FREITAG

Hermeneutische Geilheit

Ich lag auf dem Rücken und spürte, wie sich etwas angenehm Warmes und Feuchtes um meine Körpermitte ausbreitete, dann jedoch schnell unangenehm kalt wurde. Ich zog meine Hand unter dem Kopfkissen hervor und ließ sie langsam nach unten wandern. O Gott o Gott o Gott. Klitschnass! Ich tastete mich nach oben. In meinem Bauchnabel hatte sich eine Lache gebildet, das Schlafanzugteil war klatschnass. Vollgepisst bis zur Brust, wie ein großer Hund, den man in ein Zimmer gesperrt und dort vergessen hat. Lange vor der Zeit hatte es mich erwischt, ein Unterleibsschicksal: Nebenhodenentzündung, Genitalwarzen, kanadische Preiselbeeren (klingt ganz schön mysteriös, was? Gibt’s aber. Wen’s interessiert: selber recherchieren). Pollakisurie, Nykturie, Strangurie, Hämaturie! Künftig würde ich meine Vormittage wohl in Gesellschaft sehr alter Männer im Wartezimmer eines Urologen verbringen müssen. Beispiel:

 

Arzt: «Herr Erdmann, geht es Ihnen heute besser? Was ist mit dem nächtlichen Harndrang? Haben Sie Ihre Beckenübungen gemacht?»

Ich: «Ja, natürlich. Aber ich hab seit dem letzten Mal so furchtbare Poschmerzen, ich glaube, ich hab Hämorrhoiden.»

Arzt: «Aha. Glauben ist aber nicht wissen. Legen Sie sich doch bitte mal auf die Seite und lassen Sie die Unterhose etwas herunter.»

Ich: «Bleibt die Schwester im Raum?»

Arzt: «Na, zum Kaffeekochen habe ich Schwester Irene nicht eingestellt.»

Schwester Irene: «Hihi.»

Ich: «Ach so, ja, natürlich.»

Arzt: «Ich guck mir das jetzt erst mal von außen an. Schwester, gucken Sie, ich ziehe ganz leicht die Pobacken auseinander und seh mir das erst mal nur äußerlich an.»

Schwester: «Hmm.»

Ich: «Aua, aua!»

Arzt: «Was ist denn, das kann doch noch gar nicht wehtun!»

Ich: «Ein bisschen doch.»

Arzt: «Sehr gut zu sehen, chronische Analfissur bei sechs Uhr in SSL und deutlicher Sphinkterspasmus.»

Schwester: «Ja.»

Ich: «Wie bitte, was?»

Arzt: «Sie haben keine Hämorrhoiden, sondern eine Fissur. Das ist ein Riss, ungefähr 2 Zentimeter tief im After, verbunden mit einer starken Schließmuskelverkrampfung. Ich trau der Sache aber nicht und möchte mir deshalb mit einem speziellen Gerät auch den tiefer gelegenen Teil des Enddarms anschauen. Sie kriegen jetzt von mir eine örtliche Betäubung, sonst halten Sie das nicht aus. Das pikst gleich ein bisschen.»

Ich: «Aua. Aaaaaargh. Muss das so? O Gott!»

Arzt: «Sie sind total verkrampft. Ziehen Sie die Knie Richtung Kinn. Entspannen Sie sich, sonst kann ich Sie nicht richtig untersuchen!»

(Ich muss vor Aufregung und Schmerz pupsen.)

Ich: «Oh, das tut mir leid.»

Arzt: «Jaja. So, jetzt ganz locker.»

(Ich stöhne und schreie. Es ist kaum auszuhalten, ganz im Ernst.)

Arzt: «Locker, sag ich. Ich muss mir das angucken, sonst kann ich Ihnen nicht helfen!»

Ich: «Ich halt das nicht aus!»

Arzt: «Sie haben doch jetzt die Betäubung, mein Gott!»

Ich: «Ich kann nichts dafür.»

(Pupsen und Wimmern)

Arzt: «So, jetzt seh ich’s. Hypertrophe Analpapille bei 5 bis 6 Uhr in SSL, polypöser distaler Rektumpolyp unklarer Dignität.»

Ich (pupsend, wimmernd): «Ich kann gleich nicht mehr.»

Arzt: «Ist ja schon vorbei.»

Schwester: «Geben Sie Lido posterine?»

Arzt: «Nein, nein, das hilft nicht mehr. Das muss operiert werden.»

Ich: «Wie, operieren? Vielleicht helfen ja Kamillenbäder.»

Arzt: «Kamillenbäder, Sie sind wohl verrückt geworden! Ich könnte Sie auch ambulant hier operieren, aber bei Ihrer Verfassung schick ich Sie lieber in eine Klinik, da wird das dann unter ITN, also Narkose gemacht.»

Ich: «Und das tut dann nicht weh?»

Arzt (nun sehr ungehalten): «Herr Erdmann, was erwarten Sie eigentlich? Dass alles immer ein Spaziergang ist? Es gibt Dinge, die zum Leben gehören, und dazu zählen auch Schmerzen. Aber heutzutage darf ja nichts mehr wehtun. Niemand ist mehr bereit, irgendwas auszuhalten. Dabei sage ich Ihnen: Schmerz kennenzulernen heißt, einen integralen Bestandteil des menschlichen Lebens kennenzulernen. Was Sie haben, ist nichts. Ich sage Ihnen, es gibt Schmerzen, von deren Existenz Sie noch nicht mal etwas ahnen! So, gehen Sie jetzt bitte mit Schwester Irene nach vorn, wir versuchen ein Bett zu besorgen.»

Ich: «Vielen Dank, Herr Doktor, tut mir leid. Normalerweise bin ich gar nicht so empfindlich.»

Arzt: «Lernen Sie den Schmerz aushalten. Sie werden sehen, er wird eine Bereicherung in Ihrem Leben. Nur wer starke Schmerzen ertragen kann, wird sich auf Dauer durchsetzen.»

Ich: «Ja, Herr Doktor. Danke, auf Wiedersehen.»

Arzt: «Auf Wiedersehen und viel Glück.»

 

Alternativ: Dialog mit Sonja:

«Was hast du denn da unter der Schlafanzughose, die sieht ja ganz unförmig aus?»

«Nichts weiter. Eine Windel.»

«Wie bitte? Also, jetzt reicht’s aber! Auf so was steh ich nun echt nicht!»

«Es ist aber ganz anders, als du denkst.»

«Wie anders?»

Usw.

 

Ein Albtraum. Handelte es sich um eine zufällige und einmalige Dysfunktion, oder hatte sich grundlegend etwas verändert, eine irreversible neuronale Verschaltung bzw. Abschaltung? Egal, bei der Hitze würde es bald anfangen zu stinken. Ich zog das Bettzeug ab und stopfte es zusammen mit dem Schlafanzug in die Waschmaschine. Und die Matratze? Am besten aufrecht stellen, damit Luft rankommt? Mir fehlten die Erfahrungswerte. Noch.

 

Erst elf. Noch zehn Stunden bis zum Gute-Laune-Abend. Wie machen das eigentlich die anderen, die spätestens ab Mittwoch aufs Wochenende hinfiebern? Von Freitagnachmittag (Holla, die Waldfee) bis Sonntagabend (Ende im Gelände) feiern gehen. Fünf-vier-drei-zwei-eins-Wochenende! Bescheuerte des Tages, Begeisterte der Nacht, die einen scheitern hier, die anderen da. Einzig auf die Angst ist Verlass, denn die Angst ist unser großer Führer. Und jetzt? Sport? Dann wär ich nachher zu schlapp. Wohnung war halbwegs sauber. Körperpflege mit gründlicher Inspektion entlegener Stellen dauert auch nicht ewig.

Die Zunge Europas, das war es! Mein taufrisches Projekt vorbereiten, die Voraussetzungen schaffen, um gleich am Montagmorgen mit der Arbeit beginnen zu können. Am Anfang muss das Gespräch mit Onkel Friedrich stehen, wg. emotionaler Einstimmung. Die Sachinformationen konnte ich mir auch woanders holen: Kaffeetrinker, Kaffeehändler, Kaffeegroßhändler, Kaffeeexperten, Kaffeetrinken (Selbstversuch), Internet, Buchladen: «Entschuldigung, ich bin angetreten, den Schlüsselroman über die große, weite Welt des Kaffees zu schreiben. Was gibt es denn zu diesem Thema alles?» Warum nicht. Why not. Einfache Fragen, komplizierte Antworten. Onkel Friedrich hatte seine Laufbahn in der Nachkriegszeit begonnen, also musste auch die Geschichte in dieser Zeit spielen. Oder nicht? Was genau sollte es eigentlich für ein Buch werden? Eine Melange (Herr Ober, eine Melange!) aus Sachbuch und Unterhaltungsroman? Eine Psychogroteske? Ein Kaffeekrimi? Eine in- und miteinander verschachtelte und verschränkte Familiensaga (Schachtelroman) über viele Generationen (Generationenschachtelroman). Papa, Mama, Tante, Onkel, Opa, Oma, Vetter, Base, Schwippschwager, Duzfreund. Noch auf p. 643 wird eine Figur eingeführt, die nach 41 Seiten wieder abtritt und ff. nie wieder auftaucht. Langweilige Weltliteratur – Makro- oder Mikrostruktur? Realismusparodie oder Metakomik? Affektive Dramaturgie oder neurophysiologisches Gefrickel? Pentatonische Überschaubarkeit oder chromatische Wirrnis? Enthusiasmus oder niederfrequentige Begeisterung? Paradox oder stringent, aussparen oder verdichten, atmen oder Schwitzkasten, Abba oder Zappa? Fragen über Fragen. Das Einzige, was ich auf sicher wusste, war, dass das Wort «flussabwärts» nicht auftauchen würde. Egal. Das Wichtigste ist der Sound. Am Anfang steht der Ton. Im Idealfall der hohe Ton. Pliiiing. Der ganze Text muss nach diesem einen Ton klingen:

Es war ein kühler, jedoch nicht kalter Herbsttag. Bald 16 Uhr, ich musste los. Ich fuhr mit der S3 bis Trittau, stieg dann in den 119er bis Talweg. In der Nr. 43 war die Werkstatt. Leo hatte gesagt, ich solle keinesfalls vor halb fünf kommen. Jetzt war es Viertel vor. Trotzdem wanderte ich noch eine Weile die Straße entlang. Bäume. Autos. Kinder. 17 Uhr. (Ein zahlenlastiger Text. Aber interessant.) Ich ging in die Werkstatt, um Leo abzuholen. Werkbank vier, hatte er gesagt. Er war nicht an seinem Platz. Ich schaute mich um. Wahrscheinlich würde er bald kommen. In der angenehm klimatisierten Halle hing ein helles, kaum vernehmbares Surren. Jetzt erst fiel mir auf, dass keiner aufgeschaut hatte, als ich hereingekommen war. Die Männer arbeiteten in sich versunken, mit mehr oder weniger identischen Bewegungen. Sie schienen alle die gleiche Arbeit zu verrichten, hantierten alle mit sehr dünnem Draht. Nach wenigen Minuten setzte ich mich an Leos Werkbank. Links von mir lagen große Mengen Draht. Nachdem ich eine Weile nur dagesessen hatte, nahmen meine Hände sich automatisch eine Spule Draht vor. Erst behutsam, dann immer energischer knetete ich daran herum, es war wie ein Sog. Nachdem ich anfänglich noch ein-, zweimal unsicher um mich geschaut hatte, versank ich immer mehr in mir selbst. Ich formte Gegenstände, wie es sie nicht gegeben hatte. Objekte ohne Bedeutung oder Funktion. Auch an den anderen Werkbänken schienen nur zweckfreie Gegenstände zu entstehen. Immer flinker und behänder formten meine Finger neue Dinge. Ich wurde Teil des Surrens. Meine Euphorie verstärkte sich, ein unbekanntes Gefühl von Heimat stieg in mir auf. Alle arbeiteten mit Draht. Wo war Leo? Ich hatte es vergessen. Ich nahm eine neue Rolle Draht.

So vielleicht. Statt Draht nur eben Kaffee.

Oder anders:

Der Satz wurde gesagt wie andere Sätze auch. Er hallte im Schlauchflur wider, drang in ihn ein wie in Brei. Irina schaute ihn an, prüfte, wie der Satz in ihm versickerte. Ihre Knochenkaltfinger berührten ihn kurz an der Schläfe. Sie schritt die Runde ab und wurmfortsatzte zum Ausgang. Tschüs! Er stand bewegungslos da, zurückgelassen in der Runde, die er nicht kannte und die den Satz und seine Bedeutung nicht kannte. Die Runde sprach, aß, trank, lachte in Unkenntnis des Satzes. Er ging in die Küche. Die kalte Küche. Er riss sein Maul auf und rotierte ein Fuder Oliven in den Schlund. Seine Nüstern bliesen Pistazienkerne weg. Nur voll den Schlund! Das gestopfte Maul ließ ihn den Satz nicht sagen können.

«Iss Käse dazu.» Ruts Stimme durchschnitt den Raum. Ruckartig fuhrwerkte sie auf ihn zu. Eine Olive flutschte ihm seitlich aus dem randvollen Maul. Rut walzte sie platt, obszön und hässlich. Ob sie etwas bemerkte? Er sah sie vor sich; wie sie die grünen Sitzpolster vollgereihert hatte auf dieser ensetzlichen Fahrt nach Koblenz vor drei Jahren, als er noch mit Sybille verheiratet gewesen war. Gelbe Kotze auf grünem Grund. Die fette Gelbkotzrut im geleasten Kleinwagen. «Lass», sagte er. «Ich gehe.» Er ging in Hartmuts Zimmer. Saurer Atem. Hier roch es immer nach saurem Käseatem, gemischt mit Fersenhorn. Wie machte Hartmut das nur.

«Bleibt es bei Donnerstag?» Karl hatte ihn am Arm gepackt und schaute ihn fragend an. Mein Gott, der Satz. Der Satz fiel ihm wieder ein. Er fletschte die Zähne und gurrte.

Na ja, so oder so, auf jeden Fall schien es mir ratsam, mich an gewisse Gesetze zu halten. Sonst kriegt man’s dicke:

Markus Erdmann ist Comedy-Autor. Dies möge eine Erklärung sein dafür, warum sein literarisches Debüt hilflos zwischen burleskem Männerwitz und peinlich-bemühter Zerebralität oszilliert, ohne sich für das eine oder andere entscheiden zu können. Das hätte allerdings auch nicht geholfen: Der Text ist ein rundum misslungenes Ärgernis: Ohne Sound, Gehalt, innere Rhythmik und Strömung holpert das grobmaschig gestrickte Geschwätz von Schlagloch zu Schlagloch, die an allen Ecken knarzende Syntax eingeklemmt zwischen den rostigen Scharnieren affekthascherischer Neologismen. Nach einer einheitlichen Erzählperspektive oder gar ästhetischer Konsistenz sucht man vergebens. Der durchgängig kolportagehafte Ton, die verhaspelten Satzperioden und unsinnigen Steigerungen, Erdmanns peinlicher, durchschaubarer Versuch, durch pathetischen Überschwang so etwas wie Welthaltigkeit vorzutäuschen, ist in seiner offensichtlichen Dreistigkeit in der jüngeren Literatur ohne Beispiel.

Worum geht es? Sein Onkel, ein offenbar gottgleicher Alleswisser in Sachen Kaffee, ist mit einem einmaligen Talent ausgestattet, einem geradezu überirdischen Geschmackssinn, der ihm im Hamburger Freihafen, einem der international wichtigsten Umschlagplätze für Rohkaffee, den Spitznamen «die Zunge Europas» beschert hat. Fertig. So abenteuerlich dieser «Plot», so dilettantisch die Umsetzung: Schon nach wenigen Seiten erstickt die anekdotenselige Erzählung in stilistischer Bürokratie und musealer Drögheit. Der krampfhafte Versuch, Zeitkolorit zu transportieren, wendet sich gegen den Text, das an sich reizvolle Leitmotiv wird zermahlen wie eine, ja, sagen wir es ruhig: Kaffeebohne. Das in überaus unanschaulicher Kulissenhaftigkeit erstarrte Szenario, die inkonsistenten, nur wie durch Nebelschleier wahrnehmbaren Figuren und jeglicher Mangel an sinnlicher Qualität lassen das auf 642 Seiten aufgeblasene Geschreibsel in den Untiefen eines alpinen Urgesangs, eines hooliganartigen Gegröles versinken, ohne allerdings dessen Kraft zu besitzen. Erdmann hat während seiner endlosen Recherchen allerhand laue Geschichtchen zusammengetragen, die wichtigste Grundregel jedoch missachtet: In der Literatur geht es eben nicht um «Authentizität», ist diese doch allemal nur künstlich hergestellter Effekt! Wahrscheinlich ist es eine Déformation professionelle von Comedy-Autoren, dass sie Effekt nicht von Effekthascherei zu unterscheiden vermögen. Doch nicht einmal das Effektehaschen will Erdmann mit dieser ermüdend eindimensionalen Abbildung ohne jede Konstruktion und Textökonomie gelingen. Der Text versucht immer wieder Luft zu holen, stürzt jedoch aufgrund akuten Sauerstoffmangels nach wenigen Schnappatmern ab in wattiertes Gebrabbel. Manchmal lösen stilistisch verunglückte Peinlichkeiten ja eine gewisse hermeneutische Geilheit aus, im vorliegenden Fall jedoch nur Fassungslosigkeit. Hier hat sich ein Gebrauchsschreiber an etwas verhoben, von dem er besser die Finger gelassen hätte. Grotesker kann man nicht scheitern. Amen.

Auweia. Volle Breitseite. Arschgeigen.

Die Herrschaft der Literatur muss zugunsten des reinen Erzählens aufgegeben werden! Geschwätzigkeit ist ab sofort ausdrücklich gestattet!

Der Bedeutungsflur wird frei gemacht, und zwar mit der Sense!

Produktion von Sinn durchs Erzählen, ohne dass Sinn vorausgesetzt wird! Denn: Durchs Erzählen wird erst Sinn produziert!

 

Ich schaltete den Fernseher ein. Die Scheißsonne strahlte direkt auf den Bildschirm. Alles macht die Sau kaputt, selbst die Kontraste auf dem Bildschirm. Ich schloss die Vorhänge und blieb nach kurzem Zappen beim Ersten hängen. Das Erste ist die Heimstätte für Menschen, die demnächst aus allen Zielgruppen herausfallen, es bleibt ihr treuer Begleiter bis zum Ende. Irgendwann ist auch mal gut mit ständigen Produktwechseln und bewährte Kaufpräferenzen In-Frage-Stellen. Ein neuer Trend? Lächerlich! Verschlafen! Aussitzen! Einen drauf hobeln! DVD, iPod, Wireless Lan, von wegen. Back to Mono! Commodore C64, mein Lieblingscomputer ever, eine Hightech-Maschine mit menschlichem Antlitz, deren Rechenleistung für «Henrys House», das beste Computerspiel der Welt, dicke gereicht hatte: Die Aufgabe des Spielers bestand darin, eine quasi halbdimensionale, sehr einfach animierte Figur (Henry) mit einem extradoppeltklobigen Joystick durch ein mit toten Gängen und Falltüren gespicktes Gebäude (House) zu lotsen, wobei jede Aktion von digitalem Quäksound in vier/​drei/​zwei/​eins Bit Auflösung untermalt worden war. Besser geht’s doch nicht.

Die einen fallen mit Ende zwanzig aus dem Zielgruppenraster, wg. Starrsinn, Scheuklappen und Verkalkung, andere gehen bis weit ins sechste Lebensjahrzehnt in die künstliche (gekünstelte) Verlängerung. Faustregel: Solange einem auf der Straße noch Diskotheken-Flyer zugesteckt werden, ist alles in Ordnung; wenn man irgendwann Luft wird für die blutjungen Promo-Affen, heißt es ab ins Forsthaus. Diskotheken-Flyer sind das Zünglein an der Waage, ist tatsächlich so. Das Leben gibt auf komplizierte Fragen oft verblüffend einfache Antworten.

Im Ersten lief Pferdesport, Liveberichterstattung von einem international bedeutenden Springreitturnier. Springreiten nimmt noch hinter Renn- und Dressurreiten in der steil ansteigenden Langweiligkeitsskala den ersten Platz ein. Pferdesport ist Nazi-Amüsement (herrlich, schon wieder was mit Nazi). In ihren bretthart gestärkten SA-Klamotten sehen die humorlosen Reiter aus wie reinrassige Gauleiter. Pferde sind dümmer als Schweine. Schweine sind die eigentliche Herrenrasse, nicht die dämlichen Gäule mit ihren extralangen Pferdegesichtern. Nutzen lässt sich vom Pferd lediglich die Wurst, die allerdings mit viel Ketchup, Majo und Gewürzmischungen hochgejazzt werden muss, damit’s nicht so nach Pferd schmeckt.

Der von seinem Elitesport berauschte Kommentator sprach anmaßend leise, um sich von den grölenden Fußball- oder sonstigen Prollreportern abzugrenzen. Leise, aber intensiv, ein Pferd sagt mehr als tausend Worte. Rasputin aus dem Gestüt Ed von Schleck. Oder so. Name des Reiters: Dr. Ernst Oertzen. Der Reporter klang immer intensiver, als hätte er sich vor andächtiger Freude in die Hose gekackt. Pferdewurst, haha! Das Gespann Rasputin/​Oertzen war Favorit. Nur noch vier Hindernisse! Phantastische Zeit! Gesamtsieg! Hopphopphopp, tschakka, du schaffst es! Der Herrenmenschenreporter rutschte aufgeregt in seiner übervollen Windel hin und her. Dann das Unfassbare: Rasputin stoppt beim Anlauf auf das vorletzte Hindernis. Vollbremsung. Von hundert auf null, irgendetwas musste das Tier irritiert haben. Dr. Oertzen versucht, sich in der Mähne festzuklammern, rutscht jedoch über das Hinterteil in den Staub und bleibt seltsam verrenkt liegen. Stille. Schweres Atmen, Mundgeschnalze, Schnauben, Rascheln, Schlucken, es gibt nichts mehr zu kommentieren. Endlich kommen zwei Sanitäter herbei und helfen Dr. Oertzen auf die Beine, der aber sogleich wieder einknickt und erneut auf dem Hosenboden landet. Statt endlich was zur Sache zu sagen, kommt dem offenbar völlig geschockten Reporter etwas ganz und gar Irres aus dem Mund gepullert: «Ein Reiter ohne Pferd ist nur ein Mensch, aber ein Pferd ohne Reiter ist immer noch ein Pferd.» Die Essenz eines ganzen Pferdesportkommentatordaseins, und in Wahrheit alles, was es über Pferdesport zu sagen gibt. Zum Glück konnte ich nochmal einschlafen.

 

Ich musste mit meinen Kraftreserven heute besonders gut haushalten und bestellte deshalb ein Taxi, genauer gesagt ein Nichtrauchertaxi. Großvater seinerzeit war immer noch weiter gegangen: Das Tüpfelchen auf dem i seines umfangreichen Forderungskatalogs (Nichtraucher, Ledersitze, Mercedes der aktuellen Baureihe) lautete «Deutscher Fahrer». Ich lehnte mich zurück und atmete tief durch. Das Taxi roch nach Neuwagen. Den charakteristischen Neuwagengeruch erschnuppern bedeutet für Autofans ein sinnliches Vergnügen der S-Klasse. Vielleicht benutzte der Lenker (österreichisch für Fahrer, klingt tausendmal besser – Taxilenker/​Erdäpfel/​Fisolen/​Holzpyjama, herrlich, ich könnte die Reihe beliebig fortsetzen) auch Neuwagenspray, das diesen unvergleichlichen Duft perfekt nachahmt. Neuwagenspray ist nach Autotelefonattrappen das nutzloseste Produkt aller Zeiten. Autotelefonattrappen erfuhren eine sehr kurze Blüte zu Beginn der Neunziger, als Handys noch ausschließlich den oberen Zehntausend vorbehalten waren. Eine kleine Firma mit großem Riecher stieß sich im schmalen Zeitfenster gesund und befriedigt jetzt hoffentlich die Nachfrage für ein vergleichbares Nischenprodukt.

 

Ich war zehn Minuten zu früh. Hier wohnte sie also. Unschlüssig stand ich vor dem maroden Gründerzeitgebäude, blickte an dem ollen Kasten hoch und fragte mich, wann er wohl der Abrissbirne zum Opfer fallen würde. Das Haus starrte mich aus blinden Scheiben an und schämte sich. Jaja, der Lack ist ab, denkt das Haus. Nur zu gern würde es den Besuch guten Gewissens hereinbitten, aber die Begehung des Treppenhauses ist mit Risiken behaftet. Das Geländer ist locker, und aus dem von unzähligen harten Wintern verwitterten Klingeltableau (Grünspan) hängen die Kabel raus wie überlange Nasenhaare. «Betreten auf eigene Gefahr!», würde das Haus rufen, wenn es denn rufen könnte, und es schlottert trotz der Hitze vor Angst, seinen hundertsten Geburtstag im kommenden Jahr nicht mehr zu erleben. In welcher Absicht der Mann wohl gekommen ist? Wie einer vom Bauamt sieht der jedenfalls nicht aus; die trauen sich sowieso nicht mehr her, seitdem das Haus, quasi in Notwehr, einen losen Ziegel hat fallen lassen, um die Pissnelken zu vertreiben. Doch das war leider ein Eigentor gewesen, denn gleich nach dem Vorfall wurde im Eilverfahren der Notabriss beschlossen, und nun würde alles ganz schnell gehen. Ich konnte dem Haus nicht helfen, und das Haus konnte mir nicht helfen, unsere Wege trennten sich, und jeder musste sehen, wie er/​es allein klarkam.

Janne heißt mit Nachnamen Schultz. Schultz/​Lehmann/​Berger war mit trauriger Kinderschrift auf einen welligen Fetzen Klebeband gekrickelt. Eine Wohngemeinschaft, und noch dazu eine, die sich aus Personen mit den langweiligsten Nachnamen Deutschlands zusammensetzt.

«Markus?»

«Genau.»

«Wart mal, ich komm runter.»

«Ja, ist gut.»

Das war nochmal gutgegangen. Ich hatte schon befürchtet, hochgebeten zu werden, und mich einem WG-typischen Verhör stellen zu müssen: Drei überirdisch schöne, klapperdürre Frauen lümmeln sich rauchend und Gin Tonic trinkend in einer sonnendurchfluteten Wohnküche und fühlen mir so ganz nebenbei auf den Zahn. Sie heißen Zoë oder Sumi, was in der Richtung, und benehmen sich auch so: überkandidelte Möchtegernkünstlerinnen mit überspannten Namen, humorlose Gernegroße, oder wie die weibliche Form von Gernegroß geht. Gernegroßinnen? Von Zeit zu Zeit schöpfen sie mit einer Riesenschöpfkelle Honig oder Nuss-Nougat-Creme aus überdimensionalen Honig- oder Nuss-Nougat-Creme-Bottichen. Trotzdem bleiben sie dünn, lächerlich dünn. Sie könnten wochenlang rumdösen und Schnaps trinken und Zigaretten rauchen und Käse und Süßigkeiten essen und nicht aufs Klo gehen, sie werden weder dick noch traurig, noch bekommen sie Verstopfung. Beneidenswert.

Gerade am Anfang ist es wichtig, dass alles gutgeht. Später, wenn alles läuft, darf auch mal ein Malheur passieren, aber nur was Kleines (Portemonnaie fallen lassen/​Knopf am Hemd geht ab/​Schwitzfleck). Worüber ich mir schon wieder Gedanken machte. Verrückt. Unnötig. Überflüssig. Paranoid. Zwischen uns war nichts, ist nichts und wird nie was sein, im schlimmsten Fall wird’s langweilig. Trotzdem wünschte ich in dem Moment nichts mehr, als dass sie beim Rausgehen umknickt und sich den Fuß verstaucht. Nichts Schlimmes, nur verstauchen. Dann könnte ich ihren angeschwollenen Knöchel mit kalten Umschlägen wickeln und nach einer halben Stunde im Bewusstsein, mich wie ein echter Gentleman benommen zu haben, wieder gen Heimat fahren.

 

Statt ihrer Hand hielt Janne mir eine Dose Bier hin. Die weiß, wie man’s macht. Sie trug eine braune Bluse mit grünen Applikationen (Blick geschärft durch «RTL Shop») und eine Stoffknickerbockerhose im gleichen Braun. Das Braun meiner Cordhose war eine Spur dunkler. Braun und Braun gesellt sich gern. Sie lächelte mich an.

«Ahoi. Ich hab um halb elf einen Tisch beim Japaner bestellt. Der ist hier gleich um die Ecke. Ich hoffe, das ist recht.»

«Ja, passt schon.»

Japaner, na vielen Dank. Noch eine halbe Stunde. Das Bier war eisekalt. Herrlich. Ich trank einen großen Schluck. Unter Alkoholeinfluss verliert man rasch die Fähigkeit, zwischen Nähe und Distanz zu unterscheiden, und zündet Strohfeuer, die es gar nicht gibt. Als wir den Hans-Albers-Platz durchschritten, legten wir eine kurze Pause ein und beobachteten das exhibitionistische Treiben. Janne steckte sich eine Zigarette an.

«Alles Idioten hier.»

«Du kannst ja wegziehen.»

«Noch nicht, es ist noch nicht an der Zeit.»

«Wann ist es denn an der Zeit?»

«Weiß nicht, vielleicht in einem Monat, vielleicht erst in zwei Jahren. Morgens beim Aufwachen muss man spüren, dass es so weit ist.»

«Ich wach seit ungefähr zehn Jahren jeden Morgen so auf. Aber dann denk ich nicht weiter drüber nach und schau mir Kochsendungen an. Das hilft.»

«Guckst du gerne Kochsendungen?»

«Ja. Aber nur welche mit alten, dicken, öffentlich-rechtlichen Köchen. Lafer, Schubeck, so was. Neulich hat Schubeck die vier verschiedenen Typen Weißwurstesser erklärt: Aufreißer, Zuzler, Nager und Sauger.»

«Wirklich, heißt das so?»

«Weiß nicht, klingt jedenfalls gut.»

«Lass mal rübergehen.»

«Hmm.»

Kein Gast war älter als vierzig. Noch schlimmer ist es nebenan im Schanzenviertel, der mutmaßlich ersten komplett altenfreien Zone Deutschlands. Nicht mal tagsüber sieht man dort einen Rentner zum Briefkasten huschen oder gar einkaufen, selbst in der Konditorei Stenzel, einem typischen Oma-Café, drücken sich nur Beknackte herum, die es witzig finden, extra dorthin zu gehen, wo sie nichts verloren haben. Janne bestellte Rindfleischsalat und danach irgendwas mit Ente. Ich entschied mich aus Vernunftgründen für leichtverdauliches Weltraumessen: Bento zwei (incl. Misosuppe). Misosuppe, Misosuppe, das klingt schon so, als ob’s nicht schmecken werde. Man hat ein riesiges, trübes Gewässer ohne jeden Wellengang vor Augen, aus dem die lauwarmen Portionen einzeln (hand)geschöpft werden. Janne schaute mich an.

«Besonders glücklich wirkst du ja nicht, wenn ich das mal so sagen darf.»

«Ach Gott, glücklich, was heißt schon glücklich?»

Was war denn jetzt schon wieder los mit der? Da machte ich mir Gedanken über Distanz und Nähe, und die kommt mit Themen, die man, wenn überhaupt, erst ganz spät anschneidet, am besten, wenn man zu besoffen ist, um sich am nächsten Tag daran zu erinnern.

«Ich weiß auch nicht, was das für dich heißt.»

«Glück ist die Methode des Gehirns zu signalisieren, dass man genau das Richtige getan hat. Was glücklich macht, erhöht die Aussicht aufs Überleben, das ist der wahre Kern des Glücks. Fett, Salz und Zucker sind die größten Glücksbringer der Welt.»

«Wir können auch über was anderes reden.»

Jannes Ente duftete nach Sesamöl und Zitronengras. Das Bento roch weder, noch schmeckte es nach irgendwas. Dingsfisch, Dingsfisch, Dingsfisch, mit pampigem Sushireis eingewickelt, der den kaum vorhandenen Eigengeschmack restlos neutralisiert. Die Geschmacksnerven können sich nur an scharf und salzig erinnern, scharf vom Meerrettich und salzig von der Sojasauce. Den Fisch könnte man eigentlich auch weglassen.

«Ist das jetzt Makrele oder Lachs oder Thunfisch oder was?»

«Ich glaub, Thunfisch.»

«Kennst du eigentlich die drei goldenen S der Fischzubereitung?»

«Nee, sag mal.»

«Säubern, säuern, salzen.»

«Gut. Kennst du die drei goldenen S der Darmreinigung?»

«Nein.»

«Oder findest du das unappetitlich beim Essen?»

«Nein, im Gegenteil. Überhaupt nicht.»

«Schonung, Säuberung, Schulung.»

«Aha. Gut.»

«Sag mal, ist eigentlich noch Mozartjahr, oder war das im letzten?»

«Für mich ist jedes Jahr Mozartjahr. Wenn man den Salzburgern Mozart wegnimmt, dann bleibt denen doch gar nichts mehr.»

Irgendwie war es plötzlich wieder wie Dienstag. Angenehm. Unbefangen. Lustig. Unterhaltsam. Leicht. Ich hatte keine Angst mehr.

«Schon nach zwölf. Wollen wir gleich mal los?»

«Ja. Wohin geht’s denn überhaupt?»

«Es gibt unterschiedliche Optionen.»

 

Unterschiedliche Optionen, was sollte das denn heißen? Vielleicht hatte sie eine Überraschung vorbereitet. Junggesellenabschied oder so. Wir schlossen uns dem Menschenstrom an und ließen uns die Reeperbahn nach oben treiben. Die Stimmung auf der Straße hatte sich geändert, anderer Aggregatzustand, schnellere Taktung. Die Abendgäste – Musicalbesucher, Kiezbummler, Touristen – zog es nach Hause oder ins Hotel, um der Nachtschicht Platz zu machen.

Zwei befreundete Ehepaare aus Winsen an der Luhe, Anfang dreißig, haben im Schmidts Tivoli eine Veranstaltung besucht und beschließen, weil die Stimmung heute ohne besonderen Grund beschwingt ist, entgegen ihrer Gewohnheit noch was trinken zu gehen, das machen sie sonst nie, normalerweise sind sie um diese Zeit schon längst auf dem Heimweg. Senile Stadtflucht. Da Vorsicht die Mutter der Porzellankiste ist, lassen sie einander nicht aus den Augen und sichern sich ab, wie Soldaten auf dem Rückzug. Wo kann man hier eigentlich noch so hingehen? Achselzucken, eigentlich kennen sie nur das Operettenhaus und die Davidswache. Guck mal, das Herz von Sankt Pauli, liegt eh auf dem Weg zum Parkhaus, scheint ganz friedlich zu sein, und erschossen wird man sicher auch nicht gleich. Sie haben gehört, dass man in gewissen Läden sein Glas nicht unbeaufsichtigt stehenlassen darf, weil einem sonst K.-o.-Tropfen hineingeschüttet werden. Sie fühlen sich nicht recht wohl und beeilen sich mit dem Trinken. Die Musik ist laut, wenigstens kennen sie die Titel, das hilft:

Einen Stern, der deinen Namen trägt,

Hoch am Himmelszelt,

Den schenk ich dir heut Nacht,

Einen Stern, der deinen Namen trägt,

Alle Zeiten überlebt,

Und über unsre Liebe wacht.

Ein paar Leute tanzen. Dann traut sich auch eines der Pärchen. Seht her, geht doch! Triumphierend gucken sie zu ihren Freunden rüber, die etwas unbeholfen dastehen und verlegen «Heu, heu, heu» oder so ähnlich machen. Wenn schon nicht tanzen, dann wenigstens anfeuern. Schwofen nennen sie das daheim in Winsen. Harmlose Worte für eine harmlose Stimmung, mehr ist es nicht und wird es auch nicht werden, geht irgendwie nicht, natürliche Sperre. Ihre Laune wird zusehends besser, die Musik, der Alkohol, die anregende Samstagabendausgehatmosphäre. Sie bestellen noch was, mit Ausnahme des Fahrers, der Schorle trinkt, was ihm aber nichts ausmacht, denn er kann auch ohne Alkohol fröhlich sein. Leute, die Alkohol trinken müssen, um sich amüsieren zu können, haben sein tief empfundenes Mitgefühl. Statt funktionieren sagt er immer funktionuckeln. Ein Uhr. Jetzt müssen sie aber wirklich los. Husch, husch nach Hause. Als sie sich in ihren behaglichen Höhlen eingemuschelt haben, sind sie irgendwie doch erleichtert. Aber spannend war es. Das machen sie jetzt öfter! Machen sie eh nicht, aber egal. Der Fahrer überlegt, ob er nach dem elenden Schorlegesaufe ein Feierabendbier trinken soll, entscheidet sich aber dagegen, denn morgen Vormittag geht’s zum Fußball, und selbst ein Bier merkt man.

Unschlüssig latschte ich neben Janne her.

«Wo geht’s eigentlich hin?»

«Später in den Pudel, aber dafür ist es noch zu früh. Wir können ja vorher noch in irgendeine Bumsbude.»

«Was meinst du mit Bumsbude?»

«Irgendeinen Schrottladen.»

«Nix dagegen.»

«Komm, wir gucken mal.»

Eingekeilt zwischen den Massen, rückten wir im Schneckentempo weiter. Lange würde ich das Geschiebe und Gedränge, das Gegröle und die aufgeladene Stimmung nicht mehr ertragen. Wieso amüsierten sich eigentlich alle? Es gab doch überhaupt keinen Grund! Ich verstand es nicht und würde es nie verstehen, zwecklos, hoffnungsloser Fall. Ich sah mich schon morgens um sieben oder acht mit ausgeschlagenen Zähnen in irgendeinem Hauseingang am Hamburger Berg liegen, ab und an hebt eines der winzigen Schoßhündchen der Edelnutten das Bein und pisst mir ins Gesicht.

«Sag mal, wollen wir nicht bald runter von der Reeperbahn? Ist ja furchtbar.»

«Ja, nächste Möglichkeit.»

Wir bogen ab in den Hamburger Berg und wieder links in die Simon-von-Utrecht-Straße.

«Ob hier überhaupt noch was ist? Das sieht doch ganz tot aus.»

«Weiß ich auch nicht, wir gucken mal. Irgendwas wird schon sein.»

Wir passierten ein paar Saufkneipen, bis Janne vor einem unscheinbaren Laden stehenblieb. 1900 – Disco & Dancing.

Sie schaute mich fragend an.

«Das könnte was sein. Der Name ist jedenfalls schon mal gut.»

«Von mir aus.»

 

Obwohl es erst halb zwei ist, wirkt es, als wäre im 1900 der Zenit bereits überschritten. Alles erinnert an die längst wieder aus der Mode gekommenen After-Work-Partys, bei denen die Gäste spätestens um Mitternacht von CD-DJ Frank oder Kassetten-DJ Stumpi zum Inga-und-Wolf-Klassiker «Gute Nacht, Freunde» hinauskomplimentiert werden. Samtrote Plüschlandschaften säumen die chromblitzende Tanzfläche, der Tresen ist Eiche rustikal. Man hat das Gefühl, irgendwo im Niemandsland der norddeutschen Tiefebene gelandet zu sein, wo die Zeit über weite Gebiete bekanntlich Ende der Achtziger stehengeblieben ist und Diskotheken, in denen sich hinterkopflose Freizeitbodybuilder und Provinz-Gangsta-Rapper das Revier teilen, Mausefalle oder Zeppelin heißen. Wir holen uns Caipirinha (nur 7 Euro!) und gehen zu einem der überdimensionalen Sofahaufen, in dessen hinterster Ecke eingesackt ein junger Mann SMS tippt. Im vorderen Teil der Sitzlandschaft lümmelt eine Clique, vier Jungen, drei Mädchen. Wir pflanzen uns dazwischen, Beobachterposition, genau das Richtige.

Der SMS-Tipper, ein schmächtiger Normalo, passt genauso wenig hierher wie wir. Vielleicht ist er der Bruder von der Freundin von irgendjemandem, einer, den man ab und an aus Mitleid mitnimmt und dann vergisst. Seine Leute sind vor einer halben Stunde weitergezogen, sie haben ihn pro forma gefragt, ob er noch mitmöchte, doch er fühlt sich heute besonders schlecht und bleibt lieber hier. Er wartet ab, vielleicht geschehen ja noch Zeichen und Wunder.

Die Clique ist bei näherem Hinsehen keine Clique, aber eventuell auf dem Weg dahin, noch sind es zwei getrennte Gruppen, eine Jungen- und eine Mädchenclique. Die Jungen sind aus Bergedorf und ziehen bereits seit neun über den Kiez. Machen sie fast jedes Wochenende so, von einem Laden zum nächsten, wenn sie reingelassen werden. Mädchenjagd nennen sie das etwas übertrieben, denn so gut wie nie ist die Jagd von Erfolg gekrönt. Aber vorhin hat mal was geklappt: Im Thomas Read, einer Diskothek ähnlich dem 1900, nur viel größer, hat der Anführer, ein bulliger Schlägertyp mit eng zusammenstehenden Augen und Ohren, die aussehen, als hätte sich mal ein Kampfhund in ihnen verbissen, die Mädchenclique angesprochen und überredet, gemeinsam mit ihnen weiterzuziehen. Erst wollten sie nicht, weil die Typen nicht ihre Liga sind, aber eins der Girls hat mal gehört, das 1900 sei ein geiler Laden, egal, ist noch früh, gehen wir mal mit. Der Anführer hat einen schneeweißen NIKE-Trainingsanzug an und ist behängt mit goldenen Ketten, Ringen, Kreuzen, dem typischen Plunder aus der Asservatenkammer amerikanischer Hiphop-Videos. Wie zwei seiner drei Kollegen ist er Halbtürke oder Halbgrieche oder Halbirgendwas; komplettiert wird die Gruppe von einem Milchbubi, den sie «Affe» nennen und dafür verachten, dass er Deutscher ist und sich Affe nennen lässt.

Die Mädchen sitzen in der Mädchenecke und die Jungen in der Jungenecke, wie in der Berufsschule. NIKE betrachtet sich als Anführer, daher ist es auch sein Job, die Mädchen in Stimmung zu bringen. Er ist nervös und hat für ein halbwegs menschenwürdiges Gespräch schon zu viel getrunken. Viel erwarten die Girls nicht, aber NIKES Asigestammel ist nun wirklich unter aller Sau. Er lernt es einfach nicht. Anstatt erst um elf oder zwölf loszuziehen und sich sauftechnisch wenigstens am Anfang zurückzuhalten, macht er immer wieder die gleichen, vermeidbaren Fehler. Und nun hat er Angst, dass die Girls kommentarlos aufstehen und einfach gehen oder, viel schlimmer, sich anderen Typen anschließen, die längst schon auf der Lauer liegen und auf ihre Chance warten. «Das wär ja wohl noch schöner, wenn solche Prolls die geilen Weiber hier abschleppen!» Die Entrüstung ist echt. NIKE hat es auf die kleine, feenhafte Halbasiatin abgesehen, die von einer blondierten Sexbombe mit Riesenglocken (echt) und einer Brünetten ohne besondere Kennzeichen flankiert wird. Mit ihren Hüfthosen und den weit ausgeschnittenen Blusen sehen die Girls aus wie Laiendarstellerinnen aus Gerichtsshows. Direkt nach der Aufzeichnung sind sie losgezogen, jetzt weiß man endlich mal, was die nach Feierabend so machen. Tatsächlich werkelt die Sexbombe an einer TV-Karriere. (Am besten Moderatorin. Schauspielerin geht auch.) Ihr letzter Einsatz beim nervlich schwer angeschlagenen Sexrichter Alexander Hold (drei Aufzeichnungen pro Tag!) liegt erst ein paar Wochen zurück. Im Zeugenstand hat sie ihren einzigen Satz geschrien: «Ey, das Schwein hat mich angetatscht, halt die Schnauze, jetzt red ich, ey, und dafür soll er mir büßen bis zum Ende seines Lebens.» Sie brüllt, weil sie das mit Schauspielerei verwechselt. Dann ist sie in Tränen ausgebrochen, obwohl der Regisseur ihr gesagt hat, dass sie das gefälligst bleibenlassen soll, scheißegal, sie will ihre Chance nutzen. Da bei Sexrichter Alexander Hold (drei Aufzeichnungen pro Tag!) alles zack, zack gehen muss, ist ihr hysterisches Geschluchze auch tatsächlich nicht ganz geschnitten worden. Sie hat es bisher auf vier Einsätze in Gerichtsshows gebracht, dazu Daily-Talk-Auftritte («Du Schwein! Heute kommt alles raus»/​«Du Sexsau. Sag endlich die Wahrheit: Von wem ist das Kind wirklich?»/​«Du Schwein. Du verdammte Sexsau!»), ist bei einem Werbespot von links nach rechts durchs Set gelatscht – erst zu langsam, weil sie möglichst lange im Bild sein wollte; in diesem Fall jedoch hat der Regisseur sich durchgesetzt – und hat beim «Großstadtrevier» als Komparsin mitgewirkt. Irgendein alter Bock aus dem Team hat sie in einer Drehpause angegraben, was bildet sich das geile Schwein eigentlich ein, sie konnte sich gerade noch beherrschen, ihm nicht die Eier wachsweich zu treten. Nächste Woche ist sie mit einem Kumpel verabredet, der ihre Auftritte zu einem Castingband (korrekt muss es Showreel heißen, sie könnte kotzen, wenn irgend so ein Amateur Castingband sagt) zusammenschneidet, und dann wird richtig Gas gegeben. Mit ihrem letzten Freund hat sie Schluss gemacht, weil dessen Schluffigkeit sie runtergezogen hat. Ein Verlierer an ihrer Seite ist das Letzte, was sie brauchen kann, ein Typ soll sie pushen. Ihr Held ist Xavier Naidoo, dem sie regelmäßig schreibt, den Briefen legt sie Fotos, selbstgemalte Zeichnungen und Smileys bei: «Danke für die Gänsehaut». Das 1900 findet sie jetzt schon voll peinlich.

NIKE ist fahrig und sauer auf seine Kollegen, die außer «Ey, Digga, lass mal den Scheiß» (seit neuestem ersetzen sie das ewige «Digga» durch «Opfer» = «Ey, du Opfer, lass mal den Scheiß») nichts zur Unterhaltung beitragen. Die Deutschen sprechen wie Ausländer und die Ausländer wie Deutsche, die wie Ausländer sprechen. Ihre zerfetzten Sätze ähneln den Lauten von Pinguinen, die damit unter Abermillionen identisch aussehender Tiere die eigene Brut wiederfinden. NIKE begleitet sein schnarchlangweiliges Gestammel mit Grimassen und Armrudern, er müht sich, so etwas wie Schwung vorzutäuschen, langsam wird die Zeit knapp, er spürt, dass die Entscheidung längst gefallen ist. Eine Zigarettenlänge Gnadenfrist bleibt ihm noch. Er hat echt zu viel getrunken und glotzt die Asiatin an, wie es glotziger nicht geht, aber das ist jetzt auch schon egal. Sie ist wirklich hübsch, eine Porzellangestalt mit Kindergesicht, viel weniger prollig als die Sexbombe. Wiegt sicher nicht mehr als fünfundvierzig Kilo. Ihr wird ganz mulmig von dem geilen Gestarre, sie saugt im Akkordtempo an ihrer Zigarette und will endlich weiter. Was für eine Scheißidee, mit den Asis mitzugehen. Sie überlegt, wie viele Stufen die unter ihr stehen. Zwei? Zweieinhalb? Dreieinhalb? Ständig ist sie am Rechnen. Sie drückt ihre Zigarette aus und schaut zu ihren Freundinnen, die wie auf Kommando aufstehen. NIKE steht die ungeheure Enttäuschung ins Gesicht geschrieben.

«Ey, das ist doch nicht euer Ernst. Wollt ihr echt schon los? Das ist noch nicht mal zwei, Aldda.»

«Nee, wir hauen ab. Ihr (die Sexbombe deutet auf die Asiatin, die Brünette bleibt stumm) ist schlecht, sie muss nach Hause.»

Die doofste Ausrede, die sie im Repertoire hat, aber für die Prolls muss es reichen. NIKE sieht ein, dass es keinen Zweck hat, nach den Handynummern zu fragen. Die Lage ist hoffnungslos, er kann es sich nicht leisten, noch mehr Kraft zu vergeuden. Er schüttelt einem Girl nach dem anderen brav die Hand und schaut sehnsuchtsvoll der Asiatin hinterher, die sich fast panisch rausdrängelt. Gott, wie süß und zierlich die ist, meine Güte, meine Güte. Nachher im Bett, wenn er sich einen runterholt, wird er «Baby, Baby» oder so was vor sich hin gurgeln. Er liebt dieses Mädchen. Er liebt dieses Mädchen, und seine Scheißkollegen hasst er. Spastiker! Mongos! Brabbeln ungerührt weiter, als wäre gerade nichts passiert. Affe wagt es gar, einen Witz zu machen: «Faust in den Arsch schieben und oben auch was, und dann kommt das in der Mitte zusammen, haha», irgendwie so. Dafür fängt er sich eine richtig harte Ohrfeige. NIKE schreit ihm ins Ohr: «Ey, du bist ja so was von behindert, dass das im Ausweis steht.» Affe hält sich die Wange und macht eine entschuldigende Geste, sonst hat er gleich noch eine sitzen. NIKE hat genug von dem Scheißladen und seinen Versagerfreunden. Wütend erhebt er sich und kippt beim Aufstehen seinen Drink um. Ungeschickter Kaffeetrinker. Egal, so schnell gibt er nicht auf. Am Kiosk besorgt er sich eine Literflasche Cola und trinkt sie in hastigen Zügen aus. Klarer Kopf, er muss unbedingt wieder einen halbwegs klaren Kopf bekommen. Heute muss etwas passieren, es muss einfach!

Ich schaute Janne an:

«Und?»

«Mir gefällt es in solchen Läden. Aber wenn’s dir zu viel wird, können wir auch wieder gehen.»

«Nö, nö.»

 

Jetzt waren wir mit dem Stillen allein, der gar nicht aufhören wollte mit seiner SMS-Tipperei. Zwei junge Frauen setzen sich zu ihm, entfernte Bekannte, oder welche von seinen Leuten, die auch hiergeblieben waren und, weil er ihnen leidtut, ab und an nach dem Rechten schauen. Geil sehen die nicht mehr aus, kein Vergleich mit den Gerichtsshowludern, sie sehen eher aus wie Dick und Doof oder Pat und Patachon oder Hella und Dirk. Dabei heißen sie in Wahrheit BABE und SCHLAMPE. Das steht jedenfalls auf ihren T-Shirts. Sie trauen sich bis zur endgültigen Ausmusterung nur noch in Läden wie den Pupasch oder das 1900, ein paar Ecken weiter wartet bereits freundlich winkend der Goldene Handschuh, um ihnen endgültig aus dem Mantel zu helfen. BABE sieht irgendwie ganz komisch aus, ihr Gesicht wirkt seltsam zusammengedrückt, ihr Körper auch, und das dunkelgrüne T-Shirt lässt sie noch kleiner und eckiger erscheinen; Querstreifen strecken und Längsstreifen stauchen, oder war es umgekehrt? Ein Prügelopfer, eine, die immer wieder an die gleichen Schlägertypen gerät. Warum löst sie bei den Männern nur immer solche Aggressionen aus? Irgendwas muss sie falsch machen, wenn sie nur wüsste, was. Die Beziehungen enden meist damit, dass die Typen sie rausschmeißen. Sie können das devote Etwas an ihrer Seite (an ihrer Seite ist gut) nicht mehr ertragen, haben Angst, sie eines Tages aus Versehen totzuschlagen und für so eine Scheiße auch noch im Knast zu landen. Babes letzter Freund hat eines Nachts einfach ihre Sachen aus dem Fenster geschmissen und sie anschließend aus der Wohnung geschubst. Anstatt sich zu verkrümeln (in diesem Fall das passende Wort), blieb sie winselnd im Flur liegen, und das fand er nun wirklich ekelhaft. Viel hatte nicht gefehlt und er hätte sie tatsächlich totgeschlagen. Ersatzweise schüttete er ihr irgendeine Pisse über den Kopf und zischte sie an, sie solle endlich verschwinden. Wie immer ist sie erst mal bei ihrer Schwester untergekommen. Die ständigen Prügel haben ihre Proportionen verändert, sie ist ganz verkürzt und verdreht und verknotet, als hätte man ganze Stücke aus ihr herausgeschlagen oder rausgesägt. Lange dauert’s nicht mehr, dann wird sie bis ganz unten durchgereicht, wo Maik Bohnsack schon darauf wartet, seine in jahrelangen Gefängnisaufenthalten perfektionierten Foltertechniken in aller Ruhe an ihr auszuprobieren.

SCHLAMPE sieht nach irgendwas mit Bulimie aus. Ihr T-Shirt ist von DOLCE & GABBANA. Der Rest auch: Jeans, Schuhe, String, Accessoires. Und der Gürtel, über dessen gesamte Länge mit goldenen Nieten der Name des italienischen Designerduos eingestampft ist. Fehlt nur noch ein Gesichtstattoo mit dem Logo ihrer Lieblingsausstatter. BABE und SCHLAMPE sind hiergeblieben, weil sie zwei Männer kennengelernt haben. Der eine sieht aus wie ein ADAC- oder Dekra-Gutachter, wie immer die auch aussehen, passt schon, der andere hat einen Eierschädel und kreisrunden Haarausfall. Ladenhüter, die keine großen Ansprüche stellen und auch nicht stellen dürften. BABE flirtet unkonzentriert mit dem Dekra-Typen, ihr Blick schweift dauernd ab zu einer Gruppe Bodybuilder, die gelangweilt an ihren Drinks nippen. Sie hat schon immer auf solche Typen gestanden, den einen findet sie richtig gut, der sieht fast so geil aus wie Dolph Lundgren zu seinen besten Zeiten, ach Quatsch, geiler. Vor ein paar Jahren hätte der sicher zurückgeguckt, jetzt aber eben nicht mehr. Die Ladenhüter müssen die Regeln einhalten, da achten die Frauen peinlich genau drauf, die müssen sich richtig anstrengen, bevor sie randürfen an die Buletten. SCHLAMPE kann zwar mit Buletten nicht wirklich dienen, hat aber hoffentlich was anderes drauf. BABE zieht ihre Freundin auf die Tanzfläche, vielleicht bemerken die Bodybuilder sie endlich, aber die denken nicht daran, sondern befühlen unauffällig ihre Muskeln und besprechen, wohin sie als Nächstes gehen. Nicht eine einzige geile Alte hier. Dekra und Eierkopf sind zum Tresen, Caipis bestellen. Sie haben sich den Frauen gegenüber prophylaktisch als «Tanzmuffel» geoutet. Hoffentlich kommen die Fotzen bald wieder, denkt Eierkopf. Was bleibt ihm übrig, außer geduldig abzuwarten? Wenn er auf seinen erfolglosen Beutezügen eines gelernt hat, dann dies: Es sind immer die Frauen, die bestimmen, wie und wann und ob überhaupt was geht. Die Bodybuilder verlassen im Gänsemarsch den Laden. Keine einzige geile Alte hier, nicht eine einzige geile Alte! BABE ist enttäuscht. Sie stößt SCHLAMPE an, Zigarettenpause. Aber nicht gleich wieder zu den Ladenhütern, die sollen ruhig noch ein bisschen schwitzen. Jetzt schlägt die Stunde des Stillen, der sich als Pausenclown profilieren kann, oder als Pausenzeichen oder -füller, denn für einen Pausenclown ist er entschieden zu unwitzig. Er versucht, die Ladys zu unterhalten, aber aus seinem Mund klingt alles falsch, er kann es nicht und lernt es in diesem Leben auch nicht mehr. Schon nach wenigen Sätzen hören sie ihm nicht mehr zu, er starrt wieder auf sein Handy, traut sich aber nicht zu schreiben, sonst sind sie vielleicht beleidigt. BABE tippt ihre Freundin an. Wo sind eigentlich die Ladenhüter abgeblieben, die standen doch gerade noch da vorn? Die werden es sich doch nicht noch anders überlegt oder gar etwas Besseres gefunden haben in der Zwischenzeit?! BABE hat schon ganz schön einen im Kahn, Säuferpanik und Säufertrauer und Säuferminderwertigkeitskomplexe und Säuferphobie und Säuferparanoia, und die ganzen anderen unseligen Zustände, in die man sich sauftechnisch reinbugsieren kann. Sie stürzen zum Tresen, Riesenerleichterung, da sind sie ja, hinter dem Pfeiler, die Schweine!

Langsam geht die Selektion in ihre Endphase. Wenn es jetzt nichts wird, dann wird es woanders auch nichts mehr, den Schuppen wechseln ist zu riskant, was hier noch gut war, kann nebenan schon schlecht sein. Das böse Wort, das mit Reste anfängt, hängt schlecht gelaunt über der Location, drohend, zur Eile mahnend. BABE stupst ihre Freundin an, die soll ein letztes Mal mit auf die Tanzfläche kommen. Rock DJ von Robbie Williams, ihr «Lieblingsabgehstück». Die Ladenhüter kriegen langsam schlechte Laune, irgendwann ist auch mal gut mit Hinhalten. Dekra hat Eierkopf überredet, ihm BABE zu überlassen, das Gedrungene macht ihn scharf, er könnte ihr mit der flachen Hand auf den Kopf hauen. Eigentlich ist er kein Gewalttyp, aber irgendwas an BABE regt seine für gewöhnlich nicht sehr ausgeprägte Phantasie an. Sie kommt ihm vor wie ein Nagel, der noch halb aus der Wand guckt. Jedes Mal, wenn man mit dem Hammer dran vorbeikommt, muss man ihn ein Stück hineinkloppen, man muss einfach. Was man mit der wohl so alles machen kann? Sicher einiges, sie hat schließlich keine Wahl. Eierschädel ist es irgendwie egal, die Dürre soll ihm auch recht sein. Plötzlich schießt ihm etwas durch den langen Eierschädel: Wenn sie nun nicht rasiert ist! Was für eine Vorstellung: Lang und dünn und schütter und grisselig, von weißen Zotteln durchsetzt, an denen was klebt. Ogottogottogott. Schnell ablenken.

Es sind jetzt vielleicht noch zwanzig Besucher im 1900, darunter zwei sehr dicke Frauen, bei denen sich den ganzen verfluchten Abend nichts, aber auch gar nichts getan hat, noch weniger als bei allen anderen zusammen. Immer wieder zwingt die noch Dickere ihre Freundin in die Verlängerung:

«Komm, eine noch.»

«Aber dann gehen wir echt.»

Nächste Zigarette. So dick und rauchen! Wie dick die wohl erst wären, wenn sie mit dem Rauchen aufhörten? Seit Stunden hocken sie am Tresen und werden immer starrer. Hockerinnen hocken, bis irgendjemand sie wegpflückt, die Pflückzeit bestimmt gleichzeitig ihren Marktwert. Die männliche Entsprechung ist der Starrer, die Planstelle des männlichen Hockers ist unbesetzt.

Auf Rock DJ folgt Mr. Vain. «Call him Mr. Raider, call him Mr. Wrong, call him Mr. Vain … I know what I want, and I want it now, I want you, cause I am Mr. Vain.» Das war meine Zeit, denkt BABE. SCHLAMPE kann nicht mehr. Sie hat schon wieder den ganzen Tag so gut wie nichts gegessen, und die Aussicht auf das bevorstehende Sexabenteuer lässt die Kotze in ihr aufsteigen. Ach Gott, ach Gott, was soll nur aus ihr werden. Sie stakst in die Plüschecke, zu dem Stillen. Wie der so traurig dasitzt. Sie wird auf einmal ganz weich und hat positive Gefühle, von denen sie nicht genau weiß, was für welche das sind, im Zweifelsfall Muttergefühle. Mutterinstinkt. Sie schafft ihre Zigarette nur noch halb, sie ist zu schwach, die Kippe richtig auszudrücken. Ein Gespräch mit ihm anzufangen wäre zu mühsam, er eignet sich allenfalls als Kippenganzausdrücker oder Aschenbecherentleerer. Er macht auch keine Anstalten, ihr einen auszugeben, abgesehen davon, dass sowieso keine Flüssigkeit mehr in sie hineingeht, noch nicht mal Wasser, sie ist zu voll, bis obenhin voll. Es passt nichts mehr in sie hinein, und schon gar kein Sperma.

Der Stille würde gern was sagen, aber ihm fällt partout nichts ein.

Wenn von dem nicht gleich was kommt, geht sie wieder.

Wenn er nur nicht immer alleine sitzen muss! Er lehnt sich zurück, überlegt. Dabei legt er seinen Arm auf die Lehne, absichtslos, nie würde er es wagen, sie zu berühren. Doch SCHLAMPE verwechselt das mit Anmache und schiebt seinen Arm demonstrativ mit beiden Händen zurück. Dann verschwindet sie, sie wird nicht noch einmal zurückkehren.

Mit ungeheurer Wucht wird ihm die Unabänderlichkeit seines Schicksals bewusst. Wohin gehen, wohin fliehen? Für jemanden wie ihn gibt es nirgendwo eine Verwendung. Wieder nimmt er sein Handy und tippt eine SMS. Wem er wohl die ganze Zeit schreibt? Und vor allem was? «HILFE, HILFE, HILFE!» Den ganzen Abend schon, nichts anderes: «HILFE, HILFE, HILFE!» In seinem Kopf spulen sich die immer gleichen, von Viren zerfressenen Splittercodes ab: Error! Der ganze Mensch eine Fehlermeldung, B-Ware, dysfunktional, unvollständig auf die Welt gekommen, Gewölle, in Bruchstücken herausgepresst, und niemand hat sich die Mühe gemacht, das Puzzle richtig zusammenzufügen. Sein ganzes Leben eine unausgesetzte Schwächung, immer entwich irgendwas, ohne dass mal was hinzugekommen wäre. Nie ist etwas in Schwingung geraten, dabei hätte man nur mal eine Saite anzupfen müssen, früher, und gleich hätte das ganze Orchester mit eingestimmt. Er ist erfüllt, von oben bis unten ausgegossen mit diesem brennenden Schmerz, sein Herz ein blutender, schwerer Klumpen, der langsam nach unten durchsackt. Er steht auf und schleicht nach draußen, um sich dem Strom derer anzuschließen, die unverdaut wieder ausgespuckt wurden und nun verglühen in den Feuern der Einsamkeit. Wie lange erträgt man es, zu wissen, dass nichts mehr kommt?

Es wurde Zeit, woanders hinzugehen.

«Und nun?»

Janne schaute auf die Uhr. Viertel nach drei, meine Güte, so spät schon.

«Lass mal zum Pudel

 

Ohne sie wäre es mir genauso ergangen wie dem Stillen, das war mal sicher. In den Absturzkneipen am Hamburger Berg herrschten unfassbare Temperaturen. Vierzig Grad. Fünfzig Grad. Sechzig Grad. Grad, Grad, Grad! Die Leute gingen nur rein, um sich mit Getränken zu versorgen. Das arme Tresenpersonal! Wir überquerten die Reeperbahn und bogen an der Davidswache ab Richtung Hafen. Jeder Nutte standen exakt 30 Quadratzentimeter zur Verfügung. Käfighaltung. Und niemals ging ein Freier mit. Rätselhaft. Vielleicht werden die Frauen ja mittlerweile als Touristenattraktion von Vater Staat subventioniert.

Die Häuser an der Hafenstraße wirkten seltsam unbewohnt. Nirgendwo brannte Licht, kein Pieps war zu hören.

«Wohnen da überhaupt noch Leute?»

«Ja, sicher wohnen da Leute.»

«Und, haben die Mietverträge? Sind das reguläre Mieter?»

«Ich glaub schon.»

«Wer hat denn nun gewonnen? Die Stadt oder die Autonomen?»

«Weiß nicht. Beide beanspruchen das für sich. Ach Gott, ich weiß es auch nicht.»

«Ich dachte, du wärst eine Politische. Ich meine, könnte ich da auch hinziehen? Das interessiert mich, wie die Vergabe so läuft. Das entscheidet bestimmt ein Bewohnergremium.»

«Weiß ich nicht. Langweilig.»

«Von wegen langweilig. Kannst du dich noch dran erinnern, als Anfang der Neunziger die Einkaufswagenchips eingeführt wurden?»

«Was kommt denn jetzt?»

«Da ging eine Welle der Solidarität durchs Volk. Die Leute haben nicht gewartet, bis ihre Vorgänger den Einkaufswagen zurückgeschoben haben, sondern mit einer gezückten Mark ‹Hier bitte schön, kann ich Ihren Wagen haben› oder so gesagt. Die Menschen haben wieder miteinander gesprochen. Aber nur am Anfang, das ist schon bald verebbt, und jeder hat sich seinen Einkaufswagen selbst gezogen.»

«Da war ich noch zu jung.»

«Deswegen erwähn ich’s. Und die Einkaufschipaffäre war der Anfang vom Ende von Jürgen Möllemann.»

«Ach, Jürgen Möllemann, der Fallschirmspringer.»

«Genau, Riesenstaatschef Mümmelmann. Sein Schwager oder so besaß eine Fabrik, die die Chips herstellte, und Möllemann hat sich dafür eingesetzt, dummerweise auf offiziellem Ministerbriefpapier. Das war’s dann.»

«Ach so.»

«Genau, von wegen langweilig.»

 

Die Treppe, die zum Pudel hinunterführte, war überfüllt. Hundert? Hundertfünfzig? Oder noch mehr?

«Wie viele Leute hier wohl auf der Treppe sitzen. Ich kann so schlecht schätzen.»

«Normalerweise sagen das immer die Frauen, dass sie schlecht schätzen können.»

«Dann eben nicht.»

Der Golden Pudel Klub hatte im neunzehnten Jahrhundert als Kurzzeitknast für Schmuggler gedient, die im Hafen auf frischer Tat ertappt worden waren. Bevor sie in ein reguläres Gefängnis überführt wurden, mussten sie ein paar Tage in der dunklen Kaschemme schmoren, wahrscheinlich war Klaus Störtebeker der erste Stammgast gewesen (mal richtig rechnen, du Opfer!). In dem von tiefen Rissen durchzogenen Gebäude quollen Drähte aus allen möglichen Löchern und Spalten. Das sah gefährlich aus und war bestimmt auch gefährlich. Es gab sicher niemanden, der genau wusste, wo die Drähte herkamen und wo sie hingingen und ob sie Strom führten oder nicht. Von Rechts wegen hätte das Haus längst eingestürzt oder abgebrannt sein müssen, dass es trotz Hausschwamm, Hausbock, unzähligen Wasserschäden und nicht vorhandener Statik immer noch stand, kam einem Wunder gleich. Der Pudel gilt seit Ewigkeiten als coolster Club der Stadt, und das in HH, wo, wie in allen Großstädten, die Halbwertzeit für angesagte Locations begrenzt ist. Die mittlerweile in die Jahre gekommene Gründergeneration und deren Sympathisanten haben den nachrückenden Teenyhorden Platz gemacht, die die eigentliche Bedeutung nicht mehr kennen und sich auch nicht sonderlich dafür interessieren. Im Pudel ist jeden Abend was los, meist wird aufgelegt, gelegentlich spielen Bands auf der winzigen Bühne. Sonntag und Montag sind Insidernächte für Szenegänger, am Wochenende ist es wie überall bunt gemischt.

Nachdem wir uns die Treppe hinuntergezwängt hatten, beschlich mich auf einmal ein ungutes Gefühl. Ich war mir plötzlich sicher, dass der Abend kippen würde. Ein Königreich für ein Steak-House, schnell essen, anschließend ohne Abendbrot ins Bett. Etwas anderem fühlte ich mich nicht mehr gewachsen. Ausgerechnet jetzt, wo die Nacht ihren Sinn bekam und alles Vorherige belanglos wurde, denn erst jetzt fallen die Entscheidungen. Die einen steigen auf in der Nacht, die anderen stürzen ab.

«Komm, lass reingehen.»

«Aber nur Bier holen.»

«Ich will aber auch nochmal tanzen heute.»

Drinnen war es unerträglich heiß, die Luft schwer und verbraucht. Wie nannte man eigentlich die Musikrichtung? Techno? Gab es Techno überhaupt noch? Elektro? Dixie? Oder vielleicht was ganz anderes, etwas, von dem ich noch nie gehört hatte? Meine Güte, was wusste ich eigentlich? Kein Wunder, wenn man ausschließlich NDR 1 Welle Nord hört (Oma, Opa, Tante, Onkel).

Der Weg, den ich oft in Gedanken geh,

Führt am Fluss entlang zum See,

Und zu dir, denn dort wartest du am Blue Bayou.

Unter Bäumen liegt ein Haus,

Es sieht wie im Märchen aus,

darin wohnen die Liebe und du, am Blue Bayou.

Das alles hier hatte mit dem schönen Blue Bayou nichts zu tun, weniger ging nicht. Wahnsinnig peinlich, dass ich noch nie hier gewesen war. In der Kunsthalle war ich auch noch nie, und im Planetarium auch nicht, obwohl es gleich um die Ecke liegt (Stadtpark). Janne drängelte sich zum Tresen, ich blieb an der Tür stehen. Die ungünstigste Stelle im ganzen Laden, aber ich traute mich nicht weiter hinein. Sie kam erstaunlich schnell zurück und drückte mir wortlos ein Bier in die Hand. Schon wieder Bier, immer nur Bier. Bier, Bier, Bier. Bierfolter. Und nun? Irgendwann ist auch mal gut mit Labern. Sie strich mir flüchtig über den Arm und verschwand Richtung Tanzfläche. Ohne mich. Einfach stehengelassen. Wahrscheinlich wollte sie endlich allein sein, mal sehen, was ohne die Bremse alles passiert.

Ich kannte mich nicht aus, hielt es aber durchaus für möglich, dass es im Nachtleben ein ungeschriebenes Gesetz gibt, dem zufolge ab einem bestimmten Zeitpunkt jeder auf sich gestellt ist. Der Moment der Wahrheit, eine Mutprobe, die nicht zu gewinnen war, jedenfalls nicht von mir. Ich spürte, wie meine Schläfen heiß wurden, wund gescheuert von dem immer gleichen Gedanken: Warum kostet mich alles nur so unendlich viel Mühe? Eine wachsende Innenspannung, eine kaum noch erträgliche Unruhe drohte mich zu überwältigen, und nur mühsam gelang es mir, die dicht unter der Oberfläche liegende, blitzschnell aufflammende Verzweiflung unter Kontrolle zu halten. Die Beklemmung, die tief in meinem Inneren lebendig gewesen war, wartete die ganze Zeit darauf, mich beim geringsten Anzeichen von Schwäche zu überwältigen. Da die Rempeleien am Eingang immer ärger wurden, drängelte ich mich in die Nähe des DJ-Pultes. Hier schien eine Art toter Punkt zu sein, ein Fleckchen, an dem ich wenigstens nicht im Weg stand. Wo fing die Tanzfläche an, wo hörte sie auf? Kein – Rand – Bedingung: die Vorstellung, dass das Universum endlich ist, aber keine Ränder besitzt. Die Tanzfläche war auch endlich und hatte auch keine Ränder.

Den meisten Männern schien es wie mir zu gehen, eingemauert in der eigenen Erstarrung. Oder bildete ich mir das ein? Wenn es einem schlechtgeht, wünscht man sich, dass es allen anderen ebenso schlechtgeht. Ach Quatsch, viel schlechter. Verzerrte Wahrnehmung. Oder hatte ich etwa doch recht? Was war das denn: Männer mit mondblassen, erdrückten Gesichtern, die mit kleinen, gierigen, fiebrig glänzenden Augen das Treiben auf der Tanzfläche verfolgen, geplagt von dunklen, schroffen Phantasien, geschwächt vom zähen Ausharren, erschöpft von den Erniedrigungen eines Lebens, für das sie nicht gemacht sind, verformt von der Brutalität der Zurückweisung, kontaminiert durch den Sex, den sie nicht haben, ganz durcheinander vom Wahnsinn, den das Begehren gebärt, und tief drin dieses nie nachlassende, wütende Toben.

Pump up da Shit!

Schräg gegenüber ein Typ, der versucht, Blickkontakt mit einem Mädchen herzustellen. Als sich ihre Blicke treffen, verzieht er sein Gesicht, heraus kommt ein Reflex reiner Verzweiflung, eine heftige Verzerrung, die seine Züge zu einer grotesken Idiotenfresse entstellt. Das kannte ich ja. Das Mädchen weicht geschockt einen Schritt zurück, stumm und endgültig. Er hat alle seine Kraft an diese Aktion verschwendet, nun kann er das Elend seines irreparablen Innendefekts nicht mehr ertragen, und er verlässt den Club.

 

Die Pofis übernehmen die Hoheit über das Nachtleben. Immer das Gleiche: Amateure verlieren, wenn sie in die Blendzone zwischen Tag und Nacht eintreten, einen Großteil ihrer Masse, wie Meteoriten, die in der Erdatmosphäre verglühen. Oder: Der doofe Scotty von «Raumschiff Enterprise» hat seine verdammte Technik mal wieder nicht im Griff. Die Forschercrew gerät auf dem unbekannten Planeten in Lebensgefahr. Jetzt bloß schnell zurück ins Raumschiff! Scotty beamt und beamt und beamt, doch der Beam ist verrostet oder zu schwach oder beides. Die Umrisse des Expeditionskorps bleiben schemenhaft, ein Expeditionsmitglied nach dem anderen wird von Aliens getötet.

Profis machen sich durchlässig für die Energie des Raumes, verwandeln sie in eigenen Brennwert, blähen sich auf zu Sonnen mit eigener Gravitation und Trabanten- und Planetengefolge. Alle zehn Milliarden Neuronen feuern auf die gleiche Stelle, die innere Sekretion arbeitet auf Hochtouren. Die Ionenkanäle sind offen wie Scheunentore, ein Trommelfeuer aus Adrenalin und Noradrenalin, Oxytocin und Beta-Endorphin, fortschreitende Selbstverstärkung, synaptisches Zucken, neuronale Erregungen. Von gewaltigen Energieverdichtungen nach oben geworfen, gelangen sie auf den äußersten Kamm, treiben in rhapsodischer Steigerung dem Feuerball entgegen, werden selbst zu einem pulsierenden, purpurnen Fleck. Kurz bevor ihnen der Brennstoff ausgeht, ziehen sie sich zusammen, die Kontraktion presst die Atome zusammen und heizt sie erneut auf. Sie beginnen zu leuchten.

It takes the physical to create the physical, so make yourself ready for da warning!

Wo war eigentlich Janne? Abgehauen? Dann war es eben so. Ich schob mich näher an die Tanzfläche und wippte von einem Bein auf das andere. Meine Bewegungen fühlten sich schwach an, puddinghaft und hölzern zugleich. Was sich so anfühlt, sieht bestimmt auch so aus. Ich zuckte rhythmisch mit den Schultern. Hoffentlich guckt keiner. Natürlich guckte keiner, die Leute hatten genug mit sich selbst zu tun. Nach ein paar Minuten Rumgezucke gelangte ich irgendwie, zufällig, ins Epizentrum, in dessen Mitte ein untersetzter, massiger Typ tanzte, der mit seiner starken, gewölbten Stirn, den wild wuchernden, buschigen Augenbrauen und den breiten Koteletten aussah wie ein rumänischer Gewichtheber, Montreal 1976 (die erste Olympiade, die ich bewusst miterlebt hatte). Die pechschwarzen Haare hingen ihm wirr ins gedunsene Gesicht, die unteren Knöpfe seines Hemdes waren auf, und der dicke, behaarte Bauch quoll über den Gürtel. Unter normalen Umständen hätte das nicht gut ausgesehen. Er ging in die Hocke, und als er wieder hochkam, schüttelte er sich wie ein großer Hund nach einem unfreiwilligen Bad. Der Schweiß stob in alle Richtungen. Wieder ging er in die Hocke und sprang in die Höhe. Er brüllte einem sehr hübschen Mädchen ins Gesicht. «RRÄÄÄ» oder «GEÖÖÖ» oder so ähnlich. Oje, dachte ich, jetzt hat er den Bogen überspannt. Doch das Mädchen stieß einen hohen, fledermausähnlichen Schrei aus und rieb sich an seinem Bauch. Sie schrien, schrien wie Angezündete. Immer rasender wurde das Geschreie und Gebrülle; es erfasste die ganze Tanzfläche. Jetzt entwich auch mir ein Geräusch, eine Art mittiges Lungenrasseln, dem eine Reihe von Ächzlauten folgte. Egal. Die Leute rissen ihre Arme nach oben, ein religiöses Fieber, das mit unausweichlicher Konsequenz seinem Höhepunkt entgegentaumelte. Vereint in ihrem Wunsch nach individueller Selbstaufgabe, erlösender Verschmutzung, bereit, sich der Macht der Sekrete, dem Diktat von Enzymen und Hormonen zu unterwerfen. Eine verräterische Elektrizität, eine magnetische Strömung zwischen den Körpern, Wahrheit auf molekularer Ebene, alles Dürftige und Beschränkte ausgelöscht, untergegangen in einem Meer aus Weck- und Betäubungsstoffen. In der Ekstase tut sich ein Wurmloch auf, ein schmaler Gang, der für einen kurzen Moment den Blick zurück gestattet. Die Musik strömte durch mich hindurch, und in meinem Kopf vermengten sich Splitter von ehemaligem Sinn, unverdaute Brocken von Wahrnehmung, Ideenfragmente, unbearbeitete Fetzen. Dann verließen mich schlagartig alle Gedanken, und ich geriet in eine Zone der Stille. Meine Güte, meine Güte, was war das bloß? Alles kündete von einem: dem nahen Ende der Einsamkeit!

Da roof, Da roof, Da roof is on fire, burn, mother, burn!

Besser konnte es nicht mehr werden. Ich drängelte mich nach draußen, überquerte die Straße und setzte mich auf die Mauer. Auf der anderen Seite der Elbe lag Dock 11, Blohm + Voss, in dem gerade ein riesiges Containerschiff überholt wurde. Das Wasser war schwarz und spiegelglatt. Es roch nach Hafen und Aufbruch und weiten Reisen. Gut roch es. Ob eine Kreuzfahrt wohl was für mich wäre? Ich beschloss, mich beim nächsten Hamburgstopp der Queen Mary 2 den staunenden Fans anzuschließen, wenigstens einmal auf einer Welle kollektiver Begeisterung mitschwimmen, einmal um die ganze Welt, wenigstens aber bis New York. Die Queen Mary 2 legt zum Glück sehr oft in Hamburg an.

 

Es war halb fünf, und ich hatte Janne seit einer Stunde nicht mehr gesehen. Abgehauen, ihr gutes Recht. Wenn man die ganze Nacht auf einen Depressionshansel aufpassen muss, damit der keinen Rückfall erleidet, hat man sich den Feierabend redlich verdient. Ich drehte mich um. Dann sah ich sie, in der Nähe der Tür. Sie unterhielt sich mit einem Typen, der aussah wie ein geiler Typ. Sie standen dicht beieinander, ihrer Körpersprache nach zu urteilen würde da noch was laufen. Vielleicht sollte ich rübergehen und mich verabschieden, dann bräuchte sie wenigstens kein schlechtes Gewissen zu haben. Egal, hatte sie wahrscheinlich eh nicht. Worüber ich mir schon wieder Gedanken machte. Baby an Bord, Schwachsinniger on Tour, abgerechnet wird wie überall zum Schluss. Ich wandte meinen Blick ab und schaute wieder auf das Hafenpanorama. Vielleicht sollte ich mich auf die andere Seite der Mauer fallen lassen und einfach liegen bleiben. Je steiler der Höhenflug, desto tiefer der Absturz.

 

Jemand drückte mir etwas Kaltes an den Rücken. Ich drehte mich um.

«Da bist du ja. Wie geht’s denn?»

«Och. Ganz gut.»

Gott sei Dank! Ja wirklich, zum ersten Mal und überhaupt: Gott sei Dank, Gott sei Dank, Gott sei Dank!

«Komm, das war’s hier, wir gehen noch Schnaps trinken.»

«Wo denn?»

«Elbschlosskeller.»

«War ich noch nie.»

«Und ins La Paloma können wir auch noch kurz, wenn wir schon dabei sind.»

«Okay, dann lass jetzt aber auch los.»

 

Die Sauf- und Grölkneipe La Paloma, in der ausschließlich deutsche Schlager in zumeist ohrenbetäubender Lautstärke gespielt werden, ist in den frühen Morgenstunden ein Sammelbecken aller, die immer noch nicht genug haben, eine brisante Mischung aus Begünstigten und Geschlagenen der Nacht.

Auf einem der Tische tanzen drei Mädchen und werden dabei lautstark von ihren Kumpels angefeuert: «Hey, Hey, baby, hu, na, I wanna knoooow, if you be my girl.» Sie haben sich in Stade auf der Berufsschule kennengelernt und fahren seither regelmäßig zum Feiern nach Hamburg. Die Mädchen sind noch gut beieinander, sie haben den ganzen Wahnsinn einfach nicht an sich rangelassen. Bei ihren Begleitern ist längst die Luft raus, sie trauen sich aber nichts zu sagen, sie wollen den Mädchen nicht die Laune verderben und außerdem irgendwann auch mal was anderes, als immer nur den Chauffeur zu geben. Was sie nicht wissen: Falls es jemals einen richtigen Zeitpunkt gegeben hat, haben sie den verpasst, und nun ist ihr Guter-Kumpel-Status auf Lebenszeit festzementiert, mehr Zement geht gar nicht.

Der Star der Truppe heißt Karina, eine rustikale Schönheit mit einer bezaubernd natürlichen Ausstrahlung und charmantem Tollpatsch-Einschlag, eine, die es im Alten Land jederzeit zur Kartoffel-, Heide- oder Sauerampferkönigin bringen könnte, wenn sie denn wollte. Einer der Kumpel hat sie vor ein paar Wochen im Freibad heimlich mit dem Handy fotografiert. Irgendwie scheint Karina zu ahnen, dass sie als Wichsvorlage herhalten muss (Frauen spüren so etwas), denn seitdem ist sie ihm gegenüber seltsam reserviert. Sie wohnt wie ihre beiden Freundinnen noch zu Hause. Karina ist ein sog. Papakind. Ihr Vater haut öfter mal auf den Tisch, und wenn er schlechte Laune hat, verbietet er ihr den Mund, und ihrer Mutter gleich mit dazu. Die Mutter hat außerdem nicht den blassesten Schimmer, wie viel er verdient. Braucht sie auch nicht, sie bekommt schließlich ausreichend Haushaltsgeld. So einer jedenfalls ist ihr Vater. Karina würde sich von dem Mann an ihrer Seite zur Not gelegentlich auch den Mund verbieten lassen, aber eben von einem Mann und nicht von einem Bubi. Sie wackelt manchmal mit dem Arsch, das muss den Jungs reichen, den Rest können sie sich denken. Ihre Freundinnen sehen auch gut aus, beide mit Topfiguren ausgestattet, aber irgendwie blass, es fehlt ihnen an Ausstrahlung, sie haben mit ihren ins Blöde schwimmenden Augen etwas leicht Totes, ganz gut im Schweigen, umso schlechter im Reden. Es macht ihnen nichts aus, dass die Männer sich fast ausschließlich für Karina interessieren:

«Wie heißt du denn eigentlich?»

«Karina.»

«Ach, Karina, schöner Name. Seid ihr öfter hier?»

«Nee, zum ersten Mal.»

«Und, ist das da dein Freund?»

«Nee, das sind nur unsere Kumpels.»

«Dann können wir ja noch woanders hingehen.»

«Ich glaub erst mal nicht, mir gefällt’s hier ganz gut.»

«Ach so.»

Die Chancen der Typen sind in etwa die gleichen wie die von Jürgen Degowski bei Silke Bischoff. Karina bleibt immer nett und höflich, trotzdem ist die eisige Wand um sie herum undurchdringlich. An so einer beißt man sich die Zähne aus. Wenn mal jemand zu hartnäckig ist oder gar aufdringlich wird, zieht die Gruppe einfach weiter in den nächsten Laden.

Barfuß im Regen tanzen wir zu zwein

Und wir tanzen und tanzen und tanzen.

Süß ist dein Kuss, ein Hauch von Sonnenschein

Und wir küssen und küssen und küssen.

Leute gehn vorbei und sie drehn sich alle um

Und wir singen und singen und singen.

Barfuß im Regen, glücklich wie noch nie

Und wir tanzen und tanzen und tanzen.

Janne hatte schon wieder Bier organisiert. Bier, immer nur Bier, als ob es auf der Welt kein anderes Getränk gäbe. Sie hatte doch was von Schnaps gesagt. Warum konnten wir uns das Intermezzo nicht schenken und die verbliebenen Kräfte für den Elbschlosskeller aufsparen? Am besten natürlich gar nichts mehr. Wie gerne hätte ich allein nur wegen eines anderen Mundgeschmacks einen schönen Schoppen Weißwein aus einem geriffelten Schoppenglas mit Alpenmotiven getrunken.

«Schon wieder Bier? Das ist Folter. Bierfolter. Hier ist es doch schrecklich. Komm, wir stellen uns wenigstens nach draußen.»

«Ja, gut.»

 

An der Tür kamen uns die Gangstas aus dem 1900 entgegen. NIKES Augen waren extrem gerötet, sein Trainingsanzug mit Kotze und/​oder etwas anderem Ekligen bekleckert. Er schaute mich an und dann Janne und dann wieder mich. Verzweiflung, Wut, Begehren und Trunkenheit. Oje, gleich würde er mir eine scheuern, jetzt war ich der Affe.

Es huschte jedoch eine Art anerkennendes Grinsen über sein Gesicht.

«Ey, Digga, euch kenn ich doch. Was geht denn?»

Ich rief die einzige Phrase ab, die mir zu dem Thema einfiel.

«Einiges, Digga, einiges.»

«Richtige Antwort. Gib mir fünf.»

Mir blieb nichts übrig, als mitzumachen. NIKE ging direkt zu dem Tisch, auf denen die Mädchen tanzten bzw. schunkelten. Kehrausmusik, Balladen, Rausschmeißer. Seinen Kollegen sah man die Erschöpfung an, aber Chef ist Chef, und wenn der noch nicht nach Hause will, dann will er noch nicht nach Hause. NIKE feuerte die Mädchen an und sang mit. Woher um Himmels willen kennt er nur den Text?

Du hast ja Tränen in den Augen.

Ich weiß, die gelten mir allein.

Mir sagt das Lächeln deines Mundes,

Es müssen Freudentränen sein.

Es war nichts mehr von ihm übrig, der Text passte zu seiner Verfassung wie die Faust aufs Auge. Vielleicht kennt er das Stück (die deutsche Version von Cryin’ in the Chapel) von zu Hause (Mutter Schlagerfan). Er brüllte in waidwundem Ton mit:

Lange war ich in der Ferne,

Es war ein weiter Weg zu dir,

Mir sagt das Schlagen deines Herzens,

Du gehörst noch heut zu mir.

Costa Cordalis! Den kann jemand wie er doch eigentlich nur aus dem RTL-«Dschungelcamp» kennen. Seine Kollegen schämten sich. Dass ihr Chef solche Scheiße überhaupt kennt, geschweige denn gut findet.

Und die Tränen in den Augen,

Die will ich niemals wieder sehen,

Denn das Lächeln deines Mundes

ist ja tausendmal so schön.

Nach ihrem frustrierenden Abgang aus dem 1900 sind sie ziellos auf dem Kiez herumgeirrt, Dutzende Mädchen haben sie angesprochen, jedoch mit ihrer armseligen Kanaksprak nie den richtigen Ton getroffen, immer zu laut, zu besoffen, zu dumm, ohne Gespür für irgendwas, lächerliche Abziehbilder. Volksvergnügen wie Dom, Hafengeburtstag oder Alstervergnügen wären das Richtige für sie, kein Eintritt, keine Türsteher, keine Kleiderordnung, und mitgebrachten Alk kann man auch problemlos saufen. Was darüber hinausgeht, überfordert sie hoffnungslos. Aber sie sind noch so jung, das kann doch unmöglich alles gewesen sein, jetzt doch noch nicht! Sie wollen einfach nicht begreifen, dass es für sie keine Verwendung gibt, sie einer sinnlosen Überproduktion entsprungen sind, dass kein Platz auf dieser Welt ist für sie und ihr einziger Sinn und Ausweg: sich einem Selbstmordkommando anschließen.

Ihre vorletzte Station war eine Tabledancebar gewesen. Eintritt frei, dafür kostet das Bier zehn Euro, andere Getränke sind unbezahlbar. Merkwürdig, dass der Koberer sie überhaupt reingewinkt hat, wo man ihnen tausend Meilen gegen den Wind ansieht, dass sie kein Geld haben. Die Tänzerinnen sind eigentlich gehalten, sich zu jedem neuen Gast zu setzen, um ihm Getränke aus dem Kreuz zu leiern (ein paar sind auch Nutten), aber bei der Loserbande ist nix zu holen. Die Girls blicken Rat suchend zum Chef, wieso schmeißt der die Asis nicht raus, er ist doch sonst nicht so? Aber der Chef reagiert nicht, vielleicht denkt er grad an was anderes, oder er lässt aus unerfindlichen Gründen Gnade vor Recht ergehen oder weiß der Kuckuck. Die Jungs setzen sich direkt an die Tanzfläche, nippen an ihren Bieren und versuchen, einen möglichst gleichgültigen Eindruck zu machen, was ihnen nicht gelingt, denn sie sind nicht cool und abgebrüht, sondern heiß und aufgeregt. Auf der Bühne müht sich eine untersetzte Filipina mit dicken Oberschenkeln ab, sie öffnet ihren BH. Die traurig herabhängenden, wulstigen Nippel passen nicht zu ihrem Minibusen. Ihre Art zu tanzen grenzt an Arbeitsverweigerung.

Brown girl in the ring,

Sha la la la la here’s a brown girl in the ring,

Sha la la la la,

Brown girl in the ring,

Sha la la la

She looks like a sugar in a plum.

Plum plum.

Eigentlich ist Feierabend, aber wann genau der ist, bestimmt ausschließlich einer, nämlich der Chef, und bis dahin wird getanzt und sich um die Stange gewickelt, denn wer weiß, vielleicht geschehen Zeichen und Wunder, und der Kaiser von China oder wenigstens Franz Beckenbauer schaut noch auf einen Absacker herein.

«She looks like a sugar in a plum.

Plum plum.»

Vielleicht lässt der Chef die Scheißmusik nur spielen, um den Mädchen die Laune endgültig zu verderben. Die Asiatin geht in die Hocke, dreht sich um und zeigt den Jungs ihren schlaffen Po. Ein Strip hat ungefähr die Länge eines Stückes. Ganz zum Schluss zieht sie etwas ungeschickt ihren roten String aus, lässt ihn um den Zeigefinger kreisen und wirft ihn hinter sich in die Tiefe der Bühne. Dann bedeckt sie mit der rechten Hand ihre Scham und verschwindet im Backstage, um Platz für die nächste Tänzerin zu machen.

Aber was für eine: Meine Güte, die ist doch höchstens sechzehn, und außerdem viel zu hübsch für den Aids-Schuppen hier, wie in aller Welt ist die nur hierhergeraten? Sie reibt sich teilnahmslos an der Stange und wechselt plötzlich übergangslos in den Spagat. Sagenhaft! Obwohl sie sich bemüht, ordinär und nuttig zu gucken, scheint etwas Unverbrauchtes, Kindliches durch. Sie ignoriert die Jungs, natürlich, doch als sie aus dem Spagat wieder hochkommt, treffen sich ihre und NIKES Blicke. Zufällig. Und zufällig bleibt sie einen Tick zu lange hängen, sollte nicht passieren, passiert aber manchmal, selten. NIKE ist wie vom Blitz getroffen. So, wie die grad guckt, da ist er zu einhundert Prozent sicher, so hat sie noch nie in ihrem ganzen Leben einen Mann angeschaut. Das kann nur Liebe sein, denn den einen, den Richtigen, erkennt man sofort, dem vermag man bis ins Herz zu schauen. NIKE hatte die ganze Zeit gewusst, dass heute noch was passiert. Siehste! Es ist so weit, endlich! Gleich ist sie fertig, es war bestimmt ihr letzter Auftritt für heute. Selbst wenn nicht, egal, er wird auf sie warten und sie mitnehmen und sein ganzes Leben lang für sie sorgen. Viel verlangt er nicht, nur am Abend soll sie neben ihm sitzen.

Wenn du fast zu atmen vergisst,

Nur weil sie dich freundlich begrüßt,

Wenn du noch nach Worten suchst

Und sie dich längst schon versteht,

Wenn sich die Gedanken verwirren,

Weil sich eure Hände berührn,

Dann wehr dich nicht,

Denn dann ist es zu spät.

 

Oft kannst du nicht schlafen, wenn die Angst gewinnt,

Dass ein anderer Mann dir dieses Mädchen nimmt.

Geh zu ihr und sag ihr, was du für sie fühlst,

Sie weiß es lang schon und sie wartet drauf, dass du sie mit dir nimmst.

 

Wenn du fast zu atmen vergisst 

 

Du wirst immer da sein, wenn sie Hilfe braucht,

Wirst sie nie enttäuschen, wenn sie dir vertraut.

Geh mit ihr dorthin, wo euch kein Mensch mehr stört,

Halt sie ganz fest und lass sie nie mehr los, weil sie zu dir gehört.

 

Wenn du fast zu atmen vergisst 

Ja, so ist es, wenn Märchen wahr werden. Touchstone Figures, wie man im Theater die Figuren nennt, in deren Nähe jeder sein wahres Wesen zeigt. Nach der Kleinen folgen noch zwei Tänzerinnen, dann geht die Musik aus und das Licht an, endgültig, und statt der Kleinen mit gepackter Reisetasche kommt der Chef und sagt «Feierabend», in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet. NIKE kann es zunächst nicht glauben, er zwingt seine Kollegen, draußen noch eine Viertelstunde mit ihm zu warten, aber die Mädchen sind längst durch den Hintereingang verschwunden.

 

Karina und ihre Freundinnen halten sich eng umschlungen und tanzen mit geschlossenen Augen. Das sieht süß und geil aus. Karina hat einen unglaublichen Arsch, gibt’s nicht. Die eine Freundin auch.

Wenn du dir sagst, alles ist vorbei,

Wenn du nicht glaubst, sie ist immer treu,

Dreh dich einmal um, schau in ihr Gesicht,

Und du wirst sehen, Tränen lügen nicht.

Mein Gott, NIKE! Wie angewurzelt steht er da und starrt zu ihr hoch. Seine Kollegen sind vor lauter Peinlichkeit fast wieder nüchtern. Karinas Kumpel stehen Gewehr bei Fuß, falls es brenzlig wird.

Bei Tag und Nacht mit ihr war es schön.

Die Tür steht auf, willst du wirklich gehn?

Wie ein offenes Buch ist ihr Herz für dich.

Und du erkennst, Tränen lügen nicht.

Genickstarre. So arg war es noch nie. Deutsche Schlager sind das Allerletzte. Hoffentlich fängt er nicht gleich an zu weinen. Die Kollegen schämen sich wie selten, bei den Kumpels löst sich die Anspannung, es sieht nicht so aus, als ob der Honk handgreiflich würde. Harmlos, ein aufgegeilter Besoffener.

Die große Stadt lockt mit ihrem Glanz,

Mit schönen Fraun, mit Musik und Tanz.

Doch der Schein hält nie, was er dir verspricht.

Kehr endlich um. Tränen lügen nicht.

Karina hat eine Ausstrahlung, wie NIKE sie noch bei keinem anderen Mädchen gesehen hat. Das nächste Stück ist von Roy Black:

Mona, Mona, es kann Liebe sein.

Sicher ist es nicht die Nacht allein,

Was wir versäumen, wenn wir nur träumen,

Mona, das kann Liebe sein,

Mona, Mona, sag jetzt nicht «vielleicht»,

Es wär schade um die Nacht, bleib nicht allein,

Da ist ein Feuer in deinen Augen,

Mona, es kann Liebe sein.

Das finden die Mädchen scheiße. Roy Black ist: absolut no go. Sie sind noch zu jung, um zu wissen, dass er der größte Schlagersänger in der Geschichte Deutschlands ist, sie haben keine Ahnung, dass die Amerikaner Elvis haben und die Deutschen Roy Black, sie finden Roy Black genauso scheiße wie Heino, sie kennen sich allgemein nicht so aus mit Deutschland. Aber darüber können sie sich auf der Heimfahrt Gedanken machen. Oder auch nicht. Sie steigen von den Tischen herunter und signalisieren Aufbruchbereitschaft. Endlich. Endlich geht’s ab nach Haus.

 

NIKE steht ein paar Minuten wie betäubt da, dann schleicht er raus, seine Kollegen schleichen hinterher. Zurück nach Bergedorf. Er besorgt sich von seinem letzten Geld einen Flachmann (Nordhäuser Doppelkorn) und leert ihn in großen, wütenden Schlucken. Alles egal jetzt. Trinken, um runterzukommen, aber er ist so aufgeladen, dass er Passanten anrempelt, um eine Schlägerei anzuzetteln. Die meisten riechen den Braten schon von weitem, sie huschen ängstlich davon oder verdrücken sich in eine der vielen Spielhallen. Seine Kollegen folgen ihm in gebührendem Abstand. Jetzt bloß nichts Falsches sagen oder machen. Sie steigen die Treppe hinunter zur S-Bahn, Haltestelle Reeperbahn. Rasend vor Wut tritt NIKE gegen den Fahrkartenautomaten.

«Ihr Scheißfotzen, wenn ich euch erwisch, ey, ich schwör’s euch.»

Seine Kollegen haben Schiss vor dem Sicherheitsdienst, den Bullen oder Kontrolleuren oder einer wie immer auch gearteten Instanz.

«Ey, Digga, lass doch, Digga, komm.»

«Ey, halt die Schnauze, Alter, ich schwör’s dir, halt die Schnauze.»

Mehrmals noch tritt er gegen den Automaten, dann dreht er ab und wankt zum Bahnsteig, auf dem sich zu dieser Zeit gerade mal eine Handvoll Leute verlieren. Er tigert herum, tritt gegen eine Bank, einen Papierkorb und haut Affe mehrmals ins Gesicht. Die Wartenden verpissen sich stumm ans andere Ende der Haltestelle.

Zwei Mädchen kommen die Rolltreppe herunter. Die eine ist robust und kräftig, die andere klein und zierlich. Die Robuste hält ihr Handy in alle Richtungen:

«Gibt’s doch gar nicht, es gibt mittlerweile Verstärker für den Handyempfang, ey, die Scheißstadt, Geld für die Scheißkontrolleure haben die, aber tausend Euro, oder was das kostet hier, haben die nicht. Huren!»

Die Kleine nickt. Sie bewundert ihre Freundin dafür, dass sie so redet, sie könnte das nicht wg. Erziehung, Scheißguteerziehung, Scheißguteselternhaus, lässt sich einfach nicht abschütteln. Sie ist stolz, dass die Große sie mitgenommen hat, und dann gleich auf den Kiez, es hat endlos gedauert, bis sie ihre Eltern überredet hatte. Jetzt ist sie müde und erschöpft, aber gut drauf. Den ganzen Abend über hat sie nur drei kleine Bier getrunken, das ist ja praktisch nichts. Mit zwei Jungs hat sie geknutscht, doch dann hat der, den sie eigentlich gut fand, ihr gleich zwischen die Beine gefasst. Idiot. Schade. Sie hätte sich gern mit ihm verabredet, aber so nicht. Dass die Jungens auch alle so bescheuert sind. Ihre Freundin hat mit niemandem geknutscht, sie ist mit ihrem Schwimmerkreuz und der großen Fresse sowieso mehr der Kumpeltyp, außerdem hat sie seit einem halben Jahr einen festen Freund, und sich mit Typen rumbeißen kommt nicht in die Tüte. Ihr Macker kriegt das sowieso raus, und dann war’s das, er gibt jedem Menschen genau eine Chance, und wer die vergeigt, wird mit dem Arsch nicht mehr angeguckt, und zwar genau bis ans Lebensende. Die Kleine ist niedlich, sehr niedlich sogar. Ganz kindlich und süß, und riechen tut sie bestimmt auch hervorragend, überall, und zierlich, unter fünfzig Kilo, ach was, unter fünfundvierzig Kilo. NIKE denkt an die Asiatin aus dem 1900, die Stripperin und an Karina, und an alle anderen zierlichen, süßen, unerreichbaren Prinzessinnen.

«Fotze, blöde Fotze», murmelt er vor sich hin. Einmal wenigstens kommen die nicht ungestraft davon. «Fotzen, Scheißfotzen.» Verdammte Schlampen, wie die ihre Scheißärsche spazieren führen, als ob nichts wäre.

Die Mädchen sind den ganzen Abend von Typen wie NIKE angemacht worden, nervig, aber so ist das nun mal. Sie unterschätzen die Situation.

«Na, ihr kleinen Drecksscheißen (als er nach einer weiteren Steigerung zu «Fotze» sucht, kommt er auf «Drecksscheißen»), von wem lasst ihr euch gleich durchficken?»

Sie gucken genervt weg. Seine Beschimpfungen werden immer wüster.

«In den Arsch gefickt werden wollt ihr, richtig schön, stundenlang hart in den Arsch.»

Genau, das wollen sie, am besten augenblicklich und von irgendjemand Hergelaufenem. Einzige Ausnahme: NIKE.

«Guckt nicht so bescheuert. Fleischnutten.»

Nächste Steigerung: Fleischnutten, das klingt besonders hart und scheiße. Büßen sollen sie! Dumpf grollend fährt die Bahn ein. Die Mädchen wollen den dritten Wagen von vorn erwischen, weil der am Jungfernstieg direkt an der Treppe hält, die zur U1 hochführt. Die Robuste packt ihr Handy in die Handtasche; als sie wieder hochschaut, sieht sie gerade noch, wie NIKE ihrer Freundin einen Schubs gibt, zum Glück nicht besonders kräftig. Sie bekommt die Kleine irgendwie an der Schulter zu fassen, die Mädchen krallen sich aneinander fest und lassen sich fallen. Sie haben noch gar nicht richtig begriffen, was passiert ist. NIKE bleibt wie angewurzelt stehen. Mein Gott, was hat er nur gemacht! Er dreht sich um und rennt weg, so schnell er kann. Nach ein paar Metern reißt er die Hände vors Gesicht, weil ihm einfällt, dass überall Kameras laufen. Seine Kollegen rennen hinterher. NIKE läuft die Holstenstraße hoch, er schlägt Haken, macht kleine Sätze, wie ein Hase, o nein, o nein, o nein, er weiß, dass sie ihn erwischen werden. Er rennt und rennt und rennt, bis zur S-Bahn Königstraße, dann verlassen ihn die Kräfte, er bleibt stehen, verschnauft und kehrt zu seinen Kollegen zurück, die längst schlappgemacht haben und auf ihn warten.

Sie brauchen bis zum Mittag, um sich halbwegs wieder einzukriegen, dann fahren sie zurück nach Bergedorf. Die Fotos der Überwachungskameras werden veröffentlicht, man sieht jedes Detail, es ist wirkich unglaublich. Am Freitag stellt NIKE sich freiwillig, der Fahndungsdruck ist unerträglich geworden. Jetzt sitzt er da, wo er hingehört, und es geht ihm so gut wie noch nie in seinem Leben. Ach, könnte er nur ewig hierbleiben!

 

Es war längst hell. Sehr hell. Ich schüttete das Bier auf die Pflastersteine.

«Ich kann nicht mehr.»

«Ach Quatsch. Wir müssen die Schleife vollmachen. Los, komm.»

«Welche Schleife vollmachen? Was redest du denn da? Ich kann nicht mehr.»

«Doch, kannst du. Die Schleife nicht vollmachen bringt Unglück.»

«Schleife. So ein Schwachsinn.»

«Los, komm jetzt.»

«Jaja, von wegen.»

Mit hängenden Schultern trottete ich hinter ihr her. Wir überquerten die Reeperbahn, und Janne blieb vor dem Elbschlosskeller stehen. Der Elbschlosskeller heißt Elbschlosskeller, weil er im Keller liegt. Ich wollte da nicht rein. Vielleicht ein anderes Mal. Zu spät, sie ging die Stufen hinunter.

In der durchgehend geöffneten, lichtlosen Kaschemme ist die Stimmung zu jeder Tages- und Nachtzeit gleich, über so etwas wie Uhrzeiten ist man hier längst hinweg. Die Hälfte der über den Daumen gepeilt fünfzehn Gäste saß vornübergebeugt auf ihren Stühlen und pennte, einige starrten hospitalismuswippend vor sich hin und quittierten unsere Ankunft mit unverständlichen Grunzlauten, eine ältere Frau schlurfte brabbelnd zwischen den Tischreihen hindurch. Eine gespenstische Mischung aus Männerwohnheim, Ü-Sechzig-Party, Tagesaufenthaltsraum in der Geschlossenen. Ich kam mir vor wie ein ekelhafter Gaffer.

«Ich finde das nicht richtig, hier zu sein.»

«Wieso?»

«Man darf die Menschen in ihrem Elend nicht stören. Man raubt denen doch das letzte bisschen Würde.»

«Ich weiß, was du meinst. Lass uns trotzdem ein wenig bleiben.»

Der Wirt war sogar im Gesicht tätowiert.

«So, was wollt ihr?»

«Zwei Holsten, zwei Rum.»

Ich:

«Schon wieder Bier? Und wieso auf einmal Rum? Ich kann bald nicht mehr.»

Am Tresen hockte ein Mann. Er hob kurz seinen Kopf und schaute uns aus verschwiemelten Augen an:

«Guck mal an, er kann nicht mehr. Wo kommt ihr überhaupt her? Aus Arschlochstadt. Ihr kommt aus Arschlochstadt.»

Dann hob er drohend seinen rechten Arm. Ich sah, dass es eine Prothese war. Aus welchem Material die wohl gemacht werden? In Piratenfilmen sind Prothesen aus Eisen, mit einem Enterhaken dran, heutzutage werden die bestimmt aus irgendeinem leichten Kunststoff gefertigt, Aluminium oder Fiberglas. Ja, Fiberglas, das klingt gut, Fiberglas klingt immer gut.

Der Wirt mischte sich ein:

«Ey, Käpt’n, für heute reicht’s. Lass gut sein. Du weißt, was sonst los ist.»

Käpt’n? Vielleicht wegen der Prothese, Kürzel für Käpt’n Ahab.

«Du nimmst jetzt deine Frau, und dann haut ihr schön ab. Gibt nichts mehr.»

Seine Frau? Das unförmige Geschöpf, das neben ihm saß und leise vor sich hin röchelte, sollte seine Frau sein? Als sie nicht reagierte, quasselte er auf sie ein. Er quasselte und quasselte und quasselte, es klang wie eine Geheimsprache, deren Intonation man erst einmal auf sich wirken lassen muss, um sie verstehen zu können. Dann wandte er sich wieder an uns:

«Hab ich recht, ihr kommt aus Arschlochstadt?»

Der Wirt ist gewohnt, dass der Käpt’n ab und an Zufallsgäste anpöbelt. Eigentlich mag der Wirt Zaun- und Zufallsgäste auch nicht, aber was soll er machen? Außerdem geben die wenigstens Trinkgeld.

«Nicht drauf achten, ist egal.»

Der Käpt’n ließ nicht locker.

«Ist egal, ist egal. Alles egal. Gib ihm doch ’n Malzbier. Und dann sollen die abhauen, wieder nach Arschlochstadt zurück.»

Janne zog mich am Ärmel in den hinteren Teil des Ladens. Der Käpt’n folgte uns mit seinen Blicken; um aufzustehen und uns weiter zu beschimpfen, fehlte ihm die Kraft. Eingemauert in den Wahnsinn blieb er sitzen, nur um seine Mundwinkel zuckte es gelegentlich.

«Ich weiß nicht, ob ich das Bier noch schaff.»

«Da denkst du jetzt ernsthaft drüber nach, stimmt’s?»

«Ja, da denk ich ernsthaft drüber nach. Aber ich denk auch noch über ganz andere Sachen nach.»

«So, worüber denn noch?»

«Vis à vis (ich sagte tatsächlich vis à vis), im Goldenen Handschuh, da hat Fritz Honka in den siebziger Jahren die Prostituierten kennengelernt, die er anschließend mit zu sich nach oben genommen und zersägt hat.»

«Ja, genau.»

«Und jetzt hab ich gerade überlegt, ob Hitler damals in Wien auch in solchen Läden abgehangen hat.»

«Wie kommst du denn da jetzt drauf? Außerdem hat Hitler doch keinen Alkohol getrunken.»

«Neenee, erst später hat er nichts mehr getrunken. Aber im Männerwohnheim hat er wie alle anderen auch gesoffen.»

«Das ist mir neu. Aber selbst wenn, worauf willst du hinaus?»

«Beide hatten einen Schnurrbart und ungefähr dieselbe Statur, Honka war Nachtwächter und Hitler Postkartenmaler, quasi die gleichen Berufe, vom Ding her dieselben Voraussetzungen, Startbedingungen. Verstehst du?»

«Ja.»

«Hitler hat es gewollt, und die anderen haben es nicht gewollt.»

«Aha.»

«Ein ganzes Volk ist einer verhaltensgestörten Schießbudenfigur mit in den Untergang gefolgt. Ich sag dir eins: Darüber werden die Deutschen nie hinwegkommen, Hitler lässt die Deutschen nicht mehr los. Bald wird an der Stelle, wo man ihn verbrannt hat, seine morsche Faust einen Riss in die Erdkruste treiben. Kilometer weit schlägt das Höllenfeuer in den Himmel, und in der Flammenwand zeichnet sich sein Antlitz ab. Und dann sieht man es: Der Führer winkt seinem Volk, ihm zu folgen, wie der tote Kapitän Ahab auf Moby Dick verheddert in den Leinen seiner Mannschaft zugewinkt hat. Wie findest du das?»

«Ganz gut. Da feilst du aber länger schon dran?»

«Ja, egal. Aber ist doch gut. Die deutsche Seele dürstet nach Gleichschaltung, Erlösung, Blutopfer und Untergang. Und weißt du was?»

«Nee, was denn?»

«Das Nachtleben ist genau das, in genau der gleichen Reihenfolge.»

Der Käpt’n begann erneut zu randalieren:

«Was wollt ihr eigentlich. Haut doch ab nach Arschlochstadt. Oder gebt wenigstens einen aus.»

Für den Wirt war es schwierig genug, den Laden im Griff zu behalten. Er beugte sich drohend zum Käpt’n hinüber.

«Ey, ich sag’s nicht nochmal, lass die Leute in Ruhe. Du nimmst jetzt deine Frau und haust ab. Ich sag’s nicht nochmal. Du weißt ja, was sonst passiert!»

DAS wusste der Käpt’n nur zu genau. Wenn er etwas wusste, dann das. Was schon alles passiert war, gerade passierte und noch alles passieren würde. Aber heute war ihm das egal, es machte ihm auch nichts, es sich im einzigen Laden zu verscherzen, in dem er noch geduldet wurde.

«Wie seid ihr denn eigentlich drauf. Noch nicht mal einen ausgeben. Arschlöcher, alles Arschlöcher. Aus Arschlochstadt!»

Er krabbelte ungeschickt vom Hocker und nestelte an seinem Hosenschlitz herum. Der Wirt stand sprungbereit da, falls der Käpt’n es tatsächlich wagen sollte, sein Ding auszupacken. Doch der schloss nur den auf halbmast stehenden Reißverschluss und rüttelte an seiner Frau:

«Komm, wir hauen ab. Mit den Arschlöchern hier will ich nichts zu tun haben.»

Die Frau grunzte und drehte ihren Kopf zur anderen Seite.

«Hast du gehört? Los, komm jetzt.»

Er griff sich eine halbvolle Flasche Bier und schüttete sie ihr über den Kopf. Sie schlug augenblicklich um sich, verlor das Gleichgewicht und krachte mit einem fürchterlichen Geräusch auf den Boden. Nach ein paar Sekunden hob sie den Kopf, wischte sich den Schmutz aus dem Gesicht und zog sich an der Tischplatte hoch. Nix passiert, Wahnsinn. Der Wirt erlitt einen Tobsuchtsanfall.

«SO, JETZT REICHT’S ENDGÜLTIG, HIER AUCH NOCH SAUEREIEN MACHEN. LOS, SOFORT RAUS. UND DU BRAUCHST AUCH NICHT MEHR ANGESCHISSEN ZU KOMMEN. DAS WAR’S, ENDGÜLTIG. HAUSVERBOT. FOR EVER. HÖRST DU, FOREVER, FOR NOTTINGHAM!»

Das war ernst gemeint. Wo sollte der Käpt’n jetzt bloß hin? Vielleicht beruhigt sich der Wirt wieder, vielleicht bringt es was, am frühen Abend wiederzukommen und sich zu entschuldigen, dann ist alles wieder gut, vergeben und vergessen.

Benommen torkelt er mit seiner Frau nach draußen. Für den Weg zu ihrer nur hundert Meter entfernten Bruchbude benötigen sie fast eine Viertelstunde, immer wieder müssen sie anhalten, weil der Frau schwindelig wird. Vielleicht hat sie sich ja doch etwas getan, Gehirnerschütterung oder was Schlimmeres. Vor einem halben Jahr haben sie Silberhochzeit gefeiert. Silberhochzeit! Muss man sich mal vorstellen, kann sich kein Mensch vorstellen. Wenn sie nach ihren Saufmarathons nach Hause zurückkehren, zettelt die Frau fast immer Streit an, sie schlägt und tritt ihren Mann, der viel länger braucht, um in Rage zu kommen. Irgendwann haut er dann doch zurück. Er hätte sie sicher längst totgeschlagen, wenn sie nicht so groß und fett wäre. Eigentlich können sie sich nicht mehr prügeln, jedenfalls nicht mehr richtig. Sie hauen aufeinander ein, die Schläge sind wie die von Kleinkindern, kraftlos, gedämpft, mit den Jahren haben sie eine Technik entwickelt, sich praktisch geräuschlos zu prügeln, damit die Nachbarn nichts davon mitkriegen und andauernd die Polizei holen. Irgendwann schlafen sie vor Erschöpfung ein, wachen ein paar Stunden später auf und kriechen durch unvorstellbares Chaos ins Schlafzimmer. Was um alles in der Welt lässt sie noch am Leben festhalten?

 

Ich zitterte am ganzen Körper.

«Ich glaub, ich hab genug für heute. Wir nehmen ein Taxi, und ich setz dich zu Hause ab.»

«Ach was, wir fahren zu dir.»

Die Sache wuchs mir endgültig über den Kopf.

«Zu mir? Wie kommst du denn da jetzt drauf? Ich weiß gar nicht, wie es da aussieht.»

«Ich weiß gar nicht, wie es da aussieht, ich weiß gar nicht, wie das da aussieht. Wie bist du denn drauf?»

 

Janne torkelte vor mir die Treppe hinauf. In der Wohnung roch es irgendwie gut.

«Willst du noch was trinken?»

«Hast du Sekt? Zur Abwechslung.»

«Ja. Vorne rechts ist das Wohnzimmer, ich komm gleich.»

Als ich mit dem Sekt und zwei Gläsern ins Wohnzimmer nachkam, saß sie auf dem Sofa und hatte den Fernseher angestellt.

Ich setzte mich neben sie. Vor sie, neben sie, hinter sie, auf sie. Herrlich egal mittlerweile. «Also prost. Geht’s dir gut?»

«Ja, ganz gut. Vorhin dachte ich, ich schmier ab.»

«Ich weiß. Aber jetzt hast du’s überstanden.»

Wir lehnten uns zurück, und sie zappte durch die Einkaufskanäle. «RTL Shop»: Handywerbung, Walter lässt sich von seinem Co-Moderator fotografieren, um die hohe Auflösung der eingebauten Kamera zu demonstrieren. Grinst in die Kamera. Sagt anstatt «Cheese» «Ameisenscheiße». Mein Gott, Walter! Hoffentlich schaut der Programmdirektor nicht gerade zu. HSE 24: «Künstlerpuppen». Irre Monster, groteske Zombies, gefertigt, um Kinder in den Wahnsinn zu treiben. QVC: Dosenset in den Farben Pink, Orange, Rot, Grün und Blau. Orange und Grün schon begrenzt. Ich versuchte, wach zu bleiben, das Glück noch ein wenig zu genießen. Janne schien immer noch nicht müde zu sein:

«Kannst dich noch an Dr. Stefan Frank erinnern, der Arzt, dem die Frauen vertrauen?»

«Ja logisch. Der Mercedes unter den Arztserien. Das lief doch bestimmt zehn Jahre in der Endlosschleife. Wieso kennst du das überhaupt? Dafür bist du doch noch viel zu jung.»

«Das lass mal meine Sorge sein. Ist dir aufgefallen, dass alle Darsteller genau so aussehen, wie sie mit bürgerlichem Namen heißen?»

«Hä. Versteh ich nicht. Wie meinst du das?»

«Der Hauptdarsteller heißt doch Sigmar Solbach.»

«Ja, und?»

«Sigmar Solbach sieht genau so aus wie jemand, der Sigmar Solbach heißt. Ein gutaussehender Mann, jedenfalls, wie sich gewisse Frauen einen gutaussehenden Mann vorstellen, aus halbwegs gutem Haus mit Abitur und einer gewissen Tendenz zur Pfannkuchenhaftigkeit.»

«Ach so. Stimmt.»

«Und erinnerst du dich an die Tierärztin, mit der er ein Techtelmechtel hatte?»

«Ja, klar, ich weiß aber nicht mehr, wie die im richtigen Leben heißt.»

«Daniela Strietzel. Zwergenhaft klein, untersetzt, Himmelfahrtsnase. Stimmt also auch.»

«Stimmt.»

«Weiter geht’s. Die zentralen Nebenrollen, also Haushälterin und ihr einfältiger Bruder, beide typisch bayrische Grantler und Urviecher, werden von Erna Sowieso und Alois Sowieso besetzt. Und der ebenso skrupellose wie sexbesessene Antagonist von Dr. Stefan Frank: Siemen Rühaak.»

«Ach, der Schönheitschirurg.»

«Genau, geldgeiler Schnipsler, wie er im Buche steht. Siemen Rühaak, da stellt man sich jemand Schlanken mit schmal geschnittenem Gesicht, schönen Händen und hoher Stirn vor. Und genau so ist es auch.»

«Stimmt schon wieder.»

Herrliches Gespräch. Ich konnte trotzdem nicht mehr und schlief ein.