|287|An diesem Tag überließ Timur die Schmiede wieder seinem Gehilfen, der sich wunderte, weil Timur sonst nie so lange wegblieb.
Erneut ging der Schmied zu dem Haus, in dem Fatma wohnte, und als er seine Füße vor Kälte bereits nicht mehr spürte, kam sie gerade mit einem Tonkrug aus der Tür. Er hatte sich hinter einen Mauervorsprung gestellt, und Fatma sah ihn erst, als sie fast schon vor ihm stand. Sie wußte, daß das der Mann war, dem sie gestern versprochen worden war, und sie machte kehrt und lief ein Stück zurück, bevor sie unvermittelt stehenblieb. Offenbar war ihr eingefallen, daß sie nicht ohne Erklärung zurück ins Haus kommen konnte. Sie drehte sich wieder um, sie mußte zum Nachbarn, Essig holen. Unentschlossen ging sie zwei Schritte vorwärts, langsam, zögernd, den Blick auf den Boden gerichtet. Dann machte sie wieder einen Schritt rückwärts, ihre Wangen glühten, der Schnee knirschte unglaublich laut unter ihren Füßen, und sie blieb stehen. Sie hörte ein weiteres Knirschen, dann noch eins und noch eins, und als sie langsam den Kopf hob, sah sie den breiten Rücken des Schmieds.
Timur zündete sich eine Zigarette an und lächelte. Vielleicht hatte sie keine Brüste, aber sie war schön. Sie war schön wie ein Stück vom Mond. Sie war schön, als wären da immer noch Sterne in seinen Haaren.
Timur kehrte nicht sofort zurück in die Werkstatt, er ging zum Kaufmann, um sich das einzige Bett zeigen zu lassen, das zum Verkauf stand. Er folgte dem Kaufmann ins Lager, glitt langsam in die Hocke und sah das Gestell lange und aufmerksam an.
– Möchten Sie es kaufen? fragte der Kaufmann, der ein Geschäft witterte. Seit einem halben Jahr stand dieses Bett nun schon herum. Nahezu alle Bewohner dieser kleinen Stadt schliefen auf dem Boden auf Matratzen oder Sitzkissen oder auf dem Diwan, und selbst von den Reichen schien |288|zur Zeit niemand ein Bett kaufen zu wollen, es gab keinen Anlaß.
Als Timur nichts erwiderte, fuhr der Kaufmann fort:
– Werden Sie heiraten? Darf man gratulieren?
Timur brummte etwas Unverständliches, ohne seinen Blick von dem Bettgestell abzuwenden.
– Wir können Ihnen natürlich mit dem Preis ein wenig entgegenkommen.
Der Schmied gab keinen Laut von sich und kniff die Augen leicht zusammen, nickte kurz, dann erhob er sich und umrundete langsam das Gestell. Schließlich sagte er zum Kaufmann:
– Ja, ich werde heiraten. Im Frühling. Im Frühling, wenn alles grün wird und duftet. Nein, ich werde das Bett nicht kaufen, aber vielen Dank und einen ertragreichen Tag noch.
Timur ging gut gelaunt in die Werkstatt, es gab viel zu tun, er würde länger bleiben müssen, wenn er heute noch mit dem Bettgestell anfangen wollte. Die Bettpfosten sollten genauso werden wie bei dem Modell, das beim Kaufmann stand, kniehoch und rund und glänzend. Und darauf würde er die Latten setzen, genauso wie er es sich abgeguckt hatte. Doch das Kopfteil sollte keine so geraden Stäbe wie Gefängnisgitter haben, sondern geschwungene, wie rankende Rosen.
Er arbeitete fast bis Mitternacht in der Schmiede, und als er schließlich auf seiner Matratze lag, schloß er zufrieden die Augen. Ein Stück vom Mond.
Fatma und Timur schliefen in ihrer Hochzeitsnacht zum ersten Mal in einem richtigen Bett. Beide hatten, nachdem sie das Zimmer betreten hatten, kein einziges Wort mehr gesagt. Doch als Timur später kurz vor dem Einschlafen war, murmelte Fatma:
– So schlafen also die Könige.
Und Timur war nicht nur stolz, sondern auch verwundert, |289|wie genau die Worte das trafen, was er gerade selber empfand. Er fühlte sich reicher, mächtiger, beschützter, er fühlte sich groß genug, um die Welt zu beherrschen.
Es war Frühling, sie waren frisch verheiratet, Timur hatte genug Arbeit in der Schmiede, sie hatten Geld, Fatma brachte ihm jeden Mittag etwas zu essen, und dann saßen sie ein wenig zusammen und redeten, redeten, bis es für Fatma Zeit wurde, zu gehen, und für Timur, weiterzuarbeiten. Das Essen stand meistens noch unangerührt da, aber Fatma wußte, Timur würde es bis zum Abend gegessen haben, und er würde wieder Hunger haben, wenn er nach Hause kam, er war ein großer Mann, der hart arbeitete. Es war Frühling, sie hatten ein eigenes Zimmer im Haus, das Timurs Mutter von ihrem Mann geblieben war.
Und so fingen die Probleme an. Zeliha sah, wie sich ihr Sohn um diese junge Frau kümmerte, um dieses Mädchen, wie er ihr fast jeden Abend eine Kleinigkeit mitbrachte, ein Stück Stoff, damit sie sich etwas nähen konnte, einen Sesamkringel, ein neues Kopftuch, manchmal auch Süßigkeiten oder ein Stück Schokolade. Zeliha sah, wie ihr Sohn die Nähe ihrer Schwiegertochter suchte, wie verliebt er war und wie er sie umsorgte.
Eines Abends, es war schon Sommer, zog sie ihn beiseite:
– Deine Frau, sie ist faul, sie erfindet Ausreden, um nicht im Haus helfen zu müssen. Heute ist ihr Knöchel verstaucht, und morgen hat sie Magenschmerzen. Und wenn sie etwas tut, dann gibt sie sich keine Mühe. Am letzten Waschtag hat sie sich an den Waschtrog gesetzt und zwei Stunden lang nicht einmal das Wasser gewechselt. Sie hat unsere Wäsche mit dem schmutzigen Wasser gewaschen.
– Warum hast du nichts gesagt?
– Das habe ich. Sie hat aufgestöhnt und behauptet, sie hätte das Wasser gewechselt. Sie hat sogar aufgestöhnt. Du solltest ihr etwas mehr Respekt beibringen.
|290|– Mutter, du hattest doch gesagt, sie sei fleißig und zuverlässig.
– Da habe ich mich wohl vertan, sie ist faul und respektlos.
Abends im Bett erzählte Timur seiner Frau, daß seine Mutter sich beschwert hatte. Und Fatma sagte mit leiser Stimme:
– Ich mache wirklich alles, was ich kann. Ich strenge mich an, aber deine Mutter … ist manchmal ungerecht, glaube ich.
Die Beschwerden häuften sich: Fatma schnitt den Käse falsch, sie schnitt die Spüllappen entzwei, wenn sie Messer abwusch. Wenn sie rausging, lief sie absichtlich wie eine Ente, damit sie noch vor dem Winter neue Schuhe bekäme, sie schmierte sich die Butter zu dick auf das Brot, und Timur begriff langsam das Problem.
– Hör mal, sagte er eines Abends zu Fatma, hör mal, ich glaube, ich weiß, was wir tun können. Das nächste Mal, wenn meine Mutter sich beschwert, dann ziehe ich dich hier ins Zimmer, und ich schlage auf die Sitzkissen und brülle ein wenig herum, und du schreist auf wie vor Schmerz, dann gehe ich raus, und du bleibst noch ein wenig drinnen.
Jedesmal, wenn Zeliha sich bei ihrem Sohn über ihre Schwiegertochter beschwerte, gingen die beiden nun in ihr Zimmer, und kurz darauf hörte man Schläge und Schreie. Die Beschwerden wurden immer seltener.
Timur erzählte seinen Freuden begeistert von diesem Trick, und sie lachten gemeinsam, stießen an und tranken. Und als der Herbst zu Ende ging, wußte es die ganze Stadt.
– Wir müssen uns etwas Neues ausdenken, sagte Timur, als sie eines Abends nebeneinander auf der Matratze lagen. Das Bettgestell hatten sie verliehen, eine entfernte Verwandte Timurs hatte geheiratet, und auch sie wollte ihre Hochzeitsnacht in einem richtigen Bett verbringen. Um dieses Bett, dessen Füße er mit Messing verziert hatte, beneideten den Schmied selbst die Reichen.
– Wir könnten doch fortgehen, sagte Fatma, du könntest |291|eine Werkstatt aufmachen, ein wenig Handel treiben, ich könnte Teppiche weben. Du hast zwei Pferde, wir könnten woanders leben.
Ja, er hatte zwei Pferde und einen Esel, ja, er hatte etwas Geld, aber wo sollten sie hin? Fort aus der Stadt, weg von allen Verwandten und Freunden, in eine andere kleine Stadt, wo sie niemanden kennen würden?
– In die Fremde? fragte er.
– Wir könnten aufs Dorf ziehen, sagte Fatma.
– Du weißt doch gar nicht, wie das ist, das Leben dort ist ganz anders. Die haben nicht mal Klos, die hocken sich in die Sträucher.
– Wir könnten ein Klohäuschen bauen. Du könntest die Schmiede behalten und hin- und herreiten, nebenbei das Obst und Gemüse der Bauern auf dem Markt verkaufen. Timur, wir könnten unser eigenes Leben leben.
– Ich überlege es mir.
Und damit er besser nachdenken konnte, nahm er sich frei und fuhr mit dem Zug nach Ankara. Er wollte ein paar Tage lang das Leben in der großen Stadt genießen, Autos sehen, die Häuser der Reichen, die Geräusche und Gerüche, die Menschenmassen. Tagsüber saß er in Teehäusern und fing Gespräche mit den Großstädtern an. Die einen sagten, der Krieg würde bald vorbei sein, die anderen sagten voraus, er würde noch lange andauern und die Deutschen würden in einem halben Jahr vor Istanbul stehen wie die Osmanen einst vor Wien. Für Timur war dieser Krieg trotzdem weit weg, er hörte zu, aber als sich eine Gelegenheit ergab, wechselte er schnell das Thema und versuchte herauszubekommen, wer wie er Anhänger von Beşiktaş war. Fußball interessierte ihn mehr als Politik.
Und am meisten interessierten ihn die Abende in der Großstadt. Ein paar Stunden in einem Lokal den leicht bekleideten Sängerinnen zuhören und dabei ein, zwei Gläser |292|trinken, ein Stück Honigmelone essen, etwas Schafskäse, und schon nach dem dritten Glas verschmolz er mit dem Klang. Und noch später lag er allein und entspannt in einem billigen Hotelzimmer, die Sorgen hatten aufgehört, sein Geschäft war weit weg, seine Mutter auch, hier kannte ihn niemand, er hatte sich verloren in der großen Stadt, er hatte sich verloren, als würde er Habgier verlieren, Streben, Bedenken, Ketten. Er hatte sich verloren, um sich lächelnd auf einem Hotelbett wiederzufinden, sein Atem gleichmäßig und ruhig.
Als er zurückkam, sagte er:
– Der Winter ist keine gute Zeit zum Umziehen.
Im Frühjahr hatte Timur ein Haus gefunden und ihren Hausrat auf dem Rücken der Pferde und des Esels dorthin gebracht. Er hatte einen Pferdewagen gemietet, um das Bett, das mittlerweile zurückgekommen war, zu transportieren, und schließlich hatte er seine Frau geholt. Zwei Stunden hatte sie auf dem Rücken des Esels gesessen, bis sie ankamen. Der Ritt auf einem der Pferde dauerte nur etwa halb so lang.
Es war Fatmas Idee gewesen, aufs Dorf zu ziehen, doch sie kannte Dörfer nur aus Erzählungen, und Dorfbewohner waren ihr bisher nur als Händler auf dem Markt begegnet.
Als sie an ihrem ersten Tag im neuen Haus abends im Bett lagen, fragte Fatma:
– Sind die Frauen hier alle miteinander verwandt?
– Nein, wieso?
– Die tragen alle die gleichen Kleider. Timur lachte.
– Das ist hier so. Wir sind jetzt auf dem Dorf. Er lachte, aber er machte sich Sorgen.
Er fragte sich, ob Fatma sich hier einleben könnte, während er fast jeden Tag zur Schmiede in die Stadt reiten würde, um dort zu arbeiten. Doch als er nach einer Woche kurz vor der Dämmerung im Dorf ankam, sah er Fatma auf dem Dorfplatz sitzen, die jungen |293|Frauen und Mädchen hatten sich um sie versammelt und hörten ihr zu.
Als Fatma ihn erblickte, sprang sie auf, doch er bedeutete ihr, sitzen zu bleiben, stieg ab, führte sein Pferd am Zügel in den Stall und rauchte auf den Stufen vor dem Haus eine Zigarette, während er zusah, wie die Sonne unterging.
– Märchen, war das erste Wort, das Fatma sagte, als sie hinüberkam. Ich habe ihnen Märchen erzählt. Sie kennen keine Märchen. Das ist doch erstaunlich, oder? Ich dachte immer, die Märchen kämen aus den Dörfern in die Stadt … Du bist früh dran, ich habe gedacht, du kommst so spät wie in den letzten Tagen. Das Essen ist fertig.
Drinnen blickte der Schmied auf den Teppich im Webstuhl, sah, daß sie gearbeitet hatte, und lächelte leise in sich hinein.
Timur kaufte den Dorfbewohnern Bohnen ab, Weizengrütze, im Sommer und Herbst auch Tomaten, Brechbohnen, Melonen, Weintrauben, Äpfel und Aprikosen. Er belud seinen Esel, um die Sachen auf dem Markt zu verkaufen, und er machte einen guten Schnitt dabei. Er kaufte sich zwei Kühe, einige Hühner, auf Fatmas Drängen auch noch einen kleinen Weinberg, seine Werkstatt lief gut, er verdiente mehr als zuvor.
Gegen Ende des Herbstes verkaufte er die Teppiche, die Fatma gewebt hatte, und als er nach diesem erfolgreichen Sommer so viel Bargeld in den Händen hielt, fuhr er wieder in die große Stadt. Dieses Mal aber nicht nach Ankara, er fuhr bis Istanbul, denn dort spielte Beşiktaş im Stadion, und dort waren die Frauen noch schöner und sangen noch lieblicher, und der Wein rann die Kehle hinab wie flüssiges Sonnenlicht.
Eine Woche später war er wieder da, die Hälfte des Geldes hatte er in Istanbul gelassen.
|294|Fatma verstand sich gut mit den Dorfbewohnern, alle achteten und schätzten sie, und das nicht, weil sie die Frau des Schmieds war, die Frau des Mannes, dessen Kraft alle rühmten und der zudem noch einen guten Kopf größer war als die meisten, die Frau eines Mannes mit stechend blauen Augen, der stolz mit geradem Rücken auf seinem Pferd saß. Nein, die Frauen des Dorfes mochten Fatma, weil sie noch so jung war, weil sie Geschichten erzählen konnte, weil sie immer freundlich zu allen war und sich nicht als etwas Besseres fühlte, nur weil sie aus der Stadt kam oder weil sie Geld hatte. Sie mochten sie, weil sie gutmütig war und immer versuchte zu schlichten, wenn es Streit gab, sie mochten ihr sanftes, aber bestimmtes Wesen.
Als Fatma im Winter schwanger wurde, ohne auch nur ein einziges Mal ihre Regel gehabt zu haben, freuten sich alle Frauen des Dorfes mit ihr.
Der Schmied hatte den Handel ausgedehnt, es hatte sich in den umliegenden Dörfern herumgesprochen, daß es da einen Mann gab, der den Bauern anständige Preise für ihre Waren zahlte. Im Frühling, als sich Fatmas Bauch schon rundete, nahm Timur sie eines Tages mit in ein Dorf, das fast eine Tagesreise entfernt war, weil er ihr eine Abwechslung bieten wollte. Immer noch brachte er ihr Geschenke mit, immer noch sorgte er sich um sie. Nicht mehr so wie in der ersten Zeit, aber das lag am Alltag und nicht daran, daß sein Gefühl an Kraft verloren hatte.
In dem Dorf schliefen sie bei einem dicken Mann auf einer Matratze, wie sie es seit einiger Zeit auch zu Hause wieder taten. Ein Freund Timurs hatte geheiratet und sich deswegen das Bettgestell ausgeliehen.
Am nächsten Morgen verhandelte Timur sehr lange mit einem Bauern, der hartnäckig feilschend ein paar Kuruş mehr herausschlagen wollte. Als man das Geschäft endlich besiegelt hatte, war es bereits Zeit zum Mittagessen, und ihr |295|Gastgeber wollte sie nicht hungrig aufbrechen lassen. So war es schließlich nach Mittag, als sie zu zweit auf dem Pferd saßen.
Sie waren noch weit von ihrem Dorf entfernt, als der Tag sich neigte, aber es war gefährlich, in der Dunkelheit zu reiten, nicht nur weil man kaum etwas sehen konnte, sondern auch weil man auf der Hut sein mußte vor Wegelagerern, die nachts die Reisenden überfielen.
– Wir werden hier schlafen und morgen früh weiterreiten, sagte Timur.
– Aber wo sollen wir uns denn hinlegen. Hier sind wir doch nirgends sicher, ich könnte kein Auge zutun.
– Ich weiß einen Platz, sagte der Schmied. Es ist nicht mehr weit.
Mit der Dämmerung erreichten sie einen Friedhof.
– Hier traut sich nachts niemand hin, sagte Timur und fügte hinzu: Du brauchst keine Angst zu haben, vertrau mir, das ist der sicherste Platz, um im Freien zu übernachten.
In dieser Nacht war Fatmas Schlaf ruhig, wenn auch sehr leicht, und von da an sollte sie der Schmied häufiger mitnehmen, wenn er Geschäfte in entfernten Dörfern hatte, und seine Frau würde sich an diese Nächte gewöhnen. Es gefiel ihr, in der Stille und Dunkelheit so neben ihrem Mann zu liegen, über ihnen die Sterne, und der Boden unter ihnen kam ihr vor wie Daunen, wenn sie nur den Kopf auf seine Schulter legte und er ihr über die Haare strich und sagte: Mein Mädchen, mein Stück vom Mond.
Sie fand, daß sie Glück gehabt hatte mit diesem Mann. Es machte ihr nichts aus, daß er die Hälfte des Geldes, das er für die Teppiche erhalten hatte, verjubelte, auch wenn sie einen ganzen Sommer dafür am Webstuhl gesessen hatte. Natürlich gab es manches, das sie störte. Einmal hatte er seinem Gehilfen sein Pferd geliehen. Gott allein wußte, warum er das gemacht hatte, sein Gehilfe war ein guter Arbeiter, aber |296|ein kopfloser junger Mann mit aufbrausendem Temperament. In seinem Übermut hatte der Gehilfe das Pferd im Galopp über die Hauptstraße gejagt, die Leute waren erschrocken beiseite gesprungen und hatten ihn verflucht, und schließlich hatte die Polizei ihn angehalten und ihm das Pferd abgenommen. Die Polizisten wußten, was Timur dieses Pferd wert war, um es wiederzubekommen, hatte er eine ordentliche Summe hinlegen müssen, er hatte es praktisch noch mal gekauft.
Ein anderes Mal hatte Timur gebürgt, als einer seiner Freunde ein Feld kaufen wollte und nicht genug Geld hatte. Warum kaufte dieser Mann ein Feld, wenn er kein Geld besaß? Timur hatte es am Ende bezahlt, das Feld, aber es gehörte seinem Freund.
Fatma machte sich keine Sorgen, er verdiente gut, es war immer Geld da, aber sie hatte begriffen, daß er mit diesem Geld nicht umgehen konnte, und sie ahnte, daß auch andere Tage kommen würden. Doch solange er an ihrer Seite war, konnte sie auch diesen Tagen lächelnd entgegensehen.
In ihrer ersten Nacht auf dem Friedhof lagen sie mit offenen Augen nebeneinander und schwiegen. Timur dachte immer wieder, nur noch zwei Minuten, nur noch zwei Minuten die Sterne ansehen und meine Frau im Arm spüren, dann drehe ich mich um und schlafe ein.
– Gül, sagte Fatma leise in die Stille hinein.
– Hm? machte Timur.
– Es wird ein Mädchen, ich kann es fühlen. Ich möchte sie Gül nennen, Rose, ich möchte ein kleines Mädchen haben, das Rose heißt.
Der Schmied legte seine Hand auf ihren Bauch.
– Gül, sagte er. Und wenn es ein Junge wird, nennen wir ihn Emin.
– Es wird kein Junge.
|297|Gül wurde an einem warmen Septembertag geboren. Als der Schmied in der Dämmerung heimkam, lag dieses kleine Wesen neben seiner Frau im Bett.
– Sind die Hände und Füße normal? fragte er als erstes, und Fatma nickte.
Vorsichtig berührte er Gül, sie wirkte, als könnte allein das Gewicht seiner großen Hand sie verletzen. Mit feuchten Augen küßte Timur seine Frau und hauchte auch seiner Tochter einen Kuß auf den Kopf. Schließlich ging er hinaus und setzte sich auf die Stufen vor dem Haus. Unter seiner Haut prickelte etwas, nicht wie Luftblasen, sondern eher wie eine warme Abendbrise. Leicht fühlte er sich, als würde sein Körper sanft angehoben werden von dieser Brise, als hätte er etwas von seinem Gewicht an die Erde abgegeben. Er saß auf den Stufen und vergaß zu rauchen.
In jenem Herbst schien es ihm, als würde alles von selbst laufen. Er kaufte die reiche Ernte der Bauern und verkaufte sie auf dem Markt in der Stadt, sein Weinberg trug reichlich Trauben, für die Arbeit in der Schmiede stellte er einen zweiten Gehilfen ein, und als es wieder Frühling wurde, kaufte er ein Sommerhaus mit einem großen Apfelgarten und einem Stall am Rande der Stadt, um wenigstens im Sommer einen kürzeren Weg zur Arbeit zu haben.
Viele Städter hatten Sommerhäuser am Rande der Stadt, wo sie der Hitze entflohen, in den großen Gärten ein paar Beete mit Tomaten bepflanzten, mit Gurken, Paprika, Zucchini und Mais, so daß sie zu essen hatten. Außerdem erhofften sie sich einen kleinen Nebenverdienst, wenn ihre Apfelbäume im Herbst Früchte trugen. Ihre Stadthäuser vermieteten sie in den Sommermonaten meistens an reiche Leute aus Adana, die der Hitze ihrer eigenen Stadt entfliehen wollten, die sehr viel sengender war als die Hitze der Kleinstadt, aus der Timur stammte.
Wenn die Hitze sich selbst im Sommerhaus staute, konnte |298|man sich draußen in den Schatten eines Walnußbaumes legen. Man konnte dem Rascheln der Blätter zuhören, aber es war kaum mehr als eine halbe Stunde Fußweg, bis die Stadthäuser mit ihren kleinen Hinterhöfen, in denen oft nicht mal ein Baum wuchs, wieder dicht an dicht standen.
Anfang Mai zogen sie um. Timur hatte jemanden gefunden, der ihr Bett und den Hausrat mit einem kleinen Lastwagen ins Sommerhaus fahren konnte. Nachdem sie den Lastwagen vollgeladen hatten, war nicht mal mehr im Führerhaus Platz. Der Fahrer schlug vor, die Sachen zum Sommerhaus zu fahren, zwei Burschen zu suchen, die ihm beim Ausladen halfen, und dann zurückzukommen, um Timur und Fatma zu holen, Gül war schon bei ihrer Großmutter.
– Gut, sagte Timur und steckte ihm Geld in die Tasche seines Hemdes, damit er die Burschen bezahlen konnte. Wir machen uns dann schon mal langsam zu Fuß auf den Weg.
Als Mann und Frau friedlich auf der staubigen Straße entlanggingen, näherte sich ihnen von hinten ein Auto, und der Fahrer ging vom Gas. Er hatte pechschwarze Haare, die vor Brillantine glänzten, und buschige Augenbrauen. Nachdem er das Fenster runtergekurbelt hatte, fragte er:
– Wohin des Wegs?
– In die Stadt, sagte Timur.
– Ich kann euch mitnehmen, steigt ein, sagte der Mann. Fatma hatte noch nie in ihrem Leben in einem Auto gesessen. Niemand in ihrer Stadt besaß in jenen Tagen ein Auto. Sie war schon mal in einem Lastwagen mitgefahren, im Führerhaus oder hinten auf der offenen Ladefläche, aber noch nie in einem Auto. Einen kurzen Moment fühlte sie sich eingesperrt, nachdem sie sich auf die Rückbank gesetzt und Timur die Beifahrertür zugezogen hatte.
Die Hände des Fahrers sahen nicht aus, als müßte er mit ihnen arbeiten, doch er hatte eine kräftige Statur, zu der |299|sein dünner, gestutzter Schnurrbart nicht so recht passen wollte.
Als sie einen kleinen Hügel hochfuhren, wurde der Wagen langsamer, und plötzlich machte er einen Satz nach vorne und blieb stehen.
– Verdammt, sagte der Fahrer und wandte sich an Timur: Bruder, du bist ein kräftiger Mann, wie ich sehen kann. Wenn du vielleicht aussteigen möchtest und das Auto das letzte Stück der Steigung hochschieben. Sobald es wieder bergab geht, springt es sicherlich an.
Der Schmied nickte, lächelte, in seinen blauen Augen waren Tatendrang und Stolz, er stieg aus und stemmte sich gegen den Wagen. Es war einfacher, als er gedacht hatte, und als es wieder bergab ging, war er noch nicht mal ins Schwitzen gekommen. Das Auto rollte, sprang an, und der Mann gab Gas.
Er will, daß der Motor warm wird, dachte Timur im ersten Moment, ehe er begriff, daß der Mann einfach wegfuhr. Ihm wurde heiß, und er fing an zu laufen, dem Wagen hinterher. Er würde den Mann töten, er würde ihn töten, selbst wenn er ihn heute nicht zu fassen bekam, er würde ihn umbringen, wenn er seinen Mutwillen mit Fatma trieb.
Timur bekommt nicht mit, daß der Wagen hält und Fatma aussteigt, er ist einfach nur gelaufen, ohne etwas wahrzunehmen, und nun sieht er sie am Straßenrand stehen. Doch er läuft nicht langsamer, er rennt, bis er vor ihr steht. Das Auto ist schon nicht mehr zu sehen.
– Was, fragt Timur, was ist passiert?
– Mach meinen Mann nicht zum Mörder, habe ich ihm gesagt, halt an, mach meinen Mann nicht zum Mörder. Halt an, und laß mich raus, und dann verpiß dich, so schnell du kannst. Er wird dich finden und töten, habe ich gesagt, er ist ein Mann von Ehre. Ich habe ihm von hinten meinen Arm um die Kehle gelegt und gesagt: Mach meinen Mann nicht zum Mörder.
|300|Timur ist dankbar, er ist dankbar, und er glaubt, daß das Leben immer größer und schöner werden wird, solange Fatma an seiner Seite ist. Gestern noch war er ein kleiner Junge, und heute ist er mit ihr verheiratet und glaubt, daß sie alle Gefahren gemeinsam meistern werden.
Timur kaufte eine weitere Kuh, er bestellte die Beete, hämmerte in der Schmiede, abends nahm er seine Tochter auf den Arm und koste sie. Fatma freundete sich mit den Nachbarn an, sie molk die Kühe im Morgengrauen und dann noch mal am Abend, wenn sie von der Weide zurückkamen. Wenn sie mit Gül allein war, redete sie viel mit ihrer Tochter, erzählte ihr, was sie gerade tat und an wen sie dachte, erzählte, daß sie selber keine Mutter gehabt hatte, daß ihre Adoptivmutter sich gut um sie gekümmert hatte, aber vielleicht nur, weil sie das Mädchen war, das sie sich gewünscht und nie bekommen hatte. Mit ihren drei Brüdern hatte Fatma sich nicht gut verstanden, die hatten sie geärgert und gequält, einmal hatten sie sie gezwungen, einen verfaulten Apfel zu essen, ein anderes Mal hatten sie ihre Kleider versteckt, als sie im Fluß badete, doch das alles war lange her, jetzt hatte sie Timur, und sie hatte Gül, und wenn Gott es wollte, würde sie noch mehr Kinder bekommen.
So verbrachten sie den Sommer, und als der Herbst fast schon vorbei war, zogen sie wieder auf das Dorf, weil es zu kalt wurde in den kleinen Sommerhäusern ohne Ofen, weil es nicht mehr viel zu tun gab, nachdem die Äpfel geerntet waren, weil auch die Nachbarn fortzogen, zurück in die Stadt, in ihre Häuser, aus denen die Leute aus Adana auszogen, um in ihrer Stadt einen milden Winter zu verbringen, in dem sie wahrscheinlich wieder keinen Schnee sehen würden. Timur, Fatma und Gül zogen zurück aufs Dorf, weil hier niemand mehr war zum Reden, um Mehl auszuborgen oder eine Schubkarre voll |301|Dünger. Sie zogen zurück aufs Dorf, aber ohne ihr Bett, das sie wieder jemandem geliehen hatten, der gerade heiratete, ohne Bett, aber mit den Kühen und Hühnern.
– In ein paar Jahren wird jeder in der Stadt wissen, wie die Könige schlafen, sagte Timur und tat so, als würde er sich darüber ärgern. Doch in Wirklichkeit war er stolz auf dieses Bett, und wenn es gerade ausgeborgt war, dachte er voller Vorfreude daran, schon bald wieder morgens aufwachen zu können, ohne als erstes den festgestampften Lehmboden zu sehen und zu riechen.
Gül hatte sehr schnell angefangen zu sprechen. Dafür brauchte sie länger als andere Kinder, bis sie laufen lernte, sie war fast schon zwei, und ihre Mutter fing an, sich Sorgen zu machen, während der Schmied nur lachte. Gül krabbelte, aber nicht so wie andere Kinder, sie krabbelte rückwärts und drehte immer den Kopf über die Schulter, um zu sehen, was hinter ihr war.
– Eine verrückte Rose, sagte Timur.
Als Fatma zum zweiten Mal schwanger wurde, konnte Gül schon laufen. Eines Nachts lag Fatma wieder in Timurs Armen auf einem Friedhof und spürte es erneut ganz deutlich. Es war Neumond, und Fatma hatte das Gefühl, daß die Geister der Toten ihr wohlgesonnen waren, wohlgesonnen und erstaunlich nahe.
– Timur, sagte sie, hättest du eigentlich lieber einen Sohn oder noch eine Tochter?
– Die Hände und Füße sollen an den richtigen Stellen sein, antwortete der Schmied, das Kind soll gesund sein und mit einer Mutter und einem Vater aufwachsen. Das ist das wichtigste.
– Du wirst noch eine Tochter bekommen. Weißt du schon, wie du sie nennen möchtest?
– Melike.
|302|Melike schrie die Nächte durch, sie brüllte, bis sie im Gesicht ganz lila wurde, mal saugte sie gierig an der Brust, mal mochte sie gar nichts, und manchmal schien es, als würde sie nur schlafen, wenn alle ohnehin bei Kräften waren. War Fatma übermüdet und ausgelaugt und schwach, konnte sie sicher sein, daß Melike die ganze Nacht lang weinen würde. Doch kein einziges Mal hörte man Fatma stöhnen.
– Was ist das nur für ein Kind? fragte Timur seine Frau.
– Es ist ein anderes Kind, antwortete sie. Sie ist unruhig und eigenwillig. Du hast sie Melike genannt, Königin, und jetzt benimmt sie sich auch so.
Timur lachte, nahm die Kleine auf den Arm, biß sie leicht in die Wange und sagte:
– Das werden wir dir noch austreiben.
Fatma lächelte. Wenn Timur das Dach ausgebessert hatte und am nächsten Tag ein Tropfen Regen von der Zimmerdecke in seinen Tee fiel, schleuderte er sein Glas gegen die Wand. Daran konnte sie nichts ändern. Wenn Beşiktaş verloren hatte, konnte er tagelang aufbrausend sein. Wenn in der Schmiede etwas nicht gelang, hämmerte Timur wie wild und hatte hinterher schwarze Blutergüsse unter den Nägeln.
Dieser Mann würde Melike gar nichts austreiben, er liebte seine Töchter, ja, er nahm sich Zeit für sie, er war ganz vernarrt in die Mädchen, aber ebensowenig, wie Fatma ihn ändern konnte, würde er seine Kinder ändern können.