6
Einige Stunden später, um neun Uhr, zog Villard die Vorhänge um das Bett seines Herrn auf. Louis erwachte und fixierte ihn ungnädig.
Villard sagte hastig: »M’sieur, ich wusste, dass Ihr dies sofort haben wollt.« Er deponierte ein Päckchen neben dem Kopfkissen.
Mit gerunzelter Stirn betrachtete Louis das Päckchen, dann klärte sich seine Miene auf. »Bon, Villard. Très bon!« Louis kämpfte sich aus den Laken. »Bring mir meine Schokolade - ich werde die Depeschen meines Onkels sofort lesen!«
In die Kissen gelehnt riss Louis das Päckchen auf, das mit Fabiens unverkennbarer Handschrift an ihn adressiert war. Drei Briefe, in ein Stück Pergament gehüllt, fielen auf die Laken. Das Pergament war beschriftet mit dem Befehl: Lies meinen Brief, bevor du irgendetwas anderes unternimmst! F.
Er sah sich die Briefe an. Einer war für ihn, ein weiterer, ebenfalls von Fabien, an Helena adressiert. Der dritte ging desgleichen an Helena, offenbar von einem Mädchen verfasst. Nach kurzem Überlegen kam Louis der Gedanke, dass er von Ariele stammen könnte. Er legte Helenas Brief auf den Nachttisch und öffnete seinen.
Es waren zwei Seiten, dicht beschrieben in Fabiens arroganter schwarzer Schrift. Louis glättete sie mit einem Lächeln der Vorfreude und hob den Kopf, als Villard mit seiner Schokolade auf einem Tablett erschien. Er nickte, nahm die Tasse, nippte daran; nun hob er den Brief und begann zu lesen.
Villard sah, wie das Lächeln seines Herrn erlosch und er blass wurde. Seine Hand zitterte. Schokolade spritzte auf die Laken, er fluchte und Villard beeilte sich, die Flecken zuzudecken. Mit finsterer Miene stellte Louis die Tasse zurück aufs Tablett. Dann wandte er sich wieder dem Brief zu.
Sein Mitwisser beobachtete ihn unter dem Vorwand, seine Kleider herzurichten. Als Louis den Brief weglegte und ratlos in den Raum starrte, murmelte er unterwürfig: »Monsieur le Comte war nicht zufrieden?«
»Was?« Louis blinzelte, dann wedelte er mit dem Papier. »Nein, nein - er war von den Fortschritten erfreut. Bis jetzt. Aber …« Louis sah sich den Brief noch einmal an, dann faltete er ihn sorgfältig. Villard schwieg; er würde ihn später lesen.
Einige Minuten verstrichen, dann meinte Louis nachdenklich: »Wie es scheint, steckt mehr hinter den Plänen meines Onkels, als man auf den ersten Blick vermutet, Villard.«
»Das war immer so, M’sieur.«
»Er sagt, wir hätten gute Arbeit geleistet, aber wir müssten schneller werden - wie es scheint, zieht sich die englische Aristokratie in wenigen Tagen ohne Ausnahme auf ihre Güter zurück. Ich hatte mit einer weiteren Woche gerechnet.«
»Die Thierrys haben das nicht erwähnt.«
»Nein. In der Tat nicht! Ich werde Thierry darauf ansprechen, sobald er zurück ist. Aber im Augenblick steht uns eine größere Herausforderung bevor, Villard. Wir müssen irgendwie bewerkstelligen, dass St. Ives sich dazu entschließt, Helena auf seinen Landsitz einzuladen. Der Dolch, den Onkel Fabien wiederhaben will, wird scheinbar dort aufbewahrt.«
Mit gerunzelter Stirn schüttelte Villard das Jackett. »Glaubt Ihr, dass Monsieur le Duc so eine Einladung aussprechen könnte?«
Louis schnaubte verächtlich. »Er ist seit unserer Ankunft Helena auf den Fersen, genau wie Onkel prophezeit hat. Du darfst nicht vergessen, die Engländer äffen unsere Gepflogenheiten nach: Also, ja, nachdem Helena ihn erfolgreich auf Distanz gehalten hat, dann wäre für ihn, einen mächtigen Aristokraten der normale Weg, sie, die Thierrys und mich zu einem Besuch einzuladen - mit ein paar anderen, die die notwendige Tarnung liefern. So bekommt er Helena in sein Bett. Das ist bei uns zu Hause üblich - hier wird es genauso sein.«
»Birgt das nicht eine gewisse Gefahr?«
Erneut griff Louis nach seiner Schokolade und grinste selbstzufrieden. »Das ist ja das Amüsante daran. Hier geht es um Helena gegen St. Ives, und ich setze mein Geld auf Helena. Die ist richtig prüde, die Kleine.« Louis zuckte die Achseln. »Dreiundzwanzig und immer noch Jungfrau - was würdest du tun? Es besteht kaum die Gefahr, dass sie den Verlockungen von St. Ives erliegt und wir beide werden da sein, damit er keine Gelegenheit findet, sie mit Gewalt zu nehmen.«
»Ich verstehe.« Villard wandte sich dem Kleiderschrank zu. »Also lautet der Plan jetzt …«
Louis leerte seine Tasse, dann runzelte er die Stirn. »Als Erstes müssen wir uns diese Einladung sichern und zwar heute Abend.« Er warf einen Blick auf den gefalteten Brief. »Onkel Fabien verlangt deutlich, dass Helena - koste es, was es wolle - auf St. Ives’ Besitz eingeladen wird.«
»Und wenn das geschieht?«
»Sorgen wir dafür, dass Helena annimmt und dorthin reist.«
»Aber wird sie das tun?«
Louis Blick wanderte zu den beiden Briefen, die an Helena adressiert waren. »Onkel hat mich angewiesen, mein Bestes zu versuchen - aber wenn sie sich als starrköpfig erweist, soll ich ihr diese Briefe geben.«
»Wissen wir, was sie enthalten?«
»Nein - nur dass Helena, sobald sie sie gelesen hat, tun wird, was er verlangt.« Louis holte tief Luft und löste sich mit einiger Mühe vom Anblick der faszinierenden Post. »Onkel hat mich aber strikt ermahnt, Helena die Briefe erst zu geben, wenn wir auf St. Ives’ Anwesen sind. Er sagt, ich soll seine Trümpfe nicht gleich ausspielen - nur, wenn sie am ersten Hindernis bereits verweigert.«
Louis starrte ins Leere. »Also! Wir müssen uns diese Einladung für heute Abend verschaffen. Ich will mich vergewissern, dass Helena das Spiel mit St. Ives ernst nimmt - dass sie ihn heiß macht, damit ihm keine andere Wahl bleibt als unseren Wünschen gemäß zu handeln. Das ist das Erste.« Louis warf einen Blick auf die Briefe. »Der Rest wird sich ergeben.«
Villard legte eine Weste auf den Kleiderständer. »Und wie steht es mit M’sieurs eigenen Plänen?«
Louis grinste und schlug die Bettdecke zur Seite. »Die haben sich nicht geändert. Helena soll längst verehelicht sein. Die Angelegenheit ihrer Heirat ist jetzt Onkel Fabiens Problem - ein Risiko. Sicher wird er deshalb meine Lösung unterstützen, sobald er einsieht, wie brillant sie ist. Es wäre töricht, das de Stansion-Vermögen an eine andere Familie zu verlieren, wenn wir es doch selbst behalten können.«
M’sieur stand auf und ließ sich von Villard in seinen Morgenmantel helfen. Sein Blick war abwesend, während er zitierte, was er sich offensichtlich längst zurechtgelegt hatte. »Sobald wir Onkels Dolch sicher in unserem Besitz haben und wieder nach Frankreich übergesetzt sind, werde ich Helena heiraten - falls nötig, sie dazu zwingen. In Calais gibt es einen Notar, der für eine gewisse Summe alles tut, was ich verlange. Sobald unsere Ehe Realität ist, werden wir nach Le Roc reisen. Onkel Fabien ist ein zu guter Stratege - er wird die Genialität meines Planes zu schätzen wissen. Sobald er erkannt hat, dass keine begehrenswerte Erbin mehr frei ist, wegen der sich die Fraktionen in die Haare geraten können, und ich ihn dadurch von ihren Bedrohungen befreie, wird er mir um den Hals fallen und mir danken.«
Villard stand hinter Louis und seine Miene verriet, wie sehr er ihn verachtete; aber er murmelte: »Wie Ihr sagt, M’sieur!« Wenn es nach Helena gegangen wäre, hätte sie nicht an dem morgendlichen Treffen im Haus der Duchess of Richmond teilgenommen. Leider war diese Zusammenkunft, wie Marjorie sie informierte, eine genauso altehrwürdige Tradition wie der Maskenball, der am Abend stattfinden sollte - und es wäre deshalb unmöglich, sich nicht dort zu zeigen. Helena hatte eigentlich vorgehabt, Thierry zu bitten, sie davon zu befreien, da er leichter zugänglich war als seine Lady. Aber ihr Gastgeber glänzte seit einem Tag durch Abwesenheit.
»Er ist nach Bristol gereist«, beichtete Marjorie, als die Kutsche in Richtung Richmond ratterte.
»Bristol?« Helena sah sie überrascht an.
Marjories Mund wurde schmal, sie schaute aus dem Fenster. »Er will sich dort über eine geschäftliche Möglichkeit informieren.«
»Geschäftliche Angelegenheit? Er …« Weil sie wusste, dass es ein heikles Thema war, verstummte Helena.
Marjorie zuckte die Achseln. »Was würdest du tun? Momentan sind wir noch auf Monsieur le Comtes Gehaltsliste - aber was soll aus uns werden, wenn du heiratest und fortgehst?«
Helena hatte darüber noch nie nachgedacht, es sich nicht klargemacht, aber nun nahm sie sich in Acht und nörgelte nicht mehr an Marjorie herum.
»Eh bien«, murmelte Marjorie, als die Kutsche schließlich anhielt und sie ausstiegen. »Thierry wird später zurückkehren. Er wird uns heute Abend zu Lowys Maskenball begleiten. Dann sehen wir weiter!«
Helena blieb an Marjories Seite, als sie eintraten und ihre Gastgeberin begrüßten. Eine untrügliche Vorahnung spannte ihre Nerven zum Zerreißen an. Sie bewegte sich durch die beachtliche Menge, die vor Gelächter und guter Laune sprühte, suchte mit den Augen, mit den Sinnen und atmete erleichtert auf, als sie keine Spur von Sebastian entdeckte.
Sie plauderte ein paar Minuten, ging dann weiter, trennte sich von Marjorie und wagte sich alleine aufs Parkett. Inzwischen war sie gut bekannt und besaß auch genug Selbstsicherheit, dass sie sich ungezwungen bewegen konnte. Zwar war sie unverheiratet, aber doch älter und erfahrener als die Mädchen, die ihre erste oder zweite Saison absolvierten; also räumte man ihr einen anderen Status ein, der ihr größere gesellschaftliche Freiheit erlaubte. Helena unterhielt sich mit diesem und jenem, während sie sich durch die Menge schlängelte.
Immer noch standen drei Namen auf ihrer Liste, aber nur diese drei. Waren Athlebright und Mortingdale anwesend? Wie sie es bewerkstelligen wollte, sie auf die Wirkung ihrer Berührung hin zu testen und das mitten in einem überfüllten Salon, wo eher Gespräche als Tanzen oder Berühren das Hauptanliegen waren, stellte noch eine ungelöste Aufgabe dar - eine, bei der ihr Verstand bockte und versagte.
Nur allzu bereitwillig wandte sie sich anderen Problemen zu. Nach gestern Abend hatte sie reichlich Stoff zum Nachdenken.
Dieser verfluchte Sebastian! Sie hatte während der ganzen Nacht, in den stillen Stunden, in denen sie sich hin- und herwälzte, um zu vergessen, versucht, das Gefühl seiner Lippen auf ihren, die Wärme seiner Nähe, den Reiz seiner Berührung aus ihrer Erinnerung zu löschen.
Unmöglich.
Stunden hatte sie damit zugebracht, sich selbst abzukanzeln, sich vor Augen geführt, wie konträr zu ihren sorgfältig bedachten Plänen es war, einem solchen Mann auf den Leim zu gehen - um dann aus lüsternen Träumen zu erwachen, in denen genau das passiert war.
Wahnsinn! Er hatte geschworen, niemals zu heiraten. Was dachte sie sich überhaupt?
Für eine Frau, wie sie es war - eine unverheiratete Adlige aus einer alten Familie - kam es keinesfalls in Frage, seine Mätresse zu werden. Aber auch einen entgegenkommenden Mann zu heiraten mit dem Hintergedanken, sich die Freiheit zu nehmen für eine verbotene, aber gesellschaftlich akzeptable Liaison mit einem anderen - auch das war undenkbar. Zumindest für sie.
Sebastian hatte zweifellos daran gedacht, aber das hatte mit ihren Plänen nichts gemein.
Bis heute nicht.
Was ihr etliches Kopfzerbrechen bereitete - er überraschte sie, indem er in der Tür zu einem angrenzenden Salon erschien, als sie gerade darauf zuhielt.
»Mignonne!« Er nahm die Hand, die sie instinktiv hob, um ihn abzuwehren, verbeugte sich, und führte sie an seinen Mund.
Ihre Blicke begegneten sich über ihren Knöcheln, als sie mit einiger Verspätung einen raschen Knicks machte. Was sie in den blauen Tiefen sah, ließ ihr den Atem stocken.
»Euer Gnaden!« Sie verfluchte ihre Kurzatmigkeit und versuchte sich zu sammeln, als er sie, immer noch mit ihrer Hand in seiner, an die Seite des Raumes drängte. Nachdem sie gezwungen war, sich zu fügen, erinnerte sie sich daran, wie gefährlich er war - aber schon meldete sich frech ein anderer Teil ihres Verstandes und wies sie darauf hin, dass sie bei ihm sicher war.
Einerseits dangereux, andererseits ritterlicher Beschützer. Wen nahm es Wunder, dass sie verwirrt war?
»In der Tat, ich bin sehr froh, dass ich Euch treffe.« Angriff entsprach ihr mehr als Verteidigung. Sie stellte sich ihm mit hocherhobenem Haupt. »Ich möchte mich verabschieden und Euch für Eure Unterstützung in den vergangenen Wochen danken.«
Seine Miene verriet nichts - diese höfliche Maske, die er so oft trug - aber sie sah, wie sich seine Augen etwas weiteren. Zumindest hatte sie ihn überrascht. »Wie ich höre, wird es heute Abend auf dem Maskenball sehr voll sein, also besteht die Möglichkeit, dass wir uns nicht mehr treffen.«
Sie verstummte, biss sich auf die Zunge, um nicht nervös weiterzuplappern. Wenn das, was sie bis jetzt gesagt hatte, ihn nicht in seine Schranken verwies - ihm nicht enthüllte, wie sie auf gestern Abend reagieren wollte - dann würde auch alles andere versagen.
Ein paar Minuten lang schwieg er, seine enervierenden blauen Augen waren direkt auf die ihren gerichtet; dann verzog sich sein Mund zu einem echten kleinen Lächeln.
»Mignonne, Ihr schafft es immer wieder, mich in Erstaunen zu versetzen!«
Vorübergehend starrte sie ihn wütend an. »Es ehrt mich, dass ich Euch amüsiere, Euer Gnaden!«
Sein Lächeln wurde nun breiter. »Das sollte auch so sein. In diesen Zeiten gibt es leider wenig, was eine ausgelaugte Seele wie mich amüsiert.«
Sein Ton verriet so viel Selbstverachtung, dass es ihr schwer fiel, beleidigt zu sein. Helena begnügte sich mit einem weiteren grimmigen Blick - dann spürte sie, wie Hitze ihren Arm hochschoss, als seine Finger sich bewegten und einer von ihnen ihre Handfläche streichelte. Er hatte seine Hände gesenkt. Seine Finger schlangen sich beschützend um ihre, durch ihre ausladenden Röcke für niemanden sichtbar.
»Aber es besteht kein Grund, sich von mir zu verabschieden. Ich werde heute Abend an Eurer Seite sein!«
Sie winkte ab. »Erst müsst Ihr mich in dem Gedränge erkennen und Euch vergewissern, dass ich es auch bin.«
»Ich werde Euch erkennen, mignonne - genau wie Ihr mich!«
Seine Zuversicht missfiel ihr gewaltig. »Ich werde Euch nichts verraten, was für ein Kostüm ich trage.«
»Nicht nötig.« Er lächelte immer noch. »Das lässt sich erraten.«
Er würde falsch raten, wie auch alle anderen. Sie war schon öfter auf Maskenbällen gewesen. Mit absoluter Selbstüberzeugtheit sah sie sich in der Menge um. »Eh bien - wir werden sehen!«
Den nächsten Blick erhielt Sebastian. Er musterte ihr Gesicht, zögerte und fragte schließlich: »Habt Ihr heute Morgen mit Thierry gesprochen?«
»Nein. Er ist nicht in der Stadt, sollte aber in wenigen Stunden zurückkehren.«
»Ah, ich verstehe.« Damit wurde Sebastian klar, warum sie nichts von seiner Einladung wusste. Immerhin war er die Sorge los, dass sie vielleicht davon wusste und beschlossen hatte, sich noch mehr zu zieren, die Eroberung noch schwieriger zu machen. Kaum vorstellbar, aber …
»Warum dieses Interesse an Thierry?«
Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder ihr zu und bemerkte, dass Helena ihn misstrauisch beäugte. Das störte ihn nicht weiter. »Mich interessiert da nur etwas, das ihn betrifft. Ich werde ihn zweifellos heute Abend sehen.«
Ihr Blick war immer noch voller Argwohn, aber bewegte sich jetzt an ihm vorbei.
»Da ist Lord Athlebright!«
»Nein.«
Sie sah ihn an. »Nein? Nein was?«
»Nein, Ihr werdet jetzt nicht ausprobieren, wie Ihr auf die Berührung Seiner Lordschaft reagiert!« Sebastian war entschlossen, sie in die entgegengesetzte Richtung zu führen. »Glaubt mir, mignonne, Ihr braucht nicht mehr an Eurer Liste von möglichen Ehemännern zu arbeiten!«
Sie nahm den stählernen Unterton in seiner Stimme wahr, suchte verwirrt, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. »Was Ihr sagt, macht keinen Sinn - nein, es macht noch weniger Sinn als sonst.«
»Beschuldigt mich nicht, Euch verwirren zu wollen, mignonne - aber, gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr nicht bereit seid, diesen ungemütlich überfüllten Salon mit mir zu verlassen und einen ruhigeren Platz zu suchen, wo wir uns unterhalten können?«
»In dieser Annahme geht Ihr recht, Euer Gnaden!«
Sebastian seufzte. »Ihr seid schwerer zu verführen als des Teufels eigene Tochter, mignonne!«
Ihr Lächeln verriet, dass ihr diese Beschreibung gefiel.
»Und trotz alledem werdet Ihr mir gehören!«
Das Lächeln erlosch. Sie schickte ihm einen zornigen Blick, und wenn er nicht eisern ihre Hand festgehalten hätte, dann wäre sie herumgewirbelt und hätte nur noch flüchtig einen Knicks angedeutet. Doch als sie sich anschickte, sich zu entfernen, zog er sie zurück. »Nein - verlasst mich nicht.« Er kaschierte diese schlichte, direkt aus seinem Herzen kommende Bitte durch ein lockeres Zwinkern. »Bei mir seid Ihr sicherer als bei jedem anderen - und zusammen werden wir uns bestens amüsieren!« Er sah ihr direkt in die Augen. »Ein Waffenstillstand, mignonne - bis heute Abend!«
Ursprünglich wollte er mit ihr über seine Absichten reden - darüber, was er mit seiner Einladung bezweckte. Er hatte damit gerechnet, dass Thierry seinen Brief bereits erhalten und ihr den Inhalt erzählt hatte - danach wäre sie sicher zu einem privaten Gespräch bereit gewesen. Aber … nachdem sie von seiner Einladung nichts wusste, konnte sie sich nicht mit ihm von den anderen entfernen - und es war ihm unmöglich, in einem solchen Gedränge das Wort »Heirat« zu erwähnen, alle Gespräche würden sofort verstummen.
Helena war sich seiner Warnung sehr wohl bewusst - wenn er sagte »bis heute Abend«, dann meinte er genau das. Dass er sie heute Abend ausfindig machte und - nun, man würde weitersehen.
Nickend legte sie den Kopf zur Seite. »Wie Ihr wünscht, Euer Gnaden - ein Waffenstillstand!«
Sebastian lächelte, führte ihre Hand an seinen Mund. »Auf baldigst!«
Helena hatte sich bereits in ihren Umhang gewickelt und die Maske aufgesetzt, als sie, von Marjorie gerufen, ihr Zimmer verließ.
»Wir werden zu spät kommen, ma petite! Und dann draußen Schlange stehen!«
»Bin schon da!«
Helena kam gerade die Treppe herunter, als sich das Haustor öffnete und Thierry, immer noch in Morgengarderobe, müde und erschöpft eintrat.
Marjorie hatte sich rasch umgedreht, jetzt lief sie auf ihren Mann zu. »Mon Dieu! Gut, dass du da bist, wir müssen immédiatement los!«
Thierry rang sich ein Lächeln für sie und Helena ab. »Du wirst mir gestatten, dass ich mich umziehe, chérie. Geht ihr schon voraus. Ich komme nach.«
»Aber Gaston …«
»Madame, ich kann nicht mit all dem Reiseschlamm auf diesem Maskenball erscheinen. Ich werde mein Kostüm anziehen« - Thierry warf einen Blick auf die Post, die sich auf dem Beistelltisch stapelte - »und kurz diese Briefe durchschauen. Dann werde ich toute de suite folgen, chérie - das verspreche ich.«
Marjorie zog einen Schmollmund, akzeptierte aber sein Versprechen. Sie küsste Thierry auf die Wange. »Toute de suite, oui?«
Thierry erwiderte den Kuss. »Oui.«
Er strahlte Helena an und warf ihr einen Handkuss zu. »Du siehst hinreißend aus, ma petite! Amüsier dich.«
Eilig raffte er die Briefe zusammen und bedachte auch Louis mit einem beschwichtigenden Wort.
Letzterer half Marjorie und Helena in die Kutsche, dann stieg er ebenfalls ein. Das Gefährt rumpelte schwankend in Richtung Berkeley Square los. Wie Marjorie prophezeit hatte, wartete eine endlose Reihe von Kutschen, die ihre Insassen vor Lowy House absetzen wollten.
Die Nacht war klar und beißend kalt; trotzdem hatte der Anblick des Gewimmels fantastisch verkleideter Gäste in Kostümen, die sowohl gewagt als auch prachtvoll waren, eine große Menge Zuschauer angelockt. Ein dicker, roter Teppich führte von der Eingangstür bis zum Rand des Gehsteigs, flankiert von üppigen Efeu- und Stechpalmen-Arrangements. Fackeln loderten hell und beleuchteten die ankommenden Gäste, sodass jeder sie betrachten konnte.
Als man Helena aus der Kutsche half, gab es keine Uuuhs und Aahs. Sie wirkte irgendwie schlicht, zwar in üppigen Samt gehüllt, aber vorläufig nicht wirklich auffallend. Dann hob sie den Kopf und schlug ihre Kapuze zurück. Nun richteten sich doch alle Augen auf sie. Das Licht der Fackeln fing sich in dem goldenen Reif aus Lorbeerblättern in ihren schwarzen Locken. Tanzte über die Maske aus massivem Gold, in die ebenfalls Lorbeerblätter gehämmert waren und die ihr Gesicht verdeckte. Der Umhang gab zwar noch immer nicht den Rest ihres Kostüms frei, aber die Zuschauer gafften mit offenen Mündern.
Voll Besitzerstolz führte Louis Helena und Marjorie über den roten Läufer durch das offene Portal. Sobald sie innen angelangt waren, entzog ihm Helena ihre Hand und zerrte an den goldenen Schnüren ihres Umhangs.
Sie hatte das Kostüm schon einmal getragen und war sich seiner Wirkung auf anfällige Männer sehr wohl bewusst. Als sie einem wartenden Lakaien ihren Umhang reichte, fielen dem fast die Augen aus dem Kopf. In der schmalen Hülle aus blassblauer Seide im Stil einer römischen Toga, mit Lorbeerblättern in Gold an Dekolleté und Saum bestickt, war sie der Traum jedes Mannes von einer römischen Imperatorin. Und genau das wollte sie darstellen: St. Helena, Mutter des Kaisers Konstantin. Angeregt von der Spannung, die jedem Maskenball vorausging, glaubten alle, die sie kannten, stets, sie würde als Helena von Troja kommen.
Die seidene Hülle war mit einer goldenen Klammer an ihre Schulter gerafft, und ließ Schultern und Arme bloß. Sie trug über beiden Ellbogen goldene Amulette, goldene Armbänder an beiden Handgelenken. Gold baumelte von ihren Ohrläppchen und ihren Hals zierte eine schwere Goldkette. Ihre Haut war hellstes Elfenbein, das das Schwarz ihrer Haare noch schwarzer erschienen ließ. Mit dem Gold und dem Hellblau als Kontrast sah sie atemberaubend aus und wusste es auch. Das stärkte ihr Selbstvertrauen zusätzlich.
Extrem hohe Absätze, verborgen unter den langen Röcken, machten sie noch geheimnisvoller - ganz maskiert, war ihr Mangel an Größe das Merkmal, das die meisten suchen würden.
In Erwartung, den Abend gründlich zu genießen, garniert mit der Vorfreude, einen kreativen und endgültigen Sieg über St. Ives davonzutragen, betrat sie an der Seite von Marjorie den Ballsaal hocherhobenen Hauptes und sah sich kühn um - als Kaiserin konnte sie sich das leisten.
Mit diesem Kostüm hatte sie auf Maskenbällen am französischen Hof Triumphe gefeiert - die Crème der englischen Aristokratie, die heute Abend hier versammelt war, sollte ihr nächstes Opfer werden. Sie trennte sich von Marjorie, die viel zu leicht erkennbar war mit ihrem kastanienroten Haar, das ein Schäferinnenhut nur mangelhaft verdeckte. Helena tauchte in die Menge.
Der Raum war als Zaubergrotte ausgestattet, mit den Symbolen der Weihnachtszeit als Thema. Mitternachtsblaue Seide mit goldenen und silbernen Sternen zierte die Decke, die Wände waren mit grünen und roten Samtportieren verhangen und die wiederum besteckt mit Tannengrün, Stechpalmen und Efeu. Riesige Scheite brannten in den Kaminen und heizten den ohnehin warmen Raum noch mehr auf; Lakaien, als Kobolde verkleidet, servierten am laufenden Band gewürzten Champagner.
Vor dieser Kulisse bot die Gesellschaft prächtige Scharaden von sich ständig ändernden Farben und Kostümen, fantastischen Perücken und märchenhaften Hüten. So früh am Abend sahen sich die Feiernden noch um, bewegten sich durch die Menge, manche in Gruppen, aber die meisten allein - erkannten und bemerkten andere, suchten nach denjenigen, die sie hofften zu treffen, aber erst noch identifizieren mussten.
Innerhalb von Minuten entdeckte Helena ihren ersten Paris. Er war hochgewachsen und musterte mit zusammengekniffenen Augen die Menge, inspizierte alle Frauen in Sichtweite. Sein Blick ruhte für einen Augenblick auf ihr, dann zog er weiter. Helena lächelte hinter ihrer Maske und wandte sich ab. Paris Eins war Lord Mortingdale. Vielleicht ein gutes Zeichen? Oder verriet seine Kostümwahl einen traurigen Mangel an Anerkennung für ihre Phantasie?
Sie bewegte sich weiter durch den Raum, und fand noch drei weitere Paris; sie entdeckten sie alle - einer sah interessiert aus, verfolgte sie aber nicht, als sie sich entfernte. Einer der drei war Mr. Coke, ein Gentleman, der ihr ziemlich hartnäckig nachgestellt hatte. Die anderen beiden konnte sie nicht identifizieren. Aber bei keinem handelte es sich um Sebastian - da war sie sich sicher.
Es gab eine Reihe von römischen Senatoren in der Menge. Wie üblich waren es Gentlemen, für die die Toga Freiheit vom Korsett bedeutete. Zu Helenas Erleichterung hatte jedoch niemand daran gedacht, sich als Kaiser zu kostümieren. Einer der dickbäuchigen Truppe kam zu ihr, als er sie erspähte und schlug vor, sie sollten doch ein Paar werden. Ein Blick und ein kühles Wort belehrten ihn eines Besseren.
»Naja, musste es doch versuchen, oder!« Der Gentleman verbeugte sich grinsend.
Helena hatte eine Seite des Raumes erreicht, blieb stehen und drehte sich um, damit sie den Blick über die Menge schweifen lassen konnte. Selbst mit ihren hohen Absätzen schaffte sie es nicht weit; die riesigen Perücken und aufwändigen Kopfputze, die so viele trugen, versperrten ihr die Sicht. Fast die Hälfte des langen Raumes hatte sie mittlerweile inspiziert. Sie reckte den Hals, spähte zwischen den Körpern hindurch …
Und spürte, wie sich Sebastians Präsenz hinter ihrem Rücken wie eine Flamme materialisierte.
Als ihr das klar wurde und sie eine halbe Wende machte, umfing seine Hand die ihre.
»Mignonne, Ihr seid exquisit!«
Sie spürte den üblichen Ruck, als seine Lippen über ihre Finger streiften, war für einen Augenblick orientierungslos, trieb dahin im Blau seiner Augen, in der Wärme, die dort strahlte, aufrichtiges Wohlwollen mit einem Hauch von Verlangen, das langsam …
Während sie noch blinzelte, erweiterte sich ihr bewusstes Sichtfeld - sie sah die goldene Halbmaske, wie ihre eigene, mit eingehämmerten Lorbeerblättern. Sie blinzelte wieder, hob den Blick - sah den Goldkranz im glänzenden Braun seiner Haare. Nach einem tiefen Atemzug ließ sie den Blick abwärts wandern - über die weiße Toga, mit goldgesticktem Lorbeer gesäumt, darüber die Purpurrobe eines Kaisers.
»Wer …« Sie musste sich unterbrechen, um sich die Lippen zu befeuchten. »Wer seid Ihr denn?«
Er lächelte. »Constantius Chlorus.« Erneut hob er ihre Hand, hielt ihren Blick, während er sie umdrehte und seine Lippen in ihre Handfläche drückte. »Helenas Geliebter!« Er änderte seinen Griff, berührte mit seinen Lippen die Stelle, wo ihr Puls unter ihrer Haut raste. »Und letztendlich ihr Mann, der Vater ihres Sohnes.«
Das Atmen wurde immer schwieriger. Helena versuchte, ihren Jähzorn zu mobilisieren - brachte es nicht einmal fertig, die Stirn zu runzeln. »Woher wusstet Ihr das?«
Sein Lächeln war triumphierend. »Ihr mögt es nicht, wenn man Euch für ähnlich wie die anderen hält, mignonne.«
Er hatte Recht, so Recht, dass sie am liebsten laut geschrien hätte - oder geheult, welches von beiden stand nicht fest. Mit jemandem zusammen zu sein, der sie so gut kannte - so leicht durchschaute - war entnervend - und höchst anziehend.
Endlich schaffte sie ein kleines Runzeln der Stirn. »Ihr seid ein äußerst schwieriger Mann, Euer Gnaden.«
Seufzend ließ er seine Finger über ihre Hand gleiten, als er sie senkte. »Das habe ich schon oft hören müssen, mignonne, aber Ihr findet mich doch nicht wirklich schwierig, oder?«
Ihr Stirnrunzeln wurde ausgeprägter. »Ich bin mir nicht sicher.«
Es gab so vieles, dessen sie sich nicht sicher war, wenn es um ihn ging.
Er hatte sie von oben bis unten gemustert, jetzt sagte er: »Ich nehme an, Thierry ist noch nicht zurückgekehrt?«
»Als wir gerade aufbrachen, kam er erst nach Hause. Zweifellos wird er in Kürze hier sein.«
»Gut.«
Sie versuchte, etwas in Sebastians Miene zu entdecken. »Ihr wollt mit ihm reden?«
»In gewisser Weise. Kommt.« Sebastian nahm ihre Hand und zog sie hinter sich her. »Flaniert mit mir.«
Sie warf ihm einen verwirrten, etwas misstrauischen Blick zu, war aber damit einverstanden, mit ihm die Kostüme zu bewundern. Andere hatten ebenfalls ähnliche Partner gefunden und sie wurden oft aufgehalten, wenn Gäste versuchten, ihre Identität zu erraten.
»Dieser Neptun ist prachtvoll - und der Sonnenkönig auch.«
»Mme Pompadour ist Theresa Osbaldestone, was einigermaßen überrascht.«
»Glaubt Ihr, sie hat uns erkannt?«
»Ich denke schon. Diesen schwarzen Augen entgeht nur wenig.«
Fast waren sie am Ende des Raumes angelangt, als Sebastian ihre Hand fester packte. Er sah zu ihr hinunter, als sie fragend aufschaute. »Mignonne, ich möchte unter vier Augen mit Euch reden.«
Helena blieb stehen. Runzelte die Stirn. »Ich kann nicht, will nicht mit Euch allein sein. Nicht schon wieder.«
Er atmete durch die Zähne aus, sah sich um, registrierte, wie nah die anderen waren. »Ich kann Euch meine Absichten nicht in dieser Umgebung unterbreiten - und es ist unmöglich, ein Treffen mir Euch alleine anderweitig zu arrangieren.« Nicht ohne die Klatschbasen zu alarmieren.
Sie sagte gar nichts. Ihr zusammengekniffener Mund war Antwort genug.
Sebastian wusste, dass er kurz davor stand, wütend zu werden. Es war sehr lange her, dass irgendjemand - ganz zu schweigen von einer zarten Frau - sich ihm so hartnäckig widersetzt hatte. Und dieses eine Mal in seinem Leben waren seine Absichten absolut ehrenhaft.
»Mignonne …« Sofort wusste er, dass er den falschen Ton gewählt hatte - ihr Rücken wurde stocksteif. Er atmete aus, dann sagte er: »Ich gebe Euch mein Wort, dass ich mir keine Freiheiten herausnehme. Aber ich muss wirklich mit Euch sprechen.«
Ihr stur vorgeschobenes Kinn entspannte sich etwas, sie verzog den Mund, schnitt eine Grimasse. Trotzdem …
Sie erwiderte kurz den Druck seiner Hand, dann schüttelte sie den Kopf. »Non. Das geht nicht …« Meinte nach einem tiefen Atemzug: »Ich wage es nicht, mit euch allein zu sein, Euer Gnaden!«
Helena beobachtete, wie sein Mund ein Strich wurde, an seinen Zügen veränderte sich sonst überhaupt nichts.
»Stellt Ihr mein Wort in Frage, mignonne?»
Eine leise, stählerne Frage.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein …«
»Ihr vertraut mir nicht?«
»Darum geht es hier nicht!« Es war nicht er, dem sie misstraute - aber das konnte sie ihm nicht sagen. Es würde zu viel enthüllen, wäre ein Eingeständnis ihrer Anfälligkeit, ihrer Verletzlichkeit - ihrer Schwäche, was ihn betraf. »Es ist nur … Nein. Ich kann nicht mit Euch allein sein, Euer Gnaden.« Sie zerrte. »Sebastian, lasst mich los!«
»Helena!«
»Nein!«
Ihr Streit, zwar nur flüsternd ausgetragen, erregte allmählich Aufmerksamkeit. Sebastian biss die Zähne zusammen und zwang sich, sie loszulassen. »Diese Diskussion ist noch nicht beendet.«
Ihre Augen sprühten Feuer. »Wir sind miteinander fertig, Euer Gnaden!«
Sie machte auf dem Absatz kehrt und stürmte davon - eine kaiserliche Xanthippe, die einen Eroberer geschlagen in ihrem Kielwasser zurückließ.
Sebastian blieb drei Minuten vollkommen reglos stehen, bevor er seinen Zorn wieder unter Kontrolle hatte. Selbst dann musste er sich noch am Riemen reißen, um nicht einen bedauernswerte Lady anzufahren, die ihm Trost spenden wollte. Schließlich entdeckte er Martin, als Korsar verkleidet, in der Menge. Er tigerte los, mit nur einem Gedanken - wie er sein Ziel erreichen könnte.
Doch er kam nicht weit. Ein Pirat stellte sich ihm in den Weg.
»Monsieur le Duc, ich hoffe, die liebe Comtesse macht keine« - eine vage Geste unterstrich seine Worte - »Schwierigkeiten?«
De Sèvres. Sebastian widerstand dem Drang, ihm mitzuteilen, welch heftige Schwierigkeiten ihm diese Dame tatsächlich bereitete, und sagte: »Mademoiselle ist ein extremer Dickkopf!«
»Vraiment!«
De Sèvres trug eine Halbmaske. Sebastian sah, wie er besorgt die Stirn runzelte.
»Wenn ich irgendwie helfen kann. Euch irgendwie unterstützen …?«
Sebastian bemühte sich, nicht zu zeigen, wie erregt er war. was ging hier vor? Er war versucht, der Sache auf den Grund zu gehen - warum ein Mann, der angeblich Helena beschützen sollte, ihm stattdessen anbot, eine veritable Verführung einzuleiten - aber just in diesem Moment hatte er ein wichtigeres Ziel.
»Ich wünschte, Mademoiselle la Comtesse etwas unter vier Augen zu sagen - aber sie erweist sich als schwer ansprechbar.«
»Ich verstehe, ich verstehe.« De Sèvres nickte, runzelte die Stirn noch heftiger.
»Wenn ich nun einen Treffpunkt nennen würde und dort warte, könntet Ihr sie vielleicht überreden, dorthin zu kommen?«
De Sèvres musterte die Menge und überlegte, wägte mit zusammengekniffenen Augen ab, nagte an seiner Unterlippe. Sebastian hätte schwören können, dass er keine moralischen Bedenken hatte, sondern nur überlegte, wie er Helena beschwatzen konnte, ihm zu folgen. Dann nickte der Mann. »Welchen Treffpunkt?«
Nicht, warum er mit ihr reden wollte - wie lange, wie privat … Sebastian beschloss, Sèvres sehr gründlich zu überprüfen, sobald er sich Helenas Hand gesichert hatte.
»Die Bibliothek.« Ein ausreichend neutraler Ort, damit Helena nicht hellhörig wurde. »Sebastian hatte kein großes Vertrauen in de Sèvres Überredungskünste. Er deutete mit dem Kopf in Richtung der Tür auf der anderen Seite des Ballsaals. »Geht hindurch, biegt rechts ab, dann folgt dem Gang bis zu einer langen Galerie - die Bibliothek ist der Hauptraum, in den man danach gelangt. Wenn Ihr den Wunsch habt mir zu helfen, dann bringt Mademoiselle in zwanzig Minuten dorthin.«
Zu dieser Stunde sollte die Bibliothek leer sein, obwohl im Laufe des Abends sicher noch andere ihre Abgeschiedenheit suchen würden.
De Sèvre zerrte an seiner Weste. »Ich werde mein Bestes tun.« Er nickte kurz und ging in die Richtung los, in der Helena verschwunden war.
Sebastian sah ihm nach und schüttelte im Geiste den Kopf. Später …
Er drehte sich um - und fand sich Martin gegenüber.
Ein Blick in seine Augen und sein Bruder grinste. »Du bist es tatsächlich! Und, wo ist sie?« Er schaute sich um. »Du wirst es nicht glauben, aber ich habe bis jetzt schon drei Helenas von Troja gefunden und keine von ihnen war sie.«
»Wenn du dich auf Mademoiselle la Comtesse beziehen solltest - sie ist hier, aber nicht als Helena von Troja.«
»Oh?« Martin runzelte die Stirn. »Als wer dann …?«
Er sah Sebastian fragend an - der ihn kopfschüttelnd musterte. »Ich weiß mit Bestimmtheit, dass du eine klassische Erziehung genossen hast … und möchte die Arbeit deines Intellekts nicht behindern.« Er schlug Martin auf die Schulter. »Wenn du gründlich nachdenkst, wird dir die Antwort einfallen.«
Damit spazierte Sebastian weiter; Martin sah ihm wohlwollend, aber mit gerunzelter Stirn hinterher.
Die Bibliothek war tatsächlich verlassen, als er dort anlangte. Er sah sich im Raum um, dann schlenderte er zu dem großen Schreibtisch, der quer in einer Ecke stand. Dahinter befand sich ein bequemer Lehnstuhl. Sebastian setzte sich, streckte die Beine aus, verschränkte die Hände und wartete auf das Erscheinen seiner Duchess in spe.
Helena bemerkte Louis erst, als sie sich nach einem Plausch von Theres Osbaldestone abwandte und ihn auf sich zukommen sah. Sie neigte den Kopf, wollte sich an ihm vorbeimogeln.
Stattdessen legte er eine Hand auf ihren Arm. »Du musst mitkommen, schnell.«
Louis schien sehr aufgeregt. Er trappelte von einem Fuß auf den anderen.
»Warum? Was ist passiert?«
»Da ist jemand und Onkel Fabien verlangt, dass du dich mit ihm triffst.«
»Fabien? Was soll das?« Helena war überrumpelt und ließ sich von Louis zur Seite des Raumes ziehen. »Wen kennt Fabien hier?«
»Das ist unwichtig. Später werde ich alles erklären. Aber ich kann dir eins sagen - es ist in Fabiens Sinne, dass du dir anhörst, was dieser Gentleman zu sagen hat.«
»Ihn anhören?«
»Oui.« Louis zerrte sie, so unauffällig es ging, weiter zu einer Tür. »Dieser Mann wird eine Bitte äußern - eine Einladung. Du sollst sie dir anhören und dann akzeptieren. Comprends?«
»Ich verstehe überhaupt nichts«, klagte Helena. »Hör auf zu zerren!« Sie riss ihren Arm los, bedachte Louis mit einem giftigen Blick, dann glättete sie ihre Robe. »Warum sollte ich jemanden auf Fabiens Wunsch treffen - aber wenn, dann mag ich es keinesfalls in unschicklicher Weise!«
Louis biss die Zähne zusammen. »Vite, vite! Er wird nicht ewig warten.«
Helena seufzte resigniert. »Also gut, wo soll ich ihn aufsuchen?« Sie folgte Louis durch die Tür in einen Korridor.
»In der Bibliothek.«
»Allons!« Helena winkte Louis weiter. Sie hatte wenig Vertrauen zu Louis, hielt aber große Stücke auf Fabiens Vernunft. Ihr Vormund war kein Mann, der etwas riskierte, das keinen Wert für ihn hatte. Wenn Fabien wünschte, dass sie mit einem Gentleman zusammenkam, dann gab er dafür eine Erklärung. Fabiens Macht über sie war ihr zwar zutiefst zuwider, aber aus Klugheit fügte sie sich seinen Wünschen, bis sie sich von ihm befreit haben würde.
Louis führte sie zu einer langen Galerie, dann öffnete er etwas zögernd eine Tür und spähte durch den Spalt. »Bon - da wären wir! Die Bibliothek.« Er winkte sie hinein.
Helena setzte sich in Bewegung.
M’sieur de Sèvres senkte die Stimme. »Ich werde euch allein lassen, aber bleibe in der Nähe, um dich in den Ballsaal zurückzugeleiten, falls du es wünschst.«
Helena runzelte die Stirn, dankbar für die Maske, als sie über die Schwelle trat. Was meinte Louis damit? Falls sie es wünschte? Warum …?
Die Bibliothekstür schloss sich leise hinter ihr. Sie ließ den Blick durch den Raum wandern in Erwartung eines Gentleman, der sich hier aufhielt; aber es war keiner da. Niemand erhob sich aus einem der großen Lehnstühle vor dem Kamin, niemand saß hinter dem Schreibtisch.
Sie drehte sich nach allen Seiten um. Bücherregale säumten die Wände. Die hohen Fenster waren vorhanglos, aber draußen herrschte Dunkelheit. Es gab Lampen, angezündet aber auf kleine Flamme gedreht, auf Beistelltischen und Anrichten, die ein sanftes Licht verbreiteten und die Tatsache enthüllten, dass der Raum leer war bis auf sie. Von ihrem Standort aus konnte sie alles überblicken, alles außer…
Der riesige Schreibtisch schnitt eine Ecke des Raumes ab. Dahinter, in der Wand neben der Ecke, entdeckte sie eine geschlossene Tür. Ein kleines Stück davor stand ein Lehnstuhl mit einer hohen Lehne, aber der Sitz war durch den Schreibtisch verdeckt. Auf einem Beistelltisch links daneben befand sich eine Lampe, die wie die anderen milde flackerte.
Beherzt ging sie auf den Schreibtisch zu. Sie wollte den Stuhl überprüfen, bevor sie zu Louis zurückkehrte und ihm sagte, dass Fabiens Freund nicht erschienen war. Dicke Aubusson-Teppiche dämpften das Klacken ihrer Absätze. Helena ging um den Schreibtisch herum - und sah eine Hand, die entspannt auf der Armlehne des Stuhls lag. Eine sehr weiße Hand, mit sehr langen Fingern …
Eine Ahnung brandete in ihr auf, ein Kribbeln sagte ihr, wer das war, der da so geduldig wartete. Langsam, ungläubig, umrundete sie den Stuhl, stellte sich davor und blickte auf seinen Insassen.
Er hatte seine Maske abgelegt - sie baumelte dumpf glänzend auf der anderen Seite.
Sebastian saß da, lässig elegant und beobachtete sie mit gesenkten Lidern. Sie sah es blau blitzen, dann murmelte er: »Bon, mignonne. Endlich!«
Draußen auf dem Gang kaute Louis an seinen Nägeln. Völlig verunsichert schaute er von links nach rechts, dann schob er langsam die Bibliothekstür auf. Wie zuvor öffnete sie sich geräuschlos; er spähte hinein, konnte aber nichts erkennen, dann legte er sein Ohr an den Spalt - aber auch ergebnislos.
Er schluckte einen Fluch hinunter und wollte gerade die Tür schließen, als er den schmalen Schlitz auf der Scharnierseite der Tür entdeckte. Dort linste er hindurch - Helena stand in der hinteren Ecke des Raumes und sah in einen Lehnstuhl hinunter. St. Ives musste dort sitzen. Er sagte etwas, aber Louis konnte kein Wort hören, nicht einmal den Tonfall vernahm er. Er sah sich um - aha, da war eine Tür in der Wand hinter dem Stuhl.
»Das wird funktionieren.« Er flüsterte die Worte mit zusammengebissenen Zähnen. »Heute Abend muss er sie einladen!«
Und eilte in den nächsten Raum. Wie sich herausstellte, war es eine Schreibstube - leer, unbeleuchtet, offensichtlich nicht für Gäste vorgesehen. Louis dankte dem Himmel, schloss die Tür leise hinter sich, und ging auf Zehenspitzen zu dem Durchlass zur Bibliothek.
Es gab kein Schloss - nur einen Türknopf. Mit angehaltenem Atem drehte er den Knopf. Da entstand ein kleiner Spalt.