– Was ist das alles, fragt Fuat, wie soll ich das denn ins Auto bekommen? Kaum fassbar, was hast du alles eingekauft, wir fahren doch nicht in ein Notstandsgebiet. Als würde es nicht reichen, dass du so dick bist, jetzt soll ich den Wagen auch noch mit allem beladen, was die deutsche Warenwelt so hergibt. Da setzt das Auto unten auf. Was ist denn das alles hier, was ist in diesen Koffern hier? Ein wenig Kleidung zum Wechseln würde es auch tun, oder?
Gül sagt nichts, sie steht im Schlafzimmer zwischen Koffern und Taschen und fragt sich, wo ihr Mann die letzten Wochen war. Er müsste die Urlaubsvorbereitungen mitbekommen haben, seit über einem Monat kauft sie nun schon ein und füllt Tasche um Tasche.
– Jedes Jahr dasselbe, sagt er, was ist da drin? Was? Ich habe dir eine Frage gestellt.
– Für wen?
– Für deine Eltern, für meine Eltern, für unsere Nichten und Neffen, für deine Brüder, für meine Schwestern, für alle.
– Und würde es nicht reichen, wenn du jedem nur eine Kleinigkeit mitbringst, muss es gleich – er zerrt den Reißverschluss auf –, muss es gleich ein Toaster sein? Kann man das Brot nicht am Feuer rösten oder auf dem Gasherd, braucht irgendjemand dort wirklich einen Toaster? Also ehrlich. Und was ist das hier? Nutella?
– Die Kinder essen das gerne.
– Fünf Gläser? Ah, sechs. Was ist mit der guten alten Rosenmarmelade deiner Mutter, ist die nicht mehr gut genug? Und hier: Maggi. Wofür brauchen wir Maggi?
– Das gibt es in der Türkei nicht. Deswegen sind wir doch hergekommen, oder? Weil es hier Arbeit gibt und Geld und Möglichkeiten. Und warum sollten wir die Möglichkeiten nicht nutzen?
– So ein Auto ist auch nichts anders als ein Esel, weißt du, irgendwann bricht es unter der Last zusammen.
– Als du den Mercedes gekauft hast, hast du noch getönt, was für ein tolles Auto das ist. Nicht so eine Karre wie das vorher, sondern richtige Qualitätsarbeit, wie es sie in der Türkei nicht gibt. Und wie viel PS es hat und wie gut es auf der Straße liegt. Und jetzt willst du mir weismachen, das Auto würde wegen drei Gläsern Nutella zusammenbrechen? Willst du damit etwa sagen, dass der Mercedes sein Geld nicht wert war?
– Sei still und quatsch nicht, als wärst du ’ne ausgebildete Mechanikerin. Wenn die Achse bricht, dann will ich dich mal sehen, wie du den Wagen mit deinem Weibergewäsch reparierst.
– Ich mische mich nicht in deine Autoangelegenheiten ein, oder? Und das hier, das gehört zum Haushalt, das ist mein |124|Bereich, und wir werden diese Taschen und Koffer mitnehmen, wofür sonst haben wir einen Dachgepäckträger? Du hättest mal vorher einen Blick drauf werfen sollen und nicht erst zwei Tage vor unserer Abreise. Ich kann nun nichts mehr auspacken, ohne dass sich irgendjemand benachteiligt fühlt.
– Im Flugzeug hättest du das alles nicht mitnehmen können. Ich habe ein Auto gekauft, damit die Dinge einfacher werden, aber mit Frauen ist nie irgendetwas einfach. Weibervolk, sagt Fuat, Weibervolk, nichts als Ballast. Sogar auf den eigenen Hüften.
Zwei Tage später haben die Eheleute noch immer kein freundliches Wort miteinander gewechselt, aber der Wagen ist vollgepackt, Ceyda und Ceren sitzen verschlafen auf dem Rücksitz, der Morgen dämmert, Fuat sitzt am Steuer und raucht, während sie auf Saniye und Yılmaz warten.
– Weibervolk, sagt Fuat wieder, Yılmaz allein wäre pünktlich, aber er muss noch auf seine Frau warten.
Das ganze Jahr über geschieht es selten, dass alle Familienmitglieder länger als eine Stunde zusammen in einem Raum sind. Nun werden sie fast drei Tage im Auto verbringen, und wie bei jeder Fahrt in die Türkei werden sie erschöpft ankommen und wie bei jeder Ankunft wird die Freude stärker als die Erschöpfung sein.
Da biegt der Granada in die Heimstraße ein, Yılmaz am Steuer, Saniye und die fast zwei Jahre alte Sevgi auf dem Rücksitz. Als sie halten, steigen alle aus, man wünscht sich einen guten Morgen, die Frauen bitten Gott, dass ihnen die Wege offenstehen mögen, und bevor sie wieder einsteigen, kommt Tante Tanja zu dieser frühen Stunde aus ihrem Gartentor, in ihrer Hand eine Schüssel. Sie lächelt.
– Gute Reise, sagt sie. Und kommt gesund wieder. Da es sonst niemand macht, schütte ich euch das Wasser.
– Gott möge es dir vergelten, sagt Gül leise auf Türkisch, weil sie nicht weiß, wie man das auf Deutsch sagt. Auf Deutsch |125|fügt sie ein Danke hinzu und hofft, dass man ihrer Stimme die guten Wünsche anhören kann.
Tanja hat schon oft gesehen, wie ihre Nachbarn hinter Reisenden etwas Wasser auf die Straße schütten, damit diese ihren Weg so leicht finden mögen wie das Wasser. An diesem Morgen kippt sie hinter den Autos eine Salatschüssel voller Wasser schwungvoll auf die Straße. Gül dreht sich noch mal um und sieht aus dem Rückfenster die alte Dame allein auf der Straße stehen, die leere Schüssel in der Hand. Während hinter ihr langsam die Sonne aufgeht, winkt sie. Das ist ein gutes Zeichen, denkt Gül und schickt dennoch hinterher: Herr, lass uns ohne Unfall und Unheil an unser Ziel gelangen.
Kurz hinter München halten sie das zweite Mal. Ceyda und Ceren unterbrechen ihr Kartenspiel, wollen nach Sevgi schauen, ein wenig mit ihr spielen, doch die Kleine schläft auf dem Rücksitz. Als sie weiterfahren, setzt sich Saniye ans Steuer des Granada, und Yılmaz legt den Beifahrersitz zurück und schließt die Augen.
Gül weiß, dass Saniye den Führerschein gemacht hat, aber sie hat ihre Freundin noch nie fahren sehen, genauso wenig wie Fuat, dem nicht anzumerken ist, was er davon hält.
Die Schwestern nehmen ihr Spiel wieder auf. Sie sind leise, weil sie ahnen, dass laute Worte ihrem Vater ein Anlass wären, um noch lauter zu werden. Die beiden Wagen sind schon fast aus Österreich heraus, als Fuat sich gähnend eine Zigarette anzündet und sagt:
– Schau dir das mal an, wie schön die sich die Arbeit teilen, mal fährt er, mal sie. Und ich hänge nun schon seit sechzehn Stunden am Steuer, als sei ich LKW-Fahrer, mein Hintern schläft ein. Dir kann das nicht passieren, du sitzt ja weich. Diese Saniye, die hat nicht nur einen kleinen Hintern, die kann auch noch Auto fahren. Kaum fassbar, dieses Weibervolk.
Wenn er sich ein wenig aufregt, wird er wenigstens nicht |126|müde, denkt Gül. Wir sind schon so lange unterwegs, er hat recht, der Ärmste, es ist sicher nicht leicht, so lange zu fahren.
– Wie oft habe ich dir gesagt: Mach den Führerschein.
– Ich habe Angst, sagt Gül, ich kann das nicht.
– Angst, sagt Fuat, ja, Angst, sich zu verlaufen, Angst, Auto zu fahren, Angst, schwimmen zu lernen, Angst vor Hunden, Angst vor Zufällen. Die Frage ist doch, wovor du keine Angst hast. Mit Angst kann man dieses Leben nicht meistern, du musst auch mal mit dem Blasebalg auf ein Feuer zugehen wie dein Vater, du kannst nicht immer nur weglaufen, wenn es zu warm wird.
Doch wie sollte Gül Autofahren können, selbst als Beifahrerin ist sie dauernd angespannt. Wenn sie es merkt, versucht sie ihre Muskeln loszulassen, doch keine Sekunde wendet sie den Blick von der Straße oder träumt vor sich hin oder schläft gar während der Fahrt ein. Und selten dauert es länger als fünf Kilometer, bis ihr ganzer Körper wieder in Spannung ist und sie die Luft anhält, weil sie eine Entfernung zu einem anderen Auto als zu knapp einschätzt oder die Geschwindigkeit für zu hoch hält, das Überholmanöver für zu gewagt.
Mag sein, dass sie vor vielen Dingen Angst hat, aber die Fahrt ist für sie auch anstrengend. Doch vor Arbeit, Anstrengung oder gar Erschöpfung hat sie sich noch nie gedrückt. Im Gegensatz zu ihrem Mann, der in der Fabrik den Ruf hat, nicht mal halb so fleißig zu sein wie seine Frau.
Erst in Jugoslawien halten sie, um einige Stunden zu schlafen. Fuats Augen sind klein und nicht nur vor Müdigkeit rot, die letzten Stunden hat er sich jedes Mal eine Zigarette angesteckt, wenn er den Schlaf nahen fühlte. Gül möchte nicht, dass er mit offenem Fenster fährt, weil die Mädchen mittlerweile schlafen und sich erkälten könnten.
Der Rauch weckt Güls Verlangen, und sie phantasiert schon über die Zigarette, die sie an einer abgeschiedenen Ecke des Rastplatzes mit Saniye rauchen wird. Gemeinsam essen |127|die Familien etwas Brot und Käse, Oliven, Tomaten und Zwiebeln. Sevgi ist wach und weint, und während Saniye versucht, sie zu beruhigen, erzählt Yılmaz die Geschichte, wie er Saniye vor zwei Jahren mal an einer Tankstelle in Jugoslawien zurückgelassen hat. Eine Geschichte, die er häufig erzählt:
– Ich habe getankt, als ich ausgestiegen bin, schlief Saniye auf dem Rücksitz, ich habe gezahlt, bin pinkeln gegangen, habe mich ins Auto gesetzt und bin los. Dreißig Kilometer war ich schon gefahren, als ich gemerkt habe, dass ich allein bin.
– Und ich, sagt Saniye, ich bin aufgewacht, auf die Toilette gegangen, und als ich zurückkomme, ist der Mann weg, und ich stehe alleine irgendwo mitten in Jugoslawien, ohne Pass, ohne Geld, nur mit meinen Kleidern am Leib.
– Sie wusste nicht, wann ich merken würde, dass sie nicht mehr da ist, fällt Yılmaz ihr ins Wort, und deswegen hat sie den nächsten Landsmann angesprochen, ob er sie mitnimmt, bis sie mich irgendwie einholen. Aber dann erkennt die Gute mich auf der Gegenspur, weil ich ja gewendet hatte, und ich denke noch: Was soll denn diese Lichthupe, was will der mir denn sagen, bis ich begriffen habe, dass in dem Auto meine Frau sitzt. Sie schlief ja, als ich ausgestiegen bin, sollte ich etwa hinten reinschauen, bevor ich weiterfahre. Und dann sage ich etwas, ich glaube, ich wollte einen Schluck zu trinken, aber sie hat nicht reagiert. Das war schon dreißig Kilometer nach der Tankstelle.
Er wiederholt sich, denkt Gül und schaut ihm ins Gesicht. Jetzt erst merkt sie, dass Yılmaz betrunken ist. Vielleicht ist das der Grund, warum Saniye fährt. Auch Yılmaz’ Augen sind rot, und nun, wo sie darauf achtet, kann sie auch den Schnaps in seinem Atem riechen.
Saniye steht mit Sevgi auf dem Arm auf, nickt Gül fast unmerklich zu, und die beiden gehen außer Sichtweite. Gül holt eine Packung Zigaretten aus ihrem Kleid und bietet Saniye eine an.
|128|– Oh, Saniye stößt mit dem Rauch einen wohligen Laut aus, das tut gut nach so einem langen Tag.
Gül genießt die Zigarette auch, schaut dann aber zu Boden, unschlüssig, ob sie die Frage stellen soll.
– Fuat muss richtig erledigt sein, sagt Saniye, der ist ja die ganze Strecke alleine gefahren.
An Güls Atmung oder Haltung ändert sich nichts, doch Saniye entschuldigt sich:
– Ich will das gar nicht dir ankreiden, Gül am Steuer, das könnte ich mir nicht vorstellen. Jeder tut halt das, was er kann. Gül, lächle, morgen Nacht fahren wir, so Gott will, schon über die Grenze. Gül, so eine wie dich gibt es nicht noch mal, nicht in der Heimstraße, nicht in Deutschland, nicht in der Türkei. Schwester, wir fahren in die Türkei, und hier stehen wir mitten in Jugoslawien und rauchen gemeinsam, so lächle doch.
Gül blickt auf, sieht Saniye an und lächelt zaghaft.
– Wer weiß, was das Leben bringt, sagt Saniye, man kann alles verlieren, ehe man einen Lidschlag tut, hier sind wir zusammen und genießen eine Zigarette. Lass die Männer doch trinken und krakeelen, sich wichtig tun mit ihrem Geld oder ihren politischen Ansichten. So eine Freundin wie dich finde ich niemals wieder, und selbst du wirst eines Tages nicht mehr da sein.
Güls Augen schimmern feucht im Dunkeln.
Etwas später, als alle schon in ihren Autos sind und schlafen, schreckt Gül hoch, weil der Motor des Granada gestartet wird. Sie ist sofort hellwach, während Fuat schnarcht und auch die Kinder weiterschlafen. Leise steigt Gül aus und geht zu dem Wagen vor ihnen.
Yılmaz liegt auf dem Beifahrersitz, Saniye, die Gül im Rückspiegel gesehen hat, kurbelt an der Fahrerseite das Fenster herunter:
– Gottverflucht, sagt sie leise, Sevgi hat einfach keine Ruhe |129|gegeben, die hat sich anscheinend an das Geräusch gewöhnt, sobald ich den Motor angelassen habe, hat sie die Augen zugemacht. Geh du nur und schlaf, wir haben morgen noch einen weiten Weg vor uns.
Güls Blick fällt auf die leeren Flaschen im Fußraum, aber sie tut so, als hätte sie nichts bemerkt, und geht fröstelnd zurück zum Mercedes.
In der nächsten Nacht stehen sie an der türkischen Grenze. Fuats Augen sind auf der Strecke in Bulgarien vor Müdigkeit zwei Mal zugefallen, doch Gül hat sofort geschrien:
– Aufwachen, Augen auf.
Fuat hat den Kopf geschüttelt und die Bitte seiner Frau, eine kurze Rast einzulegen, ignoriert.
– Wir sind fast schon da, hat er gesagt, da werde ich doch nicht schlappmachen.
Danach hat er nach der Packung gegriffen, solange er raucht, schläft er nicht ein.
Gül hat genauso wenig geschlafen wie er, denn die ständige Angst, dass etwas passieren könnte, hält sie wach.
Der Beamte nimmt nun die Pässe aus Fuats Hand entgegen, holt aus Fuats Pass einen Hundertmarkschein, den er zwischen Daumen und Zeigefinger durch das offene Fenster hinhält.
– Was ist das?, will er wissen. Sein Ton ist herausfordernd.
Eine halbe Sekunde zögert Fuat, vielleicht weniger.
– Oh, der gehört da gar nicht hin. Ich hatte schon geglaubt, ich hätte ihn verloren, wie ist der denn zwischen die Pässe geraten?
Der Beamte schüttelt den Kopf.
– So etwas macht man nicht. Fahr mal da vorne ran. Und alle aussteigen, bitte.
Als der Mann außer Hörweite ist, schimpft Fuat:
– Wenn es Suppe regnen würde, wäre ich der einzige Mensch mit einer Gabel. Was für ein Glück, unter hundert Beamten |130|den zu erwischen, der sich nicht bestechen lässt. Und das nachts um halb eins. Na, danke. Würde es Mösen regnen, würde mir ein Schwanz auf den Kopf fallen, gottverflucht.
Gül schaut zu ihm hinüber, solche Flüche hört man fast nie von ihm.
– Stier mich nicht so an. Jetzt werden wir sehen, was wir davon haben, so vollgepackt zu sein. Die werden den Wagen auseinandernehmen, sie werden hinter jede Schraube gucken. Yılmaz und Saniye werden schon zu Hause sein, sie werden Baklava und heißen Kaffee serviert bekommen, während wir hier festsitzen und sie schauen, ob ich nicht noch etwas unter meinen Hemdknöpfen versteckt habe. Da hast du uns mal in die Scheiße geritten.
– Was gibst du ihnen auch einen Hunderter, sagt Yılmaz zu ihm, während der Mercedes kontrolliert wird. Da weiß er ja gleich, dass du etwas zu verbergen hast. Sieh mich an, uns haben sie einfach durchgewunken.
Sein Atem riecht schon wieder nach Alkohol, und Gül fragt sich, ob das den Grenzbeamten nicht aufgefallen ist.
– Jedes Jahr lege ich einen Schein in den Pass, sagt Fuat, und bisher hat es immer funktioniert. Außerdem, du hast den Bulgaren doch auch eine Flasche zugesteckt.
– Ja, damit es schneller geht, aber nicht, weil wir etwas zu verbergen hatten. Und das sind ja auch unsere Nachbarn, die sind uns wohlgesonnen. Es sind immer die eigenen Leute, die einen ins Verderben stürzen. Merk dir diese Worte: Du musst Angst haben vor deinen Leuten, die schauen nicht auf deine Tränen. Vertrau den Kurden, den Bulgaren, den Griechen, von mir aus auch den Deutschen, aber nicht den Türken.
– Yılmaz, sagt Saniye.
– Ist doch wahr, sagt er. Jetzt sieht es so aus, als würde es bei euch ganz schön lange dauern.
– Fahrt ihr nur, sagt Gül, aber fahrt vorsichtig. Bis hierher |131|waren wir gemeinsam, doch der Weg ruft nach den Reisenden. Fahrt nur.
Während sie sich verabschieden, reißt Fuat sich noch zusammen, aber kaum hat Saniye den Gang eingelegt und die Kupplung kommen lassen, fängt er an:
– Dieser Klugscheißer, dieser kaum fassbare Klugscheißer. Kaum eine Minute nüchtern während der ganzen Fahrt, aber mir Ratschläge geben, dieser saufende Kommunist, dieser verdammte Vaterlandsverräter.
Er hebt einen Stein auf und schleudert ihn dem Granada hinterher, und Gül geht langsam zu der Bank, auf der Ceyda und Ceren, in eine Decke gehüllt, gegeneinandergelehnt im Sitzen schlafen. Fuat zündet sich schon wieder eine an, das ist bereits die sechste Packung, seit sie in Deutschland losgefahren sind, sein Kopf ist fast so rot wie seine Augen, und Gül weiß, dass er jemanden braucht, um seine Wut abzureagieren. Sie hat nichts dagegen, diese Person zu sein. Ohne Unfall und Unheil sind wir bis hierher gekommen, denkt sie, mit Gottes Hilfe schaffen wir das letzte Stück auch noch.
Vier Stunden lang durchsuchen die Beamten das Auto, die Koffer und die Taschen, listen fein säuberlich Gegenstände auf. Fuat ist so müde, dass er ein wenig auf einer Bank schläft. Der Schlaf gibt ihm die Kraft und die Zollgebühren die Wut, um fast bis Edirne am Steuer zu toben.
– Klar, drei Toaster, zwei Bügeleisen, vier Uhren, zwei Mixer, ein Entsafter, ein Ich-weiß-nicht-was, sechs Wasserkocher, als wollten wir einen Elektroladen aufmachen. Hast du gesehen, was ich dafür hingeblättert habe? Sechs Scheine, einfach so dahin, das sauer verdiente Geld. Nur damit sich unsere Verwandten mal in Ruhe eine Scheibe Brot rösten können und ein gut gebügeltes Hemd tragen. Als würde es nicht reichen, dass du mir das Geld aus der Tasche gezogen hast, um diese Dinge zu kaufen. Sollen sie doch anziehen, was sie wollen, Nyltest oder was. Ist mir doch scheißegal, ich buckle |132|doch nicht, damit es denen gutgeht. Weit über tausend Mark hat uns der Kram nun gekostet. Wie viele Nächte hätte ich damit spielen können? Wie viel Lottoscheine kann man damit ausfüllen? Was kann man nicht alles Schönes mit tausend Mark machen, anstatt sich Elektroschrott zu kaufen, den man auch noch teuer verzollen muss. Das tut mir in der Seele weh. Wie viele Stunden habe ich dafür geschuftet.
Aber wenn wir zu Hause sind: Kein Wort darüber, was an der Grenze geschehen ist. Verstehst du? Kein Wort zu niemandem. Schärf das auch den Kindern ein. Ich will den ganzen Urlaub lang nichts mehr davon hören. Nichts, brüllt er.
Irgendwann verstummt er, doch seine Wut hält ihn wach bis ans Ende der Reise. Am späten Abend kommen sie in ihre Heimatstadt, Fuat isst nichts, trinkt nur ein Glas Wasser, lehnt den Rakı ab und raucht die letzte Zigarette des Tages nicht mal bis zu Ende, er möchte nur noch ins Bett.
Er sieht ein wenig aus wie ein kleiner Junge, der einen großen Geschäftsmann spielt, denn ab und zu kann Fuat ein kindliches Grinsen nicht unterdrücken, während er seinen Schwiegervater durch den Rohbau des Hauses führt. Den Arbeitern gegenüber, die Elektroleitungen verlegen oder mit kleineren Verputzarbeiten beschäftigt sind, gibt er sich wohlwollend.
– Gute Arbeit haben die Jungs geleistet, sagt er, es sieht wirklich nach was aus. Nicht so vollendete Handwerker wie die Deutschen, die außerdem pünktlich fertig gewesen wären, aber was will man machen. Das hier ist die Türkei, aber hier, bei diesem Bau, wurde nicht gepfuscht. Da bezahle ich lieber ein wenig mehr, dabei müssten die eigentlich mich bezahlen, weil ich denen beibringe, was Wertarbeit ist. Nicht umsonst haben wir uns nun jahrelang in der Fremde geschunden. Das ist keine Lehmhütte, das ist ein richtiges solides Haus, da werden noch meine Enkel drin wohnen und deren Enkel. |133|Hier haben wir eine Toilette, alaturka, wie wir es gewöhnt sind, aber hier gegenüber haben wir noch eine, ein richtiges europäisches Wasserklosett. So kann jeder, wie er möchte. Aber hier kann man sich hinsetzen und in Ruhe seine Zeitung lesen. Wenn du es beim Scheißen bequem hast, dann hast du es geschafft.
Fuat deutet das Lächeln auf den Lippen des Schmieds falsch. Was er für Anerkennung hält, ist in Wirklichkeit Vorfreude.
– Das Haus ist ja nun so gut wie fertig, sagt der Schmied, eine Woche vielleicht noch oder zwei. Von mir aus drei. Und dann kommt ihr wieder und wohnt hier?
– Nein, sagt Fuat, nein, wir haben ja nicht ausgesorgt, nur weil wir nun ein Haus haben. Wir lassen noch ein Stockwerk draufsetzen, damit wir vermieten können, damit wir ein Einkommen haben.
– Ein Stockwerk, der Rest steht, das dauert keine sechs Monate.
Doch das Lächeln auf Timurs Lippen ist bereits erstorben.
– Und die Kinder gehen noch zur Schule, die haben sich an das System drüben gewöhnt. Sie bekommen eine gute Bildung, die Schule ist da nicht einfach Auswendiglernerei wie bei uns, die lernen wirklich zu denken. Wenn es Jungen wären … Weißt du, diese Jungen, die jetzt dort aufwachsen und zur Schule gehen und später zur Universität, sie sind die Zukunft dieses Landes. Die werden alle zurückkommen und helfen, dieses Land zu einem der fortschrittlichsten Länder auf der Welt zu machen. Noch fünfzehn, zwanzig Jahre, dann werden wir so groß sein wie Amerika, du wirst sehen.
– Wenn Gott mir so viel Zeit zugesteht, murmelt Timur, ohne dass Fuat es versteht. Euer Leben wird also in der Fremde vergehen, sagt er nun etwas lauter, verloren unter Menschen, die eine andere Sprache sprechen.
|134|– Nur noch ein paar Jahre, so Gott will.
Nur noch ein paar Jahre, in denen Timur und Gül sich in jedem Sommer nur knapp sechs Wochen sehen.
– Und hier, sagt Fuat, hier wird das Besucherzimmer sein.
Als er den Gesichtsausdruck seines Schwiegervaters sieht, sagt er:
– Du kennst doch Besucherzimmer, wo man Gäste empfängt.
– Ja, natürlich, sagt der Schmied. Gibt es so etwas auch in Deutschland?
– Nein, sagt Fuat, nein, nein, die Deutschen verstehen nichts von Gastfreundschaft.
– Wenn ich dann komme, werdet ihr mich in euer Besucherzimmer bitten?
– Wenn du möchtest, natürlich, aber eigentlich ist es nicht für die Familie.
Der Schmied hat derartige Zimmer schon häufig gesehen, meist bei Leuten in Istanbul oder Ankara oder den Reichen seiner Stadt.
– Nicht für die Familie, ja. Sondern für Leute, vor denen man unbedingt protzen möchte.
Timur wendet sich ab und geht Richtung Ausgang. Fuat folgt ihm, den Kopf gesenkt. Er versucht zu verstehen, warum der Schmied auf einmal so redet wie Yılmaz, dabei gibt es überhaupt keine Universität hier. Diese linken Gedanken machen selbst vor dem Vater seiner Frau nicht halt. Das ganze Land ist in Aufruhr, und Fuat hat kein Vertrauen in die Lage. In Deutschland gibt es auch Linke, nicht zu wenige, die Terroristen unter ihnen verursachen sogar Angst und Schrecken, aber der Staat ist stark, der wird schon fertigwerden mit denen. Da sitzen keine Männer an der Macht, deren Ziel es ist, sich Villen und Yachten zu sichern, in Deutschland sind Politiker ehrbare Menschen mit Moral.
|135|Später erzählt Timur seiner Tochter von der Besichtigung des Hauses und wie modern er es findet und wie solide es wirkt, vertrauenerweckend und sicher.
– Ach, wenn es nur ein Heim für euch sein könnte, sagt er.
– Wieso sollte es das nicht werden?, möchte Gül wissen.
– Dein Mann wirkt nicht so, als hätte er vor, zurückzukommen. Sobald er den Mund aufmacht, fallen ihm Vorwände ein, um dortzubleiben.
Der Schmied winkt ab, als Gül widersprechen möchte.
– So ist die Welt nun, sagt er, die Menschen bewegen sich immer schneller, aber das macht nichts, weil die Wege immer länger werden. Acht Enkel habe ich mittlerweile. Ich habe meinen Großvater noch jeden Tag gesehen, heute sehe ich den Nachrichtensprecher jeden Tag, bald wird in jedem Haus ein Fernseher sein. Weißt du noch, wie es früher war? Als wir das einzige Radio in der Straße hatten? Die Stimmen haben uns die Welt nähergebracht, aber ohne uns voneinander zu entfernen. Jetzt versteht man gar nichts mehr, die Welt wird größer und kleiner zugleich, und jeder versucht, einen Zipfel zu erhaschen. Und Fuat sieht euren Zipfel dort drüben. So schnell kommt ihr nicht zurück.
Gül sieht, wie die Augen ihres Vater glänzen, und sagt:
– Wenn er nicht kommt, dann komme ich, sorge dich nicht.
Wenn man nur wüsste, welche Versprechen man halten wird und welche nicht.
Fuat schiebt den Wagen, Gül ruft den Kindern zu, was sie holen sollen, und nimmt selber Dosen, Kartons und Gläser aus den Regalen. Es ist jeden Samstag das Gleiche. Obwohl Fuat so früh wie möglich aufsteht, egal, welche Schicht er hatte, egal, wie viel er abends getrunken hat, egal, wie sehr sein Kopf zu zerspringen droht, nie schaffen sie es, so früh loszufahren, dass es am Ende keine Eile gibt.
Samstags ist der wöchentliche Großeinkauf, es geht zum Supermarkt, |136|zum türkischen Metzger und Gemüsehändler, wo es mittlerweile fast alles gibt, Auberginen, Knoblauch, Wassermelonen, die nicht in Scheiben geschnitten sind, Weizengrütze, Kreuzkümmel, Pinienkerne, Zitronensäure, Okraschoten, Paprikamark, Schafskäse, türkischen Honig. Doch das kann Gül auch unter der Woche alleine kaufen. Im Supermarkt gibt es Cola und Limonade, Nudeln, Mehl, Reis, Whisky, Toilettenpapier, Waschpulver, Spülmittel, Frischkäse, Nussaufstrich, Unterwäsche, Socken. Ceyda und Ceren dürfen sich Bücher aus der Spielzeugabteilung aussuchen und manchmal auch Spielsachen. Während Ceyda lieber Kriminalgeschichten hat mit mordenden alten Damen, furchterregenden grobschlächtigen Männern und unscheinbaren, aber klugen jugendlichen Detektiven, liest Ceren Geschichten, die sich um junge Mädchen und ihre Träume drehen, um Welten voller Pferde und Fluchten, von denen sie glaubt, dass sie allen deutschen Mädchen offenstehen. Gerne lässt sie Ceyda den Vortritt, um Bücher auszusuchen, denn Gesine hat zu Hause fast ein Regal voll davon, und am schönsten findet es Ceren, ein Buch zu lesen, sobald Gesine es ausgelesen hat, und nicht nur sich selbst, sondern auch Gesine zwischen die Seiten zu träumen.
Es werden Kekse gekauft, Süßigkeiten, Knabberzeug, Gewürzmischungen, Paniermehl, Sahne, Zucker, Güls Zettel ist lang und der Einkaufswagen mehr als voll, wenn sie an der Kasse stehen. Fuat ist mal mehr, mal weniger gereizt, aber ungeduldig sind sie alle. Die Schlange an der Kasse ist immer zu lang, die Kassiererin scheint zu langsam, die Zeit zu knapp.
Zu jedem Fahrer, der sie auf dem Heimweg aufzuhalten scheint, hat Fuat einen Kommentar parat: Dir kann man doch am Hemdkragen ansehen, dass du den Unterschied zwischen einem Personalausweis und einem Führerschein nicht kennst, rechts ist das Gas, der Straßenverkehr ist kein Kino, wo man nur zuschaut, in der Zeit, die der zum Kuppeln braucht, kann ich mir die Nägel schneiden.
|137|Jede Ampel scheint ihre Rotphase extra für sie zu verlängern, und jedes Mal haben sie weniger als fünf Minuten Zeit, wenn sie in die noch immer ungepflasterte Straße einbiegen. Fuat parkt vor dem Haus und springt schon mal hinein, denn der Fernseher braucht mehr als eine Minute, bis er ein Bild zeigt. Gül und die Kinder tragen die Einkäufe in die Küche, wo sie sie einfach stehenlassen. Es ist Samstagmittag, es kommt Nachbarn aus Europa, das verpassen sie nie.
Genauer gesagt verpassen sie den türkischen Teil der Sendung nicht, Türkiye’den mektup, Brief aus der Türkei. Jeden Samstag sitzen sie zu viert zwanzig Minuten lang vor dem Fernseher, außer einem hin und wieder gemurmelten Kaum fassbar wird kein Wort gesprochen.
Es ist die einzige Zeit in der Woche, in der die vier nebeneinander auf dem Sofa sitzen, Fuat ganz links, daneben Gül, Ceren kuschelt sich an ihre Mutter, und ganz rechts sitzt Ceyda, die immer ein wenig desinteressiert wirkt. Was gehen sie die Nachrichten an.
Doch auch sie genießt diese Momente, in denen das Fernsehgerät nur zu ihnen spricht, und das hat nicht nur etwas mit der Sprache zu tun.
Woche für Woche sitzt die Familie zwanzig Minuten beisammen, falls es vorher Streit gegeben hat, hat der gerade Pause, niemand schafft es, für die Dauer der Sendung eine grimmige Miene beizubehalten. Falls jemand Schmerzen hat, vergisst er sie einfach, alle Sorgen machen Platz für die Bilder und Stimmen aus dem Fernseher.
Würde man sie hinterher fragen, wüsste Gül oft genug nicht, welche Beiträge sie gerade gesehen hat, sie sitzt da und saugt den Frieden ein, die Stille, die mit dem Klang der Worte entsteht. Als würden der Rhythmus und die Melodie der Sprache ihrer Ahnen eine Liebe ins Wohnzimmer tragen, eine Liebe und Verbundenheit mit der fruchtbaren Erde Anatoliens, als würde das Braun dieser Erde mit dem Schall ins |138|Wohnzimmer getragen werden, der Geruch der Akazien und der des verbrannten Kuhdungs, selbst wenn sie nur Bilder aus Ankara und Istanbul zeigen, Bilder von Beton und Anzügen und Uniformen, in denen Männer stecken, die austauschbar scheinen.
Es ist, als würde Gül zwanzig Minuten auf einer Insel aus ihrer Kindheit sitzen, einem Land, das für immer verloren ist, für uns alle, das aber nie verschwinden wird.
Nach diesen zwanzig Minuten erscheint das Leben leichter, und mag die Arbeit sich türmen wie ein Berg, sie ist nur ein Hügel auf einer Insel, von der man nicht vertrieben werden kann.
In diesen zwanzig Minuten samstagmittags sind alle vereint, sie gehören zusammen, das ist die Zeit der Eintracht.
Wann habe ich meinen Vater und meine Mutter je so gemeinsam gesehen, fragt sich Gül. Wann hat man bei uns so zusammengesessen außer bei den Mahlzeiten? Dank, Dank sei dem Herrn.
Dieser Mann mag trinken, er mag sich eine dünnere Frau wünschen, er mag spielen, aber wir sind eine Familie, wir haben ein Heim, und wer würde schon freiwillig ein Heim zerstören?
Ein Heim zerstört man nicht. So sagen die Ahnen. In dieser unberechenbaren Welt ist es wichtig, ein Dach über dem Kopf zu haben, unter das man sich zurückziehen kann, und sei es nur auf das Sofa vor dem Fernseher.
Gül singt nicht. Sie summt nicht mal. Aber man kann sie sich singend vorstellen, während sie nach der Sendung kocht und ihre Töchter ihr helfen. Samstags scheint die Sonne in dieses Haus und nicht nur hier, samstags scheint die Sonne in der ganzen Heimstraße, das ganze Jahr lang. In den Jahreszeiten, die sie alle Winter nennen. Die Sommer währen nur kurz, sie sind die Zeit zwischen zwei Autofahrten, die endlos scheinen. |139|Es ist Samstagmorgen, Fuat schläft noch, Ceyda kommt in die Küche, wo Gül gerade Belag für Lahmacun bereitet. Heute kommen Saniye, Yılmaz und Sevgi zum Abendessen, Gül hat den Kartoffelsalat schon fertig. Nach Nachbarn aus Europa muss sie nur noch Teig kneten, sie hat alles im Griff, doch allein Ceydas Gang könnte Gül aufschäumen lassen. Diese steifen Schritte, denen man bereits anhört, dass sie etwas ausgefressen hat, und diese Art, einfach schweigend stehen zu bleiben und zu warten, bis ihre Mutter fragt:
– Was gibts? So schlimm wird es schon nicht sein, oder?
– Ich habe … Ich habe die Antenne vom Fernseher kaputtgemacht. Wir haben im Wohnzimmer getobt, und dann bin ich irgendwie drangekommen, und sie ist kaputtgegangen.
Gül geht zum Spülbecken, um sich ihre Hände zu waschen, ihr ist, als könnte sie mit sauberen Händen besser denken. Wann und wie soll sie es Fuat sagen?
– Sorg dich nicht, wir finden eine Lösung. Habt ihr den Fernseher schon angemacht?
– Ja, das Bild ist total verschneit.
Soll sie es vor dem Einkauf sagen? Dann wird er den ganzen Einkauf über wettern. Aber vielleicht können sie dann eine neue Antenne besorgen.
– Lass mal sehen.
Gemeinsam gehen sie aus der Küche, aber noch bevor sie durch die Tür sind, spürt Gül, dass etwas nicht stimmt. Sie spürt es, wie sie geträumt hat, dass Ceren ertrinkt, sie spürt es, wie sie in einigen Jahren spüren wird, dass Ceyda Angst hat, den Verstand zu verlieren, obwohl sie viele Kilometer voneinander entfernt sein werden. Sie spürt es, dazu bedarf es keiner Fähigkeiten und Talente, Gefühle und Verbundenheit sind Gottes Geschenke.
– Wer war das?, fragt sie, als sie im Wohnzimmer stehen.
– Ich, antwortet Ceyda.
|140|Die Antenne ist aus ihrer Verankerung gerissen und zudem entzweigebrochen.
– Wie ist das passiert?
– Ceren und ich haben getobt, sind auf den Sesseln und dem Sofa herumgesprungen, und dann dachte ich, ich falle, und habe mich einfach irgendwo festgehalten.
– Sag mir die Wahrheit, sagt Gül. Du weißt, du sollst immer die Wahrheit sagen, wir sind aufrichtige Menschen, wir lügen nicht.
Ceyda schaut zu Boden.
Wann sage ich es ihm?, fragt Gül sich erneut. Oder kann ich es möglicherweise reparieren? Nein, nein, das sieht nicht so aus.
– Die Wahrheit, mein Schatz, du brauchst keine Angst zu haben.
Sie weiß, dass Ceyda lügt, aber sie weiß nicht, was passiert ist.
– Ceren wars. Wir haben nachlaufen gespielt, und sie … Sie hatte Angst vor Papa, da habe ich gesagt, ich nehme die Schuld auf mich.
Wie naiv Gül ist, dass sie nicht selber drauf gekommen ist. Gefühle und Verbundenheit sind Gottes Geschenke, doch andere Köpfe arbeiten besser als ihrer.
– Hol sie mal her, sie braucht keine Angst zu haben.
Kurz darauf sitzen sie zu dritt im Wohnzimmer, und das Bild des Fernsehers erinnert an Ameisen, die über Schnee laufen.
– Was machen wir?, fragt Ceren.
– Keine Angst, wir finden schon eine Lösung.
– Was wird Papa mit Ceyda machen?
– Nichts, sagt Gül, nichts wird er tun. Wenn es nun mal so ist, dass man die Schuld auf sich nehmen kann, dann werde ich es tun. Ich werde sagen, es ist beim Saubermachen passiert. Ihr wisst von nichts, ist das klar? Aber ich möchte nicht, |141|dass ihr mich noch mal belügt. Es kann sein, dass ihr nicht immer alles erzählt, es kann sein, dass ihr sogar lügt, um andere nicht zu verletzen, aber ich möchte nicht, dass eine von euch beiden mich anlügt, und ich möchte auch nicht, dass ihr nur für euch selbst lügt. Geht jetzt in euer Zimmer und macht euch keine Gedanken mehr. Früher haben wir auch ohne Brief aus der Türkei gelebt.
– Aber du lügst doch Papa auch an, sagt Ceyda.
Gül sieht ihre Tochter an, sie braucht zwei Lidschläge lang für eine Antwort.
– Ich lüge, weil ich euch schützen will, sagt Gül, ich lüge, weil ihr Kinder seid und ich erwachsen bin.
Noch bevor Yılmaz und Nadiye eintreffen, hat Fuat sich schon einige Whisky-Cola genehmigt.
– Kaum fassbar. Beim Saubermachen. Einmal die Woche kommt die Sendung, und du machst ausgerechnet am Samstag die Antenne kaputt. Hatte das nicht Zeit bis Montag? Einmal die Woche sitzen wir schön zusammen und bekommen erzählt, was in der Heimat los ist, einmal die Woche. Andere Frauen fallen beim Fensterputzen auf die Straße, und meine zerstört die Antenne. Mit Gewalt hast du daran gezerrt, das sieht man genau, das nennst du also saubermachen. Dich sollte man nicht mal in die Nähe von elektrischen Geräten lassen, nicht einmal ein Bügeleisen sollte dir erlaubt sein. Einmal die Woche sehe ich mir eine schöne, schlanke Ansagerin an, weil meine Frau so fett ist, dass sie die Antenne aus dem Fernseher reißt. Versuchs doch mal mit einer Diät.
Den ganzen Nachmittag geht das schon so. Gül lässt ihn zetern, wie er möchte, denkt sich Antworten aus, die ungesagt bleiben, und lächelt in sich hinein, weil Ceyda und Ceren auf der Straße spielen, ohne etwas abzukriegen, aber irgendwann hat auch sie genug.
– Es ist doch deine Schuld, sagt sie, dass ich so dick bin.
|142|Fuat schaut sie an, erstaunt darüber, dass sie auf einmal Widerworte gibt, und noch erstaunter über die Anschuldigung, die er nie zuvor zu hören bekommen hat. Noch bevor ihm eine Antwort einfällt, sagt Gül:
– Du bist doch mit dieser Pille angekommen, hier ich hab was für dich, da müssen wir nicht mehr aufpassen. Ohne dass ich bei einem Arzt gewesen wäre, von diesen Pillen bin ich so auseinandergegangen, von diesen Hormonen oder was das ist. Wer weiß, wo du die Dinger herhast. Und überhaupt, kann ja sein, dass du keine dicken Frauen magst, kann ja sein, dass du eine schlanke blonde willst. Aber soll ich dir mal was sagen? Ich mag Männer, die Haare auf dem Kopf haben und nicht solche mit Glatze. Man kann sich eben nicht immer aussuchen, was man bekommt. Hörst du, Männer mit Haaren!
Fuat hebt sein Glas ruckartig in die Höhe, doch er holt nicht aus. Gül steht vor ihm und sieht ihm ins Gesicht, und bevor aus der Niederlage, die sie dort sehen kann, eine Katastrophe werden kann, verlässt sie das Zimmer.
Später an diesem Abend wird Yılmaz zu Fuat sagen:
– So gefällst du mir, langsam lernst du zu trinken, mein Freund, einfach nur still sein und genießen und nicht mit jedem Schluck lauter werden.
Und Saniye wird zu Gül sagen:
– Es ist besser, wirklich. Der eine hat getrunken und geprügelt und dieser hier trinkt nur. Gott bewahre, aber wenn ich nochmals heiraten sollte, dann gibt der Herr mir vielleicht einen Mann, der beides nicht tut. Aber wer weiß, was der dann für Fehler hat. Einer wie Serter, der nicht mehr alle beisammenhat, ist ja auch nicht wünschenswert. Die Lahmacun sind wirklich hervorragend geworden, mögen deine Hände immer gesund bleiben.
Und Fuat wird nie wieder etwas über Güls Figur sagen. Und Gül nichts über seine Glatze. Frauen stehen vor dem Spiegel und begutachten ihre neuen Kleider oder schminken |143|sich, aber es sind die Männer, die ihre Eitelkeit verletzlich macht.
– Das ist doch kein Telefon, sagt Ceyda, wo sind denn da die Zahlen?
– Das hier hat keine, antwortet Fuat.
– Wie, das hat keine? Man kann also nur angerufen werden?
– Wen soll dein Opa schon anrufen, sagt Gül, wer sonst hat denn hier ein Telefon?
Fuat sieht Gül an und schüttelt den Kopf.
– Er kann auch anrufen. Du kennst doch diese alten Schwarzweißfilme, Ceyda, wo Frauen vor einem Haufen Kabel sitzen und Gespräche verbinden, sie stöpseln ein, sie stöpseln aus, und sie melden sich mit: Hier ist die Zentrale. Du kennst doch diese alten Filme?
Ceyda nickt.
– Und dies hier ist ein altes Telefon. Wenn Opa die Kurbel dreht, geht jemand vom Postamt ran und fragt, wen er sprechen möchte. Dann steckt jemand die Kabel um. Das ist noch nicht vollautomatisch wie in Deutschland.
– Und für jeden, der ein Telefon hat, gibt es ein eigenes Kabel?
– Nein, das ist ein ganz kompliziertes System, damit man nicht so viele Kabel braucht. Ganz kompliziert, ich kann es dir vielleicht erklären, wenn du älter bist. Wenn wir wieder in Deutschland sind, werden wir mit Opa telefonieren können, das geht ja schneller, als immer auf Briefe zu warten. Du weißt, dein Opa kann keine Briefe schreiben, er kennt die lateinische Schrift nicht. Er muss sie schreiben lassen. Mit dem Telefon wird die Welt kleiner werden, wir brauchen drei Tage mit dem Auto bis hierher, aber das Telefon überträgt die Worte sofort. Es wird so sein, als wären wir Nachbarn. Du wirst sehen, dieses kleine Ding mit der Kurbel wird so viel verändern …
|144|Gül wird bald nicht mehr mit ihren Töchtern zusammensitzen und ihnen Briefe vorlesen, die ihr Vater diktiert hat oder die ihre Schwestern geschrieben haben. Man wird die Sätze nicht wieder und wieder lesen können, um auch noch die letzte Silbe auszukosten, man wird nicht mehr die Zeilen in der Tasche tragen können, um sie in der Mittagspause nochmals zu lesen, um neue Kraft für die Arbeit zu schöpfen. Wie immer wird sich alles verändern.
Gül freut sich, dass sie ihren Vater jetzt so erreichen wird. Worte stillen die Sehnsucht, deswegen all die Briefe, deswegen die Zeilen der großen Dichter, Worte verbinden die Menschen, mindern die Last der Herzen. Und welche Worte könnten direkter sein als die gesprochenen, was kann beruhigender wirken als Klang, der Klang der Stimme eines geliebten Menschen.
Zwei Tage später ist Ceyda allein in dem Zimmer, in dem nun das Telefon steht, und aus Neugier nimmt sie den Hörer ab und hält ihn ans Ohr. Kein Geräusch. Sie dreht kurz an der Kurbel, legt aber sofort auf, erschrocken über ihren Mut.
Erst nachdem der Hörer wieder auf der Gabel liegt, hört sie, wie sich Schritte nähern, ihre Mutter kommt ins Zimmer, während Ceyda auf dem Diwan sitzt und so tut, als würde sie in einem Buch lesen.
Als das Telefon klingelt, zuckt sie zusammen. Gül scheint etwas überrascht, greift aber zum Hörer. Die Stimme am anderen Ende ist so laut, dass Ceyda sie verstehen kann.
– Guten Tag, hier ist das Postamt, sagt eine Frau, hatten Sie gerade versucht, uns zu erreichen?
– Nein, entgegnet Gül, nein, hatten wir nicht.
– Hier hat es aber gerade geläutet.
– Das muss ein Fehler sein, sagt Gül, wir möchten im Moment kein Gespräch. Vielen Dank.
– Einen schönen Tag dann noch.
|145|Nachdem Gül aufgelegt hat, schaut sie Ceyda an.
– Hast du an dem Telefon gekurbelt?
– Nein.
– Nein, wiederholt Gül und setzt sich neben sie. Sie nimmt ihr das Buch aus der Hand und schaut hinein, bevor sie es weglegt.
– Als Ceren noch klein war, aber bereits zu alt, um sich in die Hose zu machen, haben wir mal ein Picknick gemacht, vielleicht erinnerst du dich sogar daran. Am Wochenende, Saniye, Yılmaz, ich weiß nicht, ob Sevgi schon da war, wir sind mit dem Auto ins Grüne gefahren. Und irgendwann hat Ceren aufgehört zu spielen und hat sich neben mich gesetzt und nichts mehr gesagt. Und es hat angefangen zu stinken. Schlimmer als im Stall. Mein Vater hatte mal eine Kuh, die konnte er am Geruch ihres Dungs erkennen, hat er immer gesagt. Es hat gestunken, und ich habe Ceren gefragt, ob sie sich vielleicht in die Hose gemacht hat. Ich habe ihr ins Ohr geflüstert, damit sie sich nicht schämen muss vor den anderen, aber Ceren hat den Kopf geschüttelt. Und sie saß so schief, nur auf einer Seite ihres Hinterns. Sie hat noch nicht richtig verstanden, dass sie es nicht verstecken kann.
Ceyda sieht ihre Mutter an mit einem Blick, in dem das Mama mitschwingt, das Gül so geschmerzt hat, dieses Wort, in das sie ihren ganzen Schmerz hineingedrängt hatte, dieses Wort, das auf Papier niemals so viel Verzweiflung tragen könnte. Am Telefon aber sehr wohl. Es schwingt in ihrem Blick mit, so als wolle sie sagen: Was willst du mir schon sagen, was willst du mir beibringen? Du hast mich alleingelassen. Mehr als einmal.
– Ich sage gar nicht, dass du gerade lügst, sagt Gül, bemüht, ihre Stimme sanft und weich zu halten und sich das Weh nicht anmerken zu lassen, das Ceydas Blick auslöst. Ich sage nur: Wir dürfen nicht lügen. Vor Gott kann man nichts verstecken. Wir müssen aufrechte Menschen sein. Schau, deine Oma, sie |146|ist nicht meine Mutter, wie du weißt, und wir hatten es nicht immer einfach mit ihr, und der Herr ist mein Zeuge, sie lügt selber, aber ich werde ihr immer dankbar sein, dass sie uns beigebracht hat, nicht zu lügen.
Dieses Leben besteht aus dem, was wir hören können. Wir haben zwei Ohren und nur einen Mund, damit wir doppelt so viel zuhören wie reden. Wir haben Opa ein Telefon gekauft, damit wir uns hören können. Jeder sagt etwas, aber wenn man die falschen Dinge sagt, dann folgen auch falsche Taten. Und die Worte, die man gesagt hat, kommen nie wieder zurück, die sind für immer da. Und wenn du etwas Falsches sagst, wird da immer Unruhe in dir sein und du wirst nicht gut schlafen können und unglücklich sein. Du darfst nicht lügen, nicht mir zuliebe, sondern dir zuliebe. Weil ich möchte, dass du glücklich wirst.
Gül ist selber ein wenig erstaunt, wie sie das gerade ihrer Tochter erklärt hat.
Ceyda sieht ihre Mutter an und sagt:
– Ich habe nicht gekurbelt.
Der Moment, in dem sie Gül die Wahrheit sagt, was das Kurbeln angeht, wird erst Jahrzehnte später kommen, in einem Kurort in Deutschland.
Das Problem ist nicht, dass man nicht satt wird, die Stimme des anderen zu hören, wenn man so lange getrennt ist, das Problem ist nicht der fehlende Geruch und die Wärme, die schwieligen Hände, die Gül spüren möchte, wenn sie die Stimme ihres Vaters hört. Das Telefonieren wird nicht nur deswegen schwer, weil eine Stimme die Sehnsucht gleichzeitig stillt und nährt, es wird nicht nur deswegen schwer, weil es viel Geld kostet und man sich immer gehetzt fühlt, nein, die eigentliche Schwierigkeit ist die, dass man sich nicht erreichen kann. Man kann nicht einfach die Nummer des Schmieds wählen und in seinem Haus klingelt das Telefon, er nimmt |147|den Hörer in die Hand und sagt Gül, da ohnehin niemand sonst bei ihm anruft.
Zunächst muss man beim Postamt in Deutschland ein Gespräch anmelden, weil eine direkte Durchwahl nicht möglich ist. Und dann muss man warten. Wenn man Glück hat, eine Stunde oder zwei oder drei, bis das Telefon klingelt und man verbunden wird.
Wenn man weniger Glück hat, dauert es sieben Stunden oder acht, und dann klingelt das Telefon mitten in der Nacht, und zu der Stimme, die klingt wie vom Grund eines Brunnens auf der anderen Seite der Erde, kommt die Schlaftrunkenheit und beim Schmied auch die Aufregung, es könne sich um eine schlimme Nachricht handeln zu dieser Stunde.
Die ersten Jahre ist das Telefonieren nicht leichter oder schöner als Briefeschreiben. Und doch erzählt Gül noch Wochen und Monate später von diesen Gesprächen, zum Beispiel von dem, wo sie nachts auf der Treppe gestürzt ist, weil sie sich so beeilt hat, wie ihr die Luft wegblieb, als sie auf dem Hintern landete und ihr ein stechender Schmerz in den Rücken fuhr, wie müde Timur zunächst klang, wie er von Sibels Fehlgeburt erzählte, der dritten mittlerweile, keine drei Monate und sie hatte schon wieder das Baby verloren, wie sie den Schmerz im Rücken vergaß und weinte, wie sie erschrocken auf die Uhr sah, als sie auflegte, über zwanzig Minuten, was Fuat schimpfen würde, wenn die Rechnung kam, wie sie kaum die Treppe hochsteigen konnte. Wie lange der Bluterguss noch zu sehen war, wie die Farbe der linken Hälfte ihres Hinterns über acht Wochen von lilafarben über blau zu grün bis gelb wechselte, wird sie für sich behalten. Wie sie vor dem Spiegel stand und den Hals verdrehte und sich fragte, ob dieses Violett nicht dasselbe war wie das der Ringe unter den Augen ihrer Mutter, bevor sie starb.
Wie Fuat ins Schlafzimmer kam, als sie so dastand, den Slip auf den Knöcheln, das Nachthemd hochgerafft, und wie er |148|sagte: Da präsentierst du also deine Waren, und wie behutsam er an diesem Abend war.
Doch auch als die Vermittlung durch das Postamt wegfällt, wird es nicht viel leichter, weil man nicht durchkommt. Gül, Ceyda und Ceren wechseln sich ab und wählen sich an der Drehscheibe die Finger wund. Meistens hören sie das Besetztzeichen noch bevor sie die Nummer zu Ende gewählt haben. Gül und Ceyda sind geduldig, sie schaffen es, bis zu zwanzig Minuten hintereinander Timurs Nummer zu wählen, während Ceren nach vier oder fünf Versuchen schon unruhig wird und aufgibt.
Einige Jahre später wird Fuat strahlend nach Hause kommen und verkünden:
– Ich war bei der Post, wir werden ein neues Telefon bekommen, eins mit Tasten. Es lebe die Technik, jeden Tag erfinden sie etwas Neues, was das Leben erleichtert, und wir sitzen hier an der Quelle und können an allen Annehmlichkeiten teilhaben. Besser als hier ist es wahrscheinlich nur in Amerika. Im Herzen von Europa leben wir hier, mittendrin, man spürt den Puls der Zeit, hier pumpt das Leben, hier geschehen die Neuerungen, nicht in Anatoliens Dörfern. Niemand wird mehr wunde Finger bekommen.
Als hätte er jemals welche gehabt. Als hätte er selbst diesen Apparat erfunden.
Ceren wird mit dem Tastentelefon eine Methode entwickeln, schneller in die Türkei durchzukommen als die anderen. Sie wird nicht einfach die Nummern hintereinanderweg wählen oder gar die Wahlwiederholungstaste drücken, sie wird zunächst nur die Ländervorwahl wählen, und dann wird sie mit zusammengezogenen Augenbrauen den Geräuschen in der Leitung lauschen und nach einem kaum vernehmbaren Klack die Städtevorwahl eintippen, um nochmals innezuhalten und zu lauschen. Im Gegensatz zu den anderen wird sie selten mehr als sieben Versuche brauchen, um ein |149|Klingeln am anderen Ende zu hören. Außer an Ramadan, beim Opferfest oder an Neujahr, da wird es reine Glückssache bleiben, ob man durchkommt.
Das Telefonieren wird mit den Jahren leichter werden und auch deutlich billiger, aber es wird nie die erwartete Veränderung bringen. Jahrzehnte später wird Gül sagen:
– Fuat hat immer an den Fortschritt geglaubt. Dass irgendetwas besser wird, bequemer, schöner. Und dem Herrn seis gedankt, uns geht es gut, wir darben nicht, wir brauchen keine Angst zu haben, dass wir eines Tages nicht mehr satt werden, doch die Sehnsucht ist immer geblieben, sie ist genauso wie Gottes Befehl. Der Sehnsucht können wir ebenso wenig entkommen wie dem Tod.
Gül runzelt die Stirn, als Işık ihr vorrechnet, wie knapp sie mit dem Geld sind.
Soundso viel die Rate für das Haus in der Türkei, soundso viel für zwei Hektar Land, die Reparatur am Auto, eine kleine Summe für die Mutter, die sonst niemanden hat, der sie versorgt, soundso viel für einen Fernseher mit Fernbedienung, ein neues Sofa, weil aus dem alten schon die Federn rausschauten.
– Die Ausgaben hören ja nie auf, sagt Işık, wir arbeiten und rackern und plagen und placken uns, kriegen aber kaum zwei Groschen auf die hohe Kante. Ehe du dich versiehst, ist wieder ein Jahr um, und man gibt einen Haufen Geld für den Urlaub aus. Die Jahre gehen vorbei, ohne dass wir es richtig merken, sie fließen dahin wie Wasser.
– Wie viel hast du gesagt, hast du diesen Monat bekommen?
Işık nennt die Summe.
– Ich habe über hundert Mark weniger, sagt Gül, dabei haben wir genau die gleichen Schichten gearbeitet.
Sie muss daran denken, wie es damals in der Näherei war, |150|wo sie angeblich so schlecht bezahlt wurde, weil sie keine Papiere hatte.
Gleich morgen, nimmt sie sich vor, gleich morgen werde ich ins Büro gehen und mich beschweren. Es kann doch nicht sein, dass ich immer benachteiligt werde, dass immer alle mich übergehen und ich brav meinen Mund halte, es muss sich doch mal etwas ändern. Gleich morgen.
Abends sitzt sie zu Hause, häkelt an einer Spitzendecke, und ihr geht durch den Sinn, was Işık gesagt hat. Die Jahre fließen wie Wasser dahin. Sie erinnert sich an die großen Wasser, die im Sommer durch die Obstgärten der Sommerhäuser geschleust wurden, an den Bach, in dem ihr Vater seine Uhr verloren hatte, an den Pumpbrunnen, an dem sie ihrer Schwester einen Stein ans Auge geworfen hatte.
Damals flossen die Jahre auch wie Wasser, womöglich fließen sie nun schneller, das mag sein, doch etwas anderes hat sich geändert.
Damals war das Wasser frei. Es hatte Kraft, und man musste es in seine Bahnen lenken oder heraufpumpen am Brunnen, das Wasser floss und suchte sich seinen Weg. Heute sitzen sie in Häusern, in denen das Wasser in Leitungen gefangen ist und keine Kraft mehr hat. Genauso wie das Wasser sind die Menschen gefangen, gefangen in diesem Leben hier, zwischen Arbeit, Geld, Ausgaben, noch mehr Arbeit, noch mehr Ausgaben, die Fabrik, das Haus, der Garten, das Auto, der Urlaub, die Kinder.
Timur war den ganzen Tag in der Schmiede, aber dort konnte man ihn besuchen, sitzen, reden, ihm die Beine kratzen, Tee trinken. Ceyda und Ceren holen Gül manchmal von der Fabrik ab, doch sie kennen nur das Tor, das Innere haben sie nie betreten. Tee trinken und reden könnte man drinnen allerdings sowieso nicht.
Wie oft hat Gül bei ihrem Vater in der Schmiede gesessen, hat ihm bei der Arbeit zugeschaut, das Zischen gehört, wenn |151|der Schweiß vom Kinn des Schmieds auf das glühende Eisen tropfte, und nun kämmt sie selber Wolle, ohne zu wissen, was später daraus gemacht wird, acht Stunden am Tag, sie sieht die Wände der Fabrik länger als die Gesichter ihrer Töchter.
Doch damit ist sie ja nicht allein, alle sehen die Wände der Fabriken und Büros und Geschäfte länger als sie ihre Männer und Frauen und Kinder sehen, alle leben in einer Welt, in der sie gefangen sind wie das Wasser in der Leitung. Wie soll man auch frei sein, wenn nicht mal das Wasser es sein kann?
Einen Moment hält Gül inne und schaut auf von ihrer Handarbeit. Sie merkt, wie ihr heiß wird, als könnte jemand ihre Gedanken gelesen haben.
In was für Gedanken bin ich da abgetaucht, wenn das jemand mitkriegte, würde er lachen.
Was geht mich das Wasser an und wie gefangen wir hier sind. Ich gehe morgen ins Büro und frage, warum ich weniger Geld bekomme als Işık.
– Wir werden uns darum kümmern, Frau Yolcu, sagt am nächsten Tag die Dame im Büro, und ohne ihr wirklich zu glauben, geht Gül zurück an ihre Arbeit.
Wir werden uns darum kümmern. Wahrscheinlich werden sie gar nichts tun, die wollte mich nur abwimmeln, aber was hätte ich sagen sollen? Ich gehe einfach morgen noch mal hin und frage noch mal nach. Ich lasse nicht locker. Ich habe gearbeitet für das Geld, ich habe es verdient im Schweiße meines Angesichts.
Und tatsächlich steht sie am nächsten Tag wieder im Büro und fragt erneut nach, was denn mit dieser Abrechnung nicht stimme, und die Frau sagt dasselbe:
– Wir kümmern uns darum, Frau Yolcu. Haben Sie ein wenig Geduld.
Gül nimmt sich vor, dass sie morgen noch mal hingehen wird. Und übermorgen. Wenn es sein muss, jeden Tag. Sie |152|wird hingehen, bis endlich etwas passiert, bis es ihnen peinlich wird, sie hat es sich nun in den Kopf gesetzt, und sie wird nicht aufgeben.
In der Pause kommt Işık zu ihr.
– Warst du im Büro und hast nach den Abrechnungen gefragt?
– Ja, sagt Gül.
– Toll, sagt Işık, echt toll. Da rechne ich dir vor, dass es hier und dort nicht reicht, und dann kommt das dabei raus.
– Was?, fragt Gül, die sich nicht erklären kann, warum Işık sich so aufregt.
– Sie haben sich verrechnet. Sie haben mir hundert Mark zuviel gegeben, das hätten die nie gemerkt, wenn du nicht gefragt hättest. Nächstes Mal ziehen sie es mir ab.
Gül schaut Işık an und weiß einige Sekunden lang nicht, ob sie lachen oder weinen soll. Sie sieht, wie sich Işıks Gesichtszüge noch weiter verhärten.
– Das ist nicht lustig, sagt sie.
– Nein, sagt Gül, das ist nicht lustig. Aber du musst dich auch nicht aufregen. Du bist durch meine Schuld um dein Geld gekommen. Ich werde dir hundert Mark geben, ich brauche nur ein wenig Zeit dafür. Es soll nicht zu deinem Schaden sein, dass ich mein Recht gesucht habe. Das wäre nicht richtig.
– Das kann ich nicht annehmen.
Gül lächelt jetzt noch breiter, weil Işıks Augen etwas anderes sagen als ihr Mund.
– Das konnte wirklich niemand ahnen, oder? Ich werde dir das Geld geben, lass mir nur ein wenig Zeit.
Gesine und Ceren sitzen in der Küche und lesen Bücher, in denen Mädchen, die kaum älter sind als sie, Pferde besitzen oder wenigstens welche zur Pflege haben, auf denen sie reiten dürfen. Pferde, auf deren Rücken sie sich fühlen, als könnte |153|das Leben nicht mehr größer werden. Für beide Mädchen ist diese Welt fremd. Im Gegensatz zu Ceren kennt Gesine nicht mal jemanden, der schon mal geritten ist, und als sie im Zirkus einmal auf einem Pony saß, hatte sie vergessen zu atmen. Sie fühlt sich den Heldinnen der Romane nah, nur die Pferde scheinen ihr weit weg.
Ceren kennt Pferde aus den Ferien, auch wenn sie selbst bisher nur auf einem Esel geritten ist. Ihr Großvater war Kutscher, und sie teilt Gesines Begeisterung für Pferde nicht, vielmehr hat sie noch die Warnungen ihrer Großmutter im Ohr: Stell dich nie hinter ein Pferd, es könnte ausschlagen.
In der Heimatstadt ihrer Eltern gibt es noch immer einige Kutschen, und sie mag zwar auf einem Pferdewagen mitfahren, doch sie hätte Angst, auf einem Pferd zu sitzen. Sie weiß nicht, ob Gesine bewusst ist, wie groß diese Tiere sind.
Ceren kennt Pferde aus der Nähe, aber das Leben der Heldinnen der Bücher ist ihr fremd. Nie müssen sie im Haushalt helfen, sie haben meist keine Geschwister, müssen nicht häkeln und stricken lernen, und die Freiheit, die sie genießen, scheint nichts mit dem Rücken der Pferde zu tun zu haben, sie ist viel größer.
Doch die Freundinnen sitzen gerne zusammen in der Küche der Yolcus auf der Couch am Ofen, jede ein Buch in der Hand, und träumen sich fort, dorthin, wo sie sich nicht auskennen, während Gül das Essen bereitet.
Immer wieder wirft sie einen Blick auf die Mädchen, und jedes Mal ist es, als würde ihr Herz ein wenig weiter werden, bis es nicht mehr in sie hineinpasst, bis es die ganze Küche ausfüllt, bis sie glaubt, diese Wärme könnte ein Haus heizen. Wie friedlich und glücklich sie aussehen und wie das Glück auf sie überschwappt und noch größer wird. Was könnte schöner sein als eine Tochter, der es gutgeht? Freude, die sich nicht spiegeln kann, kann sich auch nicht vermehren. Wenn dein Herz schlägt, und sei es noch so heiter und heil, wenn es |154|nur für dich schlägt, bleibst du allein in diesem Leben, das Gott dir geliehen hat.
Als Fuat hereinkommt, dreht Gül ihren Kopf, um ihren Mann anzusehen, das selige Lächeln auf den Lippen. Einen Moment lang fragt Fuat sich, ob seine Frau getrunken hat. Gül deutet mit dem Kopf auf die beiden Mädchen und legt einen Finger auf die Lippen. Sie schaut ihren Mann an, von ihm hat Ceren diese geschwungenen, dicken Augenbrauen, die breite Stirn und die hohen Wangenkochen.
Er ist der Vater ihrer Töchter, und so schwer es mit ihm manchmal sein mag, in diesem Moment übertragen sich Güls Gefühle auf ihn, und sie verspürt den Impuls, einfach zu Fuat zu gehen und ihn zu umarmen, um dann Seite an Seite mit ihm zu stehen und gemeinsam auf die Tochter zu blicken. Einen Impuls, den sie unterdrückt. Fuat würde eine unpassende Bemerkung machen und fragen, ob sie den Verstand verloren hat.
Ihr ist dennoch, als würde ihr Blut wärmer durch ihre Adern fließen. Dank sei dem Herrn für dieses Herz, in dem alle Platz haben.
Fuat tritt von hinten an Gül heran und sagt leise:
– Sie werden es mal besser haben als wir.
Gül atmet den Geruch ihres Mannes ein und nickt. Ja. Ihre Töchter wachsen mit Mutter und Vater auf, nicht wie sie selbst mit einer Stiefmutter. Sie werden es mal besser haben. Wenn Gott erlaubt, werden sie nicht verlassen werden, bis sie auf ihren eigenen Füßen stehen können.
Nach dem Essen klopft es an der Hintertür, jemand muss durch den Garten gekommen sein.
– Herein, ruft Fuat, während alle noch am Tisch sitzen.
Es ist Serter, den die beiden Mädchen verstohlen betrachten, weil sie häufig hören, dass er verrückt ist, ihn aber selten zu Gesicht bekommen. Und wenn sie ihn sehen, tut er nie Dinge, die ihnen verrückt erscheinen.
|155|Unter den Erwachsenen hat es die Runde gemacht, dass Serter alle vierzehn Tage zu einer deutschen Freudenfrau geht, er ist nicht der Einzige, aber über ihn zerreißen sich alle das Maul. Fuat steht auf, begrüßt Serter, fragt, wie es ihm geht.
Gesine ist ganz verschüchtert, wenn die Yolcus Besuch bekommen. Sie kann mittlerweile einfach am Tisch sitzen und sich wohl fühlen, auch wenn sie die Gespräche nicht versteht, doch sobald Fremde hinzukommen, fühlt sie sich fehl am Platz.
– Möchtest du etwas mitessen?, fragt Gül, die schon aufgestanden ist und Richtung Schrank geht, um noch einen Teller zu holen.
– Nein, nein, sagt Serter, danke, wirklich nicht. Ich mag dein Essen, das weißt du, aber gerade bin ich satt.
– Einen winzigen Bissen wirst du wohl noch herunterbekommen.
– Komm, sagt Fuat und legt Serter eine Hand auf die Schulter, komm, ich wollte eh noch mal nach den Hühnern schauen. Wir müssen den Frauen nicht unbedingt dabei zusehen, wie sie den Tisch abräumen.
– Ich bring dir deine Jacke, es ist kalt draußen, sagt Gül, stellt den Teller zurück und geht Richtung Flur.
– Lass mal, sagt Fuat, die brauche ich gerade nicht, und geht mit Serter durch die Hintertür, die in einen Gang führt, wo die Toilette ist und die Waschmaschine steht.
Als Fuat nach zehn Minuten noch nicht zurück ist, murmelt Gül:
– Er wird sich erkälten.
– Er hat sich meine Jacke übergeworfen, sagt Ceyda.
– Schiel nicht so zum Fenster, sagt Gül, da gibt es nichts zu sehen.
Weitere zwanzig Minuten später ist Fuat wieder in der Küche, Gesine hat sich längst verabschiedet, Gül trocknet Geschirr |156|ab, die Mädchen sitzen im Wohnzimmer und sehen fern.
– Was hast du ihn so schnell rausgelotst?, fragt Gül.
– Mein Gott, erwidert Fuat, was kommt dir denn immer in den Sinn? Dass ich wieder Spielschulden habe? Spielschulden sind Ehrenschulden, ich habe nichts zu verbergen. Du bist fast so misstrauisch wie er. Deinem eigenen Mann traust du nicht. Warum hast du ihn so schnell rausgelotst? Weil der Sprung in seiner Schüssel kaum mehr zu kitten ist. Der hat eine Vollmeise. Da sitzen drei junge Frauen, wer weiß, was er alles redet, was sich nicht ziemt, was er für Arm- und Handbewegungen macht, die sich in einem anständigen Haus nicht gehören. Er lebt ja wie ein Junggeselle. Weil ich an unsere Töchter denke, deswegen habe ich ihn rausgelotst. Man kann nie wissen bei einem Verrückten, und verrückt ist er, total. Wer weiß, wen der kennengelernt hat, von allein kommt der nicht auf solche Ideen. Dass wir Angst haben müssten vor den Deutschen, dass die auch nicht besser seien als jedes andere Regime. Der deutsche Geheimdienst hat diese Terroristen im Gefängnis umgebracht, sagt er, sie haben sowieso alle eine Vergangenheit als Nazis, der Rassismus liegt diesen Deutschen im Blut, die werden uns abschlachten wie diese Linken, deswegen müssen wir den bewaffneten Kampf unterstützen. Hättest du gewollt, dass unsere Töchter so etwas hören? Eine Spende wollte er von mir, eine Spende für die Leute im Untergrund. Er habe Verbindungen. Die Linken seien unsere Zukunft in diesem Land. Das ist schon keine Meise mehr, das ist ein ganzer Schwarm Schwalben. Wenn du hundert Tage nur Unsinn redest, würdest du immer noch nicht auf so etwas kommen. Andere sammeln für Moscheen, er sammelt für Terroristen. Das wird nicht gut enden mit diesem Mann, das sage ich dir.
– Der Ärmste, sagt Gül. Er lebt in einer eigenen Welt. Er muss sich sehr einsam fühlen.
|157|Fuat setzt an, um etwas zu sagen, schweigt aber doch, schüttelt den Kopf und schenkt sich eine Whisky-Cola ein, bevor er ins Wohnzimmer geht. Gül folgt ihm kurz darauf, im Fernsehen läuft eine Aufzeichnung aus dem Ohnsorg-Theater.
Fuat legt eine Packung Lord auf den Tisch und lehnt sich zurück, ohne eine Zigarette zu nehmen. Er selber raucht Marlboro, Gül raucht Stuyvesant, nicht heimlich, aber auch nie in Fuats Gegenwart. Ceyda schaut auf die Packung und merkt, wie ihr heiß wird. Sie vermeidet es, ihren Vater anzusehen. Die Zigaretten waren in der Tasche ihrer Jacke. Die hinter der Gartentür hing. Ceyda wagt kaum zu atmen und wartet. Wartet, dass ihr Vater etwas sagt, aber der schaut nur auf den Fernseher, allenfalls ein leichtes Grinsen kann man ausmachen. Er holt seine Marlboros aus der Hemdtasche unter seinem Pullunder und steckt sich eine an.
Ceyda weiß nicht, was sie tun soll. Sie spürt, dass sie rot ist, sie weiß, dass ihr Vater keine Zweifel daran hat, wem die Lord gehören. Soll sie etwas sagen, muss sie etwas sagen, wird er etwas sagen?
Gül begreift ziemlich schnell, was gerade geschieht. Sie hat ihre Tochter zwar nie rauchen sehen, aber sie hatte mehr als eine Ahnung. Sie kann die Hitze, die Ceyda neben ihr ausstrahlt, spüren. Innerlich schilt sie ihre Tochter für die Unvorsichtigkeit.
– Ich bin müde, ich gehe ins Bett, sagt Ceyda schließlich nach etwa fünf Minuten und steht auf.
Es wird nicht mehr darüber gesprochen werden, doch Ceyda wird in Zukunft achtsamer sein. Und die nächsten drei Wochen gar nicht rauchen. Fuat wird diese Geschichte erst erzählen, als seine Tochter schon verheiratet ist und selber Kinder hat.
– Erziehung ist nicht so schwer, wird er sagen, man muss nicht viel reden, man muss nur die richtigen Dinge tun. Ich |158|wusste, dass sie nicht aufhören würde zu rauchen, wer hört in dem Alter schon damit auf, weil die Eltern es verbieten. Aber gerade dass ich nichts gesagt habe, hat sie mehr beeindruckt als eine Predigt. Sie hat bestimmt tage-, ja wochenlang keine Zigarette angerührt. Man muss wissen, wann man zu schweigen hat.
– Bist du dir sicher?, fragt Gül.
– Ja.
– Du kannst auch weiter zur Schule gehen. Auf ein Gymnasium oder wie das heißt.
– Dafür muss man gute Noten haben, und die habe ich nicht.
Ceyda war nie besonders gut in der Schule. Aber auch nicht besonders schlecht.
– Was soll ich auf einem Gymnasium? Niemand aus unserer Klasse geht dorthin. Da sind nur diese Streber, die Tag und Nacht lernen. Und Türken sind da überhaupt keine.
– Was willst du denn machen?
– Eine Ausbildung.
– Als was denn?
– Friseurin.
– Friseurin?
– Ja, Friseurin.
Gül runzelt die Stirn. Fuat war in der Türkei Friseur, und er hat seinen Beruf nicht gemocht.
– Da kommen Leute, da kann man den ganzen Tag reden.
– Das ist alles? Da kommen Leute, und man kann den ganzen Tag reden? So viel redest du doch gar nicht. Hast du dir das gut überlegt?
– Ja.
– Wirklich?
– Ja. Man ist nicht in einer Fabrik, man hat keinen Schichtdienst, man hat montags frei, man kann sich auch zu Hause |159|etwas hinzuverdienen, man kann es überall tun, hier, in der Türkei, in Italien, Spanien, egal, wo man ist, man kann Geld damit verdienen.
– Dein Vater mochte den Beruf nicht, wie du weißt.
– Ja, aber der hat rasiert und hatte immer nur mit Kurzhaarschnitten von Männern zu tun. Hier ist die Arbeit viel abwechslungsreicher, Färben, Strähnchen, Dauerwelle, Föhnfrisuren, Stufenschnitte, Pagenköpfe …
Gül sieht ihre Tochter an. Sie scheint sich Gedanken gemacht zu haben. Und Fuat wird es egal sein, wenn sie nur einen Beruf erlernt und Geld verdient.
– In Ordnung, sagt sie, wenn es dein Wunsch ist, dann werde Friseurin. Und wenn du es dir eines Tages anders überlegen solltest, kannst du immer noch auf eine Abendschule gehen. Solange mir Gott Kraft gibt, werde ich dich unterstützen.
Ceyda wird nie auf eine Abendschule gehen, sie wird Friseurin lernen, aber noch kürzer in diesem Beruf arbeiten, als ihr Vater es seinerzeit getan hat.
Als Ceyda zwei Tage nach diesem Gespräch mit einigen großen Umschlägen das Haus verlässt, um ihre Bewerbungen in den Briefkasten zu werfen, setzt Gül sich auf die Couch in der Küche, und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Gleichzeitig muss sie lächeln über sich selbst.
So schnell ging das auf einmal.
So ist es also, Kinder zu haben.
Und sie werden immer Kinder bleiben, egal, welchen Weg sie wählen und gehen.
Sie hatte keine Mutter, die ihr das hätte beibringen können.
In Ceydas Alter war sie bereits verheiratet.
Ceyda raucht, natürlich, und wahrscheinlich hat sie sich schon längst verliebt. So wie Gül damals in Recep. Bestimmt ist Ceydas Herz viel wilder und ungestümer, als sie es sich anmerken lässt. Sie wird ihre Geheimnisse haben, nicht nur die Zigaretten. Doch Gül hat sie immer auch als Kind vor Augen. |160|Das Kind, das Mama ruft, ein Klang, der für immer in dieser Welt bleiben wird.
Mama hat sie damals gerufen, aber ist Gül diesem Ruf gerecht geworden? Hat sie alles getan, was eine Mutter tun muss? Woher soll sie das wissen? Auch das hat sie nie gelernt. Sie hat nur gesehen, wie ihre Stiefmutter es gemacht hat. Und die ist wahrscheinlich nicht mal ihren eigenen Kindern eine gute Mutter gewesen. Sie hat nie gelobt und gekost, nie hat sie ihre Kinder an ihren Busen gedrückt und sie vor der Welt beschützt. Vielleicht weil auch sie niemanden hatte, der ihr Schutz und Halt bot.
Gül hatte ihre Mutter nur kurz, sehr kurz, was sind schon sechs Jahre, wenn man sich an die ersten zwei, drei sowieso kaum erinnern kann? Was sind schon sechs Jahre, wenn man auf die vierzig zugeht? Was sind schon diese zwei, drei Jahre, die sie mit ihrer Mutter hatte? Abgezählte Tage, die viel zu schnell vergangen sind.
Sie konnte es damals nicht lernen, wie man es macht. Sie hat ihre Töchter zurückgelassen in der Türkei, aber wie viele andere haben das auch getan? Waren die alle auch jung und dumm?
Nun sind die Töchter hier aufgewachsen und können selber einen Beruf wählen und ihr eigenes Geld verdienen, aber Gül weiß nicht, ob sie eine gute Mutter ist. Sie tut, was sie kann, aber man könnte immer noch mehr tun, und alles, was sie weiß, ist, dass sie es besser macht als ihre Stiefmutter, doch das ist nicht so schwer.
Mein Leben, sagt sie sich, mein Leben würde ich geben, diese Leihgabe. Aber das sagt sich so leicht. Wer weiß, ob ich es wirklich könnte. Hätte ich mich vor das Auto geworfen, nur damit es Ceren nicht anfährt? Was hätte ich getan in so einem Moment?
Aber ich kann die Kinder nicht bewahren vor der Welt, sie haben ihr eigenes Leben. Haben es schon immer gehabt. Sie |161|sind durch mich gekommen, aber nicht von mir. Und doch, wenn ich sie nur beschützen könnte, auch wenn ich niemanden hatte, der mich beschützt hat.
Ceyda sieht ihre Mutter verwundert an, als sie zurück in die Küche kommt.
Selten sitzt Gül einfach so da in jenen Tagen, zumindest ruht eine Handarbeit in ihrem Schoß, wenn sie gerade müßig ist. Ceyda sieht die geröteten Augen, doch auch das Lächeln, ein Lächeln, das sie umfängt und festhält, das ihr sagt, dass der Klang dieser Stimme, der Geruch dieses Körpers, die Berührung dieser Haut nicht enden wird. Sie setzt sich neben ihre Mutter, die den Arm um die Schulter der Tochter legt und sie noch näher an sich zieht.
– Möge alles so werden, wie du es dir wünschst, sagt Gül, mögen dir alle Wege offenstehen, und mögest du nicht frieren im Gegenwind.
Ceyda merkt, wie auch ihre Augen feucht werden, sie atmet den Duft ihrer Mutter ein, diesen erdigen, doch leichten Geruch, der bereits ahnen lässt, wie hell ihre Haut ist, wie üppig ihr Fleisch und wie weich ihre Worte.
Gleichzeitig freut Ceyda sich, dass die Schule bald vorbei sein wird. Dass sie nicht mehr endlose Stunden auf der Bank sitzen wird, vor ihr Lehrer, die sie nicht verstehen. Sie und die anderen Kinder aus der Heimstraße. Die Sätze sagen wie: Schaut einfach zu Hause im Lexikon nach. Oder: Das hätte man im Duden nachschlagen können.
Die über den Zweiten Weltkrieg reden, wieder und wieder und wieder, und die glauben, diejenigen, die sich dafür nicht interessierten, wären verkappte Nazis. Lehrer, die sie Leyla nennen und versuchen, ihren Kopf mit Dingen zu füllen, die sie langweilig findet.
Bald wird sie in einem Laden stehen und mit Menschen reden, über das Wetter, über die Einkäufe, über die Kinder und Geschwister. Bald wird sie Geld verdienen und nicht mehr |162|ihre Mutter fragen müssen, wenn sie etwas möchte. Ihre Mutter, die nicht wiederum den Vater fragt, sondern einen Weg findet, Ceyda und Ceren ihre Wünsche zu erfüllen. Es wird etwas mehr Geld im Haus sein, und Ceyda wird zu ihrer Aussteuer selber beitragen können.
– Hol heute Abend deine Schwester von der Arbeit ab, sagt Gül. Und morgen auch. Hol deine Schwester von der Arbeit ab, jetzt, wo es so früh dunkel wird. Lass sie den Weg am Wäldchen vorbei nicht allein gehen.
– Und ich?
– Du gehst außen herum, wenn du sie abholst, und auf dem Heimweg nehmt ihr die Abkürzung.
Von diesem Tag an macht Gül in ihrer Spätschicht nicht mehr mit den anderen Pause, sondern zieht um kurz vor halb sieben ihre Jacke an, steckt ihre Zigaretten ein und geht raus auf den Hof. Dort stellt sie sich an den Zaun und blickt auf den Weg am Wäldchen. Sie kann ihre Töchter nur am Gang erkennen, doch jedes Mal, wenn sie sie erblickt, schmeckt die Zigarette noch besser und sie dankt dem Herrn ein weiteres Mal.
Einen ganzen Winter steht sie in der Spätschicht jeden Abend dort, gleichgültig, wie kalt es ist, gleichgültig, ob es regnet, hagelt oder schneit, sie raucht eine Zigarette und sieht zwei kleine Figuren aus dem Lichtkegel einer Straßenlaterne verschwinden, um kurz darauf ins Licht der nächsten Laterne zu treten.
Einen ganzen Winter lang gibt es diesen Moment, in dem die Zigarette auf einmal besser schmeckt, und Gül geht hinterher mit einem Lächeln zurück an ihre Arbeit. Einen ganzen Winter lang steht sie abends auf dem Hof, eine Hand am Zaun, und wartet auf den Anblick ihrer Töchter. Kein einziges Mal wird sie enttäuscht.
Wie wäre es wohl gewesen, wenn wir in der Türkei geblieben |163|wären, fragt sie sich manchmal, während sie wartet. Würde ich dann auch arbeiten? Würde Ceyda einen Beruf erlernen? Hätte Fuat weniger getrunken? Oder mehr? Hätten wir in einer Straße gewohnt, in der das Wort Nachbar das Gleiche bedeutet wie hier? Hätte ich mich besser gefühlt, wenn ich meinen Vater jeden Tag gesehen hätte? Wäre da weniger Sehnsucht gewesen, weniger Angst? Und dafür mehr Sorge um das tägliche Brot? Und das Dach über dem Kopf? Wäre Fuat unglücklich geworden in diesem Beruf, den er nicht mochte? Und wäre er traurig darüber gewesen, seinen Vater nicht unterstützen zu können, der keine Arbeit mehr hatte, seit die Autos die Kutschen ersetzten?
Die ganze Welt ist eine Fremde, hat Yavuz ihr damals gesagt, als sie in Istanbul in den Zug gestiegen ist, um nach Deutschland zu fahren. Er war ein Bauer, ein alter Bekannter ihres Vaters, und er wiederholte oft seine Worte: Wir leben, dem Herrn seis gedankt, wir leben, wir stehen auf unseren eigenen Füßen. Die ganze Welt ist eine Fremde, in der wir gefangen sind, gefangen in der Zeit, die nur vergeht zwischen Geburt und Tod, davor und dahinter ist alles Ewigkeit.
Manchmal fühlt es sich in dieser Fremde so an, als würde man auf dem Dach stehen und alles überblicken können, als wäre da Weite und Ruhe und Behaglichkeit. Für die Dauer einer Zigarette fühlt man Frieden, Frieden auf dem Dach dieses Gefängnisses.
– Diese Spanier, sagt die Frau mit der blonden haarspraygefestigten Welle, die reden immer so laut, als wären sie allein auf der Welt.
Ihre Freundin trägt ein Kopftuch, ein kleines, dreieckiges, das nicht ganz ihren Hinterkopf bedeckt.
– Ja, stimmt sie zu, die kommen hierher und kennen keine Mittagsruhe, keinen Sonntag und lärmen bis spät in die Nacht. Das können die bei sich zu Hause machen, aber hier gehört |164|sich das nicht. Nicht mal Straßenbahn fahren kann man ohne diese Belästigung.
– Die sind nicht geschaffen für ein Leben hier, dauernd geht das Temperament mit ihnen durch.
Gül sitzt genau hinter den Frauen und kann jedes Wort hören. Genauso wie sie hören kann, was die beiden Männer weiter vorne an der Tür reden, doch deren Worte kann sie besser verstehen.
– Da war er gerade zwei Tage wieder hier, da haben sie ihm das Auto geklaut. Die müssen da irgendetwas eingeschweißt haben. Überleg mal, wie viel Zeug da drin gewesen sein muss, damit sich das alles lohnt. Wir können hier noch Jahre buckeln, bis unser Rücken ganz krumm ist, aber so wird man nicht reich.
– Das Auto ist weg, aber er hat trotzdem richtig Glück gehabt, sagt nun der andere. Wenn sie den an der Grenze erwischt hätten. Da kannst du reden, so lange du willst, das glaubt dir keiner, da sitzt du richtig in der Scheiße. Da kannst du dann Klagelieder singen und zuhören, wie der Wind durch die Ritzen deiner Zelle pfeift.
– So wie die anderen muss man es machen. Gewitzt. Find mal die Werkstatt in dem Gewirr Istanbuls, wo du dein Auto hast reparieren lassen. Und dann weis denen mal was nach. Gewitzt muss man sein, dann lacht das Geld. Ich sage dir – der Mann senkt die Stimme etwas –, wir müssten auch in dieses Geschäft einsteigen. Ich kenne jemanden. Da liegt Reichtum, nicht im Schichtdienst.
– Es ist bestimmt eine Strafe, in Spanien Straßenbahn zu fahren, sagt die Frau mit dem Kopftuch, das geht da den ganzen Tag so, ohne Punkt und Komma.
– Wir waren nur einmal in Mallorca, dort gibt es keine Bahnen, aber laut ist es trotzdem.
Nach all den Jahren kann Gül immer noch nicht gut Deutsch. Zwar versteht sie das meiste, aber wenn sie sprechen |165|muss, wird sie schnell unsicher und ihr fallen die Worte nicht ein. Nicht ein einziges Mal hat sie länger als fünf Minuten hintereinander Deutsch gesprochen. Wo auch, wie auch.
Ich habe keine Gabe dazu, tröstet sie sich, wenn ich ein kontaktfreudiger Mensch wäre und nicht so zurückhaltend, wäre es sicherlich anders. Dann würde ich reden wie Saniye, ohne Hemmungen, ohne Angst, Fehler zu machen. Aber so bin ich eben nicht. Ich kann mir nicht mal merken, was ich schon weiß.
Die beiden Frauen vor ihr haben offensichtlich noch weniger Talent für Sprachen, für die klingt alles gleich, was nicht Deutsch ist. Gül kann Spanier, Italiener, Griechen und Jugoslawen erkennen, wenn sie sie hört. Auch wenn die meisten von ihnen längst in ihre Heimatländer zurückgekehrt sind, vielleicht weil die wirtschaftliche Lage dort mittlerweile besser ist, vielleicht weil die Sehnsucht zu groß wurde, vielleicht weil sie wissen, dass man sich bescheiden muss.
Diese Frauen sollten ihrem Gott danken, dass sie in ihrem Land bleiben konnten, wo es genug Arbeit gibt, denkt Gül, dass sie nicht ausziehen mussten, um zu erfahren, wie schwer es ist, eine fremde Sprache zu lernen.
An der nächsten Haltestelle muss sie aussteigen und steht nun hinter den beiden Männern, die inzwischen leiser reden. Wenn man zusammenlegen würde, könnte man in drei, vier Monaten schon dicke Gewinne einfahren. Opium und Heroin, das könnte man fast mit Gold aufwiegen.
Auch ich sollte dankbar sein, denkt Gül, dankbar für einen Mann, der seine Fehler haben mag, doch sosehr er auch von Reichtum träumt, er würde sich nie in die Gesetzlosigkeit begeben. Er würde nicht waten in diesem Sumpf und seine Familie mit hineinziehen, er würde nicht Ärger und Kummer über alle bringen und in Kauf nehmen, dass seine Töchter ihn nur an Besuchstagen sehen dürfen. Er mag seine Fehler haben, aber er ist aufrecht, was das angeht.
|166|Gül geht in den Laden, den Saniye ihr empfohlen hat, weil es dort Baklava gibt, die angeblich so schmeckt wie frisch aus Antep. All die Menschen auf den Straßen, die Bahnen, die Busse, Bremens Gewusel irritiert und beunruhigt Gül, sie fragt sich, ob es ihr jemals möglich sein wird, in so einer Stadt entspannt durch die Straßen zu gehen.
Jahre später wird sie in Bremen wohnen, und da erst wird sie sagen:
– Jeder Mensch kann alles tun, man sollte nie zu überzeugt von sich sein, man sollte immer Zweifel haben. Ich dachte, ich könnte nie Spionin werden, Diebin oder eine Prostituierte. Heute weiß ich, dass jeder Mensch alles sein kann, das Leben kann dich in Sackgassen drängen, die du nicht mal ahnen konntest. Man darf nie sagen: Das würde mir nicht passieren.
Gül sagt nicht: Siehst du. Oder: Das geschieht dir recht. Oder: Das hätte ich dir gleich sagen können. Sie denkt es nicht mal, diese Art der Genugtuung ist ihr fremd.
Doch es wundert sie auch nicht, dass Mevlüde entlassen wird. Mevlüde, die den Satz: Ach, das ist doch nur eine Kleinigkeit, das fällt denen gar nicht auf, wie einen Kaugummi in ihrem Mund geführt hat. Mevlüde, die fast nie die Rollen der Wagen gesäubert hat. Die zwar ihre Arbeit gemacht hat, aber nie zufrieden war, ständig geflucht hat auf die Arbeit, die Fabrik, die Deutschen, auf Serter, die Wolle, die Schafe, die Fremde, die Ausbeuter. Mevlüde, die es geschafft hat, ihr Haus in der Heimstraße mit Unzufriedenheit zu füllen.
Doch nicht nur in Güls Abteilung werden Leute entlassen.
Yılmaz sagt:
– So macht der Kapitalist das, zuerst sagt er dem Staat: Hier ist Aufschwung, wir brauchen mehr Arbeitskräfte, lasst uns Leute von draußen holen, dann werden wir alle reich. Nur nicht die Leute von draußen, aber das sagt der Kapitalist nicht, das weiß der Staat auch so. Dann sagt der Kapitalist: |167|Schau mal da vorne, da arbeiten Leute für noch weniger Geld. Aber lass uns diesmal nicht die Leute hierherholen, wo wir ihnen andere Löhne garantieren müssen, sondern lass uns die Maschinen dorthin bringen. Scheiß auf den Staat und scheiß auf die billigen Arbeitskräfte hier. Schau mal, was wir nun für Gewinne einfahren. So läuft das. Wir werden hier alle noch unseren Arbeitsplatz verlieren.
Fuat hingegen sagt:
– Deutschland ist ein starkes Land, hier leben fleißige Menschen, ehrgeizig und pflichtbewusst. Nur weil sie jetzt einen Teil der Produktion ins Ausland verlagern, wird nicht gleich die Fabrik zugemacht. Diese Fabrik hat zwei Weltkriege überlebt, es gibt sie seit über hundert Jahren, wieso sollte sie jetzt auf einmal, wo es allen gutgeht, schließen müssen? Und selbst wenn, wer arbeiten will, für den gibt es Arbeit. Es ist nicht wie in der Türkei. Und erst mal gibt es sowieso Arbeitslosengeld.
Auch Gül kann sich nicht vorstellen, dass die Fabrik schließt. So viele Jahre hat sie nun dort gearbeitet, so viele Schichten dort verbracht, dass sie es sich einfach nicht ausmalen kann, dass diese Gebäude mal leerstehen sollen.
Nachdem eine Zeitlang Leute entlassen worden sind, scheint wieder Ruhe einzukehren, Gül ist entspannt, die Arbeit wird leichter und angenehmer, weil alle, die nicht ordentlich oder gründlich gearbeitet haben, nun zu Hause bleiben.
Gül fühlt sich bestätigt. Man braucht die Arbeit nicht zu fliehen, man darf nicht zagen, man macht einfach eins nach dem anderen, gewissenhaft, ohne auf das Ende zu blicken, ohne liederlich zu werden, dann kommt das Ende wie von selbst und mit dem Ende der Frieden.
Man darf keine Angst vor Arbeit haben, so viel hat sie schon geschafft und noch viel mehr kann sie. Gül vertraut ihren Kräften und empfindet es als Belohnung für ihre Arbeit, dass sie bleiben kann.
|168|Sie bleibt bis zum Schluss. Auch wenn immer mehr Leute entlassen wurden, Gül hat nicht gehört auf die Gerüchte, sie hat einfach stur weitergearbeitet und nicht an das gedacht, was sie nicht glauben konnte, weil es nicht vorstellbar war. Selbst als eines Tages verkündet wird, dass die Fabrik schließt, hat Gül noch Hoffnung, es könne wie durch ein Wunder alles so bleiben, wie es ist.
An dem ersten Montag, an dem sie nicht arbeiten muss, steht sie auf, macht Frühstück, verabschiedet Ceren zur Schule und Ceyda zur Berufsschule und sitzt dann mit Fuat, der etwas später aufgestanden ist, in der Küche. Schweigend frühstückt er, während Gül immer noch versucht zu verstehen, wie sich das Leben so von einem Tag auf den anderen komplett ändern kann.
Nach seiner Zigarette zieht Fuat seine Jacke an, und Gül fragt:
– Wohin?
– Ins Kaffeehaus.
Gül sieht ihn erstaunt an. Auch wenn er gerne spielt, er gehört nicht zu den Männern, die man ständig im Kaffeehaus antreffen kann, Tee trinkend, rauchend vor einem Backgammonbrett oder mit Karten in der Hand. Eine Stunde mag er Vergnügen daran finden oder zwei, aber dann will er um Geld spielen und trinken. Und getrunken wird im Kaffeehaus nicht.
– Ich höre mich mal um, sagt Fuat, ich kann nicht den ganzen Tag zu Hause rumsitzen, ein paar Wochen Arbeitslosengeld ist ganz gut, aber ich brauche Arbeit und wenn ich schwarz noch etwas nebenher verdiene. Mein Hintern ist nicht zum Sitzen geschaffen.
Erst zum Abendessen ist er wieder zu Hause, er riecht nach Bier. Gül hat das Haus aufgeräumt, geputzt, sie hat Wäsche gewaschen, mit Saniye telefoniert, gestrickt, dabei den Fernseher laufen lassen, sie hat gekocht, und da Ceren bei Gesine war, hat sie Ceyda von der Arbeit abgeholt. Auf Ceydas Lippen ist |169|häufiger ein Lächeln als zu Schulzeiten, die Arbeit scheint ihr zu gefallen. Nur an Tagen wie heute, an denen sie Berufsschule hat, ist sie schon beim Frühstück schlecht gelaunt.
Als Fuat abends kommt, ist der Tisch bereits gedeckt. Gül glaubt sein Grinsen komme vom Alkohol, doch als Ceyda nach dem Essen abräumt, sagt er zu seiner Tochter:
– Dann mach mir doch zur Feier des Tages so einen schönen, süßen Mokka. Und dazu rauche ich eine Zigarette, die so schmeckt, dass meine Lungen glauben werden, es sei ein Feiertag. Niemand soll mich faul nennen. Gewieft muss man auf dieser Welt sein. Ein wenig gewieft. Ihr dürft mir gratulieren: Ich habe eine neue Arbeit.
– Wirklich?, fragt Gül, und fast gleichzeitig möchte Ceyda wissen:
– Hast du schon unterschrieben?
– Und nicht irgendwo, sagt Fuat, ohne auf die beiden einzugehen, sondern bei der Königsmarke der Automobile, dort, wo Qualität und Leistung zählen, Zuverlässigkeit und Langlebigkeit. Bei der Marke, deren Name auf der ganzen Welt berühmt ist.
Er schaut herausfordernd in die Runde, doch keine der Frauen sagt etwas.
– Mercedes!, sagt er.
– Hast du schon unterschrieben?, wiederholt Ceren nun die Frage ihrer Schwester.
– Nein, sagt Fuat, nein, aber dem steht nichts mehr im Wege, ich habe die Stelle so gut wie sicher, ich war in Bremen heute, bei Mercedes im Büro.
Seine Brust ist so geschwollen vor Stolz, dass es an diesem Abend viele Whisky-Cola braucht, bis die Schultern nach vorne sinken und die Spannung aus seinem Körper weicht.
Gül hat geglaubt, sie würde die Tage kaum füllen können, wenn sie nicht mehr arbeitet, doch sie wundert sich, wie sie |170|alles geschafft hat, als sie noch in die Fabrik ging. Sie redet etwas länger mit ihren Nachbarn, sie beschäftigt sich etwas mehr mit ihren Handarbeiten. Fuat hat ihr eine elektrische Nähmaschine gekauft, und sie näht den Mädchen Kleider, sie strickt ihrem Mann Pullover, und am Ende des Tages war sie kaum eine halbe Stunde ohne Beschäftigung. Sie hat keine Arbeit mehr, doch sie sitzt nicht tatenlos zu Hause herum, und es geschieht selten, dass sie den neuen Fernseher einschaltet, den Fuat gekauft hat, in Farbe und mit Fernbedienung.
Gül kümmert sich um den Garten, pflanzt Zucchini und Kürbisse, Gurken und Tomaten, Bohnen und Peperoni. Auch wenn die Erde sich unter ihren Händen anders anfühlt als damals, auch wenn sie anders riecht und eine andere Farbe hat, auch wenn das Licht anders ist und die Sonne ihren Rücken nicht immer wärmen kann, diese Stunden erinnern sie an ihre Kindheit und an den großen Maulbeerbaum im Garten des Sommerhauses. Sie lassen den Geruch des Schmieds wieder lebendig werden, wenn er im Garten gearbeitet hatte oder im Stall. Sie denkt daran, wie ihr Vater sie einmal in einen fremden Obstgarten mitgenommen hat, wie er sie dort allein gelassen hat, ohne zu ahnen, dass sie sich fürchtete. Wie erleichtert war sie damals, ihn wieder zu umarmen und den Schweiß am Kragen seines Hemdes zu riechen, als er endlich zurückkam.
Gül geht es gut ohne die Arbeit, und dieser Frühling vergeht schnell. So schnell, wie die Zeit vergeht, wenn man erst hinterher merkt, dass man glücklich war.
Fuat ist stolz auf seine Arbeit und fährt jeden Tag mit seinem Auto nach Bremen und zurück, verdient sogar etwas mehr als vorher, kauft einen noch moderneren Fernseher, einen Jahreswagen von Mercedes und ein neues Mofa, weil er das sicherer findet, wenn er betrunken fährt.
Es ist eine gute Zeit in der Heimstraße 52, Ceyda ist froh über ihre Entscheidung, Friseurin zu werden, Ceren bringt |171|Gesine immer öfter mit nach Hause, da sie sich tagsüber nicht mehr das Zimmer mit ihrer Schwester teilen muss. Die Sorgen verblassen, die bitteren Sätze und geschrienen Worte, die es auch gibt, verbittern nicht tagelang, die Missklänge erzeugen kaum Echo.
Erst als alle in dem fast neuen Wagen sitzen, der zu Fuats Unmut wieder voll beladen ist, und Richtung Anatolien losfahren, als alle eng beieinander sind und die Hitze und die endlosen Straßen und Staus unerträglich werden, bekommen Harmonie, Glück und Wohlklang Risse, erst als sie wieder im Blech gefangen sind, hallen die harschen Worte nach, und die Strahlen der Sonne können die Gemüter nicht besänftigen. Doch selbst da spürt Gül die letzten Monate in sich nachklingen und lächelt still in sich hinein, darauf bedacht, diese sanfte Heiterkeit vor Fuat zu verstecken, um ihn nicht zu reizen.
Der Sommer, die Zeit zwischen den Autofahrten, vergeht in jenem Jahr noch schneller als der Frühling in der Heimstraße, er ist vorbei, noch ehe man schön denken kann, und auch für die Dauer der Rückfahrt bewahrt Gül ihr inneres Lächeln. Sie hat erneut zugenommen in den letzten Monaten, ihr Bauch wackelt mit jedem Lachen, das so klingt, als könne es alle Dunkelheit vertreiben.
Ceyda und Ceren werden später oft von diesem Sommer erzählen, ohne richtig zu begreifen, warum er noch schöner war als all die anderen, warum die Sonne heller schien, ihr Opa sie häufiger herzte, das Lachen lauter schallte und selbst die traurigen Lieder fröhlicher klangen in einer Sprache, in der Trauer und Sommer nur einen Buchstaben voneinander entfernt sind.
Die Melancholie hatte auf einmal eine heitere Note, während sonst selbst die sonnigsten Stücke noch einen Schatten von Schwermut hatten.
Du hast mein Herz gemolken, bis meine Knie nachgegeben haben, sangen die Schwestern mit, aber sie selbst waren erfüllt |172|von etwas, das weder Sehnsucht noch Verlangen war. Aus diesem Sommer bringen sie Kassetten mit nach Hause, die zu hören sie nicht müde werden. Lieder, die sie an diese fünfeinhalb Wochen erinnern werden, ihr Leben lang.
Selbst Fuat singt mit, auf dem langen Heimweg, während Gül bloß lächelt, während ihre Brüste bei jedem Schlagloch auf und ab hüpfen. Sie singt nicht, sie summt nicht, aber die Musik ist in ihr, als hätte sie den Gesang verschluckt.
Es ist, als würde Fuat eine Stricknadel in Gül hineinbohren, an einer Stelle, die sie selber kaum kennt, die den Schmerz aber nach tief drinnen schickt, wenn er sagt:
– Find mal endlich eine Arbeit.
Wann und wie das Gefühl des Sommers verlorengegangen ist, weiß Gül nicht, es ist Herbst, aber noch nicht so dunkel, dass Gül Ceyda abends abholen müsste, und Fuat sagt diesen Satz auch nicht so oft, wie er früher gesagt hat, er bevorzuge schlanke Frauen, doch er dämpft das Licht jedes Mal ein wenig mehr.
Es ist nicht so, dass Gül nicht sucht. Das Arbeitsamt sagt, es gäbe nichts für sie, die anderen Frauen in der Heimstraße sitzen ebenfalls zu Hause und finden nichts. Selbst Saniye, die so viele Leute kennt, kann Gül nicht helfen, sie ist selber froh, eine Arbeit zu haben, bei der sie acht Stunden lang mit den immergleichen Handgriffen Schuhe in Kartons packt.
– Wenn ich abends einschlafe, schrecke ich manchmal auf, weil meine Hände sich nicht bewegen und ich glaube, das Band würde weiterlaufen, ohne dass ich arbeite, sagt sie und lacht dann. Früher haben wir jeden zweiten Winter ein Paar Schuhe bekommen, sagt sie, wer hätte gedacht, dass wir mal in so einem Überfluss leben. Ich könnte jeden Tag zwei Paar mitgehen lassen, und niemand würde es merken. Und auch diese Arbeit ist ja nicht für immer.
Gül kennt niemanden, der in so vielen verschiedenen Fabriken |173|gearbeitet hat wie Saniye. Nirgendwo ist sie länger als drei Jahre geblieben, immer gab es etwas, was sie lieber machen wollte, immer hat sie nach Abwechslung gesucht, und beim Schuheverpacken ist sie nur gelandet, weil man zurzeit nehmen muss, was man kriegen kann.
– Find endlich mal eine Arbeit.
Fuat müsste doch in all den Jahren gemerkt haben, dass Gül nicht faul ist. Sosehr es ihr auch gefallen hat, zu Hause zu sein, sie möchte arbeiten, doch jedes Mal, wenn sie diesen Satz aus Fuats Mund hört, kommt es ihr vor, als sei es ihr persönliches Versagen, ohne Arbeit zu sein.
Schon bald wird Fuats Ton härter werden, und Vorwürfe werden folgen, aber zurzeit kann Gül sich noch in die Momente mit Ceren hineinfallen lassen, die das Hausfrauendasein ihr beschert.
Während Ceyda und Fuat arbeiten gehen, kommt Ceren nachmittags aus der Schule, und Mutter und Tochter haben Haus und Zeit für sich. Ceren erzählt von den Büchern, die sie liest, und Gül holt oft weit aus, wenn sie sich erinnert. Wie sie früher die Artikel oder halbe Artikel aus Zeitungen gelesen hatte, die ihre Mutter benutzte, um die Schränke auszulegen. Wie sie ein Glas holen geschickt wurde und sich dann, mit dem Kopf im Schrank, in eine Meldung vertiefte, in der die Rede von einem Baby mit zwei Köpfen war, und wie sie darüber die Zeit vergaß. Wie das Baby der Cousine der Stiefmutter tot geboren wurde und wie sie einmal geglaubt hatte, ihr Bruder würde an einer Sicherheitsnadel in seinem Blutkreislauf sterben. Wie Yasemin aus dem Dorf zu Onkel Abdurahman gekommen war …
Gül springt von Erinnerung zu Erinnerung, und Ceren findet manchmal kaum Gelegenheit, sie zu unterbrechen. Viele Geschichten bleiben ohne Schluss, und es wird Jahre dauern, bis Ceren die losen Enden zusammenfügen kann.
Ceren verliert sich nicht in Nebengeschichten. Durch die |174|Worte ihrer Tochter bekommt Gül einen Eindruck, wie es bei Gesine zu Hause aussieht und zugeht.
– Nein, wirklich, sagt Ceren, es ist so. Gesine putzt sich im Bad die Zähne, während ihr Bruder duscht.
– Wie alt ist denn ihr Bruder? Kennen die keine Scham? Was sagt ihre Mutter dazu?, fragt Gül staunend, fügt dann aber schnell hinzu: Das ist deren Kultur, das haben sie so gelernt, die meinen es nicht böse. Niemand möchte etwas Schlechtes für seine Kinder. Man muss die Menschen so akzeptieren, wie sie sind. Jeder ist anders.
Ohne auf das Programm zu achten, sitzt Gül abends vor dem Fernseher und versucht zu begreifen, wie diese Dinge wohl zusammenhängen.
– Warum kann Ceren nicht bei uns mitessen?, hat Gesine wohl gefragt, während Ceren nebenan saß und alles hören konnte. Ich esse immer bei denen, wenn ich dort bin.
– Gesine, habe die Mutter gesagt, das habe ich dir schon mal erklärt. Cerens Eltern sind Doppelverdiener.
Und Gesine hat geantwortet:
– Nein, sind sie nicht mehr. Cerens Mutter ist arbeitslos, und ich darf trotzdem immer bei denen essen.
– Aber sie bekommt noch Geld vom Arbeitsamt, habe die Mutter entgegnet.
Wie Gül es auch betrachtet, sie kann es nicht verstehen und muss sich mit der dürftigen Erklärung begnügen, die sie ihrer Tochter gegeben hat. Als Freundin Cerens ist Gesine so etwas wie ein Kind des Hauses. Deshalb muss es umgekehrt nicht auch so sein.
Aber nicht mal einem Fremden würde sie einen Platz am Tisch verweigern. Wo zwei satt werden, werden auch drei satt, hat sie selber gelernt, doch das scheint in diesem Land anders.
Und dieser Bruder, hoffentlich hat die Mutter den unter Kontrolle, nicht dass er sich auch ihrer Tochter nackt zeigt.
Ceren gegenüber verliert sie kein Wort über ihre Befürchtungen, |175|sondern versucht ihr lieber bei anderen Gelegenheiten einzuschärfen, was gut und was richtig ist.
Gül schätzt Cerens Vertrauen, und sie ist froh über diese neue Intimität. Gleichzeitig bemüht sie sich, Ceyda mehr Aufmerksamkeit zu schenken; damit sie nicht eifersüchtig wird, fragt sie jeden Abend, wie es auf der Arbeit war, und versucht an diese Frage ein langes Gespräch anzuknüpfen. Sie steckt ihr Feuerzeuge zu und häkelt und strickt für ihre Aussteuer.
Ceyda war seit jeher verschlossener als Ceren, und Gül muss sich an ihre eigenen Worte erinnern: Man muss jeden Menschen so akzeptieren, wie er ist.
Die Kinder kommen durch uns, aber nicht von uns, und sie sind kein Malbuch, das man mit seinen Lieblingsfarben füllen kann.
Ich liebe nicht eine mehr und die andere weniger, Gott ist mein Zeuge, ich liebe, wie mein Herz es zulässt.
Wären die Mädchen nicht, Fuats Worte würden schärfer schneiden.
So wie der Schmied damals der Erste im Viertel war, der ein Radio hatte, so ist Fuat der Erste in der Heimstraße, der einen Videorecorder kauft. Doch anders als bei seinem Schwiegervater ist es nicht so, dass sich die Familie plötzlich nicht mehr vor Besuch retten kann. Die Nachbarn kommen zwar, und sie schauen, staunen, bewundern, doch nur Tage oder höchstens Wochen später kauft nahezu jeder so ein Gerät. Der Schmied war seinerzeit wohlhabend, hier arbeiten alle in derselben Fabrik.
Binnen Monaten kursieren Kassetten, der türkische Metzger, der nebenbei Obst und Gemüse verkauft, hat auf einmal hinter der Kasse zahlreiche Videos zum Verleih.
Niemand in der Heimstraße schaltet mehr den Fernseher ein, um eines der deutschen Programme zu verfolgen.
Früher, in einem anderen Leben, haben sie alle im Kino |176|Humphrey Bogart gesehen, Cary Grant, Ava Gardner, Kirk Douglas, Bette Davis, Gina Lollobrigida, Elizabeth Taylor, Robert Mitchum. Natürlich gab es damals auch Erol Taş, Fatma Girik, Filiz Akın, Ayhan Işık, doch es waren die amerikanischen Filme, die vor fast zwanzig Jahren ihre Wünsche nährten, ihre Vorstellungen von anderen Ländern und besseren Zeiten. Filme, die Fuat danach streben ließen, endlich selbst Whisky zu trinken und ihn nicht nur schwarzweiß auf der Leinwand zu sehen, ohne ihn auch nur riechen zu können. Filme, die Saniye zu der Ansicht verleiteten, in Europa würde man sich zu jeder Gelegenheit in Schuhen aufs Bett schmeißen. Filme, die wie alle Geschichten glauben machten, es gäbe noch eine andere Welt, in der sich das Leben anders anfühlte als jenes, das sie kannten. Ein Leben, in dem selbst ihre Herzen anders schlagen würden, kräftiger, glücklicher, heiterer, ein Leben, das größer war als eins, in dem es Sorgen gab, Kummer, Trauer und Alltag.
Was sie auf die Suche geschickt hatte, war nicht nur die Not, sondern auch die Sehnsucht nach diesem anderen Leben, das in Greifweite schien, immer in Greifweite, wieso sollten sonst andere davon erzählen können.
Das Kino hatte vor zwanzig Jahren ihre Träume genährt, hatte sie getränkt mit Vorstellungen, hatte zu Neid beigetragen und dazu, dass die Welt kleiner schien.
Als Filmrolle war es nicht schwer, über den Ozean zu kommen, die Wege schienen offen.
Nun sitzen Familien abends vor dem Fernseher, an den Wochenenden schauen sie fünf oder sechs Filme hintereinander, es ist kein Vergleich zu den Doppelvorstellungen damals im Kino, doch die Hauptdarsteller dieser Filme tragen keine ausländischen Namen mehr, sie heißen Kemal Sunal, Orhan Gencebay, Tarık Akan, Hülya Koçyigit, Yılmaz Güney, Müjde Ar, Türkan Şoray, Cüneyt Arkın, Ferdi Tayfur, İbrahim Tatlıses.
Filme, in denen ein berühmter Sänger einen Musiker spielt, |177|der im Gefängnis sitzt und einer Sängerin Stücke schickt, die er für sie komponiert hat, Stücke, die eine Sehnsucht spiegeln, wie man sie nur hinter solchen Mauern spüren kann, Stücke, die klagen, dass einem das Herz mit jedem Tag schwerer wird, so dass Fuat gleich noch mal nachschenkt.
Was bleibt uns schon auf der Welt, es ist Abend geworden, du bist so weit von der Heimat, was sollst du sonst tun außer trinken? Wie könnte das eine Sünde sein? Die, die trinken, sterben, aber leben die anderen etwa ewig? Steck dir noch eine an und zieh den Rauch tief ein, damit er sich von innen auf die Melancholie legen kann.
Filme, die von der glorreichen Eroberung von Byzanz erzählen und in denen nur Christen zu Gräueltaten fähig sind. Filme, in denen die Frau bei der Geburt stirbt und der Mann durch ein Leben zahlloser Schmerzen muss, nur weil er seiner Tochter etwas Glück bescheren möchte. Filme, in denen sich der Sohn des Bauern in die Tochter des Großgrundbesitzers verliebt, Filme, die von Blutrache handeln oder in denen jemand über Nacht im Gefängnis ergraut.
Filme mit Geschichten, die wohlbekannt scheinen, Filme, in denen sich ein Mann und eine Frau unsterblich ineinander verlieben, doch ihre Familien tragen seit Generationen eine blutige Fehde gegeneinander aus. Anders als in den meisten amerikanischen Filmen ist Liebe hier nicht die Antwort. Sie baut keine Brücken und überwindet keine Schluchten, sie führt nicht dazu, dass es einem am Ende des Films ganz warm ums Herz wird. Sie führt zu noch mehr Toten, noch mehr Leid und noch weniger Hoffnung. Hier ist Liebe kein romantisches Ideal, sondern eine Narretei, die die Menschen erfasst und sie unbarmherzig Richtung Tod schleift, weil sie es wagen, gegen die Gesetze und Traditionen zu verstoßen. Filme, bei denen die Helden am Ende sterben, ihr Blut sich mit dem Staub der Straße mischt und die Hinterbliebenen ahnen, dass dieser Schmerz nie richtig verblassen wird.
|178|Gül sieht einen Film, in dem eine junge Frau wegen eines Verbrechens, das sie nicht begangen hat, zum Tode verurteilt wird und vor Gericht die ganze Zeit schweigt. Noch nie hat ihr jemand zugehört, noch nie hat ihr jemand geglaubt oder gar an sie geglaubt. Liebe, das ist ein Lied, das ihr Großvater für sie gesungen hat, als sie noch klein war, eine ferne Erinnerung, der Klang einer brüchigen Stimme, die schief singt. Alles andere sind nur Worte ohne Gefühle dahinter, so wie das ganze Gebrabbel vor Gericht. Sie sieht keinen Ausweg und hält den Mund.
Und wem würde man schon glauben, einem Dienstmädchen, das unzählige Male vergewaltigt wurde, ohne sich zu wehren, oder den reichen Herrschaften?
Gül sitzt vor dem Fernseher und versteht, versteht, wie sie selbst als kleines Mädchen den anatolischen Blues verstanden hat. Natürlich kann man die Wahrheit sagen, natürlich kann man aufrecht sein und ein reines Herz haben, aber was zählt das schon und was ändert das? Was zählt das vor Menschen in Roben, die glauben richten zu können. Die Belohnung einer guten Tat ist die gute Tat. Man darf nach nichts trachten in dieser Welt, die einem nichts schenkt.
Doch es gibt auch Komödien, in denen zum Beispiel ein von Rheuma geplagter Mann Regen vorhersagen kann und so zu einem Dorfheiligen wird, von allen verehrt und gefürchtet.
All diese Filme erzählen Ceyda und Ceren genauso viel über das Land ihrer Eltern, wie die amerikanischen Filme damals Gül und Fuat über die Vereinigten Staaten erzählt hatten. Filme, die nicht nur eine andere Welt sind, sondern aussehen wie etwas, was man tatsächlich betreten könnte. Ein Ort, an dem das eigene Herz Frieden finden wird, trotz aller Widrigkeiten.
So wie die Schwestern die Kassette des Sommers beschwingt wieder und wieder hören, schauen sie Filme unzählige Male an, Liebesfilme, in denen gesungen wird und |179|Menschen sich verlieben, als würden sie von einem Felsen erschlagen werden.
Auch Gesine schaut sich zusammen mit Ceren einige dieser Filme an, man muss die Worte nicht verstehen, um zu begreifen, worum es geht, doch ihr ist es zu mühselig und zu langweilig, sich zwei oder drei hintereinander anzusehen.
Ceren versucht zwar zwei Wochen lang, Gesine etwas Türkisch beizubringen, damit sie die Filme besser mit ihrer Freundin teilen kann, doch sie merkt schnell, dass sie nicht erklären kann, wie diese Sprache funktioniert, und Gesine ist erschrocken darüber, dass sie sich diese Vokabeln einfach nicht merken kann, obwohl sie mit englischen Worten kein Problem hat.
Danke, bitte, die Namen einiger Gerichte, gut und ich bin satt, mehr wird nach zwei Wochen täglichen Unterrichts nicht übrigbleiben, und Ceren muss sich die Filme mit ihrer Schwester oder den Nachbarskindern ansehen. Es dauert manchmal Wochen, bis der Metzger die Filme zurückbekommt, da die Kassetten in der Straße weitergegeben werden. Jeder sagt Bescheid, dass er nun diesen oder jenen Film hat, und der Metzger notiert es auf einer speckigen Karteikarte und kassiert die Leihgebühr.
– So ist die Technologie, sie schreitet fort, immer weiter, sagt Fuat, denk mal an die Jahre, in denen wir hier nach dem Brüllen des MGM-Löwen kein Wort mehr verstanden haben. Denk mal an die hektischen Samstagvormittage, wenn der Brief aus der Türkei im Fernsehen kam, kaum länger als ein richtiger Brief. Vorbei die Tage, an denen wir uns Ehen vor Gericht angesehen haben, weil sonst nichts anderes lief, wo wir unsere Zeit mit dem Streit von Mann und Frau um Geld und Kinder, mit Beschuldigungen, Verrat und Untreue der Deutschen vergeudeten. Jetzt können wir selber entscheiden, was auf dem Bildschirm kommt. Die Technologie schreitet fort, bald wird man überall gleichzeitig leben können, auf |180|Knopfdruck wird alles zu dir ins Wohnzimmer kommen, alle Filme aus der ganzen Welt, alle Zeitungen, bald wird es alles geben, sie verschiffen es oder schicken es mit Lastern. Bald, du wirst nicht mehr denken: Ach, hätte ich doch dies oder das. Wie damals: Ach, gäbe es doch Auberginen, gäbe es doch türkische Zeitungen, gäbe es doch Hammelfleisch.
Bald wird es gibt es nicht nicht mehr geben.
Fülle, das beschert die Technologie dem Menschen, Fülle und Komfort. So wie wir jetzt auf dem Weg in die Türkei nicht mehr schwitzen, weil der Wagen eine Klimaanlage hat. Jeden Tag erfinden sie etwas Neues, behütet wie Augäpfel mögen sie sein, diese Deutschen und Amerikaner und Japaner, sie werden die ganze Welt verändern.
An den Wochenenden sitzt man gemeinsam in einem Wohnzimmer, ein, zwei, drei Familien, Erwachsene, Jugendliche, Kinder, es gibt Gebäck und Tee, Cola und Fanta, es gibt Sonnenblumen- und Kürbiskerne, geröstete Kichererbsen, und es gibt Gespräche. Während die Filme laufen, unterhält man sich. Wenn das Thema interessanter wird, verfolgen nur noch die Kinder, die in einem Halbkreis auf dem Boden direkt vor dem Fernseher sitzen, den Film. Die anderen verlieren sich in einer Unterhaltung über Südostanatolien, Mitgift, türkische Geschichte oder auch nur in Klatsch und Tratsch über die Schauspieler oder abwesende Nachbarn. Wenn eine spannende Stelle kommt oder ein gelungener Witz, sind alle wieder gebannt, doch schon bald gleiten sie in die Gespräche zurück, und die Frau des Hauses achtet darauf, dass die Teegläser und die kleinen Kristallschüsseln mit den Knabbereien nicht leer bleiben. Da die Filme sowieso die Straße hoch und runter wandern, verpasst letztlich niemand eine Szene.
Mit den Filmen ändert sich die Sprache der Kinder, bald fluchen sie alle wie Kemal Sunal. Nicht die Art Flüche, die gleich Frau und Familie beleidigen, die Art Flüche, die man |181|nur in den Mund nimmt, wenn man nicht zurückschreckt vor einer Schlägerei, sondern solche, die hauptsächlich aus Tiernamen bestehen. Tiere, die man meist in einem Stall finden kann, Tiere, die offensichtlich der Verachtung wert sind, da sie sich haben domestizieren lassen. Die Kinder rufen sich gegenseitig Ochsen und Söhne von Eseln und kugeln sich dabei vor Lachen, weil sie verbotene Worte aussprechen und die Lacher aus den Filmen noch in ihnen nachklingen.
Damals hat das Radio des Schmieds das Leben verändert, an den Sommerabenden hatten alle vor ihren Häusern gesessen und dem Klang des Lautsprechers auf dem Dach des Schmieds gelauscht. Es hatte lange gedauert, bis Gül begriffen hatte, dass in dem Kasten, den ihr Vater mitgebracht hatte, keine kleinen Menschen eine Art Theater spielten.
Die Kinder heute wachsen ganz anders auf, selbst die, die noch nicht in der Schule sind, können die Recorder bedienen und wissen, dass im Fernseher niemand wohnt. Wie schnell hat sich alles geändert, so schnell, dass Gül manchmal denkt, es war zu schnell, um es überhaupt zu merken.
Man muss stehenbleiben und zurückschauen, sonst fließt das Leben dahin wie Wasser in einem Bach. Nichts kann man festhalten, selbst wenn das Wasser hier gebändigt ist und in Leitungen fließt, es fließt nur schneller und verschwindet, ehe man nass sagen kann.
– Nur noch Filme hast du im Kopf. Wie schön, nicht wahr, den ganzen Tag auf dem Sofa liegen und Kassetten reinschieben, während ich in der Fabrik ackere. Such dir mal eine Arbeit.
– Gott ist mein Zeuge, sagt Gül, noch nie habe ich allein einen Film geschaut. Ich kann das Gerät überhaupt nicht bedienen.
– Den ganzen Tag sitzt du nur zu Hause, Arbeitslosengeld gibt es nicht mehr, und wir kriegen keinen Groschen mehr auf die Kante. Zum Glück trägt Ceyda wenigstens etwas zum |182|Einkommen bei, sonst sähe es übel aus. Das geht so nicht. Das hier ist Deutschland, es ist mir egal, wie du es anstellst, besorg dir eine Arbeit. Wir sind nicht hier, um es uns gutgehen zu lassen, indem wir faul zu Hause rumsitzen. Ich spiel schon fast nicht mehr, weil wir es uns nicht leisten können.
Soweit Gül das beurteilen kann, ist das sogar richtig.
Fuat singt längst keine Loblieder mehr auf die Arbeit, die Firma oder die Technologie, und es vergehen kaum drei Tage, ohne dass Gül Vorwürfe zu hören bekommt, immer mehr Vorwürfe, immer andere.
– Du bringst meine Töchter gegen mich auf, beschuldigt Fuat sie neuerdings, es ist kaum fassbar, ich bin ihr Vater, aber egal, wo ich bin, sie sind nicht dort. Ich setze mich in die Küche, und Ceyda steht auf und geht raus, ich komme ins Wohnzimmer, Ceren geht, nicht mal im Garten ist eine der beiden länger als zwei Minuten, wenn ich auch dort bin, selbst wenn sie gerade dort arbeiten, lassen sie alles stehen und liegen, als müssten sie noch schnell herausfinden, wo der Pfeffer wächst. Du sitzt den ganzen Tag zu Hause und wäschst das Hirn meiner Töchter mit Kernseife, mit Kernseife und einem Antimännershampoo, du machst hier eine Weiberfront gegen mich auf, man kann sich in seinem eigenen Heim nicht mehr wohlfühlen, das ist doch nicht fassbar.
Gül sieht den Schmerz, und sie weiß, dass die Mädchen tatsächlich die Nähe des Vaters fliehen, doch sie hat sie nie dazu ermutigt.
– Fuat, sagt sie, Fuat, Gott möge mich strafen, auf der Stelle, wenn ich irgendetwas getan haben sollte, um die Mädchen gegen dich aufzubringen. Nie habe ich auch nur ein einziges Wort gegen dich vorgebracht.
– Ach, ja? Und warum kann ich mich dann nirgendwo hinsetzen, ohne dass sie gleich in Bewegung geraten? Seitdem du zu Hause bist, ist das so.
|183|Das stimmt nicht, würde Gül gerne sagen, doch sie hält den Mund, während ihr Mann sich in Rage redet, wie er es tut, seit sie ihn kennt.
Das stimmt nicht, könnte sie sagen, das fällt dir nur jetzt erst auf, weil du in letzter Zeit so unzufrieden bist. Früher war das auch schon so, aber da bist du Vergnügungen hinterhergejagt, du hattest mehr Energie für egoistische Zerstreuungen und hast vieles um dich herum nicht bemerkt. Damals oder heute, hast du dich je gefragt, warum das so ist? Weil ich sie aufhetze, glaubst du das wirklich? Wie viele Jahre leben wir zusammen, kennst du mich wirklich so schlecht? Hast du dich je gefragt, ob es spurlos an den Kindern vorbeigeht, wenn sie ihren stinkenden Vater aus dem Auto auf das Sofa tragen? Ob es sie schmerzt, zu sehen, wie großzügig er gegenüber Fremden ist und wie ihn der Geiz packt, wenn es um seine Töchter geht?
Sie würde es sagen, es ist nicht so, dass sie sich nicht traut. Das mag früher so gewesen sein, aber nun hat sie den Mut. Aber sie hat auch die Gewissheit, dass er es nicht verstehen würde. Sie weiß beim besten Willen nicht, ob das daran liegt, dass er es nicht verstehen kann oder dass er es nicht verstehen will.
Sein Horizont ist beschränkt, wird sie in späteren Jahren über ihren Mann sagen, ich habe ihn nie wirklich verstanden, aber ich begreife, dass er die Welt aus einem sehr kleinen Fenster heraus betrachtet. Und das auch nur mit einem Auge.
Was sie sieht, ist, dass Fuat gerade genug davon hat, dass immer jemand da ist, wenn er nach Hause kommt. Sie sieht, dass er seine Ruhe haben möchte. Nur warum das so ist, das kann sie nicht erkennen.
Ceyda hat viele Liebesfilme gesehen in den letzten Jahren, manche wieder und wieder. Gül kann nicht sagen, ob ihre Tochter romantischen Vorstellungen nachhängt, ob sie eine |184|innere Welt bewohnt, die sich kaum nach außen spiegelt. Ob sie glaubt, der richtige Mann würde alles ändern.
Es ist ihr letztes Ausbildungsjahr, und es kommen die ersten jungen Männer mit ihren Eltern und wollen um ihre Hand anhalten. Bei einigen weiß Gül, dass Ceyda noch nie mit ihnen geredet hat, bei anderen ist sie sich nicht sicher. Gibt es jemanden, in den Ceyda verliebt ist, so wie sie damals in Recep? Wenn ja, kann sie es ihrer Tochter ermöglichen, dass sie diesen Jemand ungestört sieht? Oder gar heiratet?
Viele Menschen kann Gül mittlerweile lesen, sie kann voraussagen, was sie als Nächstes tun werden, sie errät Gedanken und Gründe, auch diejenigen, die man niemandem zu erzählen wagt. Sie ist nicht mehr die junge Frau, die aus Anatolien in die Heimstraße gekommen ist, um dort zu staunen, wie verschieden die Menschen sind, wie sie lügen und sich verbiegen, wie doppelzüngig und hinterlistig sie sein können, wie sie einem etwas vorgaukeln wollen, als gäbe es nur eine Bühne und nichts dahinter.
Doch wenn Gül Ceyda verstohlen von der Seite ansieht und sich fragt, was die geheimen Gedanken in ihrem Kopf sein mögen, weiß sie es so wenig, dass sie fast augenblicklich das Gefühl bekommt, eine schlechte Mutter zu sein.
– Ceyda, sagt sie also frei heraus, nachdem sie ihre Tochter von der Arbeit abgeholt hat, Ceyda, gibt es jemanden, den du kennst oder kennenlernen möchtest?
Sie schaut weg, damit Ceyda sich nicht fühlt, als würde sie geprüft werden. Ihr Blick wandert zur stillgelegten Fabrik, zu der Stelle am Zaun, an der sie immer gestanden hat.
– Nein, sagt Ceyda, es gibt niemanden.
– Ich werde niemandem davon erzählen. Es ist normal, dass du dich für gewisse Dinge interessierst, es ist einfach das Alter. Ich war auch nicht anders, aber meine Mutter hat nie mit mir darüber gesprochen. Es waren andere Zeiten.
Und es war nicht meine Mutter. Das sagt sie nicht. Sie |185|glaubt ja auch nicht, dass ihre eigene Mutter mit ihr darüber gesprochen hätte. Ceyda schweigt, und das Einzige, was Gül spürt, ist, dass ihre Tochter nun gerne rauchen würde. Aber selbst wenn Gül es ihr anböte, sie würde es nicht tun in Gegenwart ihrer Mutter.
– Die wenigen Männer, die bis jetzt gekommen sind, wolltest du nicht. Aber sollte es einen geben, würde ich dir gerne helfen. Du bist noch jung, niemand drängt dich, du kannst noch Dutzende Männer abweisen und erst in zwei, drei, vier Jahren heiraten. Du kannst auch noch mal zur Schule gehen.
Das sagt Gül, obwohl sie nicht weiß, wie sie das Fuat erklären sollte, aber es wird sich schon ein Weg finden, es findet sich immer ein Weg.
– Du kannst studieren an der Universität. Wenn du möchtest.
Ceyda nickt, sagt aber nichts. Vielleicht würde sie ihrer Mutter gerne erzählen von ihrem Entschluss, keinen zu heiraten, der trinkt, vielleicht hindert sie nur die Furcht, ihre Mutter könnte das als Vorwurf auffassen.
Drei Wochen nach diesem Gespräch kommt ein weiterer junger Mann mit seiner Familie. Adem ist zweiundzwanzig Jahre alt, hat eine Ausbildung als Maschinenschlosser und arbeitet in einer Fabrik, die Zigarettenautomaten herstellt. Er ist lang und dünn, seine Familie kommt aus derselben Provinz wie die Yolcus, man hat gemeinsame Bekannte. Adem scheint nicht schüchtern zu sein, aber er ist auch nicht redselig, sondern sieht Ceyda mit mehr oder weniger interessierten Blicken an. Sein Vater behauptet, er habe keine schlechten Angewohnheiten.
– Er raucht nicht mal, sagt er, während Adem gerade auf der Toilette ist. Wirklich. Die jungen Leute tun es ja alle heimlich, seine beiden jüngeren Brüder qualmen und glauben, ich wüsste es nicht, aber Adem hat an diesen Sachen wohl keinen Geschmack gefunden.
|186|Irgendetwas an diesem Adem gefällt Gül nicht. So als hätte sie schon mal von ihm geträumt und ihn nicht gemocht.
Es fühlt sich an, als hätte sie plötzlich Blei im Magen, als Ceyda am nächsten Tag sagt, dass sie Adem gerne heiraten würde.
Warum?, fragt Gül sich. Weil er nicht trinkt? Weil sie weg von zu Hause möchte, wo ihr Vater jeden Tag etwas zu meckern hat? Weil sie zu viele von diesen Filmen gesehen hat? Weil er nicht spielt? Weil er still wirkt?
– Bist du dir sicher?, fragt sie ihre Tochter. Ihr fällt ein, was ihr Vater damals zu ihr gesagt hatte: Ich werde dir einen schmieden müssen. Du hast an allen etwas auszusetzen.
Wenn sie doch Ceyda einen schmieden könnte, Ceyda, die nun sagt:
– Ja, ich bin mir sicher.
– Es gibt noch andere Männer, die keine schlechten Angewohnheiten haben. Vielleicht solltest du noch ein wenig warten.
– Nein, sagt Ceyda. Ich möchte Adem heiraten.
– Du brauchst nicht zu gehen. Auch wenn dein Vater dauernd von Geld redet.
– Das ist es nicht.
Gül würde gerne wissen, was es ist, doch ihr Vater hat nie versucht, sie zu beeinflussen, also hält sie einfach den Mund.
Fuat ist im Gegensatz zu seiner Frau begeistert von der Entscheidung seiner Tochter.
– Komm, sagt er, lass uns darauf anstoßen, und schenkt ihr eine Whisky-Cola ein. Wir werden eine Hochzeit ausrichten, wo es an nichts mangelt, wo jeder essen kann, bis er kaum mehr Luft bekommt. Auf jedem Tisch Flaschen, so viel man möchte, ein Festsaal, ein richtiger Saal, Livemusik, das Ganze werden wir auf Video aufzeichnen lassen, damit wir noch Jahre später etwas davon haben. Man wird zum Mann, wenn man beim Militär war, sagen sie, oder man wird zum Mann, |187|wenn man heiratet, aber ein richtiger Mann ist man erst, wenn man die Kinder verheiratet. Jawoll. Hier, nimm noch einen Schluck.
Ein wenig gewieft muss man sein. Morgen schon werde ich mich nach einem Festsaal umsehen. Das ist eine gute Nachricht. Ceren, wähl mal die Nummer deiner Großmutter, damit wir ihr die Botschaft verkünden können.
Vielleicht ist es der Whisky, der macht, dass Ceyda sich heiter und entspannt fühlt. Vielleicht ist es auch etwas anderes.
– Du wirst das Zimmer für dich haben, sagt sie zu Ceren, als die Schwestern ihre Nachthemden anziehen.
– Ja.
Mehr will Ceren nicht antworten, da sie weiß, dass in ihrer Stimme Tränen mitklingen, auch wenn sie nicht weint.
– Freu dich doch.
– Ja.
– Schau, sie wohnen keine hundert Kilometer von hier. Ich werde einen Führerschein machen. Wir werden uns oft sehen. Wir werden ja nicht getrennt.
– Ja.
Cerens Stimme klingt schon besser. Vielleicht weil sie sich zusammenreißt.
Wir werden ja nicht getrennt.
Wenn man nur wüsste, welche Versprechen man einhalten wird und welche nicht.
Gül sitzt in der Küche und denkt an die Tage in der Küche der Einzimmerwohnung. Damals waren ihre Töchter weit weg, und sie wollte nichts sehnlicher, als sie bei sich zu haben. Nun waren sie da, und die Ältere ist fast schon wieder weg. Doch man kann sich am Wochenende ins Auto setzen, und in einer Stunde kann man schon bei Ceyda und Adem klingeln, die in einer Zweizimmerwohnung in einer Neubausiedlung wohnen, einige Straßen von Ceydas Schwiegermutter entfernt. Sie |188|hat eine Stelle bei einem Friseur, sie verdient Geld, ihr geht es sicherlich gut. Sie ist nicht in irgendjemandes Obhut und wird gescheucht wie ein Dienstmädchen, sie muss nur auf sich selber und ihren Mann achtgeben.
Es scheint alles in Ordnung zu sein, es gibt keinen Grund für Gül, in der Küche zu sitzen und dem Schmerz nachzuspüren, um herauszufinden, wie er sich genau anfühlt und wo er wohl herkommen mag. Ob es die Trennung ist, die Ungewissheit, die Leere, fehlendes Vertrauen, das ungute Gefühl, das sie bei Adem hat.
Wie einfach ist es wohl, wie Fuat zu sein, überlegt sie. Obwohl er gegen Ende der Hochzeitsfeier kaum mehr sprechen konnte, hat er sich gut gehalten. Solange die Festgesellschaft noch vollzählig war, ist er von Tisch zu Tisch gegangen, mit vor Stolz geschwellter Brust, aufrichtig besorgt um das Wohl seiner Gäste. Später, als der Saal sich bereits leerte, hat er der Bauchtänzerin auf den Tisch geholfen und ihr nacheinander unbeholfen mehrere Zwanziger und Fünfziger in den Ausschnitt und den Bund ihres Höschens gesteckt. Eine schlanke Frau war es gewesen, nach Fuats Geschmack, und niemand hatte sich gefragt, warum es immer noch Bauchtanz hieß, wenn es keinen Bauch zu sehen gab, sondern fast nur Muskeln. Ob Technologie oder Frauen, die Welt bewegte sich in eine Richtung, die Fuat behagte.
Den Tag nach der Hochzeit ist Fuat im Bett geblieben, hat sich Hühnerbrühe bringen lassen, Kopfschmerztabletten, Wasser und Zigaretten. Dass seine Tochter weg ist, hat er kaum gemerkt. Am Montag ist er zur Arbeit gegangen wie immer.
Wie einfach wäre es, wie Fuat zu sein, wenn der einzige Schmerz, den man spürt, der im Kopf ist und wenn man sogar weiß, woher der kommt.
Fuat ist arbeiten, Ceren, die zu Hause unruhig geworden ist, ist bei Gesine, und Gül sitzt auf dem Sofa und weiß, dass alles |189|besser ist als damals in der kleinen Küche, sie weiß es, aber es fühlt sich einfach nicht so an.
Es vergehen Stunden, ohne dass sie sich bewegt, sie schaut nach draußen und nimmt nicht mal wahr, wie sich das Licht im Garten ändert. Als Saniyes Gesicht hinter dem Fenster auftaucht, registriert sie zwar die Bewegung, realisiert aber nicht, wer das ist. Das Bild ist wie ein weiterer Gedanke, der in ihrem Kopf auftaucht, ohne dass sie etwas dafür tun muss. Erst als Saniye winkt, kommt Gül zurück in die Küche, zurück auf die Couch, zurück in ihren Körper, erkennt ihre Freundin und sieht den jungen Mann neben ihr. Während sie aufsteht, schaut sie auf die Uhr, noch eine halbe Stunde, bis Fuat von der Arbeit kommt. Dann öffnet sie den beiden die Tür.
Saniyes Augen sind rot und geschwollen, aber ihr ganzes Gesicht lacht, den Mann hat Gül nie zuvor gesehen, doch er kommt ihr vage bekannt vor. Noch vor dem ersten Wort bricht Saniye in Tränen aus und umarmt Gül, während der junge Mann verlegen lächelt.
– Eine Freudenbotschaft, sagt Saniye, als sie sich, Schluchzer unterdrückend, aus der Umarmung löst. Sie zieht die Nase hoch und wischt die Tränen fort. Weißt du, wer das ist?
– Dein Sohn, sagt Gül, ohne nachzudenken und ohne selber zu begreifen, was sie sagt. Dein Sohn, das sind einfach die Worte, die aus ihrem Mund kommen. Und erst als sie Klang geworden sind, beginnt Gül zu erfassen, was sie bedeuten.
– Mein Sohn, sagt Saniye.
– Dein Sohn, sagt Gül und sieht den Mann an, der in Ceydas Alter sein mag, doch er wirkt viel reifer als ihre Tochter. Sie umarmt ihn und küsst ihn auf die Wangen.
– Ufuk, sagt sie, Ufuk, du hast das Herz deiner Mutter erleichtert, Gott möge es dir vergelten, kommt rein, kommt rein. Ich koche uns einen Tee.
– Es war wie in den Filmen, sagt Saniye, als sie sitzen, es hat |190|an der Tür geklingelt, und ich habe aufgemacht, wir haben uns angesehen, und es war, als würde die Musik mit einem Mal aufhören. Ufuk?, habe ich gesagt, und er hat gesagt: Mutter? Und dann wurden meine Knie weich, ich musste mich am Türrahmen festhalten, ich habe gedacht, ich falle in Ohnmacht. Er sieht genauso aus, wie mein Mann aussah, als wir geheiratet haben. Mir ist schwindelig geworden, und ich dachte, da ist kein Boden mehr, kein Grund. Dann hat Ufuk mich umarmt, und ich habe einfach losgelassen.
Wenn man einschläft, hat man doch manchmal das Gefühl, man fällt, so ähnlich war es, nur dass ich nicht aufgeschreckt bin. Dem Herrn seis gedankt, Tausende Male gedankt, dass ich das erleben durfte.
Gül hat Tränen in den Augen.
– Gott möge dich segnen, sagt sie zu Ufuk, wer weiß, was du alles auf dich genommen hast, um hierherzukommen. Mögen deine Hände und Füße kein Leid erfahren.
Später erzählt Ufuk mit einer Stimme, die zwar hell und jung ist, aber dennoch erwachsen klingt, wie er bei seinen Großeltern aufgewachsen ist, wie er erst erfahren hat, was damals passiert ist, als er bereits zwölf war. Wie er ausgerissen ist, weil er den Großvater im Gefängnis besuchen wollte, wie er den alten Mann tatsächlich gefunden und gesprochen hat, einige Tage bevor dieser gestorben ist. Wie seine Großeltern ihn bestraft haben, weil er mit dem Mörder seines Vater gesprochen hat. Wie sehr er sich all die Zeit nach seiner Mutter gesehnt hat, wie groß der Wunsch war, sie zu sehen, wie gleichgültig ihm war, was seine Großeltern sagten, dass sie die Tochter eines Mörders ist und wahrscheinlich eine Hure geworden. Hure oder nicht, sie ist meine Mutter, hatte er gesagt, und nichts und niemand wird mich stoppen, ich werde nach Deutschland fahren und sie finden.
Während sein Tee kalt wird, erzählt er, wie er mit einem LKW-Fahrer mitgefahren ist, der eine Fracht für Deutschland |191|hatte, wie er sich die ganze Fahrt lang vorgestellt hat, er würde bald vor der Tür seiner Mutter stehen, die Frau sehen, die ihn geboren hat. Wie er Angst bekommen hat, als er vor ihrer Tür stand, Angst so groß, dass er am liebsten sofort kehrtgemacht hätte, wie er, noch während er klingelte, gedacht hat, er könnte sich als jemand anders ausgeben. Wie er nicht mal seinem ärgsten Feind eine solche Trennung wünsche.
Immer wieder wischt Gül sich die Tränen aus den Augen, während Ufuk redet.
All ihre Sorgen sind fort, sie lässt sich rühren von einer Geschichte, die von anderem Kummer erzählt, einem Kummer, der ihrem Herzen gerade so nahe ist, als hätte er schon immer auch dort gewohnt.
– Was hat Yılmaz denn gesagt?, fragt sie.
– Yılmaz, sagt Saniye erschrocken, den habe ich ganz vergessen. Als Ufuk gekommen ist, war ich so aus dem Häuschen, ich wusste gar nicht, was wir tun sollten, da sind wir zu dir gekommen. Yılmaz müsste schon zu Hause sein und wird sich wundern, wo ich bin. Ich rufe ihn an und sage, er soll hierherkommen.
– Gut, Fuat und Ceren müssten auch jeden Augenblick kommen. Da können wir alle zusammen essen. Oder bist du müde, mein Sohn, möchtest du dich vielleicht kurz hinlegen?
– Nein, nein, antwortet Ufuk, wie könnte ich jetzt schlafen?
– Kaum fassbar, sagt Fuat, als er die Geschichte hört, kaum fassbar. Mein Junge, du wirst es weit bringen in diesem Leben. Mit Ehrgeiz, Gewieftheit und Mut, wie du sie hast, wird man ein richtiger Mann. Um dich muss sich deine Mutter keine Sorgen machen. Was möchtest du denn trinken? Einen Whisky oder lieber einen Rakı?
Gül bemerkt, wie Saniye neben ihr die Luft anhält, als sie |192|diese Frage hört, und sie sucht Fuats Blick, um ihm zu signalisieren, dass er Ufuk lieber nichts anbieten soll, doch ihr Mann öffnet schon den Kühlschrank, in dem er auch seinen Whisky aufbewahrt.
– Danke, sagt Ufuk, vielen Dank, aber ich trinke nicht.
Gül hört, wie Saniye ausatmet, und sieht, wie sich ihr Gesicht entspannt, während Fuat seine Enttäuschung kaum verbergen kann.
– Du bist groß und Manns genug, aus dem tiefsten Malatya auf eigene Faust hierherzukommen, trinkst aber keinen Schluck? Bist du etwa einer von diesen Religiösen?
– Nein, nein, Gott bewahre, es schmeckt mir einfach nicht, sagt Ufuk.
– Ein Bier?
Jetzt möchte Fuat es genau wissen.
– Nein, danke, auch kein Bier.
Yılmaz’ Augen sind gerötet, aber nicht so, als hätte er geweint. Seine Lider hängen etwas, als wäre er müde, er kommt Gül ein wenig fremd vor. Saniye hat ihm nichts verraten, nur gesagt, dass er vorbeikommen solle. Als Yılmaz Ufuk gesehen hat, ist sein Mund auf und zu gegangen, ohne einen Laut von sich zu geben, einige Momente hat er verwirrt gewirkt, sehr verwirrt, dann hat er den Mund geschlossen, ihn noch mal aufgemacht, die einzige Bewegung im Raum, alle anderen haben Yılmaz angesehen und versucht zu verstehen, was da geschieht. Gerade als die Stille unangenehm wurde, hat Yılmaz gesagt:
– Ich kannte deinen Vater. Du bist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Komm her, mein Sohn, lass dich umarmen.
Nun stand den anderen der Mund offen.
– Mustafa, Mustafa, es gibt Hunderte Mustafas, woher sollte ich denn wissen, dass Saniye mit einem verheiratet war, den ich auch kannte. Damals war er noch Junggeselle, wir haben so einige Male zusammen getrunken in einer Kneipe in |193|Malatya. Mustafa wurde aggressiv, wenn er etwas zu viel hatte, aber er war ein guter Kerl. Gott sei seiner Seele gnädig. Ich weiß gar nicht, was er damals gemacht hat, wir waren jung, und einer meiner Onkel wohnte in der Stadt und handelte mit Mehl, zu ihm bin ich damals, weil ich Geld verdienen wollte für das Studium. Was hat der mich Säcke schleppen lassen, und abends habe ich mir mit Mustafa ein paar Gläser genehmigt. Windigen Geschäften ist der nachgelaufen, wenn du mich fragst, windigen Geschäften. Und auf einmal war er weg.
– Kaum fassbar, sagt Fuat und wendet sich an Saniye: Und du hast in Deutschland ausgerechnet diesen Mann gefunden, der ein Trinkgenosse deines ersten Mannes war. Was für eine Welt, was für ein Leben. Was möchtest du trinken, mein Freund?, fragt er Yılmaz nun.
– Nur ein Bier.
– Es gibt etwas zu feiern.
– Ja, aber ich bleibe heute beim Bier.
– Diese Welt, sagt Fuat, diese Welt ist nicht zu verstehen. Der eine mag keinen Alkohol, der andere will nur Bier. Komm, Yılmaz, Bier, das ist fast wie Wasser. Einen kleinen Schluck, wenn es Gift wäre, würde es dich nicht umbringen. Es gibt was zu feiern heute, da willst du mich doch nicht allein trinken lassen. Einen winzigen.
– Aber wirklich nur einen winzigen, sagt Yılmaz.
Seine Augen sind nicht nur gerötet, sie haben auch einen Glanz, den Gül nicht einordnen kann.
Gül beginnt die Momente zu fürchten, in denen Fuat von der Arbeit kommt, weil es fast jeden Tag Streit gibt. Ein Vorwand ist schnell gefunden, das Essen ist zu mild, die Cola nicht kalt genug, der Drang zu putzen eine Krankheit seiner Frau. Ein Anfang findet sich, und was auch immer dieser Anfang sein mag, fast jeden Tag führt er dazu, dass Fuat sagt:
– Find mal eine Arbeit. Du kannst hier nicht den ganzen |194|Tag rumsitzen, dafür sind wir damals nicht hierhergekommen. Ein Gehalt und drei Mäuler, da können wir keine Sprünge machen, geschweige denn unsere Zukunft in der Türkei sichern.
Gül sitzt in der Küche und fragt sich, was sie tun soll. Vielleicht nervt es Fuat, dass er jeden Tag zur Arbeit muss, während sie zu Hause sein kann. Vielleicht mag er seine Arbeit nicht. Vielleicht geht es wirklich um das Geld.
Doch was Gül auch versucht, sie kann keine Arbeit finden.
Einige Familien aus der Heimstraße haben die Hilfe für Rückkehrer in Anspruch genommen und sind zurück in die Türkei gezogen. Vielleicht sollten sie es auch so machen.
Fuat sitzt kaum noch an Spieltischen, und die Summe, die er wöchentlich für Lottoscheine ausgibt, hält sich in Grenzen, doch noch immer ist da der Traum vom Reichtum, der das Ende der Sorgen bedeutet.
Es ist viel Geld, was die Deutschen einem zahlen, wenn man verspricht, nicht nach Deutschland zurückzukommen, und eines Abends, noch bevor der Streit richtig beginnen kann, sagt Gül:
– Ich habe nachgedacht, weißt du?
– Was hast du gedacht? Dass du eine Arbeit kriegst, indem du zu Hause rumsitzt?
– Nein. Wir sind schon so lange hier. Wir haben ein fertiges Haus in der Türkei, wir haben Felder und ein Grundstück. Warum sollen wir uns hier weiter abrackern? Es ist doch alles da. Vielleicht sollten wir auch diese Rückkehrerhilfe beantragen. Das ist viel Geld, damit könnten wir …
Fuat unterbricht sie:
– … könnten wir den ganzen Tag zu Hause rumsitzen, weil es dort keine Arbeit gibt. Wie viel Jahre würde das Geld reichen, drei, vier, fünf? Und selbst wenn ich Arbeit hätte, dort verdienst du fast nichts. Ich bin doch nicht blöd und lasse einen Job bei Mercedes sausen, nur weil meine Frau in |195|Deutschland keine Arbeit findet und mit eingezogenem Schwanz zurück nach Hause möchte. Da hast du dich aber geschnitten. Was ihr Weiber immer für Ideen habt. Ich kündige eine gute Arbeit, um zu Hause in der Türkei in meinem Haus Däumchen und Pfennige zu drehen. Leuchtet dir das ein, sag selbst! Du kannst ja gerne gehen, wenn du möchtest.
Gül schaut ihn an.
– Kommst du dann nach?
– Ja, sagt Fuat, ich komme dann nach.
Er sieht sie nicht an dabei, und Gül zieht es vor, die Worte zu hören und nicht den Ton, in dem er sie sagt.
Ceren und ihre Mutter sitzen immer öfter gemeinsam auf der Couch in der Küche, Bein an Bein, Ceren lehnt sich gegen Gül, lässt sich in den Arm nehmen, legt ihre Hand auf den Oberschenkel ihrer Mutter. Sie erzählt von der Schule, von Gesine, wie sie sich fühlt ohne ihre Schwester, was sie geträumt hat, einen Witz, den sie neulich gehört hat, von dem heftigen Wind letzte Nacht, von kleinen Dingen, die das ganze Leben füllen, weil sie immer da sind. Gül hingegen spricht von Vergangenem, von den Augen ihrer Großmutter, die immer schlechter wurden, bis sie schließlich erblindete und trotzdem jeden am Klang seiner Schritte erkannte und sogar wusste, wenn Gül zugenommen hatte. Ihre Großmutter, die zunächst viel auszusetzen gehabt hatte an ihrer ersten Schwiegertochter Fatma, Güls leiblicher Mutter, bis der Schmied auf die Idee gekommen war, hinter geschlossenen Türen seine Frau zum Schein zu schlagen, wodurch sich die Eifersucht seiner Mutter gelegt hatte. Gül erzählt von ihrem Vater, der immer sagte, seine erste Frau sei schön wie ein Stück vom Mond gewesen, und der sich nach einem Besuch auf dem Friedhof gewünscht hatte, seine jetzige Frau und seine verstorbene würden mal die Plätze tauschen.
In den Stunden auf dem Sofa wird für Ceren eine Welt lebendig, |196|die sie nie erlebt hat. Vor Hintergründe, die sie kennt, das Sommerhaus, das Haus in der Stadt, den Friedhof, schieben sich Farben und Klänge und Ereignisse aus dem Mund ihrer Mutter. Es entstehen Landschaften, die außerhalb der Zeit existieren, Orte, die man immer bereisen kann.
Manchmal sitzen sie einfach nebeneinander, wortlos, die Wärme der einen vermischt sich mit der Wärme der anderen, zwei Gerüche verschmelzen, Frieden und Behaglichkeit werden eins, und statt der Worte verbindet die Stille.
Und in diese Stille hinein sagt Gül eines Tages: – Möchtest du mit mir in die Türkei gehen?
Das Land aus den Erzählungen, Türkei, die Zeit, die sechs Wochen währt, Türkei, eine einzige Jahreszeit und so viele Farben in Cerens Kopf, wie nicht mal der große Pelikan-Malkasten hatte.
– Ja, sagt sie, ohne zu zögern. Ja, Mama.
– Dann wirst du Gesine nicht mehr sehen und deine anderen Freundinnen, du wirst in eine neue Schule kommen, wirst neue Freunde finden müssen, wirst deine Schwester nicht mehr so oft sehen, es wird bestimmt nicht leicht, sich umzugewöhnen. Überleg es dir gut.
In der Türkei wird es nicht anders sein als hier, wo fast nur Türken in der Straße wohnen, mag Ceren denken, nur dass in den Läden und in der Schule auch Türkisch gesprochen wird. Gül stellt sich vor, dass die Umgewöhnung für sie selber nicht schwer werden wird, schließlich ist sie dort aufgewachsen, sie stellt sich vor, dass ein gemeinsames Leben leichter ist als eines alleine, dass sie wie früher jeden Tag ihren Vater sehen wird, seinen Schweiß riechen und seine Stoppeln spüren.
Manchmal versucht man, in die Zukunft zu blicken, und sie wirkt wie ein Berg, den man nicht erklimmen kann, und manchmal wirkt sie wie ein Weg, der für einen bereitet worden ist. Doch nie ist sie so, wie es scheint.
Ceren beteuert in den nächsten Tagen immer wieder, dass |197|sie gerne in die Türkei möchte, während Gül nicht müde wird, ihre Bedenken zu wiederholen. Vier Wochen nachdem sie das erste Mal darüber gesprochen haben, beschließen die beiden, aus Deutschland wegzugehen. Nicht jetzt, mitten im Schuljahr, sondern in den Sommerferien, was für Ceren bedeutet, dass sie fast drei Monate freihaben wird. So wird ihr Leben in der Türkei beginnen, indem sie genauso lange Schulferien hat wie die Schüler dort.
– Zurück in die Heimat, sagt Serter, zurück in die Heimat. Möge Gottes Segen mit euch sein. Diesen Weg gibt es für mich nicht mehr.
Gül hat ihn zufällig beim Gemüsehändler getroffen, in der Hand hält er eine Dose mit weißen Bohnen und dreht und wendet sie, als könnte irgendwo ein Hinweis darauf sein, dass gerade diese Dose vergiftet ist.
– Sprich doch nicht so, sagt Gül, wer weiß schon, was alles geschieht. Vielleicht ist es dir auch beschieden.
– Es geht nicht um beschieden, sagt Serter, es geht darum, dass dort kein Glück mehr für mich ist. Schau mal, sagt er und stellt die Dose zurück ins Regal, schau mal, wir gehören hier nicht dazu. Schon seit Jahren schmieden sie Pläne, wie sie uns loswerden können. Und jetzt haben sie diese Rückkehrerhilfe, wer freiwillig geht, hat es gut, aber danach werden sie zu härteren Mitteln greifen. Die haben Angst vor uns, das habe ich dir schon mal gesagt.
– Aber du hast auch gesagt, du würdest zurückkehren in die Türkei.
– Ja, sagt er, das ist ein Wahn, in dem ich gelebt habe. Aber nüchtern betrachtet, ist es doch so: Du kehrst zurück zu deinesgleichen, aber mich halten die Leute für verrückt, ich habe keinen Ort mehr, zu dem ich gehöre. Solange ich Ausländer in diesem Land bin, ist das normal, doch wenn ich zurückgehe dorthin, wo ich einen Platz haben müsste, aber ihn auch nicht |198|habe, dann werde ich Depressionen bekommen, hörst du, Depressionen. Das kann sich jeder ausrechnen, der etwas von menschlicher Psychologie versteht. In Deutschland gehört es zu meinem Leben dazu, dass ich nicht erwünscht bin, aber in der Türkei würde es mich in eine Dunkelheit stürzen, die auch Gottes Stimme nur schwer erhellen kann. Dieser Weg steht nicht mehr offen für einen, den alle für verrückt halten.
– Und was willst du machen, wenn sie hier tatsächlich zu härteren Mitteln greifen?, fragt Gül. Nicht weil sie daran glaubt, sondern weil sie nicht weiß, was sie sonst sagen soll.
– Ich bin gut vorbereitet, sagt Serter. Wie, das kann ich dir nicht verraten. Aber Mevlüde, diese durchtriebene Frau, hat es nicht geschafft, mich zu vergiften, all die Gegner Gottes, die nach meinem Leben trachten, sind gescheitert. Ich werde mich nicht von den Deutschen kleinkriegen lassen. Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen.
Auf dem Heimweg denkt Gül darüber nach, ob Serter der einsamste Mensch ist, den sie kennt. Und ob er sich selber auch einsam fühlt oder ob ihm die Nähe Gottes reicht. Sie fragt sich, was der arme Mann denn tun könnte und warum der Herr ihn so bestraft. Ohne Heimat und ohne Familie zu sein, etwas Schlimmeres kann sie sich gar nicht vorstellen.
Eine Woche bevor Gül, Fuat und Ceren ins Flugzeug steigen, stirbt Tante Tanja. Sie wacht einfach eines Morgens nicht mehr auf. Alle Bewohner der Heimstraße, die noch nicht in den Urlaub gefahren sind, gehen zur Beerdigung. Für fast alle von ihnen ist es die erste christliche Beerdigung, bei der sie zugegen sind. Sie haben schon einige im Fernsehen gesehen, aber hier herrscht strahlender Sonnenschein, die Anzüge sitzen nicht so gut, und es scheint sehr viele Schattierungen zwischen Schwarz und Dunkelblau zu geben. Die Tränen sind echt und der Gram in den Gesichtern nicht geschminkt.
Für Ceren ist es die erste Beerdigung überhaupt, und sie |199|wundert sich, dass auf diesem gepflegten Friedhof voller Blumen und Lichter und schnurgerader Wege tatsächlich Tote liegen. Die Toten gehören in ihrer Vorstellung auf einen Friedhof wie den, auf dem ihre Großmutter begraben ist. Ein chaotisches Gewirr, wo einfache Felsbrocken als Grabsteine dienen, ein Friedhof, bei dem man an der Größe der Gräber erkennen kann, wo Kinder liegen, ein Friedhof, auf dem man achtgeben muss, dass man nicht unabsichtlich auf ein Grab tritt und damit die Toten entehrt. Ein Friedhof, auf dem man Angst hat.
Hier ist alles akkurat geordnet, als wollte man den Tod in seine Schranken verweisen.
Ceren denkt an den Tag, als das Auto sie angefahren hatte und ihre Mutter mit Tante Tanja ins Krankenhaus gekommen ist. Sie erinnert sich, wie Tante Tanja hinter ihnen Wasser auf die Straße geschüttet hat. Wie sie den Kindern Schokoladenriegel gegeben hat und wie sie Silvester auf ihren Stock gestützt im Vorgarten stand und lächelnd die türkischen Worte nice yıllara wiederholte. Sie weint am Grab, sie weint, aber sie denkt: Ob sie tot ist oder nicht, Tante Tanja hätte ich sowieso nicht wiedergesehen.
Gesine wird sie eines Tages noch einmal sehen, da ist sie sich sicher.
Zwei Tage nach der Beerdigung fliegen alle gemeinsam in die Türkei, und es sieht so aus, als würden sie in den Urlaub fliegen, Fuat, Gül, Ceren, Adem und Ceyda, die mittlerweile schwanger ist.