Wie fast jeden Sonntag bei gutem Wetter hatten die Gäste des Cafés «Pustekuchen» sämtliche Stühle nach draußen geschleppt und gluckten nun in viel zu großen Gruppen an viel zu kleinen und noch dazu wackligen Bistrotischen. Normale, große und extragroße Spezialfrühstücke gaben sich auf Tischplatten in Größe DIN A3 ein beengtes Stelldichein. Um das fragile Gleichgewicht nicht zu gefährden, galt es, Besteck, Teller und Tassen wie beim Mikado langsam und vorsichtig in eine nicht einsturzgefährdete Parkposition zu bugsieren. Mühsam, egal, denn es war Sonntag, der einzige Tag der Woche, auf den es sich zu freuen lohnt. Einige Gäste schienen regelrecht vorgehungert zu haben: Vor Appetit bebende Hände pulten gekochte Eier auf, schmierten daumendick Konfitüren auf ofenwarme Baguettebrötchen und belegten großzügig die belastbaren Vollkornbrotscheiben. Carpe diem. Eine Scheibe Käse, eine Scheibe Wurst. Dazwischen ein Stängelchen Petersilie oder ein Tomatenachtel. Und obendrauf eine Silberzwiebel. Im Hintergrund Chill-out-Musik. Die Leute aßen und aßen und aßen. Ihre Augen glänzten vor Appetit. Ab Mittag wurde das Angebot um Quiches, Croques, Suppen, Salate und ein vegetarisches Pastagericht ergänzt. Brunch as brunch can. Nachmittags Saisonkuchen, der passt immer noch rein. Wer sich einen Tisch gesichert hatte, gab ihn bis zum späten Nachmittag/frühen Abend nicht auf, da konnte es so heiß sein, wie es wollte.
Und es war heiß. Ein stabiles Azorenhoch hielt den Kontinent seit Wochen in tropischer Umklammerung. Nach dem verregneten Mai und dem bibberkalten Juni hatten sich die Menschen Mitte Juli noch über das unerwartete Comeback des Sommers gefreut, der putschartig die Herrschaft an sich gerissen hatte. Doch nach fünf Wochen schönen Wetters begann sich die Hitze in etwas Feindliches zu verwandeln. Es war, als hätten sich unter die lieben Sonnenstrahlen Mikrowellen oder kurzstrahlige Lichtschübe gemischt, bereit, den Körper bis zur molekularen Ebene unheilvoll zu durchdringen. Schneidbrennende Drecksscheibe. Das ganze Land war wie angezündet. Nach vielen Jahren war es in der Lüneburger Heide wieder zu Waldbränden gekommen, und in einem Altersheim bei Elmshorn hatte sich ein achtundsiebzigjähriger Mann aus dem dritten Stock in den Tod gestürzt, weil es selbst nachts nie kühler als 25 Grad wurde. Die Bild-Zeitung schürte die Angst vor dem drohenden Armageddon («Mördersommer – schon mehr als 1000 Hitzetote», «Bald Sahara an der Elbe?», «Wann explodiert die Sonne?») mit dem gleichen Erfindungsreichtum, mit dem sie sonst die pornographischen Phantasien ihrer Leser bedient. Ungefähr eine Woche sollte es noch so bleiben. Mindestens. Vielleicht auch zwei.
Obwohl für mich als Freiberufler der Sonntag ein Tag wie jeder andere ist, verbringe ich die Zeit zwischen halb zwölf und halb eins regelmäßig im «Pustekuchen», da es zu Hause allein doch etwas trostlos ist und ich meinem an Ritualen armen Leben auf diesem Wege außerdem zu so etwas wie Struktur verhelfe. Struktur vortäusche. Struktur, Taktung, Rituale usw. Außerdem belausche und beobachte ich gern Menschen. Na ja, das sagen viele von sich, aber ich behaupte, dass meine Beobachtungen genauer sind. Da ich erst spät komme (halb zwölf ist ja nun wohl objektiv spät), muss ich mich fast immer irgendwo dazusetzen. Als Dazusetzer ist man unbeliebt, weil die anderen ja gerade extra früh aufgestanden sind, um sich die Tageshoheit über einen eigenen Tisch zu sichern, Exklusivnutzung im Kreis der Lieben. Dazusetzer zählen nicht zum Kreis der Lieben, Dazusetzer sind eine Bedrohung, dreiste Provokateure, die die fröhliche Stimmung durch ihre bloße Anwesenheit kaputt machen und manchmal sogar noch was auf den Tisch stellen (Mikadoeffekt). Sobald sich ein potenzieller Dazusetzer nähert, nehmen die Tischrechteinhaber daher instinktiv eine Art Drohhaltung ein: Sie spannen den Körper an, verengen die Augen zu Schlitzen und ziehen den Kopf zwischen die Schultern, bis sie in etwa so aussehen wie giftige Dschungelfrösche, die aus dem Zustand völliger Bewegungslosigkeit unvermittelt einen Riesensprung machen und ihre Opfer mit einem einzigen Haps verputzen können. Ich tu natürlich immer so, als würde ich das nicht bemerken, und setze mich, extra ohne zu fragen, dazu. Nur an manchen Tagen fehlt es mir an Energie, Power, Mut, Entschlossenheit, Chuzpe; dann schaue ich die Leute traurig an und schleiche mit hängenden Schultern davon. Variante: Ich gehe entschlossen vorbei, als wollte ich eh woandershin (Haltestelle/Kiosk/Sonntagsspaziergang).
Lediglich an dem winzig kleinen Zweiertisch ganz rechts außen war heute noch ein Plätzchen frei. Eben, kein Platz, sondern ein Plätzchen, ein Katzentisch, mit extra kleinen Stühlen, die extra nicht zusammenpassten, Miniaturaschenbecher und winzigen Salz- und Pfefferstreuern. Im Zuckerstreuer kämpfte eine Wespe ums Überleben. Auf einem lächerlich schmalen und seltsam hohen Stuhl, der aussah wie ein Kindersitz, thronte eine Frau und wühlte sich durch die Sonntagszeitung. Mit ihrem pechschwarzen, von einer knallroten Strähne durchsetzten Bubikopf, der witzigen Brille (lila Gestell mit gelben Tupfern) und dem Hosenanzug (meine Güte, bei den Temperaturen Hosenanzug) sah sie aus wie eine Grünen-Politikerin aus den frühen Neunzigern. Auf ihrem Brustbein bildeten sich Schweißperlen, die in den Ausschnitt des T-Shirts rannen, und ihr Hals verschwand fast im hellgrünen Jackett, aus dem sie herausschaute wie ein Vogel aus einem Sack. Kiebig. Missgelaunt. Sie warf mir einen bösen Blick zu. Offensichtlich mochte sie Männer im Allgemeinen und mich im Speziellen nicht. Männer: Erst besetzen sie fremde Tische, dann fremde Länder. Alles andere ist Täuschung, Leerlauf und Übersprungshandlung. Politische Arbeit lässt keinen Raum für Humor. Sie kratzt sich unter den schweißnassen, dichtbehaarten Achseln und weiß, dass sie recht hat. Esther! Sie musste Esther heißen. Ich wusste auch, dass ich recht hatte. Und ich mochte sie auch nicht.
Ich ging zum Bestellen nach drinnen, sonst kann man am WE warten, bis man schwarz wird. Betreiber/Servicekräfte/Reinigungspersonal/Inhaber des «Pustekuchen» sind eine Frau und ein Mann um die dreißig, von denen ich bis heute nicht weiß, ob sie lediglich Geschäftspartner sind oder ein Pärchen mit allem Drum und Dran. Manchmal denke ich ja, manchmal wieder nein. Zärtlichkeiten tauschen sie nie aus, aber das will ja nichts heißen.
Die Frau (Karen) ist sicher eins achtzig, eine knochige Erscheinung mit flachem Gesicht. Das Auffälligste an ihr: Links oben grau angelaufener Schneidezahn. Vielleicht hat sie Angst vor dem Zahnarzt, oder der Zahn ist ihr Markenzeichen, ein Schönheitsfleck paradox, die Leute kommen ja auf die verrücktesten Ideen. Das andere Markenzeichen ist ihr platter Po, wirklich, platt wie eine Briefmarke. Vielleicht hängen Zahn und Po auch zusammen: Als sie unter Vollnarkose den Zahn hat machen lassen wollen, war die Tinte auf der OP-Anweisung zerlaufen, und der Chirurg hat ihr versehentlich den ganzen Po abgesaugt.
Der Mann (Frank), halber Kopf kleiner, spillrige Beine, dürre Schultern, hat aufgrund seines ausdruckslosen Gesichts eine frappierende Ähnlichkeit mit Fantomas, dem genialen Superganoven aus den Louis-de-Funès-Filmen. Der Fantomas im Film trägt allerdings eine Gummimaske, bei Frank hingegen ist, soweit ich das beurteilen kann, alles Fleisch. Vielleicht ist sein Gesicht schlecht durchblutet, oder er ist als Kind in eine Gefriertruhe gefallen. Oder: karges Innenleben. Egal, man weiß es nicht, und fragen kann ich ihn ja schlecht.
Komplettiert wird die Mannschaft von einem ewig in Schwarz gekleideten, sehr jungen Mädchen, das aber meistens nur an den Wochenenden dort ist, manchmal auch Fantomas an seinem freien Tag vertritt. Sie sieht aus wie ein Gruftie, wenn es die überhaupt noch gibt, hat ein angemessen mondbleiches, von unzähligen Äderchen durchzogenes Gesicht und praktisch keine Taille: ein Fässchen. Um den Hals trägt sie Pilzketten aus Fimoknete, die im Schwarzlicht der Goapartys immer so schön leuchten. Mutmaßung: In einer Ecke ihres WG-Zimmers hat sie sich ein Atelier eingerichtet, wo sie unermüdlich Elfen, Trolle und Gnome bastelt. Ihr rechtes Handgelenk zieren Eintrittsbänder diverser Events: Shivamoon, Excalibur, Fusion. Das sieht aus wie Wolle Petry mit seinen Freundschaftsbändern.
Dass in der Gastro eigentlich immer alles zack, zack gehen muss, ist nicht zu Fantomas und seiner Crew vorgedrungen. Zeitlupenhaft schlurfen sie auf Puddingbeinen in die Küche und wieder zurück, wie Lebewesen, die ihren Stoffwechsel je nach Bedarf rauf- und runterfahren. Wenn Kaffee durchläuft, schnüffeln sie manchmal sehnsüchtig, sie dürfen das braune Teufelszeug jedoch nie selber probieren, da ihre auf halber Kraft laufenden Schwachstromkörper unter Koffeineinfluss sofort kollabieren würden. Die Gäste haben sich dran gewöhnt, dafür sind die Preise für die Gegend sehr moderat. Mein interner Spitzname fürs «Pustekuchen»: «Zombiecafé», wahlweise «Café der Untoten».
Ich blieb so lange am Tresen stehen, bis sich Fantomas meiner erbarmte. Er sagte nichts, schaute mich nur an. «Wie immer. Einen großen Bohnenkaffee und eine kleine Apfelschorle. Ich sitz da drüben.» Ich zeigte irgendwohin. Er nickte und verzog sich in die Küche. Ich habe ihn, soweit ich mich erinnern kann, noch nie sprechen hören. Seltsam, wenn einem Aussehen, Gang und Mimik bzw. nicht vorhandene Mimik vertraut sind, die dazugehörige Stimme jedoch fehlt. Dabei braucht jeder gastronomische Betrieb doch eine Seele, einen Maestro, einen Mâitre, eine Identifikationsfigur, die Signale aussendet! Das Signal nämlich, dass man willkommen ist, herzlich willkommen sogar. Ein Chef, der einem zur Begrüßung auf die Schultern haut, dass es kracht, der einem vor überströmender Herzlichkeit die Hand und eventuell den Schädel zerquetscht (Ganzkörperzwinge). Dem man seine kreuzdämliche Fertigteil-Sprache ebenso durchgehen lässt wie die Unart, einem vor lauter falscher Freundschaft hin und wieder in die Wange zu zwacken oder die Ohren langzuziehen. Geschenkt, macht nix, weils vum Herze kümmt! Vielleicht weiß Fantomas das alles auch und macht es extra nicht, um sich vom Billig-Griechen gegenüber abzugrenzen. Man weiß es nicht, er sagt ja nichts.
Ich ging zu meinem Platz zurück. Sicher würden Kaffee und Schorle ewig dauern. Und ich hatte vergessen, mir was zum Lesen mitzunehmen. Langweilig. Mir schoss der Wahlspruch von Lemmy Kilmister (Motörhead) durch den Kopf: «Das Leben gleicht von außen einem leckeren Sandwich. Doch wenn man reinbeißt, stellt man fest, dass es mit Kacke bestrichen ist.» Ich kenne keinen vernünftigen Menschen, der Lemmy Kilmister nicht mag. «China produziert Waren, Indien Köpfe.» Auch nicht schlecht, musste ich kürzlich irgendwo gelesen haben. Was ich nicht alles weiß. Ich kenne z. B. etliche Schlagertexte auswendig und ganz viel anderes unnützes Zeug, das lebenswichtigen Informationen das Wasser abgräbt und dringend benötigten Speicherplatz besetzt hält. Schrottinfos, tumorartiges Wucherwissen, das freche Raumforderungen stellt. «Eine Imprägnierung schließt immer auch eine Immunisierung ein.» Woher kam das denn nochmal? Peter Sloterdijk! Solche Sätze stammen mit hoher Wahrscheinlichkeit von Peter Sloterdijk. «Beschleunigung führt zu Fahrigkeit und Depersonalisierung, die Psyche kann den Wahrheitsgehalt nicht mehr überprüfen.»
Shit for da headz!
Da kann so nur Peter Sloterdijk drauf kommen. Man müsste trainieren, Smalltalk mit Peter-Sloterdijk-Shouts zu bestreiten. Aber mit wem üben? Mit Esther sicher nicht.
Es war schon Viertel vor zwölf und immer noch kein Getränk in Sicht, ewig hatte ich auch nicht Zeit. Am Nebentisch in Erwachsenengröße saßen eine junge Frau und ein junger Mann, die sich nicht besonders gut zu kennen schienen. Vielleicht ihr erstes Rendezvous. Die Frau sah sehr gut aus, ca. 15 bis 20 % attraktiver als der Mann, der auch gut aussah, aber öde, BWL/Jura/Medizin. Schlechte Aura, löchriges Karma. Keine Ausstrahlung. Bei Pärchen versuche ich immer so exakt wie möglich zu taxieren, wer um wie viel Prozent attraktiver ist und wie der/die Unterlegene das Defizit wohl ausgleicht. Eine Marotte von mir. Zwischen den beiden lief es nicht. Das Gespräch hangelte sich an einer endlosen Kette von Floskeln und Versatzstücken entlang, stockend, zäh. Worte schwirrten bindungslos durch den Äther und zerfielen in ihre Buchstaben, aus denen sie dann wieder neue Leerformeln bildeten. Die beiden kamen sich einfach nicht näher. Meine Güte, ihr seid doch erwachsene Menschen, sagt doch wenigstens mal einen einzigen vernünftigen Satz!
Frau: «Der Laden hier läuft echt gut.»
Mann (der originellste Einfall seit Jahren): «Seitdem du hier wohnst, was?!»
Die Torte ist so stumpf, dass sie selbst dieses kleine Witzchen und das darin versteckte Kompliment nicht kapiert.
Frau: «Ich wohn seit knapp vier Jahren hier.»
Mann: «Ach so, ja.»
Schweigen. Rühren. Alles ist gesagt. In einem zähen Strudel spamverseuchter Wiederholungen dreht sich das ganze Seelenleben. Bei den meisten Menschen würde man geheime Leidenschaften, eine verborgene Seite zu Unrecht vermuten. Das Geheimnis liegt darin, dass es kein Geheimnis gibt.
Was soll’s. Endlich brachte Fantomas meine Getränke und in einem Aufwasch auch noch Esthers Bestellung (großes Frühstück). Seine Bewegungen waren noch langsamer als sonst. Bald würde er mitten im Move einfrieren (freeze) und in tausend Stücke zerbersten, wie der Terminator 2 in «Terminator 2», wo der Terminator 2 im Stahlwerk schockgefrostet wird und Arnold Schwarzenegger (Terminator 1) ihn in tausend winzige Metallstücke schießt. Im Stahlwerk herrscht eine ungeheure Hitze. Die winzigen Metallstücke tauen auf, fließen rasend schnell in kleinen Pfützen zusammen, und die vielen kleinen Pfützen vereinen sich zu einer großen. Aus ihr erhebt sich: der Terminator 2!
Esther legte ihre Zeitung beiseite und begutachtete die Leckereien, um sich zu vergewissern, dass auch ja nichts fehlt: Croissant, Baguettebrötchen, Mehrkornbrötchen, gekochtes Ei, drei Sorten Aufschnitt, Konfitüre, Butter, Kaffee. Alles da, kein Grund zur Reklamation, schade eigentlich. Gern hätte sie sich beschwert, das sah man ihr richtig an, sie lässt sich nämlich kein X für ein U vormachen und die Butter vom Brot nehmen erst recht nicht, und ihre Rechte kennt sie auch und scheut zur Not auch nicht den Rechtsweg. Als Erstes waren Croissant und Ei dran. Croissant, Ei, Ei, Croissant, eine quasi ausschließlich aus Cholesterin bestehende Mahlzeit, die den Körper lähmt, statt ihm Energie zuzuführen. Eier sind noch minderwertiger als Fischstäbchen, nicht umsonst gelten sie in allen ernstzunehmenden Religionen als Symbol des Todes. Der Gott des Eis bringt Missernten und Plagen über die Menschen. Noch weiter unten, auf der alleruntersten Stufe der Nahrungskette, stehen übrigens Croissants.
Mit Messer und Plastiklöffel schälte sie bedächtig ein Stück Ei aus dem Eierbecher, legte es auf den Teller und biss in das Croissant. Dann schob sie blitzartig den vorbereiteten Eihappen nach. So was hatte ich auch noch nicht gesehen. Danach passierte erst mal gar nichts. Break. Strike. Regungslos wie ein Reptil, das sich, seiner Beute sicher, erst einmal verschnauft.
Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig.
Ich konnte den Blick nicht abwenden. Nun mach doch, kauen, Mädchen! Ein Wahnsinn schon wieder alles. Endlich setzte sich ihr Mund in Bewegung. Zerkleinern, zersetzen, vermengen, vermischen, durchwalken, begleitet von leisen Schnalz-, Schluck-, Einspeichel- und Schnoddergeräuschen. Fünfzig Mal, bestimmt fünfzig Mal kaute sie auf dem weichen Quatsch herum! Bitte, bitte, weg mit dem Zeug! Dann schluckte sie endlich runter. Etwas in mir entspannte sich. Oder sackte zusammen. Eine Brise Croissant-Ei-Dunst wehte herüber. Sie hob den Blick und schaute mich an, triumphierend, als wäre sie sich des Belästigungspotenzials ihrer Unarten bewusst. Zäh verteidigte sie ihren schrecklichen Alltag: Wenn hier irgendjemandem irgendwas nicht passt, soll er sich gefälligst woanders hinsetzen!
Für einen Moment schloss ich die Augen. Von einem anderen Tisch wehte ein Gespräch herüber. Ein Mann berichtet seiner Frau umständlich von einem Kinobesuch, die Frau langweilt sich, wird ungeduldig, traut sich jedoch nicht, ihm offen ins Wort zu fallen. Sie legt unter die Rede ihres Mannes einen Paralleltext, sucht Lücken, in die sie leise hineinspricht.
Mann: «Und die Pinguinweibchen schwimmen bzw.
Frau: … …… …… …… … die Weibchen, nicht die Männchen,
gehen, oder manchmal robben sie ja auch zwanzig Tages-
… … … … … … … … … … … ja, kopp heister … …… …… … ohne Pause
märsche, um sich dort vollzufressen und gleich wieder
was? Ganz ohne Pause … …… …… …… …… …… …… …… ……
zurückzuschwimmen, und die Männchen stehen da
oder eben zu robben … …… …… …… …… während die Weibchen
zu Tausenden, was sag ich, Abertausenden, ganz dicht
Nahrung organisieren … …… …… … Zigtausenden … … … … … …
gedrängt und passen auf die Eier auf, wie im Winterschlaf,
… …… …… umgekehrt eben wie bei den Menschen … …… …… ……
und Sturm und Eis halten die
… …… …… …… macht denen nix aus
So geht das weiter. Der Mann hört nicht auf. Vielleicht ist das auch seine Rache für entgangene Lebensfreude. Ich öffnete die Augen.
Esther aß zeitlupenhaft, wie es zeitlupenhafter nicht ging. Langsame Esser machen aggressiv, da können sich alle Ernährungswissenschaftler auf der ganzen Welt tausendmal darüber einig sein, dass ordentlich Kauen gesund ist, die klügere Ernährung, weil: Der Magen hat keine Zähne. Zähne vielleicht nicht, dafür aber Magensäure. Der Mensch ist von Natur aus nämlich ein Schlinger, Stichwort Mangelsituationen. Vor aus evolutionärer Sicht lächerlich kurzer Zeit hatten die Menschen nichts, aber auch gar nichts zu beißen außer vielleicht ein paar wilden Beeren oder zermanschtem Fallobst oder toten Insekten. Und wenn alle Jubeljahre und unter hohem Blutzoll (gutes Wort) ein schönes Stück Wildbret auf dem Grillspieß landete, hieß es reinhauen, aber zügig, bevor Meister Petz kam und den Braten einkassierte. Damals wäre man mit «Ratschlägen» von selbsternannten Ernährungspäpsten nicht weit gekommen: Fünf bis zehn unendlich kleine Mahlzeiten, in regelmäßigen Abständen bewusst genossen und sorgsam gekaut, um den gottverdammten Blutzuckerspiegel konstant zu halten. Und am Gürtel baumelt ein Fünf-Liter-Kanister stilles Wasser mit Saugschlauch, an dem man nuckeln soll wie ein Kleinkind. Schon mal was von Wasserödem gehört? Oder Durst? (Ein Signal des Körpers, dass er Flüssigkeit benötigt.) Egal. Esther mit ihrem abartig langsamen Gemampfe hätte unter natürlichen Bedingungen keine Chance.
Ich rühre im Kaffee. Rühr, rühr, plinker, plinker, schab, schab. Ich muss mich schon sehr langweilen, um im Kaffee herumzurühren. Ich rühre immer heftiger, wie ein Verrückter, und vor lauter irrem Gerühre fällt der Kaffeekeks von der Untertasse und landet auf dem Boden. Als ich mich nach vorn beuge, um ihn aufzuheben, leistet mein Bauch Widerstand, genauer gesagt die Ringe, aus denen er besteht. Überall liest man, dass Männer dreihundertmal oder noch häufiger am Tag an Sex denken. Das mag sein, aber ich denke bestimmt ebenso oft an meinen Bauch. Richtig dick bin ich nicht, aber auf dem Weg dorthin, achtundachtzig Kilo bei eins einundachtzig, in der offiziellen Sprachreglung heißt das leicht übergewichtig, jetzt aber aufpassen! Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser wäre, in einem Durchmarsch richtig fett zu werden, dann hat man’s hinter sich. Das eigene Haus unbewohnbar machen. Na, sicher kein Problem, derzeit scheue ich noch die Konsequenzen. Wenn ich mich nach vorn beuge, spüre ich drei kleinere Subschwarten, die in die Hauptschwarte (Big Wave) fließen. Fettringe sind Jahresringen von Bäumen vergleichbar. Erfahrene Gerichtsmediziner vermögen nach einem flüchtigen Blick exakt das Lebensalter zu bestimmen. Bei mir hat sich die vierte Subschwarte ungefähr zur Hälfte ausgebildet, also drei plus …? Das bedeutet, dass ich was mit Mitte dreißig sein muss. Stimmt ja auch ungefähr.
Ich lehne mich zurück. Die Bewegung fühlt sich an, als würde mein Gesäß über die Kante schwellen. Unangenehm, wirklich unangenehm. Es geht mir wirklich nicht besonders gut heute.
Ich habe mir geschworen, konfektionsgrößenmäßig niemals klein beizugeben, niemals. Im Moment passe ich mit Ach und Krach in 52, und so soll es bleiben. Nach unten (48) ist natürlich Luft, aber nach oben (58) kein Raum, wenn man das mal so sagen kann/darf. Seitdem ich etwas kräftiger bin, trage ich bevorzugt Cord. Ein freundlicher Stoff, der den Körper umschmeichelt und schützt wie ein Panzer, ein Panzer aus Cord, ein Cordpanzer. Cord verhält sich zum Menschen wie Chitin zu Insekten. Chitin ist der Cord der Insekten, und Cord ist das Chitin des kleinen Mannes. Usw. Dieser «Stoff der Könige» hat noch einen anderen, gewichtigen Vorteil: Er gibt nach. Im Gegensatz zu beispielsweise Baumwollanzugstoff. Als ich mir vor kurzem beim gediegenen Herrenausstatter «Wormland» wieder mal einen Anzug (Baumwolle) gegönnt habe, war das Kauferlebnis begleitet von einem sensationell deprimierenden Zwischenfall: Nachdem ich in den dunkelbraunen Zweireiher geschlüpft war, hatte ich das Gefühl, der Anzug würde ganz ordentlich sitzen, um nicht zu sagen: wie angegossen. Der Verkäufer hingegen schien nicht recht zufrieden zu sein. Er stand hinter mir und machte sich verdächtig lange am Sakko zu schaffen. Er zog und zuzelte und nestelte, und ich hatte keine Ahnung, was genau er da eigentlich trieb, ich ahnte nur, dass es nichts Gutes zu bedeuten hatte. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und drehte mich um:
«Ähem, was machen Sie da eigentlich?»
Er schaute mich traurig an und sagte mit belegter Stimme:
«Tja, Kofferraumdeckel geht nicht zu.»
Kofferraumdeckel. Was für ein deprimierendes Wort. Deprimierende Worte, deprimierende Welt: Jojo-Diät, Kofferraumdeckel, Weight Watchers, Atkins, Fettwaage, Schleifkorbtrage, Fatburner, Alarmstufe Rahmstufe, FDH, Vierfachkinn, Sauklumpen, Dickenturnen, Röllchenalarm, high & mighty undundundoderoderoder.
In Wahrheit ist es nämlich so: Nichts schmeckt so gut, wie Dünnheit sich anfühlt.
Allerdings interessiere ich mich schon von Berufs wegen auch für die komischen Aspekte der Adipositas, und es ist mir eine liebe Gewohnheit geworden, Zeitschriften und Zeitungen nach einschlägigen Meldungen zu durchforsten. Jedem durchschnittlich informierten Mitteleuropäer dürfte ja mittlerweile bekannt sein, dass man in einer Viertelstunde Dauerlauf/11 kmh/Ebene 188 Kalorien (100 Gr. Romadour, 20 % Fett i. Tr.) verbraucht, dass Radfahren jedoch nur 98 Kalorien bringt (2 Pfirsiche) und 15 Minuten Standardtanz gerade mal mit lächerlichen 50 Kalorien (100 Gramm Zuckermelone) zu Buche schlagen. Standardwissen.
Weniger bekannt sein dürfte, dass nach Würmern graben 272 Kalorien verbrennt, den Hund waschen 238, Graffiti überstreichen 342 und auf Krücken gehen 340 Kalorien. Und: Durch das ständig steigende Körpergewicht der US-Autofahrer erhöht sich der Benzinverbrauch in den USA seit 1960 um knapp 3,8 Milliarden Liter pro Jahr. Sachinformationen.
Weiter geht’s: Fettschwarten am Rücken sehr dicker Menschen nennt man «Tannenbäume», die herunterhängende, schlaffe Haut des Bauches «Rollläden», und Fettansammlungen am Hals verursachen das sog. Treppenkinn. «Treppenkinn» und «Kartoffelknie» kann man in extremer Großaufnahme übrigens nicht voneinander unterscheiden. Das aus dem Hosenbund quellende Fett heißt ab sofort nicht mehr «Hüftgold». (das Wort ist verbraucht, ausgelutscht, öde), sondern «Elchschaufeln». (Anweisung von ganz oben – also von mir.) Dann gibt es noch Salz und Pfefferstreuer, Winkfleisch und gelblich unter der Haut schimmernden Flimmerspeck. Das schönste Wort, von dem ich leider nicht weiß, was genau es bedeutet: «Zigeuner des Körpers». Magisch. Zigeuner des Körpers, was mag wohl dahinterstecken? Egal. Stand der Dinge: Kofferraumdeckel geht nicht zu. Mein größter und in Wahrheit einziger Wunsch: mit nacktem Oberkörper Holz hacken, ohne dass es scheiße aussieht. Glück kann so einfach sein.
Ich trank einen Schluck Kaffee und pulte an meinem Hinterkopf herum. Vor kurzem habe ich dort eine kahle Stelle ausgemacht, die sich unaufhaltsam ausdehnt (Steigerung: speckig, jetzt noch Haarausfall/stimmt aber leider). Kommt mir jedenfalls so vor. Dieser Tonsur genannte, kreisrunde Haarausfall ist im Vergleich mit einer sich allmählich lichtenden Stirn die eindeutig schlechtere Variante der Kahlköpfigkeit. Der Volksmund nennt es verächtlich Fleischmütze. Außerdem haben sich meine Leberflecke vermehrt. Der große an der Wade, treuer Begleiter seit der Kinderzeit, franst an den Rändern aus, angeblich kein gutes Zeichen. Der Leberfleck, Fleck des kleinen Mannes. Um meine buschigen Augenbrauen hingegen muss ich mir keine Sorgen machen, die fallen nie aus, es sieht eher so aus, als würden sie bald in der Mitte zusammenwachsen. Augenbrauenhaare, Brusthaare, Bauchhaare, Pohaare, Haare, Haare, Haare. An Depritagen habe ich schon die Anschaffung eines Ladyshavers erwogen, den ich aus Tarnungsgründen im Fach mit den abgelaufenen Medikamenten aufbewahren könnte. Ich bin davon überzeugt, dass viele Männer heimlich einen Ladyshaver besitzen, ein namenloses Heer von Blindrasierern, die vor der metrosexuellen Diktatur in die Knie gegangen sind, und jedes noch so kleine Härchen mit einer Batterie von Rasierapparaten, Bunsenbrennern, Epiliergeräten und Feuerzangen sofort an der Wurzel wegbrennen oder ausgraben. Ob es in anderen Kulturkreisen so etwas wie Nacken-, Rücken- oder Pofriseure gibt?
Ab und an frage ich mich, was die Stammgäste des «Pustekuchen» von mir denken, falls sie sich überhaupt jemals Gedanken über mich machen. Beruf. Hobbys. Vorlieben. Eigenarten. Abgründe. Warum ich z. B. sonntags immer exakt um die gleiche Zeit für genau eine Stunde komme, immer allein, und nie etwas esse. Mich fragt natürlich keiner, und wenn, würde ich die Antwort für mich behalten: Das «Pustekuchen» ist eine Durchgangsstation auf dem Weg zu meinen Großeltern, bei denen ich fast jeden Sonntag zu Mittag esse. Es würde unendlich viel Zeit und Mühe kosten, zu erklären, weshalb ein vierunddreißigjähriger Mann sich Woche für Woche von seiner fast achtzigjährigen Großmutter bekochen lässt. Deshalb lasse ich es lieber gleich.
Esther war fertig und ging zum Bezahlen nach drinnen. Endlich war ich allein. Ich schaute auf die Uhr, zwanzig nach zwölf, spätestens in zehn Minuten musste ich los. Ich nahm den Salzstreuer in die linke Hand und den Pfefferstreuer in die rechte. Ich starrte auf die Tischplatte und überlegte, aus wie viel Holzstreben sie wohl zusammengesetzt war. Oder sagte man Bohlen? Oder ganz anders? Zonken? Ronken? Honken? Egal. Ich schätzte die Zahl der Wiedieauchheißen auf sechzehn. Da schätzen und glauben aber nicht wissen ist, beschloss ich, es zu prüfen. Wenn ich im Bereich plus minus drei blieb, würde ich mir etwas Schönes gönnen, wenn nicht, dann nicht. Ich zählte mit den Augen. Eins, zwei, drei, vier. Bei sieben kam ich raus. Auf meine Augen war auch kein Verlass mehr. Also nochmal von vorn, diesmal nahm ich den Mittelfinger zu Hilfe. Eselsbrücke. Die Eselsbrücke ist die Brücke des kleinen Mannes. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Die Zwischenräume betrugen im Durchschnitt ungefähr zwei Zentimeter, je nachdem, einige Zonken schienen weniger, andere deutlicher auseinanderzustehen. Ich vergewisserte mich, indem ich den Finger in die Ritzen steckte. Tatsächlich. Einige enger, andere weiter. Sieben, acht, ich murmelte leise mit.
Bei neun blieb der Finger stecken. Ich zog ein paarmal, ohne Erfolg. Ruckel, ruckel, zieh, zieh. Ruckeln und ziehen brachte nichts. Also drehen, in Schraubenziehermanier. Brachte auch nichts, der Finger saß fest. Druckwellen liefen durch meinen Körper. Im Magen ein panisches Kitzeln. Ruhig, ruhig, jetzt bloß keine Attacke. Durch das Ruckeln und Ziehen und Drehen war der Scheißfinger im Nu angeschwollen. Das gesamte Universum war in einem einzigen Raumpunkt mit dem Volumen null zusammengedrängt, wie etwa in einer Kugel mit dem Radius null, dachte ich, und war irgendwie froh darüber, dass mir in dieser verfriemelten Situation etwas so Kompliziertes einfiel. Diophantische Gleichungen, Lie-Gruppen, Zufallsmatrizen. Wenn der Finger da reingekommen war, musste er auch wieder rauskommen, das war ja quasi ein Naturgesetz. Das Einzige, was ich tun konnte, war, den Finger ruhig zu halten und zu hoffen, dass er von alleine wieder abschwoll. Ich sah mich unauffällig um, aber die Gäste waren mit anderen Dingen beschäftigt. Ob ich der Einzige war, dem dieses Malheur jemals passiert war, oder kam das ständig vor? «Nicht die Finger zwischen die Ronken stecken. Lebensgefahr.»
Ich hing jetzt bestimmt schon fünf Minuten fest und deckte die schlimme Hand mit der Zeitung ab, die Esther liegengelassen hatte. Heilung durch Nichtbeachtung. Hölfe, Hölfe, dachte ich, ich muss zu Oma und Opa zum Mittagessen, wenn ich zu spät komme, gibt’s Ausmecker. Genau das dachte ich, wörtlich. Mein Leben war doch schon so schwer genug. Der Finger tat weh, vielleicht war er durch die Ruckelei gebrochen? Oder verstaucht? Oder geprellt oder ausgerenkt? Oder eine oder mehrere Sehnen waren gerissen oder wenigstens angerissen? Da musste der Nottischler ran. Ob es so etwas wie einen Nottischler gab? Es gab schließlich auch einen Notarzt, einen Schlossnotdienst und eine Notapotheke. Zur allergrößten Not kann man die Feuerwehr rufen, die kommt immer. Schwitzschwitzruckelruckeloinkeroinker. Langsam wurde ich ernstlich panisch, ich ruckelte und drehte und zog und versuchte, mit der freien Hand die Bohlen auseinanderzudrücken. Nichts. Ich starrte auf den Finger und die Leute und die Zuckerdose, in der die Wespe noch immer ihren einsamen Kampf führte. Auf meiner Armbanduhr sah ich, dass es schon spät war, und mich beschlich so ein Gefühl, als ginge es nun nicht mehr um meinen Finger, sondern um etwas Grundsätzliches, es ging in Wahrheit um Leben und Tod. Es ging darum, dass von nun an ALLES diesem Augenblick gleichen würde.
Mit einem Mal war der Finger frei. Ich befühlte ihn. Er tat weh und blutete etwas, aber gebrochen schien er nicht zu sein. Die Hand war krebsrot wie eine Metzgerhand. Wie hatte ich das jetzt gemacht? Ach, egal.
Ich blieb so lange sitzen, bis meine Nerven sich halbwegs wieder beruhigt hatten. Währenddessen sah ich meine arme Großmutter mit geschwollenen Beinen vor dem mehrfach unbeschichteten Kochtopf stehen, sie hatte ihre liebe Not damit, die ausgelaugten Salzkartoffeln im Wasserbad warm zu halten. Die Geschichte mit dem eingeklemmten Finger würde sie mir nie abnehmen, denn sie war (aus guten Gründen) überzeugt davon, dass Lügner ihre Lügen immer mit hanebüchenen Geschichten tarnen. Wer nichts zu verbergen hat, dem genügen ein, zwei Sätze der Erklärung. Langsam hörte die Hand auf, schmerzhaft zu pochen, ich klemmte einen Zehn-Euro-Schein zwischen Untertasse und Becher und verdrückte mich.
Auf dem Bahnsteig war es noch heißer als im Café. Als Kind hatte es mir nie heiß genug sein können. Jeden Morgen nach dem Aufstehen war ich ans Fenster gestürzt, hatte die Vorhänge aufgerissen und in die Sonne geblinzelt. Ja, du liebe Sonne, strahl du nur, so hell du kannst! Auf dem Weg zur Badeanstalt hatte ich ganz tief eingeatmet, um den Sommer in mich aufzunehmen und jedes Lungenbläschen mit heißem Sommerwind, dem einzigartigen Geruch von Kuh, Chlor, Speiseeis, flimmernder Hitze, Pollen, Sonnencreme, Bauernstube, nackter Haut, Insekten, Filterzigaretten und frisch abgeernteten Feldern vollzusaugen. Die Wärme, die Luft, die Gerüche, die Aussicht auf sechs Wochen Ferien und tausend andere Sachen waren in meinem Kopf explodiert und hatten ein unbeschreibliches Glücksgefühl ausgelöst. Der Sonnenschein hoch oben verdichtete sich und rieselte in Schauern zu mir herab, die Sonne brannte sich in meinem Gesicht fest, ich konnte spüren, wie meine Haare ausblichen, ich leckte mir über die salzigen Lippen und freute mich wie ein Tier, das leben darf. Es waren Momente voller Herrlichkeit, ein kostbares Gefühl, am Leben zu sein und sich von ihm verzehren zu lassen, wie es durch mich hindurchbrauste und mich dabei zerstörte. Ja, wirklich, damals verfügte ich über ein Enzym, das Hitze in Glück aufspaltete.
Und nun stand ich schwitzend auf dem sich langsam füllenden Bahnsteig und machte den Mund auf und zu wie ein halbtoter Karpfen. Die Luft war heiß und unangenehm und erfüllte mich mit einer dumpfen Traurigkeit. Vielleicht führt der Kontakt mit der Sonne ab einem bestimmten Alter automatisch zum Tod. Daran muss man sich gewöhnen, wie man sich wahrscheinlich noch an ganz andere Dinge gewöhnen muss. Ich schaute auf die Anzeigetafel und ärgerte mich über die Drecksbahn. Sechs Minuten noch, sechs verschissene Minuten, wozu zahl ich eigentlich Abgaben? Ich erwog ernsthaft, dem Bund der Steuerzahler beizutreten. Mein Gesicht war vor Wut und Hitze rot wie eine Rübe, die Arme hingen wie Topflappen an mir herunter, und aus irgendwelchen Gründen musste ich an Kaffeesahne denken, die dick und gelblich in eine Tasse rinnt.
Das hatte mit früher wirklich nichts mehr zu tun.
Die Anlage, in der meine Großeltern seit bald fünfzig Jahren leben, wird von ihren Bewohnern liebevoll «Käfersiedlung» genannt, da sämtliche Straßen, Wege und Stiege nach netten und nützlichen Käfern benannt sind: Sandkäferstieg, Marienkäferweg, Maikäferring, Dingskäferstraße, Dingskäferkehre. Der Borkenkäfer ist kein nützlicher Käfer, sondern ein Schädling, deshalb ist auch keine Straße nach ihm benannt. (Den Maikäfer gibt’s eigentlich nur noch aus Schokolade.) Die Großeltern sind jung eingezogen und hier alt geworden. Alle sind jung eingezogen und hier alt geworden, alle, alle, alle. Die Siedlung mit dem putzigen Namen ist hoffnungslos vergreist, ein Spiegel der demographischen Entwicklung. Manchmal kommt sie mir vor wie eine von irren Kindern mit starrem Blick (in diesem Fall irren Alten mit starrem Blick) bevölkerte Kleinstadt, die wie in amerikanischen Horror-B-Movies von finsteren Mächten aus den Tiefen des Weltalls entsandt wurden, um als Vorposten die Invasion des Planeten Erde vorzubereiten.
Sobald man die Hauptstraße verlässt und in den Marienkäferweg biegt, erlischt schlagartig alles Leben. Mucksmäuschenstill reiht sich Einfamilienhaus an Einfamilienhaus an Einfamilienhaus. Kein Kindergeschrei, keine Rasenmähergeräusche, noch nicht einmal Vogelgezwitscher. Vielleicht fallen Vögel tot vom Himmel, wenn sie die Greisenenklave überfliegen wollen. Vielleicht bilde ich mir das alles aber auch nur ein. Sicher ist jedenfalls: In der gesamten Siedlung gibt es keinen Menschen unter siebzig. Und Fantomas habe ich in Verdacht, dass er sich bereits die Option auf eine Doppelhaushälfte gesichert hat.
An der Ecke Marienkäferweg/Sandkäferstieg kamen mir zwei junge Mädchen entgegen. Ururenkelinnen auf Stippvisite oder so etwas. Partnerlook: Sandalen, Jeansminirock, bauchfreie, eng anliegende Unterhemden. Braungebrannt, dezent geschminkt. Die Kleinere hatte ein sehr zartes, von einer Art Retropagenschnitt umschlossenes Gesicht und schmale grüne Augen. Sie sah ein wenig indisch aus. Ihre Freundin war mit dem etwas herben Gesicht, den hohen Wangenknochen und den blonden Haaren, die sie zu zwei Zöpfen geflochten hatte, der nordische Typ.
Wunderschöne, anmutige Wesen, die niemals schwitzen, Schmetterlinge, leicht und flüchtig. In ihren unergründlich hellen Augen liegt ein phosphoreszierendes Glimmen, ihre trugbildschönen Körper sind von winzigen, daunenartigen Härchen bedeckt, die blassroten Münder gleichen aufgeplatzten Kirschen. Erhöhte Geschöpfe, von denen ein irisierendes Leuchten ausgeht, das der Welt neue Farbe verleiht. Schwermut, Krankheit, Alter und Armut können ihnen nichts anhaben, denn sie haben recht: Das Leben geht immer weiter, aber sie werden niemals sterben!
Was dachte ich mir da eigentlich zusammen? So ein Quatsch. Als sie an mir vorübergingen, holte ich tief Luft. Wenn ich mir nur die Lungen mit ihrem Duft vollpumpen könnte, auf Vorrat! Wenn sie doch anhielten und mich küssten. Ich musste mich zusammenreißen, um sie nicht anzuglotzen, doch das wäre gar nicht nötig gewesen, sie plapperten fröhlich und registrierten mich überhaupt nicht. Wahrscheinlich ist es so, wie oft gesagt wird: dass die Jugend die Zeit des Glücks ist, die einzige im Leben.
Verlassen ist der Holderstrauch,
An dem ich einst geküsst.
Es blieb ein Duft, der wie ein Hauch
Aus fernen Tagen ist.
Noch immer hör ich jenes Lied,
Das einst die Nachtigall uns sang.
Wenn auch mein Herz wie einst noch blüht,
Mir wird so abschiedsbang.
Wenn ich mich auch zu trösten weiß
Aus meinem Aug stiehlt sich ganz leis
Ein kleines Tränchen vor.
Auf der Heide blühn die letzten Rosen,
Braune Blätter fallen müd vom Baum
Und der Herbstwind küsst die Herbstzeitlosen,
Mit dem Sommer flieht manch Jugendtraum.
Möchte einmal noch ein Mädel kosen,
Möcht’ vom Frühling träumen und vom Glück.
Auf der Heide blühn die letzten Rosen,
Ach, die Jugendzeit kehrt nie zurück.
Holde Jugend, holde Jugend,
Kämst du einmal noch zu mir zurück!
Heino: Auf der Heide blühn die letzten Rosen. So kann man’s auch sagen. Heino ist übrigens der Größte, da können die Spießer stänkern, wie sie wollen. Alte deutsche Fahrtenlieder mit Gitarrenrhythmus und im modernen Arrangement. Derartiges gab es vorher nicht und wird’s so schnell auch nicht wieder geben.
Ich musste leider wieder ausatmen. Die Begegnung hatte maximal fünfzehn Sekunden gedauert. Nun komm mal wieder runter. Werd mal wieder normal. Lächerlich. Verwirrte Gedanken, lächerliche Klagen. Ich war aber auch empfindlich heute. Wahrscheinlich lag’s an der Fingergeschichte. Ich dachte ein paarmal «geiler Arsch, geile Titten, elende Fickmäuse» vor mich hin, dann ging es mir ein bisschen besser. Aus welchen Löchern kommen im Sommer eigentlich die geilen Weiber gekrochen, die sich während der dunklen Jahreszeit nie blicken lassen? Die könnten sich mit vormariniertem Discounter-Grillfleisch einschmieren und würden immer noch top aussehen. Und geile Ärsche haben die. Sagenhaft, was die Weiber heutzutage für geile Ärsche haben. Früher hatten nur Sabine Freudenthal und Petra Barsties welche. Wenn überhaupt. Vielleicht liegt das an der Ernährung oder dass sie statt ewig Rückenschwimmen und Weitsprung schon mit zwölf Problemzonensport betreiben. Egal. Ich drehte mich um und sah sie um die nächste Ecke verschwinden.
Ich finde nicht statt. Eine Schimäre, ein Schattenriss, ein Dunkelmensch, ein mit dünnem Strich Skizzierter. Die Mädchen hätten auch fünf oder zehn oder fünfzehn oder zwanzig Jahre älter sein können, es spielte keine Rolle. Genauso wenig, wie es eine Rolle spielt, ob ich nun sieben Kilo mehr oder neun Kilo weniger wiege, eine Fleischmütze habe oder keine, behaart bin oder blank, käseweiß oder tiefbraun, Jeans oder Smoking, Abba oder Zappa, Dings oder Dings: Es ist vollkommen egal. Würstchen im Schlafrock, Pflaume im Speckmantel, die Lage ist hoffnungslos, ich löse bei anderen Menschen einfach keine sexuellen Wünsche aus. Sinnlichkeit und Leidenschaft bedeuten für Männer wie mich eine Bedrohung. Wir können nicht mithalten, wir sind nicht dafür gemacht und haben davon nichts außer Leid, Sehnsucht und einem sinnlosen Losstürmen des Blutes. So einfach ist das. Nichts Spektakuläres, nichts Besonderes, Millionen Männern geht es so. Die meisten kapieren nur nicht, sie wollen ums Verrecken nicht kapieren, dass sie es abschalten müssen, und zwar grundsätzlich abschalten: Früher hätte man dazu Askese gesagt oder Kasteiung oder Selbstzucht. Egal, ich nenne es «Desexualisierung». Vielleicht gibt es den Begriff schon in irgendeinem Zusammenhang, sozusagen offiziell/wissenschaftlich, interessiert mich nicht, ab jetzt ist es mein Wort. Copyright: M. Erdmann. Im Grunde genommen gibt es nur eine Regel: Enthaltsamkeit. Enthaltsamkeit in den Blicken, Enthaltsamkeit in den Gedanken, Enthaltsamkeit in allem. Im Idealfall unterstützt durch Sport, gesunde Ernährung, wenig Alkohol und kalt Duschen, aber das ist vielleicht doch etwas zu viel verlangt. Auf jeden Fall: Ich hab’s ganz gut in den Griff bekommen, bin quasi bummelig pi mal Daumen auf halber Strecke angekommen. Nur das mit der Sehnsucht, das ist nicht so leicht, denn die Sehnsucht ist viel hartnäckiger als das Verlangen. Aber das würde ich auch noch hinbekommen.
Krrrrk … Krrk … krkk. Die Klingel der Großeltern, nach vierzig Jahren Dauerbetrieb müde geworden, bekommt immer öfter Aussetzer. Manchmal kann man zehn Sekunden drücken, und nichts passiert, dann plötzlich reißt einen das rohe Industrialsample aus den Tagträumereien. Krrrk … Krrrrrrrrk.
Meine Güte, wie lange dauert das denn! Ich starrte auf das stumpfe, mit Grünspan oder irgendetwas anderem (bei mir ist immer alles Grünspan) angelaufene Schild. Wenn ich es nur intensiv genug fixierte, würde es abfallen. War nur so ein Gefühl. Vielleicht hatte ich telepathische Fähigkeiten und wusste es nicht. Riesentalent als Wünschelrutengänger, hätte Erdstrahl- oder Wunderheiler werden sollen. Astrotyp. Hätte, sollte, würde, könnte, jetzt war es zu spät. Die Buchstaben verschwammen vor meinen Augen. E.R.D.M.A.N.N. Da komm ich her, da geh ich hin. E.R.D.M.A.N.N., der, der in der Erde lebt, was für ein mittelmäßiger Name, da ist die Begrenzung und Perspektivlosigkeit schon mit eingebaut. Man hört einfach nichts, keinen Sound, kein Echo. E.R.D.M.A.N.N. Gehe nicht über Los. Ziehe keine 4000 Mark ein. Gehe ins Gefängnis. Begib dich direkt dorthin. Besser: Abschminken und in den Holzpyjama schlüpfen (österreichisch für Sarg). Tolles Wort, Holzpyjama.
Oma öffnete mit dem nur für mich reservierten Gesichtsausdruck: Enttäuschung und Trauer. Ich sollte mich schuldig fühlen. Als Grundgefühl. Entweder fürs Zuspätkommen oder für die anderen Sachen, die ich schon verbrochen hatte und noch verbrechen würde, und wenn das alles nicht langte, gab’s ja noch die Erbsünde. Ob jung, ob alt, Frauen beherrschen das in der Regel aus dem Effeff.
«Ach, Markus, wir dachten schon, du kommst gar nicht mehr. Du hättest doch wenigstens mal anrufen können.»
«Erst mal schönen Sonntag. Wenn ich dir sage, was mir gerade passiert ist, das glaubst du nicht.»
«Nun setz dich mal gleich hin. Für die Kartoffeln kann ich nicht mehr garantieren. Wir haben uns schon Sorgen gemacht.»
Wir war gut, denn Opa zog sich langsam, aber sicher ins dunkelsamtene Bett der Demenz zurück und konnte sich schon seit geraumer Zeit keine Sorgen mehr machen. Keine richtigen jedenfalls. Demenz? Alzheimer? Verkalkung? Die Ärzte wussten es auch nicht. Vor zwanzig Jahren wäre es automatisch Verkalkung gewesen, heute ist es immer automatisch Alzheimer. Im Grunde genommen auch völlig egal, denn die Diagnose ändert nichts (wie bei Rückenschmerzen. Kurzhörspiel: Doktor: «Ganz schief und krumm, Ihr Rücken.» Ich: «Und nun?» Doktor: «Tja.»). Großvaters Verfall war unaufhaltsam, und der Tag rückte näher, an dem er Windeln würde tragen müssen, spätestens dann käme Oma um einen ambulanten Pflegedienst nicht mehr herum, und sobald selbst das nicht mehr reichen würde, gäbe es nur noch das Heim. Oma wusste es, Opa spürte es.
Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem es losging: Opa war zeit seines Lebens ein formidabler Schachspieler gewesen, nie hatte ich eine Chance gegen ihn gehabt. Noch nicht mal aus Mitleid oder weil ich sein Enkel war, ließ er mich mal eine Partie gewinnen. Wie immer saßen wir uns also schweigend gegenüber, und plötzlich machte er einen unbegreiflichen Anfängerfehler. Dann noch einen und noch einen, und noch einen, und dann setzte ich ihn matt. Die Revanche verlor er kläglich. Verzweifelt hatte er mich danach angeschaut: «Markus, was ist bloß los mit mir? Ich kann gar nicht mehr richtig denken!» Ich wurde verlegen und habe irgendwas wie «Wird schon wieder» gesagt, «Tagesform» oder «Vielleicht hast du was Schlechtes gegessen». Dabei wusste ich, dass es was Ernstes war. Im ersten Jahr hatte er seinen Verfall noch bewusst und schmerzhaft miterlebt, er war ganz verzweifelt und versuchte sich zu wehren, wusste aber nicht, wie. In der nächsten Phase wurde er rührselig, danach schrumpfte er schließlich zu dem Häuflein Elend, das er heute ist.
Wenn er so ganz normal in seinem Sessel sitzt, merkt man nichts. Selbst mit über achtzig zieht er sich jeden Morgen einen Anzug an, eines der Dinge, die er noch selbständig tun kann. So etwas wie Freizeitkleidung hat es bei ihm nie gegeben, Opa im Jogginganzug, undenkbar! Im Bett trägt man einen Schlafanzug, am Strand eine Badehose, sonst Anzug. Opa verbringt fast den ganzen Tag im Sessel. Manchmal setzt sich Oma zu ihm, und sie unterhalten sich, das heißt, Oma erzählt, was sie Leckeres eingekauft hat oder dass es Herrn Sowieso schon wieder schlechter geht. Opas großes Thema ist der Krieg, wie viele alte Männer wird er von seiner militärischen Vergangenheit eingeholt. Sonst guckt er gern Tiersendungen.1
Das Wichtigste für Opa ist aber Essen, noch vor Tieren und sogar noch vor Krieg. Sein Sättigungsgefühl scheint sich zeitgleich mit dem Kurzzeitgedächtnis verabschiedet zu haben, er kann wirklich schaufeln wie ein Scheunendrescher. Gutes Wort, Scheunendrescher. Erstaunlich, was in den kleinen, schrumpeligen Körper alles reingeht. Mit entrücktem Gesichtsausdruck schiebt er sich die Sachen rein, bis nichts mehr da ist oder Oma abräumt. Wenn Oma oder ich beim Essen trödeln, dauert es nicht lange, und seine Gabel beginnt zu wandern. In meinen Träumen sehe ich ihn auf dem Kamm einer pyroklastischen Welle, einer Welle aus kochendem Speisebrei, dem Paradies entgegenirrlichtern, ein Surfer mystique.
Einerseits gönnte ich ihm das Vergnügen, andererseits sah ich mich gezwungen, die gleichen Maßstäbe anzulegen, die zeit seines/meines Lebens auch für ihn/mich gegolten hatten: «Eine Mahlzeit muss man sich verdienen.» Solange ich denken konnte, war Opa ein lebendes Verbotsschild gewesen. Im Grunde genommen war alles verboten, außer vielleicht Luftholen: Rauchen, Luftgewehr schießen, mit Freunden zelten, im Garten Fußball spielen, erst nach neunzehn Uhr heimkommen, Mofa fahren, Taschenbillard, lange Haare, kurze Hosen, verboten, verboten, verboten. Alle anderen ja, ich nein. Im ersten Stock, direkt neben dem Gäste-WC, befindet sich ein allein ihm, dem Haushaltungsvorstand, vorbehaltenes Privatrefugium, das sog. Herrenzimmer, welches ich, wenn überhaupt, nur unter seiner Aufsicht hatte betreten dürfen. Zentrum des Herrenzimmers ist ein riesiges schwarzes Ledersofa (nicht wie Sofas heutiger Schummelbauweise aus zehn Prozent Leder und neunzig Prozent Luft-Schaumstoff-Gemisch, sondern sechzig oder siebzig Prozent reines Leder. Massivleder) mit einer Tragfähigkeit von schätzungsweise zwei Tonnen. Und jetzt kommt’s: Ich (12 Jahre, irgendwas mit 50 Kilo) durfte mich nicht daraufsetzen. Begründung: Abnutzung.
Aber da sich im Leben bekanntlich alles rächt (Payback Time), war ich auf der Suche nach einer angemessenen Bestrafung auf eine perfide Idee gekommen: ihm die Freude am Essen zu verleiden. Essen, essen, essen. Das war der richtige Ansatz, den Spaß an der elenden Völlerei würde ich ihm gründlich verderben! Da ich jedoch kein ausschließlich von primitiven Rachegelüsten getriebener Primat war, galt es, erst einmal eine Art theoretischen Überbau zu konstruieren: Omas ausschließlich aus gesättigten Fettsäuren bestehende Hausmannskost leistet einem noch rascheren Abbau Vorschub. Für Opas ohnehin geschwächten Organismus ist solches Essen pures Gift. Meine Mission war also, dafür zu sorgen, dass Opa wenigstens sonntags nicht noch tüddeliger wird. Ich war auf eine simple, aber sehr effiziente Methode gekommen: Auf dem Höhepunkt meines Rachefeldzuges trat ich ihm während der Mahlzeiten unter dem Tisch gegen das Schienbein. Immer wenn er vor lauter insektenhaftem Geschmecke und oralem Genuss das Bewusstsein zu verlieren drohte, holte ich ihn mit einem gezielten Schienbeintritt in die Wirklichkeit zurück.
Zack.
«AUA.»
Ratlos blickte er vom Teller auf. Er konnte den Schmerz nicht lokalisieren. Oma schaute ihn an und dann mich und dann wieder ihn und konnte sich keinen Reim darauf machen. Was unter dem Tisch vor sich ging, lag außerhalb ihres Vorstellungsvermögens. Sie glaubte wahrscheinlich, dass Opa sich andauernd auf die Zunge biss oder im Backentaschenfleisch verhakte.
«Ach, Walter, was ist denn jetzt schon wieder los mit dir?»
«Wenn dir was wehtut, müssen wir zum Arzt gehen. Wo tut es denn weh?»
«Ach, Friedel, ich weiß es doch auch nicht.»
«Na, dann hat das keinen Zweck, dann räum ich mal ab.»
Mein Plan war aufgegangen. Hilflos musste Opa mit anschauen, wie Oma die Schüsseln forttrug. Dabei hatte er doch noch so einen großen Appetit. Ich folgte ihr in die Küche.
«Opa soll nicht immer so viel essen, da wird er ja noch verkalkter.»
«Ach, Markus, ich weiß es ja, aber es ist doch die einzige Freude, die er noch hat.»
«Aber es ist nicht gut für ihn. Man muss aktiv gegen die Verkalkung anarbeiten. Das Gehirn kann man trainieren wie einen Muskel.»
«Ach, Markus, ob das noch was bringt?»
«Natürlich bringt das was. Du kannst Opa doch nicht so einfach aufgeben!»
«Tu ich ja auch nicht.»
Ich lief zurück ins Wohnzimmer.
«Opa, hörst du zu?»
Opa wusste nicht, um was es ging, und guckte nur hilflos.
«Wie heißt die Hauptstadt von Bayern?»
«Was hast du gefragt, Markus?»
«Bayern, wie die Hauptstadt von Bayern heißt!»
Gehirnjogging.
«Ich weiß es im Moment gar nicht.»
«Opa, konzentrier dich mal. Da warst du als junger Mann auch schon mal!»
«Wo?»
«In Bayern. In der Hauptstadt des Bundeslandes Bayern.»
Oma mischte sich ein.
«Meinst du denn, dass das noch was bringt?»
«Natürlich bringt das was. Du siehst doch, wie er nachdenkt!»
Opa schaute schweigend auf die Tischdecke. Ich tat beleidigt.
«Na, wenn ihr beide nicht wollt, dann komm ich auch nicht dagegen an. Dann lassen wir’s eben. Das ist dann aber nicht meine Schuld.»
Meine Güte! Emotional verroht. Seelisch verwahrlost. Wer hier wohl der Nazi war, das Fleisch gewordene Herrenzimmer? Rückblickend unvorstellbar, dass ich mich wirklich so verhalten hatte, ich schäme mich heute noch dafür. Vielleicht war es aber auch notwendig gewesen, um meinen Frieden mit dem Alten schließen zu können. Man weiß es alles nicht so genau.
Oma war bereits in der Küche mit dem Abwasch beschäftigt. Ich schaute ihn an. Einatmend. Wieder ausatmend. Ein staubiger Staubfänger, Nistplatz für Kartoffelkäfer. Es wirkte schon lange nichts Böses mehr aus ihm. Die Seele in ihrem Versteck, irgendwo im Schlick des harten Leibes. Er putzte sich mit seinem schmuddeligen Taschentuch die Nase und wirkte unglaublich eingeschüchtert und traurig über die unumkehrbare Vergeblichkeit. Es war, als ob jetzt, kurz vor der endgültigen Dämmerung, sein Wesen noch einmal aufriss und den eigentlichen Charakter freigab. Verpuppt und nie ausgeschlüpft. Vielleicht war es das: Er war in Wahrheit ein ganz anderer. Alle Menschen sind am Anfang gut, und am Ende wieder und die Zeit dazwischen damit beschäftigt, ein Leben zu führen, das nichts mit ihnen zu tun hat.
Ich ging in die Küche, um Großmutter beim Abwasch zu helfen. Wegen ihrer schlechten Augen kann sie den Schmutz und die Verkrustungen und Ränder und den ganzen Irrsinn nicht mehr richtig erkennen, und ich muss fast jeden Teller nacharbeiten. Der Haushalt alter Leute ist ein Fass ohne Boden, ein nasses Grab, eine Reise ohne Wiederkehr. Regelmäßig durchforste ich den Kühlschrank nach abgelaufenen Lebensmitteln. Faustregel: Die Hälfte kann man unbesehen wegschmeißen. Das Allerekligste ist Omas dunkelgrüne, noch aus der Nachkriegszeit stammende Kunstledereinkaufstasche. Mit den Lebensmitteln, die Oma darin im Laufe ihres Lebens vom Markt nach Hause und vom Krämer nach Hause und vom Fleischer, Bäcker, Metzger, Gemüsehändler, Obstwart, Erdbeerfeld nach Hause geschleppt hat, hätte man die Fettlücke des Hungerwinters 46/47 schließen können. Im Bauch des spakigen Ungetüms sind bestimmt fünfhundert Becher Sahne ausgelaufen. Und in dieser Tasche transportierte sie nach wie vor frische Salatköpfe, Frischfleisch, Frischobst und frischen Fisch. Und wenn sie’s rausholte, war es nicht mehr frisch. Unvorstellbar. Aber an die Tasche kam ich nicht ran, denn Oma hing an dem säuerlichen Klumpen wie der Teufel an der armen Seele. Sie ahnte, was ich vorhatte, und ließ mich mit der Tasche keine Minute allein.
«Und, was hast du die Woche gemacht? Hast du gut zu tun?»
«Nee, im Moment ist die Auftragslage schlecht, es ist ja auch noch Urlaubszeit, und bei der Hitze …»
«Aber du lieferst doch gute Arbeit!»
«Das liegt nicht an mir, sondern daran, dass es der Branche insgesamt schlechtgeht. Hab ich dir doch alles schon erklärt.»
«Das kann doch kein Mensch behalten, Markus. Guck mal, wir haben damit nie etwas zu tun gehabt, da vergisst man vieles wieder. Wir sind doch schon alte Leute. Und wenn dein Beruf keine Zukunft hat, musst du dir eben etwas anderes suchen.»
«Ich weiß auch nicht, wie es weitergehen soll. Aber vielleicht geschehen ja noch Zeichen und Wunder.»
Sie schaute mich an wie immer. Meine Güte, anderen Enkeln werden zum Abschied diskret Geldbündel in Hose und Jacke gestopft! Oma war der Überzeugung, dass ich nur deswegen kein Bein auf die Erde bekam, weil ich weder eine Ausbildung noch ein Studium abgeschlossen hatte. Ich hatte tatsächlich noch nicht einmal in eine Universität hineingeschnuppert. Alles Quatsch. Als Wünschelrutengänger benötigt man schließlich auch keinen akademischen Abschluss. Vielleicht hoffte Oma ja immer noch, dass ich sie zu ihrem neunzigsten Geburtstag mit einem frisch unterzeichneten Ausbildungsvertrag überraschen würde. Bis dahin konnte ich Pfandflaschen oder Ähnliches sammeln.
«So, ich muss dann mal wieder.»
«Ach, Markus, jetzt schon? Es ist noch nicht mal drei!»
«Oma, ich hab dir doch gerade erklärt, wie schlecht es läuft. Und das heißt Überstunden. Mich fragt keiner, ob gerade Wochenende ist oder nicht. In meiner Branche muss man ständig in Vorleistung treten.»
«Kommst du nächsten Sonntag denn wieder?»
«So wie es aussieht, ja.»
«Was heißt das? Ich muss mich doch darauf einstellen!»
«Mensch, Oma, wie oft bin ich mal nicht gekommen? Und zu 95 Prozent komm ich auch nächsten Sonntag. Ich kann es nur nicht garantieren.»
«Na gut. Aber ruf rechtzeitig an. Und melde dich mal zwischendurch.»
«Jaja.»
«Wie geht es eigentlich Sonja?»
«Soweit ich weiß, ganz gut.»
«Markus, was ist das denn für eine Antwort! Man muss doch wissen, wie es seiner Freundin geht.»
«Es wird ihr schon gutgehen. Wir unterhalten uns nicht ständig darüber. Also geh ich davon aus, dass alles in Ordnung ist. Symmetrie ist die Schönheit der Dummen.»
«Was hast du gesagt?»
Ich setzte noch einen drauf.
«Modular zu denken heißt, in Lines zu denken. Steps. Deepthroat.»
Ab und an muss man sich auch was gönnen. Oma guckte ratlos, und ich ließ Gnade vor Recht ergehen.
«Also, ich hau mal ab.»
«Und sie kommt Mittwoch doch auch mit?»
Mittwoch, Mittwoch. Was war Mittwoch denn schon wieder?
«Sag jetzt nicht, dass du das vergessen hast! Opa wird zweiundachtzig!»
«Ach so, hab ich gerade nur nicht dran gedacht. Da kommen wir, so gegen vier.»
Ich ging nochmal zum Großvater, verschwunden im Verdauen und Vergessen.
«Tschüs, Opa.»
Er hob die Hand, winkte und schaute ganz lieb, wie ein Bub, der gerade eine Kugelbahn gebaut hat. Ich bekam ein noch schlechteres Gewissen und gab ihm ein Küsschen auf die Wange.
«Also dann.»
«Tschüs, Markus. Und ruf mal an.»
Ein kleines Stück vor der U-Bahn-Station hatte vor ein paar Wochen eine Dönerbude eröffnet und sich umgehend als zentraler Arbeitslosen- und Pennertreffpunkt etabliert. Den türkischen Besitzern schien das egal zu sein, sie hatten sogar ein paar abgegnabbelte weiße Plastiktische und -stühle aufgestellt; solange die Penner sich halbwegs anständig benahmen und ab und an Bier und Döner kauften, wurden sie geduldet.
Vor drei Wochen dann das Unfassbare. Es bestand kein Zweifel, sie war es: Birgit Brunau. Fast zwanzig Jahre hatte ich sie nicht gesehen. Gemeinsam mit Petra Döberlin und Marina Zietz hatten wir uns damals zu einer Clique zusammengetan, drei Mädchen und ein Junge. Es war, zumindest habe ich es so empfunden, die armseligste Clique der ganzen Gegend, ach was, der ganzen Welt. Petra und Marina befanden sich ungefähr auf einer Höhe (Aussehen, alles Mögliche), dann kam, wenn auch schon mit Abstand, Birgit Brunau, und die rote Laterne trug ich. Nach ein paar Monaten hatten sich Petra und Marina denn auch eine geilere Clique mit halbwegs geilen Typen gesucht. Um überhaupt jemanden zu haben, sah ich mich gezwungen, den eingeschlafenen Kontakt mit dem langweiligen Manfred Küsel wieder aufzunehmen. Und Birgit? Weg, von einem Tag zum anderen, wie vom Erdboden verschluckt! Sehr viel später kam heraus, dass sie in irgendeiner betreuten Wohngruppe für sozial auffällige Jugendliche oder so was in der Art untergebracht worden war, in Reinbek, Norderstedt oder einem anderen unvorstellbar weit entfernten Stadtteil.
Und jetzt war sie wieder aufgetaucht. Aus dem Nichts. Als ich sie zum ersten Mal an der Dönerbude sitzen sah, glotzte sie mich an, erkannte mich zum Glück aber nicht. Sie sah aus, als wäre bei ihr alles schiefgelaufen, was hatte schieflaufen können, und jetzt waren die Dönerbude und der Pissnelkenbahnhof Endstation.
Sie schien noch besoffener zu sein als vergangenen Sonntag. Ein von Müllfraß und Sangria aufgeschwemmter Schrank von einer Frau, eine geschlechtslose Masse, der Trunksucht und Verwahrlosung ein unermessliches Alter ins Gesicht gedrückt hatten. Halb sitzend, halb abrutschend pult sie sich irgendwas aus den Zähnen. Ihr direkt aus der Brust wachsendes Säufergesicht ist glühend rot, das Haar liegt bretthart auf dem Rücken. Und früher, als sie noch gerade Glieder und klare Augen hatte, war sie einmal höchste sexuelle Verheißung gewesen.
«Tiger, kommst du mit ins Kornfeld?»
Mein damaliger Spitzname: Tiger, wg. guter Torwart. Es war damals in etwa so heiß wie heute gewesen, und ich wäre vor Erregung fast in Ohnmacht gefallen. Ins Kornfeld! Mit Birgit! Natürlich wollte ich! Was es mit dem Kornfeld wohl auf sich hatte? Doch hoffentlich das, was alle dachten! Das Problem war, dass Birgit mich das hätte diskret fragen müssen und nicht im Beisein von Petra und Marina. Die Ischen glotzten und lauerten und wussten ganz genau, dass ich nichts lieber getan hätte, als mit Birgit zwischen den wogenden Halmen zu verschwinden.
«Ja, Tiger, jetzt wollen wir doch mal sehen, ob du tatsächlich mit Birgit ins Kornfeld gehst, Sauereien machen.»
Mein Gott, Birgit, so blöd kann man doch gar nicht sein! Sie hat es einfach nicht begriffen und mich mit ihrem geilen Schweinchengesicht erwartungsfroh angestarrt. Mehr als ein halblautes «Nö» hatte ich dann natürlich nicht herausbekommen. Irgendwann begriff selbst Birgit es und machte sich vom Acker, auf der Suche nach dem nächsten Wackelkandidaten, und für mich hieß es wie gehabt mit Petra und Marina Bach stauen, Völkerball spielen und als säuischste aller Sauereien eine halbe Packung Ernte 23 wegrauchen, die Petra ihrem Vater geklaut hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich unendliche Verzweiflung darüber, dass etwas sagenhaft Geiles nur aufgrund lächerlich widriger Umstände nicht zustande gekommen war. Es musste das Paradies sein, mit Birgit im Kornfeld. Monatelang konnte ich an nichts anderes denken. Nur ein einziges Mal mit der frühreifen Verheißung im Weizen verschwinden!
Und jetzt saß sie da mit vollgepissten Hosen auf einer Plastikbank und würde bald sterben. Alles hat seine Zeit, und jetzt ist es zu spät für Birgit und das Kornfeld. Traurig, traurig.
Immer wenn ich meine Wohnung betrete, denke ich wie unter Zwang einen ganz bestimmten Satz: «Die Wohnung bedürfte kräftiger floraler Akzente.» Idiotisch, wo habe ich das nur aufgeschnappt. Ich hab’s nämlich überhaupt nicht mit Blumen, überhauptüberhauptüberhaupt nicht. Vor vielen Jahren hatte ich mal eine Yuccapalme besessen, aber nie gegossen (Gießen ist spießig). Irgendwann war «Schluss mit lustig». (Peter Hahne). Eine unglaubliche Plackerei, das vertrocknete Riesenteil zu zersägen. Ansonsten kann ich gerade mal eben eine Tanne von einer Birke unterscheiden. Egal. Ich ging ins Wohnzimmer, ließ mich aufs Sofa fallen und stellte den Fernseher an.
Das Sofa ist der Dreh- und Angelpunkt von ALLEM. Ich war unfassbar erschöpft. Vollkommen unverhältnismäßig. Woher rührte nur dieser Mangel an Energie? Als ob meine Brennstäbe schadhaft oder feucht wären und ich jetzt meine Restlaufzeit im Abklingbecken verbringen müsste. Niedrigenergiehaus. Keine Schubkraft. Eine Zeitlang hatte ich die Schilddrüse in Verdacht, die ist es ja immer. War natürlich Unfug, schade, ein eindeutiger Befund hätte vieles erleichtert.
Meine Fernsehgewohnheiten sind vollkommen verwahrlost. Wenn ich nichts weiter vorhabe, glotze ich bestimmt fünf, sechs Stunden am Tag, und nur in den allergrößten Ausnahmefällen («Expeditionen ins Tierreich»/Wiederholungen vom «Alten» auf 3SAT, natürlich nur die Folgen mit dem wunderbaren, hochverehrten, unvergessenen Siegfried Lowitz und nicht mit dem Sauspatz Rolf Schimpf) mal eine Sendung ganz. Es wird häufig behauptet, Fernsehen mache stumpf und dumm und sei eine gigantische Zeitvernichtung. Das ist natürlich völliger Quatsch. Es fällt auf, dass diejenigen, die so einen Unfug behaupten, in ihrer erdrückenden Mehrheit humorlos sind und dämlich bis ins Mark. Erdrückende Mehrheit, erdrückende Durchschnittlichkeit. Wofür nutzen die eigentlich ihre vom Munde abgesparte, fernsehfreie Zeit? Sie könnten lesen, die Abendschule besuchen, Museen besuchen, Ausstellungen besuchen, Vorlesungen besuchen, sonst irgendwas besuchen und sich Typen wie mir gegenüber einen uneinholbaren Vorteil erarbeiten. Vielleicht sind sie sogar in den gerade beschriebenen Richtungen aktiv, nützen aber tut es ihnen merkwürdigerweise nichts, sie bleiben immer gleich. Das Geld, das sie mit ihrer disziplinierten Lebensweise sparen, investieren sie vornehmlich in Reisen. Aber natürlich nicht irgendwelche Reisen. Erholungsurlaub macht die Unterschicht, sie unternehmen Trips, Expeditionen, journeys. Tiefseetauchen, Weltumseglungen, sorgsam ausgetüftelte Individualurlaube. Wie habe ich meinen Schulfreund Frank Riestorf für seinen Mut bewundert, direkt nach dem Abitur und noch dazu ganz allein nach Australien zu reisen. Australien! Das muss man sich mal vorstellen. 1 ganzes Jahr (in Worten: ein ganzes Jahr). Mit dem Rucksack! Den Kontinent hatte er durchquert, quasi zu Fuß. Nie im Leben hätte ich mich das getraut. Ich war gespannt wie ein Flitzebogen, als wir uns nach seiner Rückkehr zum ersten Mal wieder trafen, und felsenfest überzeugt, dass Frank Sachen erlebt hatte, von denen ein Normalsterblicher gar nicht weiß, dass es sie überhaupt gibt. Einer, der gar nicht weiß, wohin mit seinen Erfahrungen, bewusstseinserweitert, geläutert, erhellt. Dann die Ernüchterung: Er war noch langweiliger als vorher. Vielleicht fiel es mir auch nur deshalb auf, weil wir uns so lange nicht gesehen hatten, man weiß es nicht.
Da lob ich mir einen rammdösigen Sonntagnachmittag mit «auto motor und sport TV». Für mich sind Autos das Letzte. Und alles, was mit ihnen zusammenhängt: ADAC, Dekra, TÜV, Autobahnraststätten, Autohöfe, Formel 1, Formel 2, Formel 3000, Cartrennen (Hitlerjugend), Reisewellen, Pfingststaus, Tuning, Brummis und die ödeste Frage der Welt, nämlich ob die aktuelle Benzinpreiserhöhung ungerechtfertigte Abzocke oder nicht ungerechtfertigte Abzocke ist. Einerseits.
Andererseits interessiere ich mich für Autos. Das war schon immer so. Woher dieser vermeintliche Widerspruch rührt, weiß ich nicht und will ich auch nicht wissen, man kann schließlich alles tottherapieren. Ich hab Benzin im Blut, bums, Ende, aus. Erklärung: Mein Urgroßvater, den ich leider nie persönlich kennengelernt habe, ist begeisterter Automobilist gewesen. Und die Leidenschaft hat eben zwei Generationen übersprungen, Mendel’sche Gesetze, kennt man doch. Egal. Schwerpunktthema der aktuellen Ausgabe von «auto motor und sport TV» waren Pendler bzw. Pendeln: Pendlerpauschale, Pendelzuschlag, Pendelabschlag, was weiß ich. Meine Meinung: Wer jährlich Tausende von Euros spart, weil er ins billige Umland (Speckgürtel) flieht, sich die Fahrtkosten aber von Vater Staat erstatten lassen will, der hat sie doch wohl nicht mehr alle! Nachts pennen und tagsüber pendeln, und Vater Staat soll dieses kreuzegoistische Lebensmodell auch noch subventionieren! Wenn ich mich über etwas richtig aufrege, kommt meistens Vater Staat ins Spiel. Ich sage Vater Staat gern auch mehrmals hintereinander: Vater Staat, Vater Staat, Vater Staat. Hier ist er zur Abwechslung mal gefragt, hier müsste er durchgreifen: Für Pendler heißt es ab sofort den Speckgürtel enger schnallen, damit daraus ein Abspeckgürtel wird, die Deutschen sind sowieso viel zu dick.
«auto motor und sport TV», was für eine Sendung:
«Dem Reihensechszylinder quillt der Charakter nur so aus den Brennräumen. Aufgeweckt wie ein Rennterrier, stürmisch wie ein Kampfstier, drehfreudig wie ein Formel-1-Fahrer im Training, aber so sanft im Abgang wie bitterzarte Schokolade. Der Achtzylinder lässt sich keine Maulsperre verpassen. Er knackt angriffsfreudig mit den Gelenken und hängt hungrig am Gas. Im Schubbetrieb saugt er beruhigend, unter Last faucht er animierend, bevor er im oberen Drittel die hauchige Jazztrompete anbläst.»
Werbepause. Schade. Fliegender Wechsel (mit fliegenden Fahnen – haha, klingt gut, oft geht es nur um Sound) zu RTL 2: DOG – Der Kopfgeldjäger2. Eine Dokusoap über die harte Arbeit amerikanischer Kopfgeldjäger.
DOG ist der Chef. Mit von der Partie sind auch noch seine Frau (Beth, DOG’S Wife, die immer ganz rollig wird, wenn DOG einen Sträfling in Handschellen abführt) und DOG’S Son, der einmal das Geschäft übernehmen wird. Schätze ich. Die ganze Sippe lebt von den üppigen Provisionen. Der Beruf ist hart, sehr hart sogar, aber in der amerikanischen Erfolgsserie kommt auch die menschliche Seite der Kopfgeldjagd nicht zu kurz. DOG beim Anblick seiner durchgesessenen Büromöbel: «Auch die Kopfgeldjägerei wird bisweilen eintönig, und da braucht man dann eine schöne Umgebung.» O-Ton. Das Fingertrauma büßte langsam an Schrecken ein, meine Stimmung hatte sich deutlich gebessert. Zurück zu «auto motor und sport TV», da lief jedoch schon der Abspann. Ich zappte mich durch die Spiel- und Einkaufskanäle. Mein Vorschlag: Sämtliche Gewinnspielmoderatoren werden gezwungen (Vater Staat), vor jeder Sendung eine 0,7-Liter-Flasche Korn oder Weinbrand zu leeren. Eine sehr gute und vor allen Dingen lustige Idee, aber man weiß ja, welche Chancen lustige Ideen in Deutschland haben.
Ich hatte überhaupt noch nichts geschafft, dabei habe ich mir zum Ziel gesetzt, am Tag wenigstens eine Idee zu Papier oder sonst wohin zu bringen, wobei es mir mittlerweile reichlich egal ist, ob sie sich zu Geld machen lässt oder nicht. Meinen Einfällen ist gemein, dass sie sich der Wertschöpfungskette (Jörg Grabosch) verweigern und meist Richtung wirdnixdraus gehen. Das heißt selbstverständlich nicht, dass sie irgendwie schlecht oder mittelmäßig wären, im Gegenteil, ich bin von der Qualität meiner Arbeit überzeugt. Überlegenes Material. Das Konzept mit den besoffenen Moderatoren zum Beispiel. Spitzenidee, aber man ahnt schon, dass sie scheitern wird. Und nun? Ich dachte an Esther mit ihrem unendlich langen Gefrühstücke und an Fantomas mit seinem retardierten Stoffwechsel. Und an Opa. Alle langsam, langsam, langsam. Essen muss man reinschaufeln, wie Männer Kies schaufeln! Es konnte doch unmöglich sein, dass ich allein war mit meiner Meinung. Essen und langsam, langsam und Essen. Langsame Esser. Da war was, das spürte ich genau! Aber was?
Wie sie die Nahrung einspeicheln, brutal verflüssigen und unerträglich langsam zu einer feuchten Masse verklumpen, selbst Suppe und Kartoffelbrei zu Tode kauen, insektengleich Speichel aufs Essen rieseln lassen, bis die edlen Speisen zermürbt sind.
Ihr Vorratsmund scheint ausschließlich aus Falten zu bestehen, in dem sie ihr Hamsteressen bunkern.
Langsamen Essern vergammeln die Speisen bereits während der Nahrungsaufnahme.
Langsames Essen ist schlimmer als Gewalt gegen Sachen.
Der schnelle Esser ist wie eine stolze Kerze, die an beiden Enden brennt, während der langsame Esser einem miesen Teelicht gleicht, das sinnlos vor sich hin glimmt.
Selbst der schwächste schnelle Esser kann den stärksten langsamen Esser sofort besiegen.
Langsame Esser sind Biester ohne Ziel, Schaschlik ohne Spieße, Olme ohne Zukunft, verdreckselte Eimermenschen, Schranzen ohne Wiederkehr.
Schnelle Esser sind lachende Sieger, schöne Tauben in Montur, Blüten der Sonne, Geschöpfe des Lichts, Tau der Hoffnung, Diener der Liebe!
Am besten gefiel mir «verdreckselte Eimermenschen». Extrem unwahrscheinlich, dass der Text es bis zur Vertonung schaffen würde. Vielleicht erbarmt sich ja Xavier Naidoo, das wäre doch eine coole Geste. Xavier! Deine Chance, etwas Gutes zu tun. Etwas wirklich Gutes.
Krrrrk. Meine Klingel hört sich ungefähr so an wie die der Großeltern, nur in heile. Es war fünf vor sieben. Sonja kommt immer etwas zu früh, niemals verspätet sie sich auch nur um eine Minute. Meine Wohnung liegt im ersten Stock. Wenn es schellt (mal ein anderes Wort als das ewige klingeln), ich aber keinen Besuch erwarte, trete ich immer einen Schritt ins Treppenhaus, um zu sehen, wer die bodenlose Unverfrorenheit besitzt, mich zu stören. Meist sind es irgendwelche Honks, die Pizzaflyer o. Ä. verteilen. Eine Frechheit, wo die Hausverwaltung doch extra ein Schild an der Eingangstür hat anbringen lassen: «Keine Werbung. Nur Wochenblatt». Wenn ich Sonja erwarte, trete ich ebenfalls einen Schritt aus der Tür hinaus, um mir einen ersten Eindruck von ihrer Stimmung zu verschaffen.
Das sah heute wieder gar nicht gut aus: Flüche und Verwünschungen ausstoßend, schob sie sich, eine Hand am Geländer, schnaufend, japsend, keuchend, schnaubend, murmelnd, brütend und ächzend nach oben. Irgendetwas war seit geraumer Zeit im Gange mit ihr, eine Eintrübung, eine Verfinsterung ihres Gemüts, keine Depression, eher im Sinn einer unheilvollen Gemengelage aus Enttäuschung, Ärger und greller Wut, ein hochentzündlicher Schlechte-Laune-Cocktail, der mit gewöhnlicher schlechter Laune nur wenig zu tun hatte, viel schlimmer, viel, viel schlimmer. Dabei hatte sich objektiv nichts verändert. Alles wie immer, bei ihr, bei mir, und zwischen uns sowieso. Vielleicht Burnout, von dem Lehrer ja bekanntlich besonders häufig heimgesucht werden. Allerdings beklagte sie sich nie über ihre Arbeit, im Gegenteil, sie hing an den Kleinen, ich glaubte fast, dass der Job das Einzige war, was ihr noch halbwegs Freude bereitete.
Es musste etwas anderes sein.
Was um Himmels willen hatte sie schon wieder für Klamotten an? Die Hose kannte ich nicht, musste neu sein, formlos wie ein Büßergewand. Oben angekommen, legte sie sofort los:
«Eine Scheiße ist das, die haben mich schon wieder abgeschleppt!»
«Wieso das denn?»
«Am Sonntag, das haben die noch nie gemacht. Dabei wissen die doch ganz genau, wie die Parkplatzsituation ist. Dreckschweine.»
«Aber sonntags schleppen die doch nie ab, außer man stellt sich auf die Behindertenparkplätze.»
«Behindertenparkplätze? Bist du verrückt!»
Sie schrie jetzt fast, ihre Augäpfel traten aus den Höhlen. Es war grotesk und lächerlich. Aus ihrem entsicherten, schussbereiten Mund löste sich der nächste Querschläger:
«Glaubst du, ich erzähl hier irgendeinen Müll? Ich hab das mal ausgerechnet, ich hab letztes Jahr mehr Geld für Falschparken und Abschleppen bezahlt als für Steuern und Versicherung zusammen. Und wenn man Pech hat, bringen sie die Autos auch noch in den Autoknast, das sind statt 180 Euro gleich 350 oder mehr.»
Sie hatte die höchstmögliche Erregungsstufe erreicht, einen Augenblick war ich davon überzeugt, dass sie mir eine reinhauen würde. Dann sackte sie plötzlich in sich zusammen, als hätte der Ausbruch sämtliche Kraftreserven verbraucht.
Nachsatz, sehr leise: «Und dann noch diese Hitze, ich dreh durch.»
Der Anfall war jäh auf seinem Überroll zusammengebrochen. Was ging hier vor? Möglicherweise war sie schwer krank und benötigte Medikamente, oder sie musste ins Krankenhaus oder wenigstens zur Kur oder Analyse. Noch immer stand sie im Treppenhaus und schaute mich an. Ihr Blick war nicht zu deuten, aber ich konnte es hören: ein tiefes Bohren und Reiben, Scharren und Wummern. Diese schreckliche Wut, was für Geräusche sie macht! Ein undrainierbarer Brocken Wut, ein Wutgerinnsel, das sich bald löst und zum Herzen wandert. Irgendwo musste doch eine Klappe sein, durch die man die Wut ablassen konnte, ein Wutwechsel musste her, dringend!
Mainz bleibt Mainz. Klingelingeling.
«Liebe Närrinnen und Narralesen! Wolle ma sie rauslasse, die alte, verbrauchte Wut?!»
Und Tusch.
Die Wut ist alt und gesättigt, da muss der Profi ran.
«Einmal Wutwechsel, und machen Sie die Filter gleich mit, die sind auch schon ganz verstopft.»
Sie merkte, dass sie den Bogen überspannt hatte, und zuckte mit den Schultern. Eine unverhältnismäßig schwache Entschuldigung, aber ich war zu erschöpft, um ihr Friedensangebot auszuschlagen:
«Was willst du denn trinken?»
«Erst mal Bier, wegen Durst. Danach Wein.»
«Wollen wir nicht nochmal rausgehen?»
«Nee, wirklich nicht. Mir reicht’s für heute!»
Sie holte zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und ging ins Wohnzimmer. Ich ließ sie ein paar Minuten allein, damit sie sich fangen konnte. Als ich mit Wein und zwei Gläsern nachkam, hatte sie den Fernseher angemacht. Es schien ihr etwas besserzugehen.
«Du musst mir glauben, ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich muss wohl tatsächlich mal zum Schrauber.»
«Ich sag dazu nichts. Mach es einfach und erzähl mir hinterher, wie’s war.»
Schweigend tranken wir das erste Glas. Und das zweite. Ab einem gewissen Zeitpunkt ist zweifellos alles gesagt, dann herrscht stillschweigende Übereinkunft über die wesentlichen Punkte. Es gibt nichts Neues zu erleben, und es wartet auch kein Abenteuer mehr an der nächsten Ecke. Im Nachtleben haben wir schon lange nichts mehr verloren. Nachtleben, lächerlich. Sollte einer von uns zufällig in einen Club geraten, würde man ihn für einen Taxifahrer halten. Aber wir gehen in keine Clubs. Da wir schon seit Ewigkeiten ohne jeden Ausdruck von Spannung und Geschlechtlichkeit existieren, wären wir ja bescheuert oder masochistisch oder beides, uns freiwillig da hinzubegeben, wo es um nichts anderes geht als um Spannung und Sex. Und Fun. Niemand käme auf die Idee, uns für ein Liebespaar zu halten. Ein Paar, vielleicht, ja, Bruder und Schwester, alte Schulfreunde oder politisch aktive, mitteljunge Leute auf dem Weg zur Bundesgala junger Vertriebener, treue Seelen, die Schlesien noch nicht vergessen haben. Sonja Maier und Markus Erdmann, zwei Namen, ein Programm, eine Schicksalsgemeinschaft, die im Deprimiertenstadel einen Logenplatz auf Lebenszeit besetzt hält.
Wildlederstiefel mit Schneerändern, daran muss ich immer denken. Der trostloseste Anblick der Welt, das waren wir: Wildlederstiefel mit Schneerändern.
Ich öffnete die nächste Flasche und hoffte auf Frieden für den Rest des Abends. Zum Glück hatte sie Hunger:
«Wollen wir eigentlich noch was kochen?»
«Ja. Was hältst du von Hähnchencurry? Und vorweg Rauke mit dem Dressing von getrockneten Tomaten.»
«Ja. Sehr schön. Das hast du schon lange nicht mehr gemacht!»
Ich hatte in der Küche schleichend das Regiment übernommen, da ich der begabtere Koch bin. Obwohl ich überhaupt kein Hobbytyp bin, ist Kochen mein einziges Hobby. Hobbykoch, talentierter Hobbykoch, genauer: nicht untalentierter Hobbykoch. Wenn die nagende Libido erst mal durch Gaumenfreuden substituiert ist, geht man nicht mehr gemeinsam durch dick und dünn, sondern nur noch durch dick. Essen ist ein wirksames Sedativum und die schönste Belohnung dafür, dass man den Tag (bzw. das Leben, bis hierher wenigstens) überstanden hat. Essen bedeutet in erster Linie Feierabend. Tagsüber sollte man möglichst wenig oder gar nichts essen, um sich nicht um den Genuss der einen, riesigen Mahlzeit am Abend zu bringen, die noch dazu einen eleganten Übergang in den Schlaf ebnet. Kleine, gesunde und kalorienarme Portionen bleiben Menschen vorbehalten, die noch etwas vorhaben (Nightlife, div.) oder so alt wie möglich werden wollen, steinalt, alt wie ein Baum oder ein steinalter Tomatenstrauch. Gerade die Banalen genießen jeden Tag ihres Lebens, als wäre er der letzte, und freuen sich über den aktiv zurückgedrängten Tod und die ganze, viele, sinnlose Lebenserwartung.
Wenn es mit Sonja und mir so weitergeht, ziehen wir vielleicht doch noch eines Tages zusammen und gründen irgendwo am Stadtrand eine Bedarfsgemeinschaft oder wie das heißt. Jeder hat sein eigenes Zimmer: Eyecatcher sind die beiden XXXL-Betten. In der ganzen Wohnung gibt es keinen Gegenstand, an dem man sich stoßen könnte, nur Polster. Keine Polstersessel oder Sofas, nein, Polster in ihrer reinsten Form: POLSTERMASSE. Wir verschwinden in Polstermasse und umgekehrt, man weiß bald nicht mehr, was was ist, die Wohnung als Thermohose. Alle Wände sind mit Schaumstoff und Eierpappe tapeziert. Irgendwann sind wir dann so dick, dass wir unsere Zimmer nicht mehr verlassen können, wir kommunizieren über Babyphone. So geht das über viele Jahre, aber am Ende müssen wir doch ins Krankenhaus, wegen Zucker oder Pumpe oder so. Da wir zu dick sind fürs Treppenhaus, werden wir mit einer sog. Schleifkorbtrage durchs Fenster herabgelassen und in eine Tierklinik verbracht, Tierklinik, weil die herkömmlichen Kernspintomographen zu klein sind, um uns zu durchleuchten, weshalb es einen für Pferde oder Kühe ausgelegten Spezialkernspintomographen braucht (gibt es wirklich, ich denk mir hier schließlich nicht irgendeinen Quatsch aus). Die Herzuntersuchung gestaltet sich schwierig, denn die Strahlen werden durch die Fettschichten so abgeschwächt, dass eine Deutung der Bilder kaum mehr möglich ist. Da die Hansestadt Hamburg nur über eine Schleifkorbtrage verfügt, muss eine zweite aus einem benachbarten Bundesland herangekarrt werden. Aus Kostengründen werden wir gemeinsam abgeseilt, sie aus ihrem Fenster, ich aus meinem. Nach vielen Jahren Babyphonekontakt sehen wir uns zum ersten und wahrscheinlich letzten Mal wieder. Blitzlichtgewitter, Kamerateams. Schlagzeile in der «Bild». (Hamburgseite): «Die schönste Liebesgeschichte des Jahres».
In der Küche bin ich der Chef:
«Ich mach mal das Dressing. Du kannst Tomaten klein schneiden. Aber vergiss nicht, die Strünke rauszuschneiden.»
«Jaja.»
«Ich sag’s nur, weil du es manchmal vergisst. Strünke sind Abfall. Als ich im Krankenhaus war, haben die die Strünke auch nicht rausgeschnitten. Tumor raus, Strünke rein, na vielen Dank!»
«Wie geht nochmal das Dressing?»
«Getrocknete Tomaten mit Knoblauch, Oregano, Balsamessig mischen und mit dem Pürierstab verarbeiten. Dann in einem dünnen Strahl Olivenöl dazugießen.»
Gespräche über das Essen entbehren jeglicher Brisanz, ein konfliktarmes Thema. Andere konfliktarme Themen: Tierschutz, Umweltschutz, Klimaschutz, Wahrung der Menschenrechte, alles, was mit Schutz zu tun hat, matte Dauerbrenner, bestens geeignet, ein ereignisloses Wochenende ereignislos ausklingen zu lassen. Auch gut sind Verlaufsgespräche, in deren Verlauf nur Fragen gestattet sind, deren Antwort man schon kennt, die direkte Vorstufe zum Selbstgespräch. Das Selbstgespräch, Gespräch des kleinen Mannes.
Das süßliche Tomatendressing verbindet sich wunderbar mit dem herb-aromatischen Geschmack der Rauke.
«Hast du eigentlich auf dem Plan, dass Opa Mittwoch Geburtstag hat?»
«Ja, hab ich mir eingetragen.»
Sie trug immer alles gleich in einen riesigen Timer ein.
«Guten Appetit.»
«Danke gleichfalls.»
Nachdem wir mit dem Essen fertig waren, räumte Sonja unaufgefordert den Tisch ab und kam ebenso unaufgefordert mit zwei Gläschen Mirabellenbrand zurück. Herrlich. Es war kurz nach zweiundzwanzig Uhr, im TV Zeit für Infotainment. Ich war nach dem Wein und dem Essen und dem Schnaps und dem anstrengenden Tag müde und hoffte, dass Sonja bald von alleine vorgehen würde. Dann würde ich noch ein Weilchen rumsitzen können und Löcher an die Wand glotzen/starren oder an die Decke starren/glotzen oder am Text mit den langsamen Essern arbeiten oder Musikhören. Irgendwann würde ich nachkommen, mucksmäuschenstill. Sonja:
«Wollen wir mal ins Bett?»
«Ja, gleich, nur noch einen Augenblick.»
«Ich geh schon mal Zähne putzen. Aber nicht wieder auf dem Sofa einschlafen!»
«Nee, nee.»
«Ich hol dich gleich.»
Wie das klang! Manchmal vergaß sie mich auch. Ich wartete wie das Kaninchen vor der Schlange. Bitte, lass mich sitzen! Zu früh gefreut, sie kam, mich zu holen.
«So. Kommst du?»
«Ja.»
Ich schlafe sehr gern auf dem Sofa ein. Viel schöner als im Bett, im Bett schlafen ist spießig, haha. Sonja half mir beim Aufstehen. Meine Güte. Ist sie zu stark, bist du zu schwach. Mir war schwummerig. Nachdem sie mich ins Schlafzimmer bugsiert hatte, zog ich mich mit kraftlosen Bewegungen aus, schlüpfte in meinen Schlafanzug (ich bin Schlafanzugträger, auch bei Hitze), kroch sofort auf meine Seite und verhielt mich mucksmäuschenstill. Ihr Atem ging schon bald in regelmäßiges, leises Schnarchen über. Trotzdem noch zu früh für endgültige Entwarnung. Ein paar Minuten bewegte ich mich nicht vom Fleck, umdrehen kann ich mich auch, wenn ich tot bin. Das mache ich nicht ohne Grund so, denn manchmal, wenngleich sehr selten, gehen Attacken von ihr aus. Ihre Hand verschwindet unter der Decke, und sie versucht was, und ich bin gezwungen, mich auf Worte wie «Idiosynkrasie» zu konzentrieren. Nach ein, zwei Minuten ist wieder Ruhe im Karton. Komisch, ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie auch nur einen Hauch scharf auf mich ist. Was wohl in ihr vorgeht? An wen mag sie denken? Brad Pitt? George Clooney? Gar Sascha Hehn? Egal, jetzt war Ruhe. Bald Mitternacht. Schlafenszeit.
Meine Güte, dabei war es doch auch bei uns einmal ganz anders gewesen! Die verschlossenen Herzen wie Tannenzapfen, offen und voller nackter Samen, so viel Helles und Gutes hatten wir einander getan. Es kam für mich am Anfang einem unbegreiflichen Wunder gleich, dass sie sich für mich entschieden hatte und nicht für einen der geilen Typen, die sie damals hätte haben können. Sonja (die alten Fotoalben, die ich aus den üblichen sentimentalen Gründen in der Vorweihnachtszeit rauskrame, beweisen es) sah mindestens eineinhalb Stufen geiler aus als ich. Ach was, zwei Stufen, vielleicht sogar zweieinhalb! Immer diese Stufen! Köstlich!
Unsere Beziehung hatte tastend begonnen, es hatte geschlagene drei Monate gedauert, bis wir einen klassischen gemütlichen Abend bei mir zu Hause verbracht hatten. Jetzt nur keinen Fehler machen! Ich hatte mich unglaublich zusammenreißen müssen, damit mir nicht die drei Worte aus dem Mund pullerten, die, zu früh ausgesprochen, möglicherweise alles zerstört hätten. Sie hat meinem sanften Liebesdruck nicht widerstehen können, und wenig später waren wir zusammen gewesen. Vielleicht das Schönste: Sie hatte mir das Gefühl gegeben, mir meinen wahren Wert beizumessen, was auch immer das genau sein mochte, ich habe es damals wirklich so empfunden. Vor Sonja: Die anderen tanzen, und ich stehe in der Ecke, was von ihnen herüberweht, ist schmerzlicher Duft. Als wir dann zusammen waren, begann eine wunderbare Zeit, eine Zeit, für die man große Garderobe erfunden hat.
Wir haben uns genauso wenig wie alle anderen vorstellen können, dass es einmal so werden würde, wie es jetzt ist. Wann immer einem der Blick hinter die Kulissen gestattet wird: nichts als Elend, alltägliches, dürftiges, lächerliches Elend. Es gibt kein großes Leiden mehr, sondern nur noch einen Riesenhaufen kleines, nichtssagendes Unglück. Alexandra und Hajo sind das einzige Paar, von dem ich überzeugt bin, dass sie glücklich sind. Ausgerechnet Alexandra und Hajo, die seit geschlagenen fünfzehn Jahren zusammen sind. Fünfzehn Jahre, muss man sich mal vorstellen! Kann man sich nicht vorstellen. Die beiden leben heute in der Schweiz, Hajo ist mit dreiunddreißig bereits VWL-Professor. Vielleicht sind die beiden ja auch keine gewöhnlichen Leute, sondern Wundermenschen, vom lieben Gott oder sonst wem auf die Erde geschickt, damit der Weltglückspegel nicht ins Bodenlose fällt.
Für alle anderen gelten normale Maßstäbe, von gefühllosen Biologen tausendmal berechnet: Der sexuelle Brennstoff reicht für drei bis maximal sechs Jahre, die Zeit, nach der die Brut aus dem Gröbsten raus ist. Hätte ich jemals Tagebuch geschrieben, die Wahrheit würde wahrscheinlich schnell herauskommen: der Beginn der Verformung, das zähe Ausharren in einer verstopften Lebensnische: nach exakt drei Jahren.
Doch unser damaliges Glück hat einen unstillbaren Nachdurst hinterlassen, die Erinnerung daran, wie es einmal gewesen ist, bleibt, und die Sehnsucht danach. Eine Flut schöner Bilder schoss mir in den Kopf, an einen aus unerklärlichen Gründen magischen Besuch in Hagenbecks Tierpark (wir hatten uns vor dem Affenhaus ein bisschen betrunken und kamen aus dem Lachen nicht mehr heraus, warum, weiß ich auch nicht mehr) und an unsere erste gemeinsame Reise auf die Insel Föhr, na ja, drei Übernachtungen, eher ein Ausflug. An jede Minute kann ich mich erinnern, und das bei meinem löchrigen Gedächtnis. Ich habe immer noch den Geruch von geräucherter Makrele in der Nase, die wir jeden Tag am Hafen kauften. Dazu Meerrettich und Speckkartoffelsalat. Und Lumumba hatten wir getrunken, jeden Abend. Den Geschmack habe ich auch noch auf der Zunge. Lumumba haben wir seither nie wieder angerührt. Wieso eigentlich nicht? Schmeckt doch spitzenmäßig.
Jetzt, wo Sonja tief und fest schlief, drehte ich mich auf ihre Seite und umarmte sie. Löffelchenstellung. Früher Teelöffel, heute Esslöffel. Oder Schöpfkelle. Wenn ich sie so umarme, schiebe ich meistens meine Hand unter ihr T-Shirt und lege sie auf ihren Bauch. Obwohl wir beide zu dem Typus zählen, der der Zeit nicht standhält, hat sie einen wirklich schönen, flachen Bauch. Ich dehnte mit meinen Fingern ganz leicht ihre Rippen, das hat sie immer gern gehabt. Früher jedenfalls. Jetzt schlief sie, ich bin sicher, dass sie nichts dagegen hätte. Wir sind rücksichtsvoll genug, nicht an den Problemzonen des anderen herumzufummeln. Manchmal, wenn ich nachts aufwache, hat sie sich an mich geschmiegt, und ihre Hand liegt auf meinen Beinen. Meine Beine finde ich auch ganz okay. Die meisten Männer hätten, glaube ich, lieber dürre, krumme, kurze Beine und einen schönen Oberkörper als umgekehrt, Stichwort Holzhacken.
Sie machte wohlige Geräusche. Traurig, traurig, nur im Dämmer, im Halbschlaf, im Traum können wir uns nahe sein. Mit großen Gefühlen sind wir gestartet, mit ganz kleinen Gefühlen liegen wir im Bett und halten still. Das Geheimnis alter Paare: nicht schreien, stillhalten. Haferbrei. Stille Kost. Askese. Eigentlich heißt Askesis einfach nur Übung. Alles ist Übung. Vielleicht sollte man sich generell nur noch mit Menschen einlassen, von denen man sich notfalls ohne Schmerz wieder trennen kann.
Alles Mögliche kann einem im Leben passieren, und vor allem nichts. Manchmal kommt es mir seltsam vor, dass ich jemals versucht habe, glücklich zu werden. Der Mensch hat eine Vorliebe für Tragik, eine Voreinstellung, die sich im Lauf der Evolution bewährt hat. Man scheut das Risiko stärker, als man das Glück sucht, denn Verluste tun mehr weh als Gewinne Freude bereiten. Mit jedem Jahr, das verstreicht, wird die Lage aussichtsloser, und am Ende kann man gar nicht fassen, dass DAS tatsächlich alles gewesen sein soll. Wahrscheinlich geht es den meisten Menschen so, mehr oder weniger. Das Leben gibt einfach zu viele Rätsel auf, unmöglich, auch nur ein einziges davon zu lösen. Oder das Prinzip zu entschlüsseln. Oder es gibt kein Prinzip. Irgendwann spülte mich ein trister Strom unergiebiger, gegenstandsloser Grübeleien in den Schlaf. Ablagerung. Verwerfung. Schlacke.
Wie soll man so nur das lange, lange Leben herumbekommen?