seiner Feder trocken und beugte sich tief über seine Bücher. Nach einer Weile setzte sich Franz wieder und beide schwiegen für den Rest des Tages.
In der Berggasse 19 hingen immer noch die wunderbarsten Düfte in der Luft: Es roch nach Frittatensuppe und Zwiebelrostbraten mit Petersilienkartoffeln sowie nach Vanillepudding, übergossen mit heißer Zartbitterschokolade und bestreut mit frisch gerösteten Mandelsplittern. Professor Sigmund Freud nahm seine Serviette ab, öffnete unauffällig den obersten Knopf seiner Hose und faltete mit einem zufriedenen Ächzen die Hände über seinem Bauch. Ausnahmsweise – und nur weil Martha, die Gattin des Professors, mit leicht erhöhter Temperatur und einem unangenehmen Reizhusten zwei Zimmer weiter im Bett lag – war an diesem Sonntag seine Tochter Anna am Herd gestanden. Anna hatte sich über die Jahre nicht nur zu einer ungemein produktiven und einfühlsamen Psychoanalytikerin entwickelt (ja mehr noch: zu der einzig legitimen Nachfolgerin ihres Vaters und zur treuen Trägerin seines Werkes), sondern auch – was Freud insgeheim fast noch höher zu schätzen wusste – zu einer gleichermaßen begabten wie resoluten Köchin. Insbesondere den Zwiebelrostbraten verstand sie zuzubereiten wie kaum sonst jemand in Wien: Das Fleisch war saftig und auf den Punkt gebraten, die Zwiebeln in Mehl und Butter goldgelb geröstet und die Kartoffeln mit frischen, winzig gehackten Petersilienschnipseln bestreut. Freud betrachtete seine Tochter aus den Augenwinkeln. Immer noch stocherte sie mit ihrem Silberlöffelchen im Pudding herum und blätterte dabei in einem von Arthur Schopenhauers dicksten Schmökern. Sie hatte ihr Haar am Hinterkopf zu zwei schneckenartigen Gebilden aufgerollt, in denen ein paar Wintersonnenstrahlen glänzten, die sich für wenige Mittagsminuten in die Häuserschlucht der Berggasse und bis hierher, ins Esszimmer der Familie Freud, verirrt hatten. Es war ihm immer ein Rätsel gewesen, woher Frauen die Fingerfertigkeit und die Geduld nahmen, um auf ihren Köpfen derartige Strukturen zu errichten. Aus dem Schlafzimmer drang ein leises Krächzen, gefolgt von einem wohligen Stöhnen und einigen undefinierbaren Bettgeräuschen. Ach, das Weib, dachte Freud mit stiller Verwunderung, was will es, und was soll es uns? Im selben Moment spürte er Annas Blick auf sich gerichtet, diesen Blick, den er mehr liebte als alles andere in seinem Leben. »Ich schau lieber noch mal!«, sagte sie. Dann legte sie Löffel und Schopenhauer weg, ging zum Fenster und sah auf die Straße hinunter.
»Er ist immer noch da!«
Freud hüstelte. »Wie lange sitzt er schon da unten?«
»Um die drei Stunden.«
»Bei dieser Kälte?«
»Er hat einen Schal.«
Mit der Zungenspitze betastete Freud behutsam die Ränder seiner Kieferprothese. Diese scharfe Kante dort hinten müsste etwas geglättet werden und die Ecke an der Seite ein wenig abgeschliffen. Während des Essens waren die Schmerzen im Mund noch erträglich gewesen, aber jetzt wurde es langsam wieder schlimmer. Im Grunde genommen taugten die Herren Doktoren ja alle nichts. Vielleicht sollte er beim nächsten Mal einen Tischler aufsuchen. Oder gleich einen Grabsteinschleifer. Eine Weile starrte er mit ausdruckslosem Blick vor sich hin. Ein einzelnes Mandelstückchen lag auf dem Tischtuch neben der Brotschale. Er tippte es mit der Fingerspitze auf und schob es sich in den Mund. Dann, mit einem Seufzer, der das Leid des ganzen Menschengeschlechts in sich zu bergen schien, stand er auf und sagte: »Ich rauche heute draußen!«
Franz sprang sofort auf, als drüben das schwere Tor aufging und der Professor ins Freie trat. Fast hätte ihn der Schwung seiner eigenen Beflissenheit gleich wieder umgerissen, seine Beine waren steif wie Bretter, und der Hintern schmerzte vom stundenlangen Sitzen auf der kalten Holzbank. Aber jetzt stand er da und sah, wie der Professor auf etwas wackligen Beinen und in seiner vorgebeugten Haltung die Straße überquerte und direkt auf ihn zukam.
»Darf ich mich setzen?«, fragte Freud und ließ sich, ohne eine Antwort abzuwarten, auf der Bank nieder. Mit spitzen Fingern fischte er ein mattsilbriges Schächtelchen aus seiner Manteltasche und entnahm ihm eine Virginia. Doch ehe er sich den Stumpen zwischen die Lippen stecken konnte, saß Franz schon neben ihm und hielt ihm eine lange, schlanke Zigarre vors Gesicht. Der Professor schluckte. »Eine Hoyo de Monterrey«, sagte er mit leicht belegter Stimme. Franz nickte: »An den sonnigen, fruchtbaren Ufern des Flusses San Juan y Martínez von tapferen Männern geerntet und von deren schönen Frauen in zarter Handarbeit gerollt.«
Freud tastete die Zigarre in ihrer gesamten Länge sanft ab und drückte sie leicht zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Eine aromatische Habano, die leicht im Geschmack ist, jedoch durch große Eleganz und Komplexität überzeugt«, sagte Franz mit einer Selbstverständlichkeit, die nichts davon erahnen ließ, wie viele mühevolle Nachtstunden es ihn gekostet hatte, die Beschreibungen auf der Zigarrenkiste auswendig zu lernen. Aus seiner Hosentasche holte er einen versilberten Zigarrenschneider und reichte ihn dem Professor: »Eine Habano soll genau über der Linie geschnitten werden – dort, wo sich Kappe und Deckblatt vereinen!«
Freud schnitt die Spitze ab und zündete die Hoyo mit einem fingerlangen Streichholz an. Dabei hielt er die Flamme etwa einen Zentimeter entfernt und zog so lange daran, bis das Feuer das Brandende erreicht hatte. Dann drehte er sie langsam zwischen seinen Fingern und blies sachte auf die Glut. Mit einem leichten Lächeln lehnte er sich zurück und blickte dem bläulichen Rauch nach, der sich in der klaren Winterluft verkräuselte.
»So, und jetzt raus mit der Sprache: Was willst du?«
Franz räusperte sich umständlich, ruckelte seinen Hintern auf der Bank zurecht, räusperte sich noch einmal und wandte sich schließlich mit der verzweifelten Miene eines Ertrinkenden seinem Sitznachbarn zu.
»Ich habe mich verliebt, Herr Professor!«
Freud hielt die Zigarre gegen das Sonnenlicht und betrachtete sie versonnen.
»Ich gratuliere!«, sagte er. »Du verlierst nicht gerne Zeit, was?«
»Nein, Herr Professor, aber ich hab sie verloren!«
»Wen?«
»Das Mädchen!«
»Ich denke, du hast dich verliebt?«
»Ja, aber unglücklich!«, platzte es aus Franz heraus wie der Korken aus einer durchgeschüttelten Champagnerflasche. Freud, den seine Kieferprothese wieder zu quälen begann, legte den Kopf schief und starrte eine Weile in den leeren Raum zwischen Bank und Eingangstor. »Ut desint vires, tamen est laudanda voluntas«, sagte er schließlich, und es klang, als wollte er jedes Wort einzeln zwischen seinen Zähnen zermahlen.
»Wie bitte, Herr Professor?«
»Das heißt so viel wie: ›Kopf hoch!‹«
»Wie kann ein derartig langer Satz eine so kurze Bedeutung haben?«
»So ist das oft mit Sätzen. Wer viel redet, hat meist wenig zu sagen«, antwortete Freud ein wenig verdrießlich. »Im Übrigen: Was habe ich eigentlich mit der ganzen Angelegenheit zu tun?«
»Sie sind doch Schuld!«, rief Franz aus. »Sie haben mir doch empfohlen, mich zu amüsieren und mir ein Mädchen zu suchen!«
»Du machst also den Arzt zum Krankheitserreger?«
»Ach was!«, Franz sprang auf und begann mit ausladenden Schritten vor der Bank auf und ab zu gehen: »Ich verstehe nichts von Ärzten oder Krankheitserregern. Ich weiß nur, dass ich erregt bin! Und zwar dauernd und immer. Ich kann kaum arbeiten. Ich kann kaum schlafen. Ich träume blödsinnige Sachen. Ich renne bis zum Sonnenaufgang in der Stadt herum. Mir ist heiß. Mir ist kalt. Mir ist schlecht. Ich habe Bauchweh, Kopfweh, Herzweh. Alles auf einmal. Vor Kurzem bin ich noch am Ufer gesessen und habe den Enten zugesehen. Und kaum bin ich in der Stadt, geht alles drunter und drüber. Übrigens nicht nur in mir, sondern auch sonst überall. In den Zeitungen kann man es ja nachlesen: An einem Tag schreien alle nach diesem Schuschnigg. Am nächsten Tag schreien alle nach diesem Hitler. Und ich hocke in der Trafik und frage mich: Wer sind die beiden überhaupt? Ich putze Schweineblut von der Auslage und sitze heulend in der Grottenbahn. Ich tanze mit dem schönsten Mädchen der Welt. Und im nächsten Moment ist sie weg. Verschwunden. Nie da gewesen. Und jetzt frage ich Sie: Bin ich verrückt geworden? Oder ist die ganze Welt verrückt geworden?«
Professor Freud schnippte mit dem Zeigefinger die Asche von seiner Hoyo und blies behutsam gegen die Glut. »Erstens: Setz dich wieder«, sagte er ruhig. »Zweitens: Ja, die Welt ist verrückt geworden. Und drittens: Gib dich keinen Illusionen hin – sie wird noch viel verrückter!«
Franz ließ sich auf die Bank fallen und starrte unheilvoll vor sich hin. »Im Grunde genommen ist es mir ja egal, ob die Welt sich aus ihren eigenen Angeln reißt oder nicht. Das Einzige, was mich interessiert, ist dieses Mädelchen.«
»Wie heißt sie denn überhaupt?«
»Weiß ich nicht.«
»Du kennst nicht einmal ihren Namen?«
»Eigentlich weiß ich überhaupt nichts von ihr. Außer, dass sie eine Böhmin ist. Und dass sie die schönste Zahnlücke der Welt hat.«
»Die schönste Zahnlücke der Welt? Dich scheint es ja wirklich erwischt zu haben.«
»Sag ich doch.«
»Und was erwartest du nun von mir?«
»Sie sind doch Doktor! Und außerdem Professor.«
»Ja, und?«
»Sie haben Bücher geschrieben. Viele Bücher! Steht denn da gar nichts drinnen, was mir helfen kann?«
»Ehrlich gesagt: Ich glaube nicht.«
»Und wozu sollen dann die ganzen Bücher gut sein?«
»Das frage ich mich manchmal auch.« Freud zog die Füße ein, drückte sich den Hut etwas tiefer in die Stirn und schlug mit einer Hand seinen Kragen hoch. Ein paar Zigarrenzüge lang saßen sie schweigend nebeneinander. Die Sonne war hinter den Dächern verschwunden, mittlerweile war es noch kälter geworden auf der Bank. Franz sah, wie die Hand des Professors leicht zitterte, als er die Zigarre zum Mund führte. Seine Haut war fleckig, spannte sich dünn wie Seidenpapier über die Sehnen und war durchzogen von einem feinen Netz bläulicher Adern. Jetzt erst fiel Franz auf, wie alt und zerbrechlich Freud war. Er wickelte sich seinen Schal vom Hals und reichte ihn dem Professor.
»Was soll ich damit?«, knurrte der Alte.
»Es ist Winter – und mit seiner Gesundheit spielt man nicht!«
»Ha!«, platzte Freud mit einem Anflug von bitterer Fröhlichkeit in seiner Stimme heraus. »Ich bin zu alt, um nicht mehr zu spielen!«
»Kein Mensch ist zu alt für den selbstgestrickten Wollschal meiner Mutter!«, entgegnete Franz streng und wand den Schal mit einer eleganten Bewegung um des Professors dürren Hals. Nach einem Augenblick ungläubiger Erstarrung reckte Freud sein Kinn aus der dichten Wolle heraus und beschäftigte sich wieder mit seiner inzwischen fast auf die Hälfte zusammengeschrumpften Zigarre.
»Diese junge Dame hat dich also sitzen lassen«, murmelte er vor sich hin. »So weit die Fakten. Meiner Ansicht nach hast du jetzt genau zwei Möglichkeiten. Möglichkeit Nummer eins: Hol sie dir zurück! Möglichkeit Nummer zwei: Vergiss sie!«
»Das ist alles?«
»Das ist alles.«
»Entschuldigen Sie vielmals, Herr Professor, aber wenn alle ihre Ratschläge sind wie dieser, verstehe ich nicht, warum die Leute so viel Geld bezahlen, um sich auf Ihre Couch legen zu dürfen!«
Freud seufzte. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte er daran, einer tief in seinem Inneren aufsteigenden Zornempfindung nachzugeben und das Leben seiner Hoyo an der Stirn dieses impertinenten Bauernbuben auszudämpfen. Er entschied sich dagegen und blies stattdessen bläuliche Kringel in die Luft.
»Die Leute zahlen so viel Geld, weil sie von mir eben keine Ratschläge zu hören bekommen. Und vielleicht sollte ich dich daran erinnern, dass du es bist, der am Tag des Herrn drei Stunden vor meiner Haustür herumlungert, um mich anschließend mit einer – zugegeben hervorragenden – Zigarre zu bestechen und meinen Rat einzuholen!«
»Ich bin eben verzweifelt!«
»Jaja«, seufzte Freud, »an den Klippen zum Weiblichen zerschellen selbst die Besten von uns!«
»Und ich gehöre ganz bestimmt nicht zu den Besten.«
»Das wird sich erst herausstellen«, sagte der Professor und blickte zum Esszimmerfenster hinauf, wo Anna aufgetaucht war und ihm mit drohend erhobenem Zeigefinger unmissverständlich bedeutete, jetzt, gleich, sofort wieder ins Warme zu kommen.
»Ist das Ihre Tochter?«
Der Professor nickte. Mit dem breitesten Lächeln, zu dem Franz mit seinen eingefrorenen Wangen fähig war, grüßte er zu Anna hoch, die prompt ihre Hand zu einem kleinen Winken hob, gleich darauf mit wenigen schnellen Bewegungen die Vorhänge zurechtzupfte und dahinter verschwand.
»Sie sieht ein bisschen aus wie meine Mutter. So von Weitem, meine ich.«
»Musst du mir unbedingt mein alttestamentarisches Alter vor Augen halten?«, murrte Freud. Er schloss die Augen und tat einen letzten, konzentrierten Zug an seiner Hoyo. Doch es war vorbei. Der Geschmack der Zigarre konnte kaum noch über die Schmerzen im Mund hinwegtrösten. Vorsichtig legte er den Rest des Stumpens auf der Armlehne ab und sah zu, wie die Glut langsam verglomm.
»So geht sie hin in Würde …«, murmelte er, als sie erlosch, und Franz nickte dazu. Sie sahen einander an.
»Und jetzt?«, fragte Franz.
»Jetzt verschreibe ich dir ein Rezept«, antwortete Freud, »respektive sogar drei Rezepte. Und auch wenn es vielleicht ein bisschen paradox klingt: Ich verschreibe dir diese Rezepte mündlich. Also pass auf, und merke sie dir gut! Erstes Rezept (gegen dein Kopfweh): Hör auf, über die Liebe nachzudenken. Zweites Rezept (gegen dein Bauchweh und die wirren Träume): Leg dir Papier und Feder neben das Bett und schreib sofort nach dem Aufwachen alle Träume auf. Drittes Rezept (gegen dein Herzweh): Hol dir das Mädchen wieder – oder vergiss sie!«
Die Sonne war längst verschwunden. Der kalte Wind blies ein paar Zeitungsfetzen die Berggasse hinunter. Jemand öffnete sein Fenster, für einen Moment drang Musik ins Freie, irgendein blecherner Marsch, dann war es wieder ruhig. Der Professor gab sich einen mühevollen Ruck, und beide standen auf.
»Ich wünsche dir viel Glück, Franz!«, sagte er und streckte ihm seine Hand entgegen. Franz spürte die Finger des alten Mannes in seiner Hand, dürr und leicht wie ein trockenes Bündel Reisig.
»Das kann ich gebrauchen!«
Freud hatte die Straße schon überquert und war dabei, den Hausschlüssel aus seiner Manteltasche zu ziehen, als ihn Franz’ von der Kälte schon zittrige Stimme noch einmal einholte: »Darf ich vielleicht auch einmal auf die Couch, Herr Professor?«
Freud drehte sich um.
»Was willst du denn auf der Couch?«
»Weiß ich nicht. Aber wenn ich erst einmal draufliege, werde ich es schon herausfinden!«
Freud starrte den Buben ungläubig an. Er schob sich den Hut aus der Stirn und zwirbelte mit zwei Fingern seinen Bart zurecht.
»Zuerst die Rezepte – dann werden wir weitersehen, in Ordnung?«
»In Ordnung.«
Sie schwiegen für ein paar Sekunden. Schließlich verzog Freud seinen Mund zu einem krummen Lächeln und steckte den Schlüssel ins Schloss.
»Frohe Weihnachten, Franz!«
»Frohe Weihnachten, Herr Professor!«
Über die Weihnachtsfeiertage hatte die Trafik geschlossen. Otto Trsnjek hatte Franz vertrauensvoll Schlüssel und Verantwortung für die stillen Räume hinterlassen und war zu einer Großcousine nach Potzneusiedl ins Burgenland gefahren, um »der Seele und dem Bein in der burgenländischen Fadesse ein bisserl Ruhe zu gönnen«. Franz verbrachte die meiste Zeit in seinem Kämmerchen, einerseits, um Kraft für die anstehende Rückeroberung zu sammeln, und andererseits, weil ihn seit dem Sonntagnachmittag auf der Holzbank eine bösartige Erkältung plagte. Draußen schneite es seit Tagen ununterbrochen. Mittlerweile hatten die städtischen Räumkommandos, bestehend aus ausgemergelten Arbeitslosen und Bundesheersoldaten mit kindlichen Bauernbubengesichtern, den Schnee bis zur halben Höhe der Auslagenscheiben aufgehäuft. In der Trafik war es schummrig und still und Franz hatte seine Ruhe. Meistens lag er im Bett und vertrieb sich die Zeit damit, dem leisen Bollern im Kohleofen zuzuhören und an die böhmische Zahnlücke zu denken. Am Heiligen Abend zündete er eine Kerze an und verdrückte den kompletten Inhalt des bis unter den Deckel mit Vanillekipferln, Schmalzkrapferln, Marmeladentascherln und anderen nach Heimat und Kindheit duftenden Mehlspeisen gefüllten Pakets, das ihm die Mutter geschickt hatte. Am Boden der Schachtel fand Franz eine kleine Fotografie. Das Bild zeigte die Mutter auf der verschneiten Eisfläche des Attersees. Sie trug eine ihrer selbstgestrickten Pudelhauben, einen Wolljanker, einen Winterrock und ihre alten, dick mit Kaninchenfell gefütterten Haferlschuhe. Sie blickte direkt in die Kamera und lachte. Einen Arm hatte sie ausgestreckt und schien damit irgendwo hinzuzeigen, vielleicht zur Hütte, vielleicht auch darüber hinweg zur nebelverhangenen Schafbergspitze. Mit ziemlicher Sicherheit hatte Gemeindepfarrer Sieglmeier die Aufnahme gemacht. Der Pfarrer war einer der wenigen Nußdorfer, die im Besitz eines Fotoapparates waren, und wahrscheinlich hatte ihn die Mutter mit einer scharfen Fischsuppe, frischen Strudeln oder dem Versprechen auf regelmäßige Kirchenbesuche bestochen. Eine einzelne Träne tropfte jetzt auf die Fotografie und bildete einen feuchten, runden Fleck, genau an der Stelle, wo der Arm der Mutter in den Himmel hineinragte. Franz wischte schnell mit dem Daumen darüber und drehte das Bild um. Auf der Rückseite stand mit hellblauem Buntstift geschrieben:
Mein lieber Franzl,
von Herzen wünsche ich Dir ein frohes Weihnachtsfest und ein gesegnetes neues Jahr.
Deine Mama
PS: Bist Du noch verliebt?
PPS: Wenn Deine Hosen schmutzig sind, kannst Du sie mir schicken.
PPPS: Hör auf, mich mit »Mutter« anzuschreiben, ich bin Deine Mama und aus.
Franz suchte sich eine besonders beeindruckende Karte aus dem Ständer (Johann-Strauß-Statue mit Schneehaube auf dem Kopf und Sängerknaben rundherum) und schrieb mit seiner schönsten Füllfederschrift:
Liebe Mama,
jetzt ist Weihnachten praktisch schon wieder vorbei, und die Sachen aus Deinem Paket sind allesamt weg. Die letzte Zeit war ein bisschen anstrengend, aber im frischen Jahr wird sich sicher alles wieder einrenken.
Dein Franzl
PS: Ich bin noch verliebt.
PPS: Meine Hosen sind nicht schmutzig.
PPPS: Na gut.
Pünktlich zum Silvesterabend war der fiebrige Schnupfen endlich überstanden, und Franz machte sich auf den Weg in die innerstädtische Annagasse, wo er in einem »weltberühmten und hoch angesehenen Tanz-Etablissement«, so versprachen es die in verschiedenen Zeitungen geschickt platzierten Anzeigen, inmitten von hunderten Wienerinnen und Wienern den Jahreswechsel feierte, indem er eine unterm Hemd eingeschmuggelte Dopplerflasche essigsauren Weißburgunders leerte und mit einer dicken Frau Walzer tanzte. Am nächsten Tag, dem ersten des hoffnungsvollen neuen Jahres 1938, bestieg er gleich in der Früh die Straßenbahn und ließ sich durchs Schneegestöber in Richtung Prater ruckeln. Das Riesenrad ragte dunkel und bewegungslos in den Himmel, und die Fahrgeschäfte lagen wie tot unter einer dicken Schneedecke begraben. Die Gassen waren fast menschenleer, nur da und dort stapfte ein verlorener Spaziergänger zwischen den Buden herum. Am großen Sturmboot hingen glitzernde Eiszapfen, und auf der obersten Gondel hockte eine Krähe und hackte mit ihrem Schnabel in den Schnee. Franz ging hinüber ins Schweizerhaus, wo schon die Lichter brannten und der Eingang für den ersten Frühschoppen des Jahres freigeschaufelt war. Er betrat den Gastraum und ging direkt auf den schnauzbärtigen Kellner zu, der hinter dem Tresen stand und mit müdem Lidschlag ein frisch geputztes Glas im trüben Deckenlicht betrachtete.
Ob er dem jungen Herrn irgendwie behilflich sein könne, fragte der Kellner, ohne ihn anzusehen. Franz ließ seinen Blick gelangweilt durch den Raum schweifen und schob nebenbei einen Geldschein über den Tresen. Er hätte da eine Frage, im Grunde genommen nur eine Kleinigkeit, schnell gestellt und noch schneller beantwortet.
Das müsse aber wirklich eine winzigkleine Kleinigkeit sein, meinte der Kellner, zumindest wenn man vom Wert dieses Fetzen Papiers ausgehe. Schweigend holte Franz einen weiteren Schein aus der Jackentasche und legte ihn neben den anderen. Der Kellner stellte das Glas ins Regal zurück und ließ das Geld in seiner Schürze verschwinden.
Mitkommen, sagte er.
Draußen schneite es jetzt noch stärker. Dicke, weiche Flocken sanken lautlos vom Himmel, verfingen sich in den Haaren und blieben an den Wimpern hängen. Franz und der Kellner suchten Schutz unter einer großen Kastanie.
Um welche Kleinigkeit es sich denn genau handle, wollte der Kellner wissen.
Es ginge um eine Landsfrau von ihm, sagte Franz, eine Böhmin.
Nur weil er Tschechisch spreche, meinte der Kellner, sei er noch lange kein Behm, damit das klar sei. In der Baumkrone über ihnen raschelte es leise, und eine Handvoll Schnee rieselte zu Boden.
Jedenfalls könne sich der Herr Ober sicherlich erinnern, sagte Franz, wie er und dieses böhmische Mädel vor gar nicht allzu langer Zeit hier unter dieser Kastanie ein paar Bier getrunken und getanzt hätten. Sehr schön sei sie. Ziemlich rund, mit sonnenblonden Haaren, einer zart gewölbten Oberlippe und einer wie von Gottes Hand gemeißelten Zahnlücke.
Der Kellner zuckte mit den Schultern. Das mit der Erinnerung sei so eine Sache, sagte er und betrachtete traurig die kleine Schneekappe auf seinen Schuhspitzen. Franz seufzte und zog einen weiteren Schein aus seiner Manteltasche.
Ach ja, sagte der Kellner, komisch, aber jetzt fiele es ihm wieder ein, da war doch so eine dicke Böhmin.
Rund, sagte Franz, rund, nicht dick.
Von mir aus, sagte der Kellner. Und weiter?
Die Adresse, antwortete Franz, ob der Herr Ober eine Adresse von ihr habe. Oder den Namen. Oder sonst irgendetwas. Immerhin habe er sie ja gekannt, das sei ja offensichtlich gewesen.
Als Praterkellner kenne man halt viele Leute, entgegnete der Kellner, da sei es schwer.
Franz steckte ihm seinen letzten Schein in die Schürze. Ob es jetzt vielleicht ein bisschen leichter sei?
Der Kellner lächelte. Warum es eigentlich ausgerechnet so eine ausgefressene Landpomeranze sein müsse, wollte er wissen, schließlich gäbe es im Prater noch ganz andere Möglichkeiten, da könne man sicher etwas arrangieren.
Rund, sagte Franz mit starrem Blick, rund, nicht ausgefressen.
Ob rund oder ausgefressen sei ja nur Definitionssache, meinte der Kellner, aber so oder so: Billig bleibe halt billig.
Da platzte etwas in Franz. Mit einem unterdrückten Schrei warf er sich auf den Kellner und begann auf ihn einzuschlagen. Der Schnauzbart duckte sich weg, tänzelte zwei Schritte zur Seite, einen zurück, wieder einen nach vorne und fuhr eine blitzschnelle Gerade aus. Der Schlag traf Franz genau am Nasenansatz, ein hohler Ton erklang, und ein Schatten senkte sich auf ihn und bedeckte alles mit einer stillen Dunkelheit.
Zwei Sekunden später war Franz wieder bei Bewusstsein. Er lag auf dem Rücken und blickte direkt in das schnauzbärtige Kellnergesicht über sich.
Ein bisserl sei er ja aus dem Training, sagte der Kellner gutmütig, aber für so einen dahergelaufenen Bauernschädel würde es gerade noch reichen. Ob er ihm aufhelfen solle?
Danke nein, antworte Franz und blieb liegen.
Der Kellner sagte, man müsse ja nicht immer gleich rabiat werden, wenn es um die Weiber geht.
Nein, das müsse man wahrscheinlich nicht, sagte Franz.
Der Kellner blickte ihn väterlich streng an. So ein Blödsinn aber auch!
Franz nickte. Ob er jetzt vielleicht doch die Adresse oder den Namen haben könne?
Stur wie ein steirischer Ochs, meinte der Kellner kopfschüttelnd.
Wie ein oberösterreichischer, sagte Franz, während sich in seinem Mund der süße Geschmack von Blut ausbreitete.
Von mir aus, sagte der Kellner. Auf seinem dicht behaarten Kopf hatte sich mittlerweile eine kleine Schneehaube gebildet, die seinem Aussehen etwas Großväterliches gab. Aus dem Gastraum drang das Stimmengewirr seiner Kollegen. Gelächter. Jemand stimmte ein Lied an. Dann war es wieder ruhig. Der Kellner seufzte.
Gar nicht weit von hier im zweiten Bezirk, sagte er, das gelbe Haus in der Rotensterngasse. Immer den Ratten folgen, links ein Schutthaufen, rechts ein Schutthaufen. Dort könne der junge Herr einmal nachschauen, wenn es denn unbedingt sein müsse.
Dankeschön, sagte Franz.
Gern geschehen, sagte der Kellner. Er hüpfte ein paar Mal auf und ab, klopfte sich den Schnee von den Schultern und fuhr sich mit den Fingern durch den Schnauzbart.
Das mistige Wetter habe hoffentlich bald ein Ende, so könne das ja nicht weitergehen.
Franz nickte.
Jetzt müsse er aber wirklich wieder hinein, meinte der Kellner, den ganzen Sonntag unter einer zugeschneiten Kastanie herumstehen, könne nämlich auch nicht Sinn der Sache sein.
Genau, sagte Franz, auf Wiedersehen.
Auf Wiedersehen.
Nachdem der Kellner im Gastraum verschwunden war, blieb Franz noch eine Weile liegen und blickte ins Schneetreiben hinauf. Schon nach kurzer Zeit schien es ihm, als ob nicht die Flocken auf ihn zugeflogen kämen, sondern als ob er selbst es sei, der vom Boden abhöbe und mit zunehmender Geschwindigkeit davonraste, immer höher und höher dem weiten, stillen Himmel entgegen.
Das gelbe Haus in der Rotensterngasse war eine abrissreife Ruine. Wie der Kellner gesagt hatte, häufte sich links und rechts vom Eingang meterhoch der Schutt. Überall bröckelte der Putz, die Fenster waren entweder grau vom Staub oder mit Brettern vernagelt. Von der Dachrinne hingen bräunliche Eiszapfen, und über einem der Kellerfenster waren mit grüner Farbe die Worte SCHUSCHNIGG, DU JUDENHUND! hingeschmiert. Die Haustür stand weit offen, trotzdem war es im Flur düster und es stank nach feuchten Mauern und Urin. Und noch etwas anderes lag in der Luft: ein süßlich-scharfer Geruch, der Franz wie eine ferne Erinnerung an Zuhause anwehte. Es roch nach Schweinestall. Franz musste ein bisschen in sich hineinlächeln. Vorsichtig ging er die Stiege hinauf, unter seinen Füßen knirschten die Kalkbröckchen und mit jeder Stufe wurde der Gestank intensiver. Zuhause hätte das niemanden gestört, dachte er, ihn selbst schon gar nicht. Im Grunde genommen stanken die Schweine weniger als zum Beispiel die Waldarbeiter nach der Schicht oder die Volksschulkinder nach dem Turnunterricht. Und er selbst war früher sogar hin und wieder in die Ställe der benachbarten Bauern gekrochen, hatte die Ferkel umarmt wie kleine, rosige Brüder und sich mit ihnen ins Stroh hineingekuschelt. Doch hier, zwischen den grauen Stadtmauern war der Geruch ungehörig und widerlich. Im Mezzanin war eine der Türen aus ihrem Rahmen gebrochen, und in dem Zimmer dahinter erkannte er das Schwein. Es war ein riesiges Tier, schwer und bewegungslos lag es auf dem strohbedeckten Kachelboden und schnaufte leise vor sich hin. Auf einer Obstkiste daneben saß eine alte Frau. Sie hatte einen Topf auf ihrem Schoß, in dem sie langsam und gleichmäßig einen Teig verrührte.
»Entschuldigung, wohnt hier vielleicht eine junge Frau, eine Böhmin?«, fragte Franz. Die Alte starrte ihn kurz an. Dann wies sie mit ihrem Löffel stumm in Richtung Decke. Ein zäher Teigbatzen löste sich und tropfte ihr in den Schoß. Die Sau wälzte ihren Körper auf die andere Seite, hob den Kopf und blickte aus stumpfen Augen gegen die Wand.
Im zweiten Stock schienen die meisten Wohnungen leer zu stehen, fast überall standen die Türen offen oder fehlten komplett. Nur die Tür der letzten Wohnung, ganz am Ende des Ganges, war unversehrt. Dahinter war undeutliches Stimmengewirr zu hören. Franz klopfte zweimal, und sofort wurde es drinnen still. Ein kurzes Tuscheln war zu hören, dann ein helles »Herein!«
Franz wischte sich die letzten Schneereste vom Kragen, atmete tief ein und öffnete die Tür. Soweit er auf den ersten Blick erkennen konnte, befanden sich etwa dreißig Frauen im Raum. Sie saßen an kleinen Tischen, auf Stühlen, Kisten, Kübeln. Drei hockten nebeneinander auf dem Fensterbrett wie Vögel auf einem Ast. Manche lagerten auf alten Matratzen entlang der Wände. Zwei junge Mädchen saßen im Schneidersitz vor einem niedrigen Holzkohleofen und spielten Karten; eine Frau stand vor einer Spiegelscherbe an der Wand und schminkte sich mit einem Kohlestift die Augen; eine andere hockte auf einem umgedrehten Wäschekorb und hielt ein winziges Kind an ihre Brust gedrückt.
»Entschuldigung«, sagte Franz zaghaft, »wohnt hier vielleicht eine junge Frau, eine Böhmin?« Eines der Mädchen kicherte, ein anderes mit wasserblauen Augen hielt sich die Hand vor den Mund und unterdrückte ein Lachen. Die anderen saßen einfach nur da und starrten ihn an.
»Ah, der Burschi mit dem scheenen Popscherl!«
Er erkannte ihre Stimme sofort. Sie saß mit angezogenen Knien und in eine dünne Wolldecke gewickelt auf einer Matratze. Ihr Haar war unter einem Kopftuch verschwunden und ihr Gesicht lag fast zur Gänze im Schatten der Decke. Doch Franz wusste auch so, dass sie lächelte. Und auch er lächelte jetzt. Und hätte ihn dieses böhmische Mädchen unter ihrer Wolldecke nicht mit den Worten: »Darfst mir bezahlen ein Essen und ein Glaserl Wein, Burschi!« aus seiner glücklichen Erstarrung erlöst, so wäre er wahrscheinlich noch für den Rest des Nachmittags oder darüber mit einem Lächeln in der Tür gestanden, das vielleicht die ganze Welt, mindestens aber diese dreißig Frauen in ihrer feuchten Bruchbude zu umarmen schien.
Sie hieß Anezka und war drei Jahre älter als er. Sie stammte aus einem »an den Hügel Viničný wie an einen dunklen Liebhaber geschmiegten, wunderscheenen Dorf« namens Dobrovice im Landkreis Mladá Boleslav und arbeitete wahlweise als Kindermädchen, Köchin oder Haushaltshilfe, und zwar ohne behördliche Genehmigung, wie übrigens auch die anderen Frauen aus dem gelben Haus: »Alles Behminnen. Scheene, brave Frauen, alle miteinander!«
Sie knirschten nebeneinander durch die schneebedeckten Straßen, und Franz erzählte von daheim, wo der See die Farbe mit den Jahreszeiten wechselte: im Frühjahr war er dunkelgrün, im Sommer silbrig, im Herbst tiefblau und im Winter schwarz wie das Herz des Teufels. Und er erzählte von den Kühen, deren Fladen so groß waren, dass man als Kind bis zu den Knien darin einsinken konnte, und von den Fischen, die er als kleiner Bub aus dem Wasser gezogen hatte und die so fett waren, dass nur ein einziger von ihnen ausreichte, um eine komplette Holzfällerbrigade satt zu kriegen. Er beschrieb ihr die Ausflugsdampfer, die im Sommer tagtäglich mit ihrem bunten Touristendurcheinander auf dem Deck durchs Wasser stampften und mit denen die Kinder nach der Abfahrt um die Wette kraulten, und er schilderte ihr die im gesamten Salzkammergut berühmten Erdäpfelstrudel seiner Mutter, deren Teig sie in den Wintermonaten auf dem Tisch walkte, um ihn dann in der großen Eisenpfanne in Gänseschmalz zu backen und zu einem goldgelben, dampfenden, duftenden Berg aufzuhäufen. Von diesen und noch von ganz anderen Dingen erzählte Franz. Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus und breiteten ein derartig wunderbares Panorama vor ihnen aus, dass sich ihr Spaziergang durch die fast menschenleeren Straßen hinzog, bis die Nacht hereinbrach und die Gaswerker ihre Leitern bestiegen, die Schneehauben von den Laternen kehrten und überall die Lichter durch das Schneegestöber zu schimmern begannen.
An einem kleinen Wirtshaus blieb Anezka stehen. »Jetzt essen!«, sagte sie und ging hinein. Franz bestellte zwei Portionen Gulasch und eine Flasche vom ausländischen Wein, der so gut war, dass sogar der Kellner seinen Namen nicht aussprechen konnte. Das Gulasch war würzig und heiß, die Gurken knackten, und die Semmeln knisterten. Noch nie hatte Franz einen Menschen mit solcher Hingabe essen gesehen. Und noch nie hatte er einem Menschen so gerne beim Essen zugesehen. Er bestellte eine zweite Portion und dann eine dritte. Danach gab es Palatschinken mit Schokoladenfüllung und einer dicken Schicht Staubzucker sowie eine zweite Flasche Wein. Als schließlich das letzte Palatschinkenfleckchen mit dem letzten Schluck Wein hinuntergespült war, lehnte sich Anezka mit einem langgedehnten Seufzer zurück, verschränkte die Hände vor ihrem Bauch und sah Franz mit trägem Blick an.
»Und jetzt will ich dich, Burschi!«, sagte sie.
Der Verkaufsraum lag still im bläulichen Schneelicht, das durch die wenigen freien Stellen in den überklebten Auslagenscheiben hereinfiel. Nachdem Franz die Tür hinter ihnen zugezogen hatte, hielt Anezka ihre Nase schnuppernd in den Raum und sog tief den Geruch von Tabak und Papier ein. Mit einer höflichen, gleichzeitig aber auch weltmännisch-gelassenen Geste wollte Franz ihr den Weg in sein Kämmerchen weisen, doch da spürte er ihre Hand an seinem Hintern, genau an der Stelle, wo sie schon einmal gelegen hatte, damals, vor unendlich langer Zeit beim Tanz im Schweizerhaus. Sofort begann sein Herz wie verrückt zu klopfen, und eine brennende Hitze stieg in ihm hoch. Irgendetwas wollte er fragen, etwas ungeheuer Dringliches, etwas unerhört Wichtiges, etwas, das ihm auf der Zunge prickelte, aber da lag auch schon ihre andere Hand an seiner Hinterbacke und ihre Hüfte drängelte sich gegen seine, und in seinem Kopf verdampften die Worte wie Tropfen auf dem heißen Herd. Sie sah ihm in die Augen und näherte ganz langsam ihr Gesicht, und als er ihren Atem an seinem Mund spürte und das zarte Zittern ihrer Oberlippenwölbung sah, durchlief ihn ein derart heftiger Wonneschauer, dass er mit ziemlicher Sicherheit rückwärts ins Zigarrenregal gekippt wäre, wenn ihn Anezka nicht im letzten Augenblick gehalten und fest an ihren Körper gedrückt hätte. Er schloss die Augen und hörte sich selbst einen gurgelnden Laut ausstoßen. Und während die Hose an seinen Beinen herunterrutschte und damit alle Last seines bisherigen Lebens von ihm abzufallen schien und er den Kopf in den Nacken legte und in die Dunkelheit unter der Decke hinaufblickte, hatte er für einen seligen Moment das Gefühl, die Dinge der Welt in ihrer unermesslichen Schönheit begreifen zu können. Schon komisch, dachte er, das Leben und diese ganzen Sachen. Dann spürte er, wie Anezka vor ihm auf den Boden glitt, wie ihre Hände seinen nackten Hintern packten und ihn mit sich zogen. »Komm, Burschi!«, hörte er sie flüstern und mit einem Lächeln ließ er los.
Und hätte sich ein paar Stunden später in dieser eisigen Nacht irgendjemand aus irgendwelchen Gründen noch draußen im Freien aufgehalten, so hätte er vielleicht gesehen, wie die Tür der alten Trsnjek-Trafik aufgerissen wurde und zwei nackte Gestalten, ein dünner junger Mann und eine rundliche junge Frau, ins Freie purzelten, sich eine Weile kreischend mit Schnee bewarfen, dann ein kurzes Stück die Währingerstraße hinunterstürmten und sich schließlich ungefähr auf der Höhe des Pelzmodengeschäftes der alten Frau Sternitzka mit weit ausgebreiteten Armen und Beinen nach hinten in einen großen Schneehaufen fallen ließen. Aber natürlich befand sich um diese Uhrzeit und bei diesem Sauwetter niemand mehr auf der Straße. Niemand konnte beobachten, wie Franz und Anezka keuchend nebeneinander lagen und in den Himmel hinaufschauten. Und niemand konnte das kurze Gespräch belauschen, welches Franz mit einer Frage eröffnete, die seit einigen Minuten in seinem langsam wieder auskühlenden Kopf herumschwirrte: »Warum bist du damals weggelaufen im Schweizerhaus?«
Anezka streckte ihren Arm in die Höhe und zeichnete mit den Fingern die Konturen der umliegenden Dächer nach. Mittlerweile hatte es fast vollständig aufgehört zu schneien, dunkle Wolkenfetzen zogen über den Himmel, und hinter einem Schornstein schimmerte schwach das Mondlicht hervor.
»Manchmal muss weglaufen, manchmal muss bleiben«, sagte sie. »So ist Leben.«
»Das kann ja sein …«, setzte Franz zu einer schwächlichen Entgegnung an, doch schon währenddessen hatte ihre Hand in der Luft eine elegante Drehung vollführt und war gleich darauf blitzschnell und zielgenau herabgestoßen, um seinen Schwanz zu packen. »Nicht so viel reden«, sagte sie, »lieber noch einmal vögeln.« Sie sagte natürlich nicht »vögeln«, sondern »veegeln«, mit einem sehr lang gezogenen, böhmischen »e«. Aber Franz verstand sie trotzdem ganz genau.
Franz’ sexuelle Erlösung bedeutete nicht gleichzeitig eine Besserung seines Gesamtzustandes. Das Feuer, das jetzt zwischen seinen Schenkeln entzündet war, brannte lichterloh und würde nie mehr zu löschen sein, so viel war ihm klar. Dabei – und auch das war ihm auf schmerzhafte Weise bewusst geworden – gab es noch so viel zu lernen. Zu kurz war diese eine Nacht gewesen, selbst ein komplettes Leben schien nicht auszureichen, um das Mysterium Frau in seiner ganzen schrecklichen Schönheit begreifen zu können. An den Klippen zum Weiblichen zerschellen selbst die Besten von uns, hatte der Professor gesagt. Das wird schon so sein, dachte Franz, aber dann ist es halt so. Mochte er eben zerschellen – solange es nur an Anezkas steiler Küste geschah. Es gab jetzt kein Zurück mehr. Er wollte weitermachen, weiterüben, weiterlernen. Unter allen Umständen wollte er wieder bei ihr liegen, ihren wunderbaren Duft in der Nase und ihre Hände auf seinem lernwilligen Hintern.
Und deshalb machte er sich schon am nächsten Abend auf den Weg zum gelben Haus in der Rotensterngasse, ging durch den stinkenden Flur, über die bröckeligen Stiegen, vorbei an der alten Frau mit dem leise schnaufenden Schwein und hinauf in die auch diesmal mit Böhminnen überfüllte Wohnung. Doch Anezka war nicht da. Am Tag darauf auch nicht. Und auch nicht am nächsten Wochenende. Oder am übernächsten. Anezka nicht da, Anezka fort, Anezka weg, Anezka irgendwo, Anezka arbeiten, sagten die Frauen, die sich gerade in der Wohnung aufhielten und übrigens nie die gleichen zu sein schienen. Wo oder für wen sie arbeitete, konnten sie nicht sagen, wussten sie nicht, wollten sie nicht wissen, und Franz zog wieder ab, mit seinem ölig glänzenden Scheitel und der teuer in einem innerstädtischen Bonbonfachgeschäft erstandenen Schachtel Schokoladenpralinen unterm Arm. Tagsüber saß er kreidebleich auf seinem Hocker und gab vor, Zeitung zu lesen. Nachts wälzte er sich im Bett und vergrub sein Gesicht in das Kissen, auf dem sich noch vor Kurzem ihre Haare wie sonnige Strahlen ausgebreitet hatte. Die Schlafphasen waren kurz und von wirren Träumen durchrast. Manchmal befolgte er den Ratschlag des Professors und versuchte, sein wild gewordenes Seelenleben zu bändigen, indem er seine Träume gleich nach dem Aufwachen aufschrieb. Es nutzte nichts. Es half nichts. Es nutzte und half alles nichts. Es war, als hätte Anezka ihm das Herz aus der Brust gerissen und trüge es nun mit sich herum. Das, was da immer noch schlug in seiner Brust, war nur mehr die Erinnerung an etwas, das doch längst bei ihr war: in ihrer offenen Hand, in ihrer Schürzentasche, zwischen die Streben ihres Bettgestells gequetscht, pochend und heiß vor ihr auf dem Küchentisch.
Und dann geschah es doch. Ein paar qualvolle Wochen nach dem ersten Beben in der Trafik wurde Franz mitten in der Nacht von einem leisen Klopfen aus dem Halbschlaf gerissen. Draußen stand Anezka im kurzen Mantel und fror. Sie sagte nichts. Wortlos ging sie an ihm vorbei und legte sich ins Bett. Das Ausziehen überließ sie ihm. Seine Hände zitterten so stark, dass er eine Ewigkeit brauchte. Nur langsam entblößte sich ihr Körper, bis sie schließlich vor ihm lag, nackt und weich und rund im milchigen Schein des Mondlichts. Nachdem es geschehen war und er wie ein Häuflein Glück auf dem Rücken neben ihr lag, stellte er sich vor, wie er am nächsten Morgen, gleich nach dem Aufstehen, um ihre Hand anhalten würde. Aber als er aufwachte, war sie weg.
Franz beschloss, nun dem zweiten Lösungsvorschlag des Professors nachzugehen und Anezka zu vergessen. Er bemühte sich sehr, doch als nach über drei Wochen immer noch die Abdrücke ihrer kleinen Hände auf seinem Hintern glühten und zwischen jeder zweiten Zeitungszeile geisterhaft ihr Name aufleuchtete und sich schließlich beim Aufwischen der vom Dackel des Kommerzialrates Ruskovetz verlorenen Tropfen aus der Dielenmaserung ganz deutlich zuerst die Konturen ihrer Oberlippenwölbung, dann die ihres Gesichts und zuletzt die ihres Körpers herauslösten, gab er die Sache mit dem Vergessen wieder auf, schmiss stattdessen den Reibefetzen in eine Ecke und stellte sich breitbeinig und mit entschlossen in die Seiten gestemmten Armen vor Otto Trsnjek hin. Es tue ihm leid, sagte er mit kräftig erhobener Stimme, aber es sei einfach nicht mehr auszuhalten. Jetzt gleich, sofort und auf der Stelle müsse er zu einem Doktor, und zwar betreffs seines vom stundenlangen Sitzen auf dem Hocker morsch gewordenen und insgesamt ziemlich schmerzhaft verzogenen Rückgrats. Der Trafikant schraubte seine Füllfeder zu, steckte sie sorgfältig in sein über die Jahre ein bisschen speckig gewordenes Lederetui, beugte sich über das soeben mit einer Reihe dringend benötigten Bestellungen vollgeschriebene Blatt Papier, blies sachte die Tintenschrift trocken, blickte dann über den Brillenrand hinweg auf seinen immer noch unverändert breitbeinig vor ihm platzierten Lehrling und entließ ihn für den Rest des Tages mit den von einem schweren Seufzer angeschobenen Worten: »Na dann schleichst dich jetzt halt meinetwegen!«
Franz ging natürlich nicht zum Arzt, sondern direkt zum gelben Haus in der Rotensterngasse, wo er sich hinter einem der beiden Schutthaufen auf einen niedrigen Stapel bröckliger Ziegel setzte und wartete. Den ganzen Nachmittag über passierte nichts. Zwar gingen ständig Frauen ein und aus, Anezka aber war nicht darunter. Die Stunden vergingen, kurz wanderten ein paar Sonnenstrahlen über den Schutt, es tröpfelte ein bisschen, danach wurde es kühl, und die Abenddunkelheit brach herein. Franz spürte, wie die Feuchtigkeit aus den Ziegeln langsam durch seine Hose hinaufsickerte, und schimpfte still in sich hinein. Wie hatte er nur auf die hirnrissige Idee kommen können, irgendeinem steinalten, fast gewichtslosen und obendrein nach Sägespänen riechenden Professor zuzuhören und sich auf so eine Blödsinnigkeit wie die Liebe einzulassen? Als etwas später der Gasmann kam und die drei letzten noch funktionierenden Laternen in der Straße anzündete, gab er schließlich auf. Mit einem schmatzenden Geräusch hob er seinen feuchten Hintern vom Ziegelstapel, um den Rückzug zur Trafik anzutreten. In genau diesem Moment kam sie aus dem Haus. Sie hielt den Kopf leicht gesenkt, hatte den Mantelkragen hochgeschlagen und ging mit kleinen, schnellen Schritten in entgegengesetzter Richtung die Straße hinunter. Franz kam hinter dem Schutthaufen hervor und folgte ihr in gehörigem Abstand. Genau wie in dem amerikanischen Kriminalfilm mit den zahlreichen gnadenlos-grimmig respektive sehnsuchtsvoll-träumerisch vor sich hinschauenden Männern, den er vor Jahren gemeinsam mit der Mutter während einer gutbesuchten Lichtspielvorführung in St. Georgen gesehen hatte, versuchte er die städtischen Unübersichtlichkeiten für seine Deckung zu nützen: Er drückte sich in Hauseingänge, sprang hinter eine Litfaßsäule, wechselte die Straßenseite, lief ein Stückchen neben einem mit dampfendem Teer beladenen Dieselwagen einher und versteckte sich hinter dem breiten Rücken eines Kanalräumers, der in seinen schweren Schaftstiefeln müde heimwärts stapfte. Anezka überquerte die Weintraubengasse, gelangte auf die Praterstraße und bewegte sich sicher und schnell durch den dichten Verkehr auf das Riesenrad zu. Hinter dem Großen Autodrom bog sie plötzlich rechts ab und verschwand in einem dunklen Seitengässchen. Franz wartete einige Sekunden und bog dann ebenfalls ein. Der Weg war schmal und auf beiden Seiten von einem Zaun begrenzt, dessen Bretter ungewöhnlich hoch ragten und oben nur einen Streifen des sternenlosen Nachthimmels freigaben. Nach etwa zwanzig Schritten öffnete sich der Durchgang zu einem von schmutzigen Mauern umgebenen Hinterhof. In einer Ecke standen ein paar Mülltonnen zusammengerottet wie schlafende Kühe. An einem nackten Draht baumelte eine Glühbirne und verstreute ihr schmutziggelbes Licht. Aus den Augenwinkeln bemerkte Franz eine Bewegung im Halbdunkel einer Mauernische, lautlos und weich, wie ein träges Winken. Es war die Falte eines Vorhanges, der sich im Luftzug bewegte. Darüber klebte ein Plakat: ZUR GROTTE stand darauf in mattgoldenen Lettern. Darunter, kaum noch zu erkennen: TRETEN SIE NÄHER! TRETEN SIE EIN! GEHEIMNIS, LUST UND FREUDE – ALLEINE ODER ZU ZWEI’N! (EINTRITT EINEN SCHILLING)
Franz schob den Vorhang zur Seite und ging hinein. Der Raum war winzig und komplett in dunkelgrünes Licht getaucht. Er musste an den See denken. An die Tauchgänge, die er als Bub so oft unternommen hatte. Unzählige Male war er an heißen Sommertagen nackt auf einem der nach Holz und Sonne duftenden Fischerstege gelegen und hatte so lange dem Rauschen des Schilfs und dem freundlichen Plätschern unter ihm zugehört, bis es nicht mehr auszuhalten war und er sich kopfüber oder mit angezogenen Beinen ins Wasser schmeißen musste. Im Gewirbel seiner eigenen Luftblasen ließ er sich langsam sinken, und um ihn herum wurde es immer stiller und dunkler. Die Stegpfähle waren dicht von Algen und Muscheln besiedelt, dahinter ragten die Schilfrohre in die Höhe. Hin und wieder schaute aus dem Dickicht ein Fisch heraus, eine Schleie meistens oder ein Saibling. Manchmal ließ sich sogar ein Perlfisch blicken, stand für ein paar Sekunden reglos im Wasser, bevor er mit einem einzigen Flossenschlag wieder in der Dunkelheit verschwand. Der kleine Franz saß ruhig am Grund und hörte dem See zu: Er hörte das Rauschen der tiefen Wasserbewegungen, das Gluckern der Oberflächenwellen, hie und da ein Knistern im Schilf und manchmal, aus weiter Entfernung, das dunkle Stampfen der Fährschiffe. Er spürte die weiche Algenwiese unterm Hintern und sah, wie über ihm die winzigen Schwebeteilchen in den Sonnenstrahlen flirrten. Noch Stunden später, wenn er über den Uferweg nach Hause rannte und ihm die Abendsonne ins Gesicht schien, trug er diese stille, grüne Welt als kleine Sehnsucht mit sich.
»Wennst Wurzeln schlagen willst, machst das besser draußen!«
Es war eine alte Stimme, brüchig und hell. Direkt vor Franz, ungefähr in Brusthöhe, erschien der dazugehörige Kopf. Er war völlig kahl, und auch die Augenbrauen fehlten, was ihm unter der grünen Beleuchtung etwas Eidechsenhaftes verlieh.
»Einen Schilling, wennst dir das Programm anschauen willst. Wenn nicht: Der Ausgang ist da, wo grad noch der Eingang war!«
Erst jetzt erkannte Franz den Kassenverschlag: eine kleine, rechteckige Öffnung in der Wand. Im Halbdunkel dahinter saß die Echse und starrte zu ihm heraus.
»Einmal Programm, bitte!«, sagte Franz und legte einen Schilling auf das Kassenbrettchen. Die Echse nahm das Geld und hielt ihm eine Eintrittskarte entgegen: »Freie Platzwahl, keine Pause, viel Vergnügen!«
Eine unaufällige Tapetentür öffnete sich, und Franz ging hindurch. Der Raum dahinter war viel größer, als er erwartet hatte, und vollkommen rot. Die Decke, die Lampenschirme, der abgetretene Teppich, die Tapeten, alles war in ein weiches Dunkelrot getaucht, das im Schattenspiel von unzähligen Kerzen flackerte. Hinter einem verspiegelten Tresen hantierte ein Mädchen mit Flaschen und Gläsern. Sie war höchstens sechzehn Jahre alt, hatte eine fingerlange Narbe an der rechten Wange und die platte Nase eines Boxers. Etwa zwanzig runde Tischchen standen im Raum verteilt, nur wenige davon waren besetzt – soweit Franz erkennen konnte, ausschließlich von einzelnen Männern. Das Kerzenlicht beflackerte einen behaarten Nacken, eine faltige Stirn, eine Arbeiterhand, an deren Rücken trockener Lehm klebte, den abgewetzten Kragen am Sakko eines alten Mannes.
Franz setzte sich an einen freien Tisch, das Mädchen kam und er bestellte ein Krügel Helles. Sie brachte das Bier, stellte wortlos auch noch eine Schale mit Nüssen vor ihn hin und verschwand wieder hinter dem Tresen. Einige Minuten verstrichen, dann ging plötzlich ein Scheinwerfer an und beleuchtete eine winzige Bretterbühne am anderen Ende des Raumes. Eine Tür öffnete sich und ein kleiner Mann im Smoking trat ins Licht. Er war dürr und runzlig, aber trotz seines Alters voller sprühender Energie. Er verbeugte sich mit einem Lächeln, kippte gleich darauf einfach nach vorne, vollführte einen halsbrecherischen Purzelbaum, stand im nächsten Moment wieder kerzengerade da und begann zu reden. Von den Zuständen in der lieben Wienerstadt sprach er, von diesem riesengroßen Kindergarten, in dem sich der Schuschnigg-Bub und seine Spielkameraden so gerne austoben würden, aber schon längst nicht mehr dürften; von den kleinen Nazis, die sich im Sandkasten so gerne mit den kleinen Sozis prügelten, und von den kleinen Katholiken, die still daneben stünden, in ihre Windeln schissen und nachher den großdeutschen Kindergartentanten alles beichteten. Er sprach schnell, in einem rasenden Stakkato und scheinbar ohne Luft zu holen, verlor dabei aber nie sein Lächeln. Mit einem Mal ging ein Ruck durch seinen Körper, und er fiel auf die Knie. Mit theatralischer Langsamkeit legte er seine Handflächen aneinander, blickte ins Scheinwerferlicht hinauf und begann zu beten:
»Lieber Gott, mach mich stumm,
dass ich nicht nach Dachau kumm.
Lieber Gott, mach mich taub,
dass ich an unsre Zukunft glaub.
Lieber Gott, mach mich blind,
dass ich alles herrlich find:
Bin ich erst taub und stumm und blind,
bin ich Adolfs liebstes Kind …«
Die Männer lachten, einige klatschten, jemand winkte nach der Kellnerin, jemand rief ihr ein paar gut gemeinte Frechheiten hinterher. Auch Franz lachte. Obwohl er sich insgeheim nicht sicher war, wirklich alles genau verstanden zu haben. Aber es war eben auch so komisch, wie dieser kleine Mann dort vorne auf den Brettern kniete und voller Demut zur Decke schaute. Genau wie die alten Krähenweiber mit ihren schwarzen Kopftüchern und Rosenkränzen und Gebetsbüchern vor dem Nußdorfer Kapellenaltar, dachte Franz und steckte sich drei Nüsse in den Mund. Auf der Bühne ging es schon wieder weiter.
Der Mann katapultierte sich in den Stand zurück, wandte sich ab und werkelte mit schnellen Bewegungen in seinem Gesicht herum. Als er sich wieder umdrehte, ging ein Raunen durchs Publikum. Im staubflirrenden Scheinwerferkegel stand Adolf Hitler. Ein paar Striche durch die Haare, ein bisschen Kohle an den Augen und ein angeklebtes Rechteck an der Oberlippe hatten genügt, einen Mann im Smoking in den deutschen Reichskanzler zu verwandeln. Hitlers Augen glänzten wie die dunklen Muscheln, die Franz so oft von den Schilfrohren gepflückt hatte, um sie dann aufzuknacken und an die Katzen zu verfüttern oder den Mädchen in ihre Haare zu schmieren. Mit einem Knall schlug er die Hacken zusammen, riss seinen Arm zum Gruß empor und reckte das Kinn nach vorne. Franz musste an den Professor denken, dessen Kinn dem Rest seines Körpers immer ein wenig voraus zu sein schien. Komisch, dachte er, aber vielleicht hatte er da gerade eine kleine Gemeinsamkeit zwischen diesen beiden sonst eigentlich recht unterschiedlichen Männern entdeckt. Hitler erbat sich mit einer gebieterischen Geste Ruhe im Publikum und begann eine Rede zu halten. Es ging um die Dummheit des Orients und den mutig dagegengehaltenen Widerstandswillen der arischen Rasse, um die Rettung Österreichs vor der Bosheit des Balkans, um die Rettung Europas vor der Gefräßigkeit des Bolschewismus, um die Rettung der Welt vor der nimmersatten Gier des internationalen Judentums und so weiter. Das alles hatte Schwung und klang außerdem auch noch irgendwie vernünftig. Doch mit der Zeit fing er an, sich immer mehr in Rage zu reden, und bald verwandelte sich der anfangs noch verständliche Redeschwall in ein unartikuliertes und abgehacktes Gebrüll. Der Reichskanzler keifte und geiferte, dass die Spucketröpfchen nur so flogen. Er zog seinen Kopf zwischen die Schultern, mahlte mit dem Kiefer und fletschte die Zähne. Gleichzeitig krümmte er sich zusammen, beugte seinen Oberkörper und ging in die Knie. Dabei buckelte er und ballte seine Hände zu verkrampften Fäusten. Ein glitzernder Speichelfaden hing von seiner Unterlippe und tropfte auf die Bühnenbretter. Er ließ sich nach vorne fallen, stemmte Knie und Fäuste auf den Boden und starrte mit einem leisen Knurren ins Publikum. Sein Hinterteil senkte sich, mit einem kehligen Geräusch holte er Luft und spannte seine Muskeln zum Sprung an. Plötzlich stand das Narbenmädchen da. »Platz!«, sagte sie mit ruhiger Stimme, und er gehorchte. Mit einem Winseln legte er seinen Kopf zwischen die Vorderbeine und blickte zu ihr auf. Sie hob die Hand, und für einen Moment hatte es den Anschein, als wolle sie ihn schlagen, mit offener Hand mitten hinein in das dumme Hundegesicht. Doch dann lächelte sie. »Braver Adi, lieber Hund!«, sagte sie und kraulte ihn liebevoll hinterm Ohr. Sie zog eine Leine aus ihrer Schürzentasche, legte sie um seinen Hals und ging, das Tier bei Fuß und unter dem Beifall der Leute, in Richtung Ausgang. Kurz vor der Tür sprang Adi auf, riss sich das Bärtchen von der Lippe und gab der Kellnerin einen schmatzenden Kuss auf die Wange. Die beiden verbeugten sich, und der Conférencier kündigte die nächste Nummer an:
»Meine Damen und Herren, oder vielmehr: meine damenlosen Herren, ich bin überglücklich, Ihnen eine Weltsensation von allererstem Rang präsentieren zu dürfen! Hinter den hitzeflimmernden Wüsten der Neuen Welt, inmitten der endlosen Weiten der Prärie, an einem Ort, wo der Kojote heult, der Adler seine majestätischen Kreise zieht und allabendlich der Staub gewaltiger Bisonherden das Rot der untergehenden Sonne verdunkelt, an einem Ort, so abgeschieden, wie es nur Hölle oder Paradies sein können, wo die Lachse dem Bären direkt ins gierige Maul springen und unter dem heißen Stein die tückische Schlange klappert, an einem solchen Ort haben wir sie gefunden: nackt und schutzlos im hohen Gras, den mächtigen Naturgewalten ausgeliefert, ein einsames Menschenkind, das zitternde Herz geborgen im erwachenden Körper einer jungen Frau, die letzte Überlebende einer untergegangenen Welt jenseits unserer Zivilisation, einer Welt, in der die Menschheit noch in der ewigen Freiheit der Natur lebte, ganz dem Augenblick hingegeben, ohne Tabus, ohne Schuld und ohne Scham. Meine verehrten Herren, bitte begrüßen Sie mit mir, heute Abend, hier und jetzt: N’Tschina, die scheue Schönheit aus dem Indianerland …!«
Die Männer ruckelten ihre Hintern auf den Stühlen zurecht, tranken einen letzten Schluck und leckten sich den Bierschaum von den Lippen. Unterdessen hatte das Narbenmädchen auf einem Rolltisch ein riesiges Grammofon zur Bühne geschoben. Der Conférencier legte eine Schallplatte auf und ließ mit einer zärtlichen Bewegung den Tonarm darauf nieder. Aus der Tiefe des Trichters drang ein geheimnisvolles Rauschen, dann setzte die Musik ein. Franz hielt den Atem an. Ein einzelnes Nüsslein rutschte ihm aus dem Mund und fiel in seine Schale zurück. Noch nie hatte er etwas Ähnliches gehört. Das Grammofon schien die Töne nur unter Schmerzen herauszupressen, der Rhythmus war langsam und stampfend, die Melodie schwermütig, und nur gelegentlich brach ein einzelner, heller Ton daraus hervor. Dann kam der Gesang. Es war unmöglich zu erkennen, ob die Stimme einem Mann oder einer Frau gehörte. Sie war tief, rau und brüchig. Ein Raunen, Klagen und Schluchzen, das von einer fernen Welt zu erzählen schien und sich nur durch irgendeinen komischen Zufall in diese verrauchte Pratergrotte verirrt hatte. Für einen Moment hatte Franz das Gefühl, tief in seinem Inneren öffne sich ein unendlich weiter Raum, gefüllt mit nichts als Traurigkeit. Komisch, dachte er und schloss die Augen, aber aus irgendeinem Grund fühlt sich dieser unendlich weite, mit nichts als Traurigkeit gefüllte Raum gar nicht einmal so schlecht an. Vielleicht, dachte er weiter, könnte man sich da einfach hineinfallen lassen und tiefer und tiefer in sich selbst versinken und nie wieder an die Oberfläche zurückkehren. In diesem Moment hopste der Tonarm mit einem kratzenden Geräusch über die Platte, die Stimme stolperte und Franz öffnete wieder die Augen. Direkt vor ihm, mitten im Scheinwerferlicht, stand die Indianerin. Sie stand mit dem Rücken zum Publikum und bewegte sich nicht. Ihr Haar war pechschwarz und lief in langen, glatten Strähnen über Schultern und Rücken. An einem ledernen Stirnband war eine Feder befestigt. Ihre nackten Arme hatte sie in die Hüfte gestemmt, die Hände ruhten am Saum eines kurzen, bunt bestickten Fransenrocks. Sie war barfuß, und um die Fußgelenke waren schmale Lederbänder gewickelt, an denen winzige Glasperlen glitzerten. Ihre Beine glänzten im Licht. Es waren feste Beine, glatt, rosig und rund. Doch es waren vor allem die Kniekehlen, an denen er sie erkannte. In diesen Kniekehlen hatte er vor gar nicht allzu langer Zeit noch sein Gesicht vergraben, hatte sie mit der Zungenspitze Millimeter für Millimeter abgetastet, um sich dann auf die Reise in höher gelegene Gebiete zu begeben. Diese Kniekehlen waren weicher als alles, was Franz bisher kennengelernt hatte. Weicher als der See an einem stillen Spätsommertag, weicher als das Moos im Nußdorfer Süduferwäldchen und weicher sogar als die Hand seiner Mutter, die früher so oft an seiner Wange gelegen hatte, zum Trost, zur Belohnung oder einfach nur so, eine kurze Berührung, wie zufällig, im Vorübergehen.
Die Stimme aus dem Grammofon würgte ein raues Schluchzen hervor und im selben Moment fing Anezka an, sich zu bewegen. Zuerst war es nur das Wippen eines Fußes, dann begannen ihre Beine zu zucken, und gleich darauf schaukelte ihr Hintern sanft auf und ab. Sie hob ihre Arme und schwang sie langsam über dem Kopf. Die Trommelschläge aus dem Grammofon schienen ihren Körper direkt zu treffen, jeder Takt ein neuer kleiner Einschlag. Plötzlich drehte sie sich um. Ihr Gesicht war mit gelben und roten Streifen bemalt. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet und verlor sich irgendwo über den Köpfen der Männer. Ihr Haar bedeckte ihre Brüste vollständig. Sie warf den Kopf in den Nacken, lachte zum Scheinwerfer hinauf und breitete die Arme aus, als wollte sie das Licht umarmen. Dann fing sie an, im trägen Rhythmus der Musik zu stampfen. Die Glasperlen an ihren Füßen klickerten und die Feder auf ihrem Kopf hüpfte im Takt. Franz sah, wie ein einzelner Schweißtropfen unter ihrem Haaransatz hervorschlüpfte, die Stirn hinunterlief und an einer der pechschwarz gefärbten Augenbrauen hängenblieb. Die Zuschauer wurden immer unruhiger, ein Mann begann mit beiden Händen auf seine Schenkel zu schlagen, aus dem Halbdunkel einer Nische drang ein heiseres Husten. Anezka stampfte auf die Bretter, dass sich der Staub zu kleinen Wölkchen verwirbelte, doch im nächsten Augenblick hatte sich ihr Körper wieder beruhigt, wiegte und schaukelte sacht hin und her. Plötzlich fasste sie mit beiden Händen in ihr Haar, teilte es und ließ es auf beiden Seiten über die Schultern nach hinten fallen. Es war eine einfache Bewegung, so selbstverständlich wie das Öffnen eines Vorhangs, doch die Wirkung war enorm. Einige Männer lächelten blöde. Andere erstarrten. Einer lachte hell auf. Ein anderer ließ sich wie von einer schweren Last befreit nach hinten gegen seine Stuhllehne fallen. Franz starrte auf Anezkas Brüste. Noch vor Kurzem hatte er mit dem Gesicht zwischen ihnen gelegen, hatte glücklich in diese unendlich zarte Mulde hineingeschnauft und sich auf merkwürdige Art zuhause gefühlt. Jetzt prangte ihr Busen in aller Öffentlichkeit herum. Ein Allgemeingut. Eine Sehenswürdigkeit. Das Schlimmste aber war, dass sie es zu genießen schien. Sie räkelte sich im Licht und schaukelte ihre Brüste, als wäre es eine angenehme Selbstverständlichkeit. Und vielleicht war es das ja auch. Mit einem koketten Lachen warf sie den Kopf abermals in den Nacken, drehte sich um, fasste sich an ihren Fransenrock und lüftete ihn langsam. Es war, als ob der Mond aufginge, raunend begrüßt oder still angestaunt von den Gestalten hinter ihren Tischen, in der Sicherheit ihrer dunklen Nischen. Franz fühlte, wie sich sein Herz zu einem Knoten zusammenzog. Er nahm sein Bier, drückte das kühle Glas gegen seine Schläfe, stellte es wieder ab, legte einen Geldschein auf den Tisch und verließ die Grotte, ohne einen weiteren Blick auf die Bühne zu werfen.
Draußen war es unerwartet warm. Bald würde Frühling sein. Im Hof roch es nach feuchten Mauern und Abfall. Franz setzte sich auf eine der Mülltonnen und sah zu der schmutzigen Glühbirne hinauf. Ein kleiner Nachtfalter flatterte wie verrückt um sie herum. Manchmal schlugen seine Flügel gegen die Fassung oder gegen den Draht und erzeugten ein seltsam papierenes Geräusch. Doch dann berührte er das heiße Glas, und für einen Moment sah es aus, als würden seine Flügel glühen. Er stürzte ab wie ein kleiner Schatten, der vom Himmel fällt.
Die Grotte leerte sich nur allmählich. Ein Mann nach dem anderen trat ins Freie und torkelte durch die schmale Bretterzaungasse seinen alkoholvernebelten Fantasien hinterher. Niemand schien Franz zu bemerken, auch nicht die Echse und das Narbenmädchen, die kurz hintereinander das Etablissement verließen. Als Letzte kamen Anezka und der Conférencier heraus. Er schloss ab, legte seine Hand an ihre Wange, strich mit dem Daumen kurz unter ihrem Auge entlang und sagte irgendetwas. Sie lachte leise auf und steckte sich eine Zigarette an. In diesem Moment sprang Franz von der Tonne. Der Mann bückte sich blitzschnell, fasste unter sein Hosenbein und zog ein schmales Messer aus einem an seiner Wade befestigten Lederetui.
»Bleib stehen«, sagte er ruhig, »sonst schlitz ich dich auf. Und zwar vom Gürtel bis zum Kinn und wieder zurück!«
Die Klinge schimmerte matt im Schein der Glühbirne. Eine Weile war es still im Hinterhof. Nur in einer der Mülltonnen raschelte es leise.
»Stecks weg, Heinzi«, sagte Anezka, »ich kenn den.«
Der Conférencier zögerte kurz, ließ dann aber sein Messer wieder unter dem Hosenbein verschwinden.
»Ist jetzt gut, Heinzi«, sagte sie, »muss ich sprechen mit ihm!« Er schien einen Augenblick nachzudenken. Schließlich trat er einen Schritt an Franz heran und blickte ihm direkt in die Augen. An seinem linken Ohrläppchen glänzte ein geschliffener Stein, der von innen heraus wie von einer winzigen blauen Flamme erleuchtet schien. Sein Rasierwasser roch nach Lavendel.
»Du, ich kenn dich nicht«, sagte er leise. »Und es wär auch gescheiter, wenn wir uns nie kennenlernen. Hast mich verstanden?« Franz nickte.
»Dann ist es gut«, sagte Heinzi. Er warf Anezka einen schnellen Blick zu und entfernte sich durch die Gasse.
Anezka öffnete den Mund und ließ langsam den Zigarettenrauch entweichen. Für ein paar Augenblicke verschwand ihr Gesicht hinter einem bläulichen Schleier.
»Was machst da, Burschi?«
Franz zuckte mit den Schultern. »Hab mir das Programm angeschaut.«
»War scheen?«
»Geht so. Ist die Feder echt?«
»Genauso echt wie Haare.«
»Und er?«
»Was ist mit er?«
»Wer ist das?«
»Monsieur de Caballé.«
»Ich hab gedacht, er heißt Heinzi!«
»Auf Bühne heißt Monsieur de Caballé. Draußen heißt Heinzi. So ist Showgeschäft, Burschi!«
»Aha. Und was macht er so?«
»Hast du geschaut. Macht Programm.«
»Programm?«
»Programm und Spaß und Kabarett.«
»Und sonst?«
»Was sonst?«
»Was macht er nach der Vorstellung? Immer noch Programm und Spaß und Kabarett – mit dir zusammen vielleicht?«
Anezka zuckte mit den Schultern, suchte kurz mit ihrer Zunge im Mund herum und spuckte dann ein hellbraunes Tabakbrösel aufs Pflaster.
»Ist Kollege, verstehst du.«
»Natürlich versteh ich!«, rief Franz aus, »ich versteh sogar sehr gut! Ich hab ja gesehen, wie ihr beiden Turteltauberln aus eurem Verschlag geflattert seid!«
»Geflattert?«
»Geflattert! Und eines ist ja wohl sowieso klar: Der Herr de Caballé hat nicht nur ein Messer in seiner Hose, stimmts?«
»Manche haben was in Hose, manche nicht!«
»Was soll denn das heißen?«
»Wer bleed fragt, kriegt bleede Antworten, Burschi!«
»Ich heiß nicht Burschi, ich heiß Franz!«, schrie Franz und trat mit solcher Wut gegen eine Mülltonne, dass die laut scheppernd umkippte, in einem weiten Bogen über den Hof kollerte und erst knapp vor der gegenüberliegenden Wand zum Stillstand kam.
»Schleich dich, Heinzi!«, sagte Anezka ruhig. Ihr Blick lag auf dem Gassenausgang, wo für einen Moment der Schatten des Conferenciers aufgetaucht war und sich jetzt langsam wieder zurückzog. Franz starrte auf die stinkende Drecksspur, die die Tonne hinterlassen hatte.
»Gehörst du zu ihm?«, fragte er düster.
»Ich geheer zu keinem. Nicht einmal zu mir selber!«
Franz sah auf seine Schuhe hinunter. Das Leder war abgewetzt und rissig, und an den Kuppen begannen sich schon die Nähte zu lösen. Plötzlich fühlte er, wie irgendwo in ihm eine kleine Bosheit aufstieg und sich mit aller Macht vor seine Verzweiflung drängelte.
»Ich geb dir fünf Schilling, wenn du mir noch einmal deinen Hintern zeigst!«, sagt er. »Unter der Glühbirne sieht der sicher auch nicht schlecht aus!«
Kaum hatte er den Satz ausgesprochen, kam er sich vor wie ein Idiot. Ein dummer Bauernbub, ein lächerlicher Trafikantenlehrling, bei dem sich schon die Nähte zu lösen begannen.
»Entschuldigung«, sagte er leise.
»Ist schon gut, Burschi.« Anezka hielt ihre Zigarette gegen das Licht und blickte dem Rauch nach, der wie ein zittriger Faden senkrecht aufstieg und sich irgendwo auf Höhe der Dachrinnen verkräuselte.
»Ich heiße nicht Burschi«, sagte Franz mit tonarmer Stimme. Anezka schnippte ihre Zigarette weg und trat ganz nah an ihn heran. Ihr Atem roch nach Pfefferminz und Zigarettenrauch. Am Kragen ihres Mantels hing ein langes, schwarzes Haar. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Stirn. Dann drehte sie sich um und ging. Eine Weile hörte er, wie ihre Schritte in der Gasse davonklapperten und langsam leiser wurden. Auf dem Boden direkt unter der Glühbirne lag der tote Falter. Franz bückte sich, hob ihn mit den Fingerspitzen vom Boden und wickelte ihn behutsam in ein Taschentuch.
(Karte mit prächtig blühendem Rosendurcheinander und drei schneeweißen Tauben im Stadtpark)
Liebe Mama,
gestern hab ich es aus bestimmten Gründen nicht mehr ausgehalten und bin zum Westbahnhof wegen einer Karte nach Timelkam – ohne Rückfahrt. Die Frau hinterm Schalter hat nur gesagt zwei Schilling bitte, und sich dabei die Nägel lackiert. Und da ist etwas Komisches passiert: die Wurschtigkeit dieser Frau hat meine Sturheit gereizt. Und da hab ich ihr gesagt, sie soll sich ihre Karte sonstwohin stecken und bin wieder gegangen. So eine Wurschtigkeit darf sich nämlich nicht überall breitmachen, hab ich mir gedacht. Außerdem: Was wär dann mit der Trafik? Und mit dem Otto Trsnjek? Und mit dem Professor? Man hat ja mittlerweile eine Verantwortung, oder nicht?
Dein Franz
(Karte mit Entenfamilie im Vordergrund und rosig von der Morgensonne beschienenem Schafberg im Hintergrund)
Lieber Franzl,
ich glaube, ich kenne Deine »gewissen Gründe« ganz gut. Aber lass Dir eines sagen: Die Gründe von heute sind morgen schon die Gründe von gestern und spätestens übermorgen sind sie vergessen. Wahrscheinlich hätte mich vor Freude der Herztod erwischt, wenn Du auf einmal vorm Küchenfenster gestanden wärst. Trotzdem bin ich stolz auf Dich, weil du eben nicht gefahren bist. Ja, man hat eine Verantwortung! Vor allem für das eigene Gewissen. Und Heimkommen tut man sowieso noch früh genug. Es umarmt und drückt Dich so fest sie kann,
Deine Mama
»Ich bin ein Nichts. Ein wertloses Stück Dreck. Eine Fußmatte für die Abtritte der Menschheit. Ein Abfallkübel, bis über den Rand angefüllt mit schlechten Gedanken, schlechten Gefühlen und schlechten Träumen. So ist das. Obendrein bin ich unansehnlich. Unschön. Ungustiös. Und dick. Oh mein Gott, bin ich dick! Ein dickes, fettes Nilpferd. Ein plumpes, tonnenschweres Walross. Eine krankhaft ausgefressene Elefantenkuh. Das Einzige, was nach meinem Tode noch von mir übrig sein wird, ist ein teichgroßer Fettfleck. Ach, Herr Professor, wenn ich doch nur schon tot wäre! Wenn es doch nur endlich schon aus, vorbei und überstanden wäre!«
Mrs. Buccleton brach wieder in Schluchzen aus. Ihr Kinn zitterte, ihre Wangen wackelten, ihr ganzer Körper begann zu beben. Tatsächlich war sie stark übergewichtig und auch ansonsten keine Schönheit. Das einzig Beachtenswerte an ihr waren, neben ihrer Körperfülle, die zumeist weit aufgerissenen, hellblauen Kinderaugen, die beständig bereit schienen, sich beim geringsten Anlass mit Tränen zu füllen. Mrs. Buccletons Hysterie war geradezu idealtypisch. Sie war Amerikanerin, schwerreich, fünfundvierzig Jahre alt und stammte aus einer sonnigen, aber öden Kleinstadt im Mittelwesten. Vom früh verstorbenen Vater verhätschelt, von ihrer Mutter nie gemocht, von ihren beiden Ehemännern betrogen und verlassen, hatte sie versucht, ihren lebenslangen Kummer unter Bergen von Schweinesülze, Pasteten und Kirschkuchen zu begraben. Seit sie die Ordination vor ein paar Monaten zum ersten Mal betreten hatte, waren ihre Fortschritte mäßig. Stets kam sie als aufrechte Dame von Welt, doch kaum hatte sie sich aus ihrer von einem weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Übergrößenschneider maßgefertigten Lodenjacke helfen lassen und sich vor Anstrengung leise pfeifend auf die Couch hinabgesenkt, verwandelte sie sich in ein hilfloses und weinerliches Kleinkind, das noch dazu mit seinen Tränen und seiner Schminke die teuren Polsterüberzüge verschmierte. Seltsamerweise mochte Professor Freud sie trotzdem. Aus irgendeinem Grunde vermutete er unter ihrer nervtötenden Attitüde und der dicken Speckschicht einen virilen Geist und ein offenes Herz. Außerdem zahlte sie pünktlich und in Dollar.
»Erzählen Sie weiter«, sagte er. Wie immer saß er am Kopfende der Couch und beobachtete das leichte Wippen seiner eigenen Schuhspitze.
»Und ich werde von Tag zu Tag fetter!«, fuhr Mrs. Buccleton fort. »Auch diesen Monat habe ich wieder ein paar Kilo zugenommen. Meine Kleider passen mir nicht mehr. Besser gesagt: Ich passe nicht mehr in meine Kleider. Aber mittlerweile schäme ich mich ja, zum Schneider zu gehen. Ich schäme mich, überhaupt irgendwohin zu gehen. Ich schäme mich vor meinem eigenen Spiegelbild. Und vor allem schäme ich mich, jetzt hier vor Ihnen zu liegen, Herr Professor!«
Freud lehnte sich noch ein Stückchen weiter zurück. Der einzig wahre Grund, warum er sich während all der ungezählten Therapiesitzungen in den vergangenen Jahrzehnten hinter das Kopfende der Couch zurückgezogen hatte, war der, dass er es nicht ertragen konnte, eine Stunde lang von seinen Patienten angestarrt zu werden, beziehungsweise selbst in ihre hilfesuchenden, verärgerten, verzweifelten oder von irgendwelchen sonstigen Gefühlen verzerrten Gesichter blicken zu müssen. Gerade in letzter Zeit fühlte er sich oft überfordert von den erschöpfenden Stunden mit seinen Patienten und betrachtete ratlos deren Leid, das bei jedem Einzelnen die ganze Welt zu umfassen schien. Wie hatte er jemals auf die geradezu absurde Idee kommen können, diese Leiden verstehen zu wollen oder sie gar lindern zu können? Was für ein Teufel hatte ihn geritten, den Großteil seines Lebens der Krankheit, der Bedrückung und dem Elend zu widmen? Er hätte Physiologe bleiben und mit seinem Skalpell in aller Ruhe Insektenhirne in hauchdünne Scheiben schneiden können. Oder Romane schreiben, aufregende Abenteuergeschichten, die in fernen Ländern und alten Zeiten spielten. Stattdessen saß er jetzt hier und betrachtete aus dem Schatten seiner Sitzecke heraus Mrs. Buccletons runden Kopf. Ihr blondiertes Haar war an den Wurzeln grau, und ihre Nasenflügel bebten, während sie leise schniefte. Von hier aus gesehen, wirkte Mrs. Buccletons Nase wie ein dickliches Tierchen, das, ausgesetzt in einer unbekannten und bedrohlichen Wildnis, ängstlich vor sich hin bibberte. Irgendetwas daran rührte Freud. Gleichzeitig ärgerte ihn seine eigene Rührung. Es waren immer diese scheinbaren Kleinigkeiten und Nebensächlichkeiten, die ihn die mühsam aufgebaute Distanz zu seinen Patienten vergessen ließen: das zerknüllte Taschentuch in der Hand eines Generaldirektors, die verrutschte Perücke einer alten Lehrerin, ein offener Schuhriemen, ein leises Schlucken, ein paar verlorene Worte oder eben jetzt Mrs. Buccletons zitternde Nase.
»Sie schämen sich also«, sagte er. »Wofür schämen Sie sich?«
»Für alles. Für meine Beine. Für meinen Nacken. Für die Schweißflecken unter meinen Achseln. Für mein Gesicht. Für mein ganzes Auftreten. Sogar zuhause, alleine unter meiner Bettdecke, schäme ich mich. Ich schäme mich für alles, was ich tue, habe und bin.«
»Hm«, meinte Freud, »und wie verhält es sich mit Ihrer Lust?«
»Wie bitte?«
»Was ist mit Ihrer Lust? Empfinden Sie nicht auch manchmal so etwas wie Lust?«
Mrs. Buccleton dachte nach. Draußen im Hof öffnete jemand ein Fenster, kurz war das Gekeife zweier Frauenstimmen zu hören, dann war es wieder still. Freud ließ den Blick über seine Antiquitätensammlung gleiten. Man müsste wieder einmal abstauben, dachte er, und zwar gründlich. Der Terrakotta-Reiter hatte schon eine dünne Staubschicht auf dem Schädel, und vom linken Ohr des chinesischen Wächters glaubte er sogar einen zart schimmernden Spinnwebfaden hängen zu sehen. Vielleicht, so dachte Freud weiter, würde auch seine Büste irgendwann in irgendeinem Zimmer stehen und still darauf warten, dass ihr jemand mit einem feuchten Tuch den Staub von der Glatze wischte.
»Ich empfinde Lust beim Essen«, sagte Mrs. Buccleton, »zum Beispiel beim Essen von großen Tortenstücken.«
»Oh«, sagte Freud und ließ langsam sein Kinn auf die Brust sinken.
»Da haben wir es!«, rief Mrs. Buccleton aus und warf triumphierend beide Arme in die Höhe.
»Was haben wir?«
»Sie verachten mich!«
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Ihr ›Oh‹ hatte einen verächtlichen Unterton! Entwertend und verächtlich! Außerdem haben Sie Ihren Kopf nach vorne sinken lassen. Glauben Sie, ich hätte es nicht bemerkt? Ich kenne das Geräusch der Barthaare auf Ihrem Kragen!«
Unwillkürlich richtete sich Freud in seinem Sessel auf und reckte das Kinn nach vorne. Doch schon im nächsten Augenblick ärgerte er sich wiederum über seine eigene kleine Unsicherheit, über dieses lächerliche Gefühl, ertappt worden zu sein, wie ein Volksschüler beim Grimassenreißen hinter dem Rücken seiner Lehrerin.
»Meine liebe Mrs. Buccleton, lassen Sie sich Folgendes sagen«, knurrte er mit der ganzen ihm gerade zur Verfügung stehenden Freundlichkeit, »mein ›Oh‹ hatte weder einen entwertenden noch einen verächtlichen noch irgendeinen anderen Unterton. Mein ›Oh‹ war vielmehr nur der zum Laut geformte Ausdruck meiner Aufmerksamkeit. Und wenn mein Kopf hin und wieder der Schwerkraft nachgibt, so möchte ich Sie bitten, ihm gnädigst zu verzeihen: Er ist mittlerweile über achtzig Jahre alt, hat viel gearbeitet in seinem Leben und ruht auf einer Reihe ziemlich morscher Halswirbel.«
»Es tut mir leid, Herr Professor«, schniefte Mrs. Buccleton kleinlaut.
»Um auf unser Thema zurückzukommen, Verehrteste«, fuhr Freud streng fort, »die Scham und die Lust sind wie Geschwister, die Hand in Hand durchs Leben gehen – wenn man sie nur lässt. Aus Gründen, die sich noch im Dunkel Ihrer Vergangenheit verbergen, die ich aber in absehbarer Zeit mit Ihrem gütigen Beistand ins Licht der Erkenntnis zu heben gedenke, gedeiht bei Ihnen nur eines der Geschwisterchen, während das andere verkümmert und allerhöchstens in irgendwelchen Konditoreien zu seinem Recht gelangt.«
»Meinen Sie?«
»Ja, das meine ich.«
»Aber was kann ich tun, um dem armen Ding zu seinem Recht zu verhelfen?«, fragte Mrs. Buccleton hoffnungsvoll.
Freud beugte sich nach vorne, verschränkte die Arme vor der Brust und sah seiner Patientin mit seinem durchdringendsten Blick in die Augen: »Hören Sie auf, Torten zu essen!«
Mit einem aus den tiefsten Tiefen ihrer Seele aufsteigenden Schmerzenslaut, warf Mrs. Buccleton ihren schweren Körper herum, sodass die Couchbeine knacksten, das Parkett erbebte und das Heer der Antiquitäten in den Regalen zu zittern und zu hüpfen begann, als wäre es nach all den starren Jahrhunderten endlich zum Leben erwacht.
Nachdem Mrs. Buccleton gegangen war, stand der Professor noch eine Weile am Fenster und sah in den Hof hinunter. Es war warm geworden in den letzten Tagen, der Schnee war längst geschmolzen, und bald würden die Kastanien austreiben. Gestern hatte sich Schuschnigg mit einer großen Rede an sein Volk gewandt. In seiner Heimatstadt Innsbruck präsentierte er sich im zünftigen Tiroler Anzug und fragte seine Zuhörer, ob sie sich in der für den 13. März angekündigten Volksabstimmung für ein »freies, deutsches, unabhängiges, soziales, christliches und vereintes Österreich« entscheiden wollten. Und während über zwanzigtausend Anhänger ihre Zustimmung in die klare Tiroler Bergluft hinausbrüllten, saß Adolf Hitler wahrscheinlich gerade irgendwo in Berlin vor dem Radio und leckte sich die Lippen. Österreich lag vor ihm wie ein dampfendes Schnitzel auf dem Teller. Jetzt war die Zeit, es zu zerlegen. In Wien war es nach Schuschniggs Rede zu heftigen Zusammenstößen zwischen Anhängern und Gegnern gekommen. Die Patrioten schwärmten in die ganze Stadt aus und brüllten: »Heil Schuschnigg!« und »Wir stimmen mit Ja!« Doch mit der Macht einer stummen Masse im Rücken krochen jetzt auch die Nationalsozialisten wieder aus ihren Löchern und liefen lärmend durch die Straßen: »Heil Hitler!«, schrien sie, »Ein Volk! Ein Reich! Ein Führer!« Bis in die frühen Morgenstunden hallte das Gebrüll vereinzelter Zusammenrottungen in den Straßen wie wütendes Hundegebell.
Unten im Hof tauchte Frau Szubovic auf, die tratschsüchtige Hausmeistergattin, winkte zum Professor hinauf und fing an, Taubengift in die Ecken zu streuen. Freud tat, als ob er sie nicht gesehen hätte, und trat schnell einen Schritt ins Zimmer zurück. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich unbeantwortete Briefe. Die ganze Welt schien etwas von ihm zu wollen. Die Leute hätschelten ihre kleinmütigen Sorgen und hatten noch gar nicht begriffen, dass unter ihnen die Erde glühte. Er nahm einen der unscheinbareren Briefe in die Hand und öffnete ihn: »Hochverehrter Herr Professor Dr. Sigmund Freud! Im nächsten Jahr erscheint in unserem allseits bekannten und beliebten Verlag Erdenwerk eine Anthologie mit dem vorläufigen Arbeitstitel Heimische Obstgärten als Orte der inneren Einkehr. Zu diesem Anlass erlauben wir uns, Sie, verehrter Herr Professor, zu bitten, ein kurzes Essay zum Thema oder zumindest ein paar Grußworte …« Mit einer müden Bewegung zerknüllte er den Brief und warf ihn in Richtung Papierkorb. Das Knäuel prallte vom Korbrand ab, kullerte über den Parkettboden zurück und landete direkt vor seinen Füßen. Kurz verspürte er den Drang, es mit einem wilden Tritt durchs Zimmer zu pfeffern, doch im selben Moment pochte es an der Tür. Es war unverkennbar seine Tochter Anna. Martha klopfte, Anna pochte.
»Was gibts?«, murrte der Professor.
»Er ist wieder da.«
»Wer?«
»Der Trafikantenbub.«
Freuds Gesicht hellte sich auf. Eigentlich hatte er sich in Gegenwart sogenannter »einfacher Leute« immer ein wenig unbeholfen und deplatziert gefühlt. Mit diesem Franz aber verhielt es sich anders. Der Bursche blühte. Und zwar nicht wie die über die Jahrzehnte ausgebleichten und durchgesessenen Strickblüten auf einer der vielen Decken, die seine Frau immer so sorgfältig über die Couch drapierte und in deren dicken Wollfasern sich auf magische Weise der Staub der ganzen Stadt zu sammeln schien. Nein, in diesem jungen Menschen pulsierte das frische, kraftvolle und obendrein noch ziemlich unbedarfte Leben. Außerdem stellte der kolossale Altersunterschied zwischen ihnen automatisch die Distanz her, die er für angenehm erachtete, ja, die ihm den näheren Kontakt mit den allermeisten Mitmenschen im Grunde genommen erst erträglich machte. Franz war blutjung, des Professors Welt hingegen drohte immer mehr zu vergreisen. Selbst seine Tochter, der er, wie ihm plötzlich vorkam, erst vorgestern noch auf dem Badewannenrand sitzend die Milchzähne geputzt hatte, war nun schon über vierzig Jahre alt. Ganz zu schweigen von den Patienten sowie vom Rest der Verwandtschaft und den wenigen Freunden, die noch geblieben waren. Langsam, mit seniorenhaften Schrittchen trippelte man der fortschreitenden Versteinerung entgegen, bis man sich schließlich, ohne großartig aufzufallen, in die eigene Antiquitätensammlung würde einordnen können.
»Papa?« Ohne ein weiteres Mal zu pochen, hatte Anna das Zimmer betreten. Wieder einmal trug sie eine Hose. Der Professor hasste Hosen an Frauenbeinen. Auch und vor allem an den Beinen seiner Tochter. Doch in gewissen Angelegenheiten war es nicht ratsam, sich mit ihr anzulegen, also sollte sie seinetwegen eben ihre Hosen tragen. Solange sie damit zuhause blieb.
»Sitzt er wieder auf der Bank?«
Anna nickte. »Seit eineinhalb Stunden.«
»Hat er was mitgebracht?«
»Das weiß ich nicht. Aber du solltest sowieso nicht mehr außer Haus gehen!«
»Wieso denn nicht?«
»Das weißt du ganz genau!«
Freud zuckte mit den Schultern. Natürlich wusste er es. Er war alt. Er war krank. Er war Jude. Und in den Straßen trieb sich viel zu viel Gesindel herum. Doch vor Geschehnissen zu kapitulieren, die noch nicht einmal richtig begonnen hatten, kam nicht in Frage. Und vor seiner eigenen Tochter schon gar nicht.
»Nein, ich weiß es nicht!«, sagte er stur. »Und jetzt hol mir meinen Mantel und meinen Hut!« Anna lächelte. Sie trat einen Schritt auf ihren Vater zu und fasste ihm ans Kinn. Er öffnete den Mund, und sie schob vorsichtig ihren Daumen zwischen seine Kiefer. Mit der Kuppe drückte sie fest gegen den hinteren Teil der Prothese. Es gab ein knackendes Geräusch, und er verzog schmerzvoll sein Gesicht.
»Sitzt!«, sagte Anna nach einem kurzen Blick in seine Mundhöhle. Sie zog ihren Daumen zurück, wischte ihn mit einem Taschentuch ab, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihren Vater schnell auf beide Wangen.
»Ist ja schon gut«, murmelte er, trat einen Schritt zurück und rieb sich den Bart. Im Laufe der Jahrzehnte hatte er gelernt, mit Schmerzen umzugehen, vielleicht würde ihm das mit Zärtlichkeitszuwendungen irgendwann auch noch einmal gelingen.
»Pass auf dich auf!«, sagte Anna. Dann bückte sie sich, hob den zerknüllten Obstgärtnerbrief auf und beförderte ihn mit einem gezielten Wurf in den Papierkorb.