8. Kapitel

 

Es gibt Momente im Leben, in denen man sich fragt, ob irgendjemand über uns wacht.

Ob uns irgendjemand beobachtet.

Nun, Stefan für seinen Teil kannte die Antwort an diesem Tag. Entgegen unseren üblichen Hoffnungen handelte es sich in seinem Fall jedoch um keine höhere Macht. Niemanden, der ihn beschützen würde.

Es waren Menschen aus Fleisch und Blut, die seit unbestimmter Zeit in seinem Schatten lebten und wahrscheinlich jeden seiner Schritte überwachten.

Doch was wussten diese Menschen über ihn?

Kannten sie seine Verbindung zu Heinz?

 

Klaus unterstützte Frau Janke so gut er es konnte. Stefan und er waren lange über den Status von einfachen Berufskollegen hinausgewachsen. Trotzdem hatte er ein ungutes Gefühl.

Zwar hatten sich die beiden Freunde schon oft gegenseitig als Urlaubsvertretung eingesetzt, aber in diesen Fällen handelte es sich meist nur um zwei oder drei Wochen, und man telefonierte zwischendurch regelmäßig. Diesmal war Stefan einfach abgereist und hatte nicht einmal eine Hotel-Adresse für den Notfall hinterlassen. Über sein Handy war er nicht erreichbar. Klaus begann sich Sorgen um seinen Freund zu machen. Nicht darum, ob ihm etwas zustoßen könnte, sondern vielmehr darum, dass Stefan über der Schriftstellerei seine anderen Aufgaben aus den Augen verlieren könnte. Oder war er einfach nur neidisch auf Stefan? Klaus wusste es nicht. Selbstverständlich gönnte er seinem Freund den Erfolg. Auch, dass er in wichtigen Verhandlungen steckte. Aber was, wenn sich Stefans Träume nicht erfüllten? Wenn er eines Tages feststellen müsste, dass er schlichtweg aufs falsche Pferd gesetzt hatte?

Frau Janke hörte sich alle diese Bedenken an. Das Telefonat dauerte bereits über eine Stunde, in der ihr wieder einmal bewusst wurde, wie Klaus zu ihrem Chef stand.

Machen Sie sich keine Sorgen. Er wird schon wiederkommen. Und als Team haben wir uns doch bisher ganz gut durchgeschlagen finde ich.“

Klaus bedankte sich für diese Worte, die ihm klarmachten, was Stefan meinte, wenn er so oft über die beruhigende Art seiner besten Mitarbeiterin sprach.

 

Der Anruf erreichte Werner Kemmner in seinem Auto auf dem Weg in die Zentrale. Nach Tagen der Ruhe schien endlich Bewegung in die Sache zu kommen.

Seit er und seine Leute an dieser Aufgabe dran waren, ließ er sich mindestens dreimal täglich informieren.

Endlich gab es etwas zu tun, und er würde die Fäden in den Händen halten. Werner war irgendwie glücklich und besorgt zugleich. Würde er endlich grünes Licht für die bevorstehende Aktion bekommen? Alles würde genauso sauber und reibungslos ablaufen wie bei den vielen Aktionen, die er bereits früher geleitet hatte.

Als Leiter der Abteilung für Spezialaufgaben konnte er sich seine Mitarbeiter selbst aussuchen. Und seine Leute waren die Besten.

Er selbst hätte auch mit der Bezeichnung „Chef der Sicherheit“ leben können, doch sein direkter Vorgesetzter bestand auf einem Namen, der seinen Tätigkeitsbereich etwas weniger präzise beschrieb.

Schließlich wollte man niemanden aus den anderen Abteilungen verunsichern, was zwangsläufig zu einem Abfall der allgemeinen Arbeitsmoral geführt hätte.

Zu Werners Team zählten inzwischen 24 Leute, die insgesamt 12 Sprachen beherrschten und somit international einsetzbar waren. Keiner von ihnen hatte Kontakt zur Zentrale. Ihren Lohn erhielten sie von Werner Kemmner generell bar ausgezahlt.

Werner selbst war weniger auf das Geld angewiesen, das er in dieser Stellung verdiente. Als ehemaliger Sicherheitschef eines der größten deutschen Pharma-Konzerne konnte er es sich erlauben, bereits im Alter von 55 Jahren in den Ruhestand zu gehen. Seine Frau, gleichzeitig Erbin des Konzerns, hatte ihm zusätzlich alle ihre Anteile hinterlassen, als sie vor drei Jahren verstarb. Da Werner sich immer als Sicherheitsexperte und nie als Geschäftsmann gesehen hatte, verkaufte er sämtliche Aktien und ging wieder der Tätigkeit nach, die auch sein ganzes vorheriges Leben bestimmt hatte. Nur noch selten dachte er über die verschiedensten Versuche der Werksspionage nach, vor denen er die Firma seiner Frau bewahren musste.

Ohne seinen Blick von der Fahrbahn abzuwenden oder den Straßenverkehr in sonst einer Weise zu vernachlässigen sprach er in das kleine Mikrofon, das sich in der Sonnenblende seines Autos befand.

Ich verstehe. Bleibt in Bereitschaft. Ich muss nachfragen, ob wir reagieren sollen.“

Werner tippte auf den in seinem Mercedes eingebauten Monitor, der ihm auch als Eingabegerät diente.

Abweichend von der Grundausstattung, die neben einem Fernseher und Telefon so ziemlich jede technische Spielerei beinhaltete, konnte sich Werner auch die Bilder diverser Überwachungskameras auf den Schirm holen.

Diesmal jedoch nutzte er die Telefonfunktion und rief in der Zentrale an. Sofort wurde er durchgestellt.

Unser Mandant beabsichtigt abzureisen. Wenn Sie wollen, dann können meine Leute jetzt aktiv werden.“

Auf keinen Fall eingreifen. Wir haben alles im Griff. Unser Mann vor Ort hat seine Rolle perfekt gespielt, und wir können ganz sicher sein, dass alles nach Plan abläuft. Wenn Sie jetzt aktiv werden, dann verlieren wir die Möglichkeit das eigentliche Ziel zu erreichen.“

Was ist das eigentliche Ziel?“, fragte Werner.

Darüber sollten Sie sich keine Gedanken machen. Ich versichere Ihnen, dass im Moment alles genau nach Plan verläuft, und das dürfen wir auf keinen Fall gefährden. Ihre Leute dürfen das Gebäude nicht betreten. Steht Ihr Team in Deutschland bereit, um zu übernehmen?“

Den letzten Satz empfand Werner fast schon als persönliche Beleidigung. Er hatte bereits vor über einer Stunde jemanden von München nach Frankfurt umdirigiert. Eigentlich hatte er diesem Team, welches immer als Ehepaar auftrat, einen Urlaub versprochen, diesen aber in Anbetracht der neuen Erkenntnisse kurzerhand wieder gestrichen. „Es geht alles seinen Gang. Meine Leute werden da sein.“

 

Rudi selbst hatte Stefans Flug nach Deutschland telefonisch reserviert. Wahrscheinlich würde man ihn bereits bei seiner Ankunft in Frankfurt erwarten.

Stefan sah sich in der Flughafenhalle aufmerksam um. Versuchte festzustellen, ob ihn jemand beobachtete.

Ein einzelner Mann saß auf einer Bank und starrte mit leerem Blick in eine Illustrierte. Es war dieselbe Ausgabe einer deutschen Sportzeitschrift, die Stefan bereits auf dem Hinflug nach Mexiko gelesen hatte.

Alles passte gut zusammen.

Eine einzelne Person, die der deutschen Sprache mächtig war und in der Nähe des Ausgangs saß, vor dem bald die Maschine nach Deutschland stehen würde. Immer wieder sah er auf seine silberne Armbanduhr und suchte mit den Augen die Halle ab.

Stefan war sicher, dass auch er zu Schwarzenbecks Leuten gehörte, bis ein kleines Mädchen auf ihn zu rannte und sich neben ihn setzte. Ein paar Schritte hinter dem Mädchen folgte die Mutter, die sich bei ihrem Mann mit einem Küsschen dafür entschuldigte, dass er so lange warten musste.

Anscheinend litt Stefan bereits unter Verfolgungswahn.

Er musste an seine Flucht aus dem Keller denken, die er damals niedergeschrieben hatte, ohne zu wissen, dass sie tatsächlich stattgefunden hatte.

Damals spürten ihn Schwarzenbecks Leute dadurch auf, dass sie ihn auf seinem Mobiltelefon anriefen und durch Triangulation seinen Standort feststellten.

Das durfte nicht noch einmal passieren.

Als er vor zwei Monaten ein neues Handy erwarb, erklärte ihm der Verkäufer stolz, dass dieses Wunderwerk der Technik inzwischen auch dann zu orten wäre, wenn es gerade nicht benutzt würde. Es war eine Art Diebstahlsicherung, die erst einige Monate zuvor entwickelt worden war.

Einen Moment lang dachte Stefan darüber nach, es sicherheitshalber am Flughafen wegzuwerfen, bis er auf die Idee kam, einfach den Akku zu entfernen. Er ging davon aus, dass jeder zu ortende Sender nur so lange aufzuspüren wäre, wie er mit einer Energiequelle verbunden war.

Den Akku stopfte er in eine der zwei seitlichen Taschen seines Handgepäcks, das Handy selbst behielt er am Körper.

Danach fühlte er sich um einiges sicherer und suchte nach Alternativen, um nach Deutschland zurückzukehren, ohne Schwarzenbecks Leuten in Frankfurt in die Arme zu laufen.

Seine beiden Koffer stellte er neben dem Barhocker eines Bistros ab, in dem er sich einen Kaffee bestellte. Von seinem Platz aus studierte er eingehend die große Anzeigetafel, die in unregelmäßigen Abständen geräuschvoll umblätterte.

Die Liste der ankommenden Maschinen zeigte ein soeben gelandetes Flugzeug aus Wien. Sofort durchsuchte er die rechte Seite der Anzeigetafel nach den Abflügen. Die große Uhr in der Terminalhalle zeigte inzwischen 15.45 Uhr und sein Flug nach Frankfurt sollte um 17.50 Uhr starten. Er hatte also zwei Stunden Zeit, um sich eine passende Alternative einfallen zu lassen.

Zu diesem Zeitpunkt bestand für ihn kein Zweifel mehr daran, dass er bereits in Frankfurt erwartet wurde.

Was dann mit ihm passieren würde, darüber wollte er besser nicht nachdenken. Schließlich hatten Schwarzenbecks Leute schon einmal versucht seiner habhaft zu werden.

Damals war er nur knapp entkommen.

Stefan hatte im Laufe der Zeit schon viele menschliche Enttäuschungen erlebt und mehr als einmal im Leben an seiner Menschenkenntnis gezweifelt.

Entgegen der Behauptung, man würde so etwas mit zunehmendem Alter besser verkraften, fühlte er sich von Rudi jedoch verraten und hintergangen.

Zweifellos gehörte dieser zu Schwarzenbecks Leuten, die er spätestens mit seiner Reise nach Mexiko auf sich aufmerksam gemacht hatte. Selbst wenn man ihn vorher in Ruhe gelassen hatte, musste inzwischen auch dem Dümmsten klar sein, dass er auf der Suche nach dem neuen Projekt war, um es zu stoppen.

Schnell würde man alles über ihn herausfinden und schließlich auf sein Buch stoßen. In ihm standen alle Erinnerungen, die er an damals hatte. Die Tatsache, dass ihm das dafür benötigte Exemplar ein weiteres spärliches Autorenhonorar einbringen würde, konnte ihn merkwürdigerweise nicht so richtig erfreuen.

Er brauchte einen Ausweichplan für Kurzentschlossene. Also sah er sich wieder einmal in der Halle um.

Abermals blätterte die Anzeigetafel für Abflüge klappernd weiter. 19.35 Uhr – Wien.

Nun wusste Stefan, was er zu tun hatte.

Kurzerhand suchte er nach einem Terminal, an dem er seinen Flug umbuchen könnte. Die Dame im roten Kostüm der Fluggesellschaft erwies sich zwar als überaus freundlich, erklärte jedoch, dass sie sich außerstande sehe, diesem Wunsch zu entsprechen.

Da es sich um eine andere Fluggesellschaft handelte, müsse er wohl oder übel ein neues Ticket beim Mitwettbewerber erstehen.

Sie wies ihm den Weg dorthin, und bereits wenige Minuten später hielt er ein Ticket nach Wien in den Händen.

Jetzt hieß es abwarten und dabei weiterhin aufmerksam sein.

Die Wartezeit vertrieb er sich mit dem Lesen einer alten deutschen Tageszeitung sowie dem Beobachten des Flughafeneingangs.

Endlich war es so weit. Die Maschine nach Wien stand zum Einsteigen bereit.

Stefan wartete so lange wie möglich, um als letzter Fluggast an Bord zu gehen. Da er die ganze Zeit über auch den Ticketschalter im Auge hatte, wusste er, dass nach ihm niemand ein Ticket nach Wien erworben hatte.

Man erwartete ihn also weiterhin in Frankfurt. Endlich fühlte er sich halbwegs sicher.

Die Stewardess kontrollierte seinen Sicherheitsgurt und lächelte ihn wie jeden Fluggast, an dem sie vorbei lief, freundlich an.

Sein Handgepäck verstaute er, so wie die meisten anderen Fluggäste auch, in der Gepäckablage über seinem Kopf. Lediglich ein Buch, welches er in einem Buchshop am Berliner Flughafen erworben hatte, und das ihm bereits auf dem Flug nach Acapulco die Zeit hatte verkürzen sollen, ließ er draußen.

Die Maschine hob fast pünktlich ab, und nach Erreichen der Reiseflughöhe begannen die ersten Passagiere bereits die Bordtoilette zu stürmen. Stefan schob sich das kleine Kissen hinter den Rücken und holte sein Buch aus dem Gepäcknetz vor seinem Sitz.

Das rote eingenähte Bändchen lugte am unteren Buchrand als Lesezeichen heraus und wies ihm die Seite, bis zu der er bereits gelesen hatte. Gezielt schlug er sie auf und erschrak zutiefst. In der Mitte der Seiten klemmte ein Zettel. Circa 5 x 5 Zentimeter und in der Mitte zusammengefaltet.

 

Wir müssen reden,

Rudi.“

 

Irgendwie hatte er es geschafft Stefan diese Nachricht so zukommen zu lassen, dass er sie erst nach seiner Abreise finden würde.

Aber was wollte Rudi?

Er hatte Stefan die letzten Tage ganz offensichtlich das Blaue vom Himmel herunter gelogen. Ihn schamlos ausspioniert.

Wahrscheinlich war er auch derjenige, der das Namensschild neben der Haustür von Henry und Maria entfernt hatte, weshalb er sich zum verabredeten Frühstück verspätete. Beinahe hätte er sogar verhindert, dass Stefan vom Verbleib von Henry und Maria erfuhr.

Nur Stefans Hartnäckigkeit und die Idee, bei den Nachbarn der beiden zu klingeln, vereitelten diesen Plan.

Und jetzt, nachdem Stefan sein Land verlassen hatte, wollte er plötzlich mit ihm reden?

Stefan glaubte an eine weitere Intrige und überlegte, wie er mit der Situation umgehen könnte. Den kleinen Zettel faltete er wieder zusammen und verstaute ihn in seiner Hemdtasche.

Die letzten Tage hatten ihn mehr Kraft gekostet, als er sich zu diesem Zeitpunkt selbst eingestehen wollte. Nur so war es zu erklären, dass er fast den kompletten Flug durchschlief. Sogar das gereichte Abendbrot (vermutlich eine weitere Hühnchenkreation) sowie den zollfreien Einkauf an Bord verschlief er einfach.

Als er erwachte, hatte die Maschine bereits wieder Festland unter sich und überflog gerade Frankreich. Stefan vergewisserte sich noch einmal, dass sich der Zettel immer noch in seiner Hemdtasche befand.

Dann ertönte ein kleines Signal und die Anschnallzeichen signalisierten den Landeanflug auf Wien.

Die übliche Prozedur nahm ihren Lauf, Beifall für den Piloten nach erfolgreicher Landung, endloses Warten am Kofferband und der prüfende Blick eines Zollbeamten beim Betrachten des Reisepasses.

Die nächste Station seines Abenteuers stand noch lange nicht fest, und so beschloss er, das nächste öffentliche Telefon aufzusuchen, um nach einem Hotelzimmer Ausschau zu halten. Noch in der Flughafenhalle wurde er fündig.

Die Einführung des Euros stellte sich in dem Moment als wahrer Segen heraus. Früher hätte er sich erst ein paar Schillinge beziehungsweise Groschen besorgen müssen, um das Telefon zu bedienen. Und ein öffentliches Telefon musste es auf jeden Fall sein.

Als erprobter Kinogänger, dessen Lieblingsfilme Krimis und Agentengeschichten waren, verzichtete er darauf, sein Handy einzuschalten. Schließlich wusste er nur zu gut, über welche Reichweite Schwarzenbecks langer Arm verfügte.

Inzwischen sollte klar sein, dass er nicht in Frankfurt gelandet war, und die Suche nach ihm würde garantiert schon auf Hochtouren laufen. Da wäre die Ortung seines Handys mit Gewissheit eine reine Routinesache.

Einen öffentlichen Fernsprecher konnte man ihm nicht zuweisen, und so rief er ein paar Hotels in Wien an, in denen er zu so später Stunde noch würde einchecken können. Der Nachtportier vom Sonnenberg erklärte sich sofort bereit, ein Zimmer bis um 1.00 Uhr frei zu halten, wenn er sich gleich auf den Weg machen würde.

Innerlich lachte Stefan. Wahrscheinlich war das Hotel schlecht besucht und brauchte jeden Gast. Nur so konnte er sich die intensiven Fragen bezüglich seiner Personalien erklären.

Wieder fiel ihm der Zettel in seiner Hemdtasche ein. Er befand sich zwar in einer öffentlichen Telefonzelle, aber da gab es immer noch das Telefon von Rudi. Eingehende Anrufe wären sicherlich zurück zu verfolgen und er in Wien schnell aufgespürt.

Er brauchte also einen Plan.

Wer wäre in der Lage ihm ein sicheres Telefonat zu verschaffen? Ralf Malevsky kam ihm in den Sinn. Ralf war ausgebildeter Hochfrequenztechniker, der inzwischen als Mitarbeiter einer Computerfirma tätig war.

Stefan lernte ihn seinerzeit kennen, als er selbst noch als Angestellter seinen Lebensunterhalt verdiente. Die Firma, für die er damals arbeitete, bezog ihre komplette Computeranlage von Ralfs Arbeitgeber, und der war dafür zuständig, sie regelmäßig zu warten.

Zu jener Zeit tauschten Stefan und Ralf häufig Software aus und verstanden sich inzwischen auch privat recht gut. Hin und wieder spielten sie zusammen nächtelang online Strategiespiele, und Stefan wusste nur zu gut, über welche Fähigkeiten dieser Ralf verfügte. Niemand kannte sich auf dem Gebiet der Telekommunikation besser aus als er.

Stefan verzichtete also auf gute Manieren und rief ihn kurz vor Mitternacht an. Es klingelte nur zweimal, und schon meldete er sich. Nach einer kurzen Begrüßung bat er Stefan gegen drei Uhr früh noch einmal anzurufen, weil er gerade ein Spiel am Laufen hätte und der Gegner wäre wirklich gut. Um drei Uhr jedoch wollte Stefan bereits im Bett seines Hotelzimmers liegen.

Ich habe keine drei Stunden“, die Verzweiflung in seiner Stimme musste Ralf verraten, dass er sich in einer Ausnahmesituation befand.

O. k., wie kann ich dir helfen?“

Ich brauche eine Verbindung nach Mexiko, die nicht zurückverfolgt werden kann“, teilte ihm Stefan unverblümt mit.

Jedem anderen wären Bedenken gekommen. Jeder andere hätte nach dem Grund gefragt. Aber Ralf war nicht jeder andere. Aufgaben wie diese waren für ihn eine technische Herausforderung. Das berühmte Salz in der Suppe des Lebens.

Wann brauchst du diese Verbindung?“

So schnell wie möglich“, ließ Stefan ihn wissen.

O. k., mein Freund. Gib mir 12 Stunden. Ich werde sehen, was ich für dich tun kann. Übrigens kannst du von Glück sprechen, dass ich mir gerade ein paar Tage Urlaub genommen habe und du es bist, der mich um einen solchen Gefallen bittet. Es gibt nicht viele Menschen, für die ich so etwas tun würde.“

Stefan teilte ihm mit, dass er sich am nächsten Tag noch einmal melden würde, verließ das Flughafen-Gebäude und steuerte auf den nächsten Taxistand zu.

Der Taxifahrer kannte die Adresse des Hotels und im selben ‚Tempo‘, in dem er sprach, fuhr er dort hin.

Stefan buchte nur eine Übernachtung mit Frühstück. Keine Veranlassung also, die Koffer auszupacken. Um 12.00 Uhr mittags musste er ohnehin ausgecheckt haben, also beschränkte sich sein Aufenthalt tatsächlich nur auf diese circa elf Stunden.

Das Bett war groß und zu weich gefedert, aber auf Luxus kam es ihm in dieser einen Nacht nicht an. Das Frühstücksbuffet am nächsten Morgen erwies sich als äußerst spärlich und der Kaffee als zu dünn für Stefans Geschmack.

Er stellte fest, dass diese Fassung des berühmten Wiener Cafés nicht für seinen Gaumen geeignet war, und verließ das Hotel pünktlich um 11.00 Uhr und 92,00 Euro ärmer.

Inzwischen war es draußen ziemlich kühl, sodass er einen Pullover unter seinem Blouson anziehen musste. Den kleinen Zettel mit der Telefonnummer trug er immer noch in seiner Hemdtasche, und so marschierte er, zwei Koffer hinter sich herziehend, zum nächsten Telefon.

Ralf erwartete Stefans Anruf bereits. Voller Begeisterung teilte er mit, dass ihm wieder ein besonderer Coup gelungen sei. Die Verbindung, die er ausgesucht hatte, würde insgesamt acht Stationen durchlaufen.

Er sah vor, die Nummer via Internet ins Festnetz von Brasilien einzuspeisen. Von dort aus würde das Gespräch über zwei Satelliten nach Fernost geleitet, wo eine Vermittlungsstelle es nach Italien durchschalten würde. Von hier aus würde es per Richtfunk nach Holland und wieder durchs Internet über den großen Teich nach Florida direkt ins Festnetz von Mexiko gehen.

Stefan nannte Ralf die Telefonnummer.

Schnell erkannte dieser, dass es sich um einen mobilen Anschluss handelte, was eine, wie er es nannte, kleinere Modifizierung erforderte.

Am Telefon hörte Stefan zu, wie Ralf sofort die Tasten seines Computers malträtierte. Da er ohnehin am liebsten mit einem Headset telefonierte, um bei der Arbeit die Hände freizuhaben, hielt er ihn ständig über den aktuellen Stand der Leitung auf dem Laufenden.

So deine Verbindung steht jetzt. Ich klinke mich aus und beobachte den Monitor. Sollte mir irgendetwas merkwürdig erscheinen, so kappe ich die Verbindung umgehend.“

Ein leises Summen verriet, dass sich irgendetwas tat. Dann klingelte irgendwo ein Telefon.

Rudi meldete sich mit einem knappen verschlafenen „Hallo“. Ganz offensichtlich hatte Stefan ihn aufgeweckt, aber das war ihm in dem Moment egal.

Schnell gab Stefan sich zu erkennen, und noch bevor Rudi etwas sagen konnte, ließ er ihn wissen, dass er nicht versuchen sollte, das Gespräch zurückverfolgen zu lassen. Jeder Versuch in diese Richtung würde die Leitung unweigerlich kappen.

Ich konnte dich hier in Mexiko nicht einweihen. Selbst auf dem Weg zum Flughafen war es nicht möglich. Die kleinste Veränderung in deinem Verhalten hätte Folgen für uns beide gehabt.“

Stefan fragte ihn, wie lange man ihn schon im Visier hatte.

Nun, dass wir auf dich gestoßen sind, war ein reiner Glücksfall. Carla hatte eine Buchung aus Berlin von einem einzelnen deutschen Mann erhalten. Eine Situation, die höchstens alle zehn Jahre einmal vorkommt. Also schickte man mich zum Flughafen, um dich abzufangen.

Es musste um jeden Preis verhindert werden, dass du dich alleine auf die Suche nach den beiden machst. Und wie du selbst weißt, war es anschließend ein Kinderspiel mich an deine Fersen zu heften.

Gestern früh hoffte ich noch dir weismachen zu können, dass es die beiden nicht mehr gäbe. Doch du hast einfach nicht locker gelassen. Ich weiß zwar nicht, was du mit den beiden und dem ›Club‹ zu tun hast, aber du scheinst ein anständiger Kerl zu sein.

Die Leute vom Club sind seit einigen Monaten ohnehin sehr misstrauisch und vermuten einen Verräter in ihren Reihen. Zurzeit reagieren sie auf alles, was ihnen ungewöhnlich erscheint und das Projekt stören könnte.

Wie mir einer der Mitarbeiter vor Ort erzählte, werden immer wieder sporadisch Computerviren in die Systeme eingeschleust. Merkwürdigerweise soll es sich dabei um reine Viren handeln, die immer wieder Softwareteile zerstören. Keine Trojaner oder so, die dafür sprechen würden, dass jemand Daten entwenden will.

Es handelt sich also um reinen Computervandalismus.

Da ich mir nicht vorstellen kann, dass du damit etwas zu tun hast, habe ich dir die Nachricht zukommen lassen.

Die Tatsache, dass du nicht in Frankfurt ankamst, hat sich schnell herumgesprochen und zeigt mir, dass du meine kleine Show, die ich am Flughafen für dich inszeniert habe, beobachtet hast. Es wäre ein Kinderspiel gewesen, Rosa außerhalb des Flughafengeländes zu treffen.

Aber irgendwie musste ich dich warnen. Du solltest also von nun an vorsichtig sein. Ich weiß nicht, was mit dir geschieht, wenn die Leute vom ›Club‹ dich eines Tages doch noch finden. Pass also auf dich auf.“

Stefan hatte tausend Fragen, die er Rudi noch stellen wollte, aber keine einzige davon kam über seine Lippen. Ein kurzes ‚Danke‘ war das Einzige, was er herausbrachte, bevor Rudi sein Handy abschaltete.

Ralf hatte, wie er vorher versicherte, die ganze Zeit über seinen Monitor nicht aus den Augen gelassen und schaltete sich, sobald das Gespräch beendet war, wieder ein.

Keinerlei Versuche von außerhalb, soweit ich beobachten konnte“, teilte er Stefan mit.

Wenn du wieder in Berlin bist, dann melde dich bei mir. Denn erstens schuldest mir für heute ein Bier und zweitens will ich schließlich erfahren, in was für eine Geschichte du da hineingeschliddert bist.“

Stefan bedankte sich und versprach, ihm eines Tages zu erzählen, womit er es zu tun hätte. ‚Schon die zweite Person, der ich dieses Versprechen gebe’, dachte er bei sich. Erfahren hat es jedoch keiner von beiden jemals.

Rudi sprach vom ›Club‹. Anscheinend meinte er dabei das Projekt, welches Schwarzenbeck inzwischen leitete.

Da sich anscheinend niemand für sein Gespräch mit Rudi interessierte, konnte er davon ausgehen, dass Rudis Verrat unentdeckt blieb.

Doch wie stark war das Interesse an seiner eigenen Person?

Stefan beschloss, für die Heimreise auf öffentliche Verkehrsmittel wie Flugzeug und Bahn zu verzichten. Als Fortbewegungsmittel kam ab sofort nur noch ein Mietwagen infrage. Also fragte er den nächsten Passanten, der ihm über den Weg lief, nach einer Autovermietung.

In der Nähe seines Standorts wurde er dank eines jungen Mädchens, das ihm den Weg dorthin erklärte, schnell fündig. Es war eine Filiale der EUROPCAR, also eine Vermietung mit Filialen in ganz Europa. Seine Wahl fiel auf einen Audi A3, dessen Schlüssel er dankbar in Empfang nahm. Schnell verstaute er sein Gepäck im Kofferraum.

Diverse Reiseprospekte, die neben dem Schaufenster der Autovermietung für das dahinter liegende Reisebüro warben, ließen ihn jedoch von seinem Plan, nach Berlin zurückzufahren, abweichen. Auf hochglänzenden Fotos warb ein Veranstalter für eine Ferieninsel in Kroatien.

Was er zu tun hatte, war ihm plötzlich sonnenklar.

Schließlich war er schon mehrmals in diesem Land gewesen. Inzwischen wusste er dank Heinz, dass er sogar öfter als bislang angenommen dort war. So verschlug es ihn damals, als er zu Schwarzenbecks Projektgruppe gehörte, sogar zweimal in dieses Land, welches er bereits aus mehreren Urlaubsreisen etwas kannte.

Zur Projektzeit war Stefan mit Maria und Frau Kerner sowie einem Computerexperten auf Reisen. Sie gingen einem Hinweis nach, demzufolge ein männlicher Jugendlicher mit paranormalen Fähigkeiten dort zu Hause sein solle. Diesem Hinweis lag ein Zeitungsausschnitt aus Griechenland zugrunde, den ein Rechercheteam, das zum Projekt gehörte, aufspürte.

Tatsächlich fanden sie diesen Jungen damals, und Maria stellte fest, dass er über ungewöhnlich starke mentale Kräfte verfügte.

Er schien in diesen Dingen sogar noch fähiger zu sein als Maria und ihr Bruder Henry.

Sein Name war Goran und von ihm ging etwas Übernatürliches aus, das alles übertraf, von dem sie jemals gehört hatten.

Maria sorgte sich jedoch plötzlich um das Wohlergehen des Jungen, weshalb man damals beschlossen hatte, ihn nicht mit nach Berlin zu nehmen. Maria hatte ein untrügliches Gespür dafür, was für Menschen gut und auch was schlecht sein könnte.

Obwohl damals eigentlich alle an das Projekt sowie seinen Nutzen für die Menschheit glaubten, wollte Maria den jungen Goran damit nicht konfrontieren. Ja, sie fürchtete einen Missbrauch der Gabe, die nur dieser Junge in einer solchen Intensität hatte.

Stefan und Frau Kerner sprachen damals sehr lange mit Maria über dieses Thema und diskutierten das Für und das Wider. Schließlich überzeugte Maria ihn und Frau Kerner davon, diese Entdeckung vor den anderen, die zu Hause auf sie warteten, zu verbergen.

Doch es gab nicht nur die drei.

Da war auch noch der Computerexperte, der Maria mithilfe einiger Satellitenbilder in die Nähe des Jungen brachte. Er hatte fast alles miterlebt und wusste, dass sie fündig geworden waren.

Also tat Maria etwas, wovon sie und Henry einst beschlossen hatten, es nie wieder zu tun. Sie nahm diesem arglosen Begleiter mithilfe ihrer telepathischen Fähigkeiten jegliche Erinnerung an den jungen Goran. Für ihn verlief die Suche erfolglos, und so hatte er es später auch in Berlin berichtet.

Weder Schwarzenbeck noch irgendein anderer Mitarbeiter im Keller erfuhren jemals von Gorans Existenz. Stefan konnte nur hoffen nicht zu spät zu kommen.

Schließlich wusste man im ›Club‹ inzwischen über ihn Bescheid, und wenn jemand sein Buch lesen würde, dann wäre auch dieser Junge unweigerlich in Gefahr geraten. Eine Gefahr, in die Stefans Geschichte ihn bringen könnte.

Oder war dies bereits geschehen?

Stefan rechnete mit einer Fahrzeit von circa sieben Stunden. Planmäßig sollte es also möglich sein, irgendwann in den Abendstunden in Split einzutreffen. Er könnte sich ein Hotel suchen, und wenn dann noch genügend Zeit übrig wäre, würde er noch am selben Abend Goran bei sich zu Hause besuchen.

 

Werner Kemmner ahnte bereits, was ihn erwartete, als sein Sekretär ihm mitteilte, dass der „Alte“ auf dem Weg zu ihm wäre. Aber er hatte nichts falsch gemacht. Der „Alte“ selbst hatte darauf bestanden das Flughafengebäude nicht zu betreten. Gebannt sah er auf die Türklinke. Jeden Moment würde sie sich bewegen und Schwarzenbeck persönlich würde ihn zur Schnecke machen. Wie würde er sich richtig verhalten? Aufstehen und seinem Chef etwas zu trinken anbieten?

Werner fiel am Vorabend aus allen Wolken, als man ihm mitteilte den „Mandanten“ verloren zu haben.

Er nahm ein Telefon zur Hand, um wenigstens beschäftigt auszusehen.

Schwarzenbeck betrat den Raum, nickte Werner kurz zu und gab ihm mit einer Geste zu verstehen, dass er in Ruhe sein Gespräch beenden könnte. Dann setzte er sich auf den Rand des Schreibtisches, nahm das oberste Blatt Papier aus einem Ablagefach und betrachtete es. Werner, der immer noch so tat, als ob er telefonierte, sagte etwas wie „O. k. lassen sie uns morgen darüber reden“, zu seinem imaginären Gesprächspartner, bevor er das Telefon in die Ladestation zurückstellte und sich seinem Chef zuwandte.

Schwarzenbeck sah ihn ruhig an. „Wie viele Leute haben Sie zurzeit im Team?“

Werner überlegte kurz, bevor er antwortete. „Insgesamt 24, wovon sich vier derzeit in Urlaub befinden.“

O. k.“, sagte Schwarzenbeck, der sich von nun an selbst um die Sache kümmern wollte. „Wir brauchen für mein Vorhaben 11 Teams á zwei Leute.“

Er ging zu einer Landkarte, die an der Wand hing und mit kleinen farbigen Nadeln gespickt war. Schnell entfernte er sie, während Werner sich zu ihm gesellte. Schockiert betrachtete Werner die von ihm selbst in mühevoller Kleinarbeit gepflegte Karte, die ihm jederzeit alle Einsatzorte der letzten Monate zeigte. Er selbst hatte die letzte Nadel erst vor kurzer Zeit in Marburg platziert. Schwarzenbeck zerstörte diese Arbeit binnen weniger Sekunden, um neue Regeln festzusetzen. So hatte Werner den „Alten“ noch nie erlebt. Trotzdem verbiss er sich jede Bemerkung diesbezüglich und ließ seinen Chef gewähren.

Wir brauchen ab sofort Leute an folgenden Orten“, Schwarzenbeck war bekannt für sein fotografisches Gedächtnis. Anders als Werner musste er von keiner Liste ablesen oder einen Ort lange auf der Karte suchen.

Er bestückte die Karte einfach neu.

Schaffen Sie das?“

Werner holte seine Unterlagen heraus, um festzustellen, wer sich zurzeit an welchem Ort aufhielt und nach einer raschen, aber sorgfältigen Prüfung garantierte er, dass er in spätestens 18 Stunden jeden Punkt besetzt hätte.

Gut, dann machen Sie sich an die Arbeit und halten Sie mich auf dem Laufenden.“ Schwarzenbeck war bereits schon wieder auf dem Weg nach draußen, als Werner abermals das Telefon zur Hand nahm. Diesmal würde er echte Telefonate führen müssen. Und zwar mindestens 11 Stück.

 

Leider war Stefan nicht der einzige Autofahrer, der an diesem Abend in südlicher Richtung unterwegs war. Vor der Grenze nach Slowenien staute sich bereits der Verkehr, und als er anschließend die Küstenstraße erreichte, schränkte schwerer Regen seine Reisegeschwindigkeit erheblich ein.

Stefan hoffte, dass es das Hotel, in dem er damals mit Maria und Frau Kerner wohnte, noch gäbe, und machte sich nach Erreichen der Ortstafel von Split direkt auf den Weg dorthin.

Alles erschien ihm plötzlich vertraut. Die Tennisanlage, an der er vorbeifuhr und die inzwischen eine Flutlichtanlage besaß, genauso wie der kleine alte Schuppen, der durch eine Glühlampe beleuchtet wurde, und vor dem tagsüber immer bergeweise Obstkisten aufgetürmt wurden.

An diesem Abend waren die vollen Kisten bereits verstaut und der Schuppen zum Feierabend mit einem Vorhängeschloss gegen unerwünschte Besucher gesichert. Die leeren Kisten hingegen stapelte der Betreiber, wie bereits damals, immer noch hinter dem kleinen Gebäude.

Zwei Querstraßen weiter befand sich das Hotel. Dem davor liegenden Parkplatz konnte er ansehen, dass es zu dieser Jahreszeit nicht besonders gut frequentiert war. Kurzerhand schnappte er sich seine beiden Gepäckstücke aus dem Kofferraum des Autos und betrat kurze Zeit später das Foyer.

Die kleine Hotelhalle hatte sich seit seinem letzten Besuch kaum verändert und selbst der Mann hinter der Rezeption sah noch fast genauso aus wie damals.

Etwas älter und mit etwas mehr Bauch, den er vor sich hertrug, aber immer noch eindeutig das gleiche unverbindliche Lächeln, welches durch seine kalten Augen abgeschwächt wurde.

Natürlich kannte er Stefan nicht. Er hatte ihn nie zuvor gesehen. Alles das, was Stefan damals erlebte, hatte sich für diesen Mann niemals ereignet. Stefan war niemals hier und auch Maria sowie Frau Kerner wären für diesen Mann völlig Fremde.

Ein Hauch von Melancholie überkam ihn. Wusste er doch noch so viel.

Aber die anderen? Wie sah es mit den anderen aus?

Goran war damals ca. 14 Jahre alt und ging noch zur Schule.

Seit damals waren über drei Jahre vergangen. Sicherlich ging er inzwischen einer Arbeit oder zumindest einer Ausbildung nach. Auch ihm war Stefan wahrscheinlich nie zuvor begegnet. Zumindest musste er davon ausgehen für ihn ein völlig unbekannter Mensch zu sein.

Nein, an diesem Abend hätte er Goran und seine Familie nicht mehr aufsuchen können.

Zum einen wäre es unhöflich gewesen, zu dieser Uhrzeit bei ihnen aufzutauchen, und zum anderen hätte er als wildfremder Mensch vor ihnen gestanden. Vom Portier, der seiner Erinnerung zur Folge gleichzeitig der Chef und Inhaber war, erhielt Stefan einen Zimmerschlüssel.

Ein kurzer Blick auf den Schlüsselanhänger und er wusste, dass es dasselbe Zimmer war, in dem er auch damals gewohnt hatte.

Sein Gepäck nahm er mit in den Speisesaal, denn die Küche sollte bereits eine halbe Stunde später schließen. Der Koch saß am Nachbartisch und unterhielt sich gerade mit zwei Einheimischen.

Die meisten Tische waren bereits schon für den nächsten Tag hergerichtet. Trotzdem wurde Stefan wie jeder andere Gast des Hotels gut und zuvorkommend bedient. Der Koch stellte noch einmal seine Gerätschaften an und bereitete eine wahre Gourmetplatte.

Zumindest das, was Stefan darunter verstand. Verschiedene Fleischgerichte, die alle herzhaft gewürzt waren, ein paar Pommes frites, den berühmten Balkanreis sowie einen frischen Salat ohne Dressing. Ja, in diesem Land war der Kunde noch König.

Alles war genauso wie damals. Stefan aß im selben Raum zu Abend, schlief im selben Bett und schaute durchs selbe Fenster den herannahenden Sonnenaufgang an.

Das Zimmer hatte er vorsichtshalber für zwei Tage gebucht. Diese Zeit sollte reichen, um Goran ausfindig zu machen. Seine Koffer, die er während des Essens nicht aus den Augen ließ, entleerte er auch diesmal wieder nur zum Teil.

Bereits vor dem Frühstück studierte er noch einmal seine Unterlagen, um sie im Anschluss wieder im Innenfutter seines Koffers zu verstecken.

Zeit mich auf den Weg zu machen‘, entschied Stefan nach einer zweiten Tasse Kaffee und der inzwischen dritten Zigarette.

Seiner Intuition folgend gelang es ihm ohne Probleme die Straße zu finden, in der Goran damals mit seinen Eltern wohnte. Auch das Haus, in dem er zusammen mit Maria, Frau Kerner, Goran und seiner Mutter zusammen am Kaffeetisch gesessen hatte, erkannte er sofort wieder.

Gorans Mutter fürchtete seinerzeit genau wie Maria um das Wohl ihres Sohnes. Wieder einmal müsste er versuchen ihr Vertrauen zu gewinnen. Wieder einmal würde er als Fremder vor ihr stehen. Und wieder einmal sprach er nicht ihre Sprache.

Stefan erwischte Jana Mirowslav, als sie mit zwei schweren Einkaufstaschen nach Hause kam, und sprach sie vor ihrer Tür an. Erwartungsgemäß bekam er nur fragende Blicke und ein Kopfschütteln, als ob er ihr eine Versicherung verkaufen wollte. Stefan sprach bewusst langsam in der Hoffnung, dass sie wenigsten etwas von dem verstehen würde, was er ihr zu sagen hatte.

Ich – suche – Goran!“

Eine Nachbarin, die ebenfalls gerade nach Hause kam und im Begriff war ihre Wohnungstür aufzuschließen, kam ihm zu Hilfe. Sie war, wie er erfahren sollte, Serviererin in einem Restaurant, das erst am frühen Abend seinen Betrieb wieder aufnahm, und wollte sich bis dahin etwas ausruhen.

Nach einem kurzen Wortwechsel mit Gorans Mutter erklärte sie, dass der Junge arbeiten wäre. Er führte Touristen durch eine nahe gelegene Grünanlage, die sich durch ihre Vielfalt an exotischen Vögeln einen Namen als Ausflugsziel gemacht hatte.

Stefan müsste einmal quer durch die Stadt fahren und dann der Ausschilderung nach „Birds Paradise“ folgen. Die Anlage war erst nach Beendigung des Balkankrieges errichtet worden und galt inzwischen als ein gut besuchter Touristenmagnet.

Freundlich bedankte sich Stefan und machte sich sofort auf den Weg. Wie versprochen war die Strecke gut ausgeschildert, sodass er nicht die geringste Mühe hatte „Birds Paradise“ zu finden.

Schon von Weitem konnte er den zur Anlage gehörenden Parkplatz erkennen. Auf ihm standen ca. 40 Reisebusse sowie unzählige Pkws ordentlich in Reih und Glied. Ein wild gestikulierender Mann schwenkte aufgeregt sein Basecap, als er Stefan in seinem Auto entdeckte.

Man wies ihm einen Platz zu und er bekam einen Parkschein, welchen er hinter die Windschutzscheibe legte. Dann entrichtete er seine drei Euro Parkgebühr und folgte einer Reisegruppe, die gerade einem Reisebus entstiegen war.

Drei Blockhütten dienten als Kassengebäude. Zwischen ihnen standen jeweils zwei Personen an metallenen Drehkreuzen, die hilfsbereit die zuvor erworbene Eintrittskarte in einen schmalen Schlitz schoben, damit der Öffnungsmechanismus seine Arbeit verrichten konnte.

Junge Männer und Frauen versammelten Gruppen von jeweils ca. 25 Leuten um sich, die sie im Anschluss durch die Anlage führten. Stefan hoffte Goran unter ihnen zu entdecken. Es waren inzwischen drei Jahre vergangen und er damals noch ein Jugendlicher. Ein Alter also, in dem sich Menschen noch stark veränderten.

Wieder sah er einen Arm, der ihn heranwinkte. Er gehörte zu einem jungen Mann, dem offensichtlich noch eine einzelne Person fehlte, die seine Ausflugsgruppe komplettieren würde. Zwar hatte er eine gewisse Ähnlichkeit mit Goran, aber der deutliche Bartwuchs, der seine Kinnpartie umspielte, irritierte etwas.

Zumindest sah Stefan eine Chance diesen jungen Mann im Laufe der Führung nach Goran zu befragen, weshalb er sich dem aus alten Menschen und Familien mit Kinderwagen und Filmkameras bestehenden Trupp anschloss.

Der Tourguide sprach ein ausgesprochen gutes Deutsch und hatte immer wieder den einen oder anderen Spaß parat, um seine Gäste zu unterhalten. Er imitierte zum Beispiel Vogelstimmen, die es zu erraten galt. Die Gegenprobe zum Original sollte später erfolgen, sobald man die echten Vögel erreichen würde.

Immer wieder konnte Stefan beobachten, wie der junge Mann zu einem der kleinen Kinder ging, denen er ihre vielen Fragen anscheinend schon von Weitem ansah. Nicht eine einzige davon ließ er unbeantwortet. Auch sein besonders warmherziges Lächeln fiel Stefan während der ganzen Zeit auf. Verriet es ihm doch, dass diese Kinderliebe nicht gespielt wurde, sondern echt war und von Herzen kam.

Stefan sah sich den jungen Mann etwas genauer an und entdeckte immer mehr Ähnlichkeiten mit dem ca. 14-jährigen Jungen, der ihn vor drei Jahren mit seinen mentalen Fähigkeiten verblüffte.

Na, immer noch unsicher?“, fragte der junge Mann über seine Schulter hinweg, als ein kleines Mädchen, dem er gerade einen frei fliegenden Vogel zeigte, wieder zu seiner Mutter lief.

Er hatte anscheinend Stefan Blicke gespürt und drehte sich langsam zu ihm um. Jetzt erkannte Stefan auch das kleine Namensschild an seinem Hemd. ›Goran Mirowslav‹.

Goran stand auf, ging zu ihm und streckte ihm seine Hand entgegen. Stefan lief es eiskalt durch den gesamten Körper, als er in dem Moment in seine Augen sah.

Da war es wieder. Diese unendliche Tiefe, die Maria damals sofort wahrgenommen hatte.

Ich habe Sie sofort wiedererkannt. Und ich glaube, es ist kein Zufall, dass Sie heute hier sind.“

Jetzt hatte Stefan die endgültige Gewissheit, dass es Goran war. Es war, als könne er in Stefans Gedanken lesen wie in einem offenen Buch.

Ich habe um 19.00 Uhr Feierabend. Wir treffen uns dann, wenn Sie wollen an Ihrem Auto“, teilte er ihm mit, bevor er sich wieder den anderen zuwandte, die er ins große Vogelhaus führte.

Ich werde dort sein“, erwiderte Stefan kurz. ‚19.00 Uhr an meinem Auto. O. k.’, dachte er bei sich.

Zwar wusste Stefan nicht, wie Goran das Auto aus all den anderen ausfindig machen wollte, aber es hatte auch keinen Sinn danach zu fragen.

Schon einmal hatte dieser junge Mann Stefan und seine beiden Begleiterinnen in Staunen versetzt. Er hatte paranormale Fähigkeiten, die selbst eine Telepatin wie Maria damals überraschen konnten.

Er las an jenem Tag aus einem Buch, ohne dass er eine Chance gehabt hätte, den Text zu sehen. Selbst als er am Ende der Seite angekommen war, las er einfach weiter. Die Seite im Buch, das Stefan während der ganzen Zeit in den Händen hielt, blätterte ohne sein Dazutun selbstständig um, wodurch Stefan den von ihm gesprochenen Text Wort für Wort nachlesen konnte.

In diesem Augenblick beschlossen die drei Besucher Goran nicht mit nach Deutschland zu nehmen. Niemand sollte erfahren, welche mentalen Fähigkeiten dieser Junge besaß. Man hätte ihn zu einem Versuchskaninchen gemacht. So entschieden Maria, Frau Kerner und Stefan die Existenz dieses Menschen vor den anderen geheim zu halten.

Als er drei Jahre später wieder vor ihm stand, wusste Stefan, dass diese Entscheidung die richtige war.

Er dachte an die Geschichte, die Heinz über Ater erzählt hatte, und war sich sicher, dass Goran ein ähnliches Schicksal ereilen könnte wie das der Frau, die Ater so lange leiden ließ.

Goran hatte noch zu arbeiten und so machte sich Stefan wieder auf den Weg zu seinem Auto. Bis zur Verabredung am Abend sollten noch sieben Stunden vergehen, weshalb er beschloss, noch einmal in die Stadt zu fahren.

Im Ortskern von Split parkte er am Fahrbahnrand und schlenderte durch die Straßen. Das Klima in der Region war zwar etwas milder als in Wien, aber bei Weitem nicht so warm und schwül wie in Mexiko. Auch Kroatien bereitete sich langsam auf den herannahenden Winter vor.

Einige Touristenlokale hatten ihren Geschäftsbetrieb bereits eingestellt und würden ihn erst wieder zum Saisonbeginn im nächsten Jahr aufnehmen. Eine Speisekarte, die er sich vom Tisch eines Ausflugslokals griff, bestätigte dies. Dort waren die Preise der Hauptsaison durchgestrichen und durch welche ersetzt, die im Durchschnitt ca. 50 % darunter lagen.

Eine milde Brise wehte vom Meer heran und Stefan betrachtete die Auslagen der Geschäfte. In einem Café machte er Rast und spendierte sich selbst eine Tasse Kaffee sowie ein Stück Nusskuchen. So verbrachte er den restlichen Nachmittag, bis es wieder an der Zeit war, zu „Birds Paradise“ zu fahren.

Auf dem Parkplatz herrschte immer noch reges Treiben und wieder durfte er seine drei Euro, diesmal jedoch für nur eine Stunde entrichten. Er stieg aus und sah sich den Sonnenuntergang an.

Wie weit würde er Goran einweihen müssen?

Durfte er ihm von Heinz erzählen?

Von Schwarzenbeck?

Stefan entschied für all diese Fragen später Antworten zu finden. Der Platz vor seiner Beifahrertür war nach einiger Zeit des Wartens mit Zigarettenkippen dekoriert. Derer zählte er fünf Stück, die er vom schlechten Gewissen geplagt alle wieder einsammelte und in einen der vielen Papierkörbe neben der Ausfahrt brachte.

Es war inzwischen 19.05 Uhr als Goran herannahte. Zielstrebig steuerte er auf das Auto zu. Jetzt musste Stefan laut lachen. Selbstverständlich benötigte Goran keine seiner besonderen Fähigkeiten, um das richtige Auto zu finden. Es war inzwischen das einzige, das noch auf dem Besucherparkplatz stand.

Nach einem kurzen „Hallo“ stiegen beide ein und Goran bat Stefan noch kurz bei seinem Zuhause vorbei zu fahren. Schließlich hätten sie bestimmt einiges zu besprechen, und Gorans Mutter würde ihn um 19.40 Uhr zu Hause mit dem Abendessen erwarten.

Während der Fahrt sprachen sie nicht ein einziges Wort. Stefan lutschte ein Bonbon und Goran kaute auf einem Kaugummi herum.

Am Haus seiner Eltern hielten sie an. Goran stieg aus und tauchte bereits 10 Minuten später im Schein einer Straßenlaterne wieder auf.

Wo fahren wir hin?“, fragte er.

Stefan entschied sich für sein Hotel, weil ihm kein besserer Ort einfiel, um fernab von fremden Augen und Ohren das zu besprechen, was zu besprechen war.

Sie aßen eine Kleinigkeit im Hotelrestaurant und dann gingen sie ins Zimmer.

Inzwischen hatte Stefan beschlossen die Karten offenzulegen. Er holte seine kompletten Unterlagen aus dem Versteck des Koffers und erzählte die ganze Geschichte.

Er sprach von Heinz und von Schwarzenbeck, der bereits damals versuchte Heinz zu töten. Von Domenico – Diarium und auch von Libri Cogitati, welches anscheinend inzwischen in die Hände von Schwarzenbeck gefallen war.

Goran sagte während der Ausführungen nicht ein einziges Wort. Er hörte Stefan aufmerksam zu. Zwischendurch betrachtete er Stefans Aufzeichnungen und auch die, die Heinz im Laufe eines langen Lebens zusammengetragen hatte.

Stefan versuchte möglichst nichts auszulassen. Seine Suche nach Henry und Maria in Mexiko wie auch die Tatsache, dass man ihm bereits auf die Spur gekommen war, gehörten genauso dazu wie die Gefahr, in die sie sich beide begeben würden, wenn sie gemeinsam versuchten, diesem Wahnsinn ein Ende zu bereiten.

Das ist die ganze Geschichte“, beendete Stefan seine Ausführungen.

Wenn ich dich heute bitte mir zu helfen, dann kann und darf es keine Geheimnisse zwischen uns geben. Wir wären in diesem Falle völlig auf uns allein gestellt und gegenseitiges Vertrauen gehört für mich einfach dazu.“

Stefan holte die letzte Zigarette aus seiner Schachtel und zündete sie an.

Goran hatte ihn die ganze Zeit reden lassen, ohne ihn zu unterbrechen. Stefan sah ihn an und erwartete nun eine erste Reaktion.

Ich wusste, dass eines Tages etwas passieren würde“, fing Goran zu erzählen an.

Die ältere Dame, die ihr damals Maria nanntet, wusste, dass eines Tages etwas Furchtbares geschehen würde und ich etwas damit zu tun haben würde.“

Stefan schluckte kurz.

Wann hast du mit Maria gesprochen?“

Es war an dem Tag, an dem die zweite Dame und Sie …“

Stefan unterbrach ihn.

Wenn wir so etwas wie Verbündete werden, dann sage bitte nicht ›Sie‹ zu mir, nenn mich ruhig beim Vornamen.“

O. k.“, sagte er „Als also die zweite Dame und du damals in dieses Kloster gefahren seid, da rief sie bei mir zu Hause an. Ich ging also zu ihr ins Hotel und sie erklärte mir, dass irgendjemand vielleicht eines Tages meine Hilfe bräuchte. Ich sollte mir dann denjenigen genau ansehen und feststellen, ob seine Absichten gut wären. Sie sagte auch, dass ich mich dann bei meiner Entscheidung auf mein Gefühl und auf meine Gabe verlassen müsste.

Die alte Dame hatte auch Fähigkeiten wie ich. Sie sagte, dass sie selbst vielleicht eines Tages nicht mehr in der Lage sein würde, demjenigen zu helfen. Nun! Ich glaube, dass heute der Tag gekommen ist, den sie bereits damals vorhergesehen hat.

Und wir beide wissen, dass es für mich nur eine Antwort auf deine Bitte geben kann. Ich denke, ich bin es dir und auch den Kindern schuldig, die ich eines Tages vielleicht haben werde.

Auf jeden Fall aber der alten Dame. Dem einzigen Menschen mit ähnlichen Fähigkeiten wie die meinen, den ich jemals kennenlernte.“

 

Goran beschloss seine Eltern bereits am nächsten Morgen zu informieren. Sie wussten genauso wie er, dass es eines Tages dazu kommen würde.

Er hatte ihnen bereits vor einiger Zeit von seinem Gespräch mit Maria erzählt und seitdem hatten sie genügend Zeit sich darauf vorzubereiten. Sie selbst hatten keinerlei Erinnerungen an dem damaligen Besuch aus Berlin. Aber das verwunderte Stefan nicht sonderlich.

 

Albert Einstein selbst war es, der die Zeit als eine Variable theoretisierte.

Unser erlerntes Denken ging im Allgemeinen davon aus, dass es sich bei der Zeit um eine Konstante handelte. Demnach wäre die Zeit vergleichbar mit einer Strecke, die man auf einem Lineal genau abmessen konnte. Doch laut Einstein verhielt sich die Zeit nicht immer gleich.

Nehmen wir einmal an, wir starteten heute mit einer Geschwindigkeit, die schneller als das Licht war ins All. Wir waren dort zum Beispiel acht Jahre unterwegs, um uns von der Erde zu entfernen, und acht weitere Jahre benötigten wir für den Rückweg.

Gingen wir davon aus, dass wir die Zeit mithilfe moderner Zeitbestimmung, die wir mit uns führten, genau aufgezeichnet hätten. Demzufolge wären wir im Verlauf unserer Reise um 16 Jahre gealtert. Für uns, die wir uns in dieser Zeit im All befänden, klare und deutliche Fakten.

Laut Albert Einstein wären auf der Erde, je nach genauer Reisegeschwindigkeit, inzwischen wahrscheinlich über zwanzig Jahre vergangen. Wir hätten also automatisch eine Zeitreise unternommen.

Jeder von uns kannte das Gefühl des unterschiedlichen Zeitempfindens. Je nach Situation kamen uns fünf Minuten heute wie eine Ewigkeit vor und morgen vergehen sie anscheinend während eines einzigen Wimpernschlags.

Wie gesagt, Zeit war eben relativ.

Warum hatte Goran Erinnerungen, die seine Eltern nicht mit ihm teilen konnten.

Wo waren sie während dieser Zeit?

Zweifellos müssten sie existiert haben. Genauso wie Maria, Frau Kerner, er selbst und auch der Rest der Menschheit.

Wenn also unsere Physik bereits in der Lage war, unterschiedliche Zeitabläufe zu erklären, dann müssten unsere Gedanken, als Grundstein des Seins, erst recht dazu befähigt sein, sie für uns zu kreieren.

Fest stand, dass sowohl Goran wie auch Stefan Erinnerungen an die Geschehnisse von damals hatte und seine Eltern diese nicht mit ihnen teilten.

Doch wer hatte sie noch?

Wer außer Stefan und Goran wusste noch, was damals geschehen war.

Auch Heinz sprach über die Macht der Gedanken. Er war genauso wie Stefan davon überzeugt, dass unser ganzes Leben aus Gedanken entstanden war.

Heinz hatte ihm gegenüber jedoch einiges voraus. Er hatte Domenico – Diarium gelesen. Er hatte das Wissen über die Erkenntnisse, die man damals im Kloster auf Sizilien gesammelt hatte. All die Jahre über war er der einzige Mensch auf Erden, der mehr über unsere Welt und unserer Existenz wusste als jeder andere.

Stefan hatte oft in die ängstlichen Augen dieses Mannes geblickt, wenn er von der Gefahr erzählte, die von diesem Wissen ausging. Einer Gefahr, die um jeden Preis gebannt werden musste.

Und ausgerechnet er musste sich nun durch Heinz berufen fühlen diese ›Kleinigkeit‹ für die Menschheit zu erledigen. Und das alles nur, weil er damals zu Beginn der ersten Geschichte wieder einmal seine große Klappe nicht halten konnte. Hätte er sich damals anders verhalten, so wäre es nie zu dem Gespräch mit dem Mann gekommen, der ihn damals in das Geheimprojekt eingeführt hatte.

Nun saß er in einem fremden Land und schmiedete Pläne, um einem Menschen das Handwerk zu legen, den er nicht einmal richtig kannte und einschätzen konnte.

Mit Goran an seiner Seite fühlte er sich auf jeden Fall etwas wohler.

Das Telefon in seinem Hotelzimmer klingelte bereits um 9.00 Uhr und riss ihn aus einem tiefen Schlaf. Wie gehabt verzichtete er auf die Benutzung seines Handys und Goran hatte sich die Rufnummer des Hoteltelefons notiert, kurz bevor er am Vorabend das Zimmer verließ. Da er der Einzige war, der die Nummer hatte, begrüßte ihn Stefan sofort namentlich.

Goran bat Stefan zu ihm nach Hause zu kommen, weil seine Eltern ihn unbedingt kennenlernen wollten. Er hatte den Rest der letzten Nacht anscheinend damit zugebracht, sie auf die gemeinsame Abreise vorzubereiten.

Stefan zog sich schnell an, griff den Koffer mit dem Geheimfach und traf bereits um 9.30 Uhr bei Familie Mirowslav ein.

Gorans Mutter saß auf einem schlecht gestrichenen Holzstuhl und weinte unentwegt, während sein Vater den Fremden Besucher eingehend musterte. Entgegen seiner Frau stand er immer im Berufsleben in einem Land, in dem es vor deutschen Touristen nur so wimmelte und deshalb verstand er jedes Wort, das Stefan sprach.

Er hatte bereits am frühen Morgen bei Gorans Arbeitsstelle angerufen und seinen Sohn krankgemeldet. Die Mutter hatte währenddessen zwei alte braune Reisetaschen für ihren Sohn gepackt und starrte diese nun unentwegt an.

Noch immer weinte sie. Goran nahm sie in den Arm und sprach ein paar beruhigende Worte, die ihre Wirkung nicht verfehlten. Dann stand sie von ihrem alten Holzstuhl auf und schloss ihren Sohn noch einmal in die Arme, bevor sie ihn ziehen ließ.

Auch der Vater drückte und küsste seinen Sohn zum Abschied auf die Stirn. Auch er hatte Tränen in den Augen, die er jedoch vor seiner Frau verbarg.

Dann galt es Abschied zu nehmen, und Stefan und Goran machten sich auf den Weg.

Ihr Ziel hieß diesmal Berlin.

 

Werner Kemmner war mit sich selbst eigentlich ganz zufrieden. Inzwischen waren alle Teams platziert. Fünf von ihnen erreichten den Einsatzort innerhalb von sechs Stunden und vier schafften es innerhalb von zwölf Stunden. Selbst Nummer 10 erreichte das Ziel noch im gesetzten Zeitfenster. Dass zwei der Mitarbeiter ihre Observation erst 12 Stunden später beginnen konnten, lag nicht an Werner oder den beiden Leuten, sondern vielmehr an der Tatsache, dass selbst Schwarzenbeck ihnen nur die Stadt, und nicht die genaue Adresse nennen konnte.

Die damals beteiligten Personen wussten die Adresse entweder nicht, weil sie keine Erinnerung an die Begegnung hatten, oder sie wollten sie nicht preisgeben. Letzteres vermutete Schwarzenbeck bei Maria, von der er inzwischen wusste, dass es ihr an Loyalität ihm gegenüber mangelte. Erst als Schwarzenbeck noch einmal Stefans Buch zur Hand nahm, konnte er Gorans Adresse ausfindig machen. Sofort schickte Werner seine Leute zum Haus der Familie Mirowslav, wo sie sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite postierten.

 

Während der Fahrt nach Deutschland erfuhr Stefan einiges über seinen jungen Reisebegleiter. Goran wirkte auf ihn immer noch besonders jung, hatte allerdings einen deutlichen Bartwuchs, der im scharfen Kontrast zu den ansonsten eher weichen Gesichtszügen stand.

Stefans Schätzungen Gorans Alter betreffend stellten sich jedoch sehr schnell als völlig unzutreffend heraus. Goran hatte bereits ein halbes Jahr zuvor seinen 18. Geburtstag im Kreise seiner Familie gefeiert. Seine Freunde und vor allem die Kollegen aus „Birds Paradise“ hofften damals zwar auf eine große Party, aber die lehnte das Geburtstagskind ab.

Genauso wie Stefan ihm am Abend im Hotel seine Geschichte erzählte, vertraute auch Goran ihm etwas an, was bis dahin nicht einmal seine Eltern wussten.

Auf Partys trinken die Leute alle Alkohol und jeder hätte mit mir auf mein Wohl anstoßen wollen“, erklärte er seine Entscheidung diesbezüglich und fing sofort zu erzählen an, warum er sich davor fürchtete.

Ich habe oft erlebt, dass sich Menschen, die Alkohol trinken, anders benehmen, als sie es sonst tun. Man sagt, dass sie dann weniger Hemmungen haben. Und da ich diese besondere Gabe habe, fürchte ich, dass ich, wenn dieser Effekt bei mir einsetzt, Dinge tun würde, die ich auf keinen Fall tun dürfte.

Ich muss mehr als andere Menschen darauf achten, dass ich die Kontrolle über meine Gedanken behalte.

Es ist mir zwar bisher nur ein einziges Mal passiert, dass ich meine Fähigkeiten aus Wut über einen Menschen gegen ihn benutzt habe. Aber das war bereits einmal zu viel.

Ich habe mich damals meinen Emotionen hingegeben und dies hatte furchtbare Folgen.

So etwas darf in dieser Form nie wieder geschehen.“

Er holte noch einmal tief Luft, schloss seine Augen und durchlebte diesen Augenblick in Stefans Beisein offensichtlich noch einmal.

Meine Ausflugsgruppe hatte an dem Tag gerade das große Vogelhaus erreicht. Wir mussten einen Moment draußen warten, weil der Eingang genauso wie der Ausgang durch eine Sicherheitsschleuse führt, die verhindern soll, dass unsere gefiederten Freunde ins Freie gelangen.

Auch wenn die meisten von ihnen wegen des Artenschutzes in Käfigen gehalten werden, so gibt es doch ein paar, die im Vogelhaus frei herumfliegen.

Eine Kollegin von mir ist sowohl für die Eingangs- wie auch für die Ausgangsschleuse verantwortlich, weshalb es hin und wieder zu kurzen Wartezeiten kommt. Erst wenn absolut sichergestellt ist, dass sich in den Schleusenbereichen keine Tiere befinden, wird die jeweilige Tür elektronisch geöffnet.

Hin und wieder gibt es ein paar ungeduldige Besucher, die aber letztendlich Verständnis für diese Sicherheitsmaßnahme aufbringen.

An diesem Tag hatte ich einen besonders uneinsichtigen Menschen in meiner Gruppe. Der Mann, um den es ging, war anscheinend angetrunken und pöbelte jeden Anwesenden an. Egal ob es sich um einen Mitarbeiter oder um einen anderen Besucher handelte.

Seine Frau versuchte mehrmals vergeblich ihn zu besänftigen, was ihn jedoch nur noch mehr erregte. Vor Wut darüber trat er einen Papierkorb um, dessen Inhalt seine Frau im Anschluss wieder einsammelte und sich bei allen anderen für ihren Mann entschuldigte.

Im großen Vogelhaus angekommen, spielte er dann am Verschluss eines Käfigs mit einem besonderen Exemplar aus der Gattung der asiatischen Sittiche herum und öffnete das Gehege. Sofort flog der Vogel heraus und setzte sich auf das Rohrnetz der Sprinkleranlage.

Der Tierpfleger musste alle Ein- und Ausgänge besonders sichern, bis er und ein paar seiner Kollegen das Tier wieder eingefangen hatten. Das Vogelhaus wurde für über eine Stunde geschlossen und wir alle saßen in ihm fest.

Ein paar Kinder fingen an zu weinen, sodass ihre Mütter große Schwierigkeiten hatten, sie zu beruhigen.

Draußen warteten bereits vier andere Tourguides mit ihren Gruppen, die in zunehmendem Maße ungeduldig wurden.

Der Mann, der dafür verantwortlich war, fand die Situation besonders komisch und lachte aus vollem Hals. Es war dieses Lachen, das mich damals wütend machte. Alle redeten auf ihn ein. Viele beschimpften ihn sogar.

Ich stand etwas abseits und versuchte meine Emotionen im Griff zu behalten. Als er mich sah, lachte er noch lauter und zeigte mit dem Finger auf mich.

In dem Moment konnte ich mich nicht mehr beherrschen.

Ich sah ihm einfach nur in seine Augen und ließ ihn wissen, dass er endlich ruhig sein sollte. Nur dieser Wunsch, dass er endlich aufhören möge, war es, der mein Handeln bestimmte.

Plötzlich passierte etwas Merkwürdiges.

Der Mann begann zu weinen und nach Luft zu ringen. Er wollte immer wieder etwas sagen, brachte aber keinen Laut hervor. Einer der Tierpfleger stürzte sofort zum Telefon und alarmierte eine Ambulanz, die den Mann dann ins Krankenhaus brachte.

Dort stellten die Ärzte fest, dass die Stimmbänder des Mannes irreparabel geschädigt waren. Der Mann hatte seine Stimme verloren und wird nie mehr einen anderen Menschen auslachen.

Auch wenn ich versuchte mir etwas anderes einzureden, wusste ich, bei wem die Schuld an diesem Zustand zu suchen war.

Ich war derjenige, der dies bewirkt hatte.

Ich wusste es in dem Augenblick, als ich es tat. Doch es war mir einfach nicht möglich meine Emotionen zu steuern.

Nach diesem Vorfall habe ich beschlossen niemals Alkohol zu trinken und arbeite seitdem daran, dass so etwas nie mehr geschieht.

Ich möchte nie mehr die Kontrolle über meine Gedanken und vor allem über meine Emotionen verlieren.“

Die Fahrt nach Berlin dauerte durch die notwendigen Unterbrechungen zum Tanken und Rasten 19 Stunden, in denen Goran meist in Stefans Buch las, während dieser fuhr.

Beim Gespräch am Vorabend im Hotel konnte ihm Stefan schließlich nur eine Kurzfassung der Ereignisse bieten, und nun sollte er die ganze Geschichte aus dessen Sicht erfahren. Er fand es kurzfristig belustigend sich selbst in der Erzählung wiederzufinden, hatte aber ansonsten den Ernst der Lage sehr wohl verstanden.

Den Mietwagen aus Wien kannte man in Berlin nicht und so konnten sie hoffen, niemandem über den Weg zu laufen bzw. zu fahren, der Stefan erkennen könnte.

Zu seiner Wohnung konnte Stefan nicht fahren, denn sein Name sowie auch die dazugehörige Adresse waren seinen Widersachern mit Gewissheit bekannt.

Über seine Freundschaft zu Klaus hatte er ausführlich in seinem Buch berichtet, sodass er sich entschied, auch ihn zu meiden. Stefan ging von der Annahme aus, dass inzwischen jemand aus Schwarzenbecks Gruppe sein Buch gelesen hatte.

Die einzige Adresse, die ihm einfiel und wo er auf Hilfe hoffen konnte, war die von Ralf Malevsky. Also entschied er sich, seinem alten Freund an diesem Abend einen Besuch abzustatten.

Die Benutzung seines Handys empfand er immer noch als ein erhöhtes Risiko, weshalb er sein Kommen auch nicht vorher ankündigte. Direkt und ohne Umwege fuhr er zu Ralf nach Hause. Auf der Straße vergewisserte er sich noch einmal kurz, niemandem über den Weg zu laufen, den er kannte.

Schließlich machte er sich zusammen mit Goran im Schutz der Dunkelheit zu Ralfs Haus auf und klingelte, nachdem er zwei Etagen hinter sich gelassen hatte, an Ralfs Tür.

Stefans unverhoffter Besuch überraschte Ralf offensichtlich.

Er stand in einem blau-weiß gestreiften Frottierbademantel, bei dem es sich offensichtlich um ein Erbstück handelte, sowie ein paar ausgetretenen Strandbadelatschen in der Tür. Auch sein Feinrippunterhemd sowie die alten Boxershorts konnten nicht verbergen, dass sie die Blütezeit ihres Daseins längst hinter sich hatten.

Oh, so schnell hatte ich eigentlich nicht mit dir gerechnet, aber kommt ruhig rein.“

Die Überraschung war ihm tatsächlich ins Gesicht geschrieben, und auch dass er einen Moment brauchte, um die Situation zu erfassen.

Schließlich hatte ihn Stefan bis zu jenem Tag erst ein einziges Mal zu Hause besucht, um sich seinerzeit Ralfs Computeranlage anzusehen.

Ralf hatte sich seit dem letzten Treffen vor ein paar Jahren deutlich verändert.

Damals trug er eine gut gestylte Frisur mit einem angedeuteten Mittelscheitel und war stets frisch rasiert. Marken-Jeans und Lacoste-Hemd waren zu jener Zeit ein gesellschaftliches Muss für ihn.

Inzwischen waren seine Haare jedoch wesentlich länger und machten einen eher ungepflegten Eindruck. Auch die kleine rahmenlose Brille sowie der Dreitagebart waren neu.

Er erweckte so den Eindruck eines Trinkers, der erst wenige Wochen zuvor von Frau und Kind verlassen wurde. Dass beides mit Gewissheit nicht zutraf, wusste Stefan jedoch besser, da sie noch ab und zu telefonierten.

Ralf war schon immer der geborene Junggeselle. Auch wenn er sich bei mehr als einer Gelegenheit als besonders kinderlieb erwies, kamen eigene Kinder sowie eine feste Partnerin für ihn nicht infrage. Sein Leben gehörte dem Beruf und der Elektronik. Den Bits und den Bytes.

Stefan und Goran folgten ihm ins Wohnzimmer, wo er rasch etwas Ordnung herstellte, indem er einige Papiere von Fußboden und Sitzmöbel entfernte, um sie fein säuberlich auf dem etwas abseitsstehenden Esstisch zu stapeln.

Ralf war wohl der einzige Mensch, der noch einen Computerdrucker für Endlospapier besaß.

Als Programmierer war dies für ihn sehr wichtig, weil er so in der Lage war, seine Programmcodes durchzublättern, ohne jedes Blatt Papier einzeln in die Hand nehmen zu müssen. Er war, wie er erzählte, eigentlich gerade damit beschäftigt, sich eine eigene Firewall zu programmieren, erklärte sich aber sofort bereit diese Arbeit zu unterbrechen, um sich mit seinen Gästen zu unterhalten.

Stefan machte ihn mit Goran bekannt, und da Ralf nicht wusste, in welcher Beziehung Stefan zu seinem kroatischen Begleiter stand, verzichtete er taktvoll darauf, das Thema mit der Telefonverbindung, die er zwei Tage zuvor kreiert hatte, anzuschneiden.

Stefans Bitte, ein paar Tage bei ihm unterzutauchen, empfand er als willkommene Abwechslung, auch wenn er am nächsten Tag wieder arbeiten gehen musste.

Nach einem Grund für dieses Anliegen fragte er nicht, wofür ihm Stefan insgeheim auch sehr dankbar war. Nach einem kurzen Small Talk sowie der Frage, ob er ihnen etwas zu trinken anbieten könnte, führte er Stefan und Goran durch seine Wohnung.

In seinem Arbeitszimmer standen inzwischen fünf verschiedene Computer, die alle unterschiedliche Aufgaben zu erfüllen hatten. Stolz präsentierte er sie.

Goran hatte eine solche Anlage noch nie real gesehen und war völlig fasziniert von dem, was Ralf ihnen an dem Abend zeigte. Auch Stefan muss gestehen, dass ihm ähnliche Ansammlungen an Elektronik bis zu diesem Zeitpunkt sonst nur in Spezialgeschäften begegnet waren.

Seit seinem letzten Besuch vor einigen Jahren hatte sich in diesem Bereich einiges getan. Auf einer Arbeitsplatte standen ein paar Geräte sowie offene Platinen, an deren Entwicklung Ralf immer wieder zwischendurch arbeitete.

Die Rechner waren zwar alle miteinander vernetzt, konnten aber völlig eigenständig betrieben werden.

Einer von ihnen hatte zum Beispiel ausschließlich die Aufgabe europäische Pay-TV-Programme zu entschlüsseln. Eine spezielle Elektronikbox sandte die so empfangenen Filme ins Wohnzimmer auf einen gigantischen Plasmabildschirm. Der größte deutsche Pay-TV-Anbieter hatte zwar vor einiger Zeit ein neues Verschlüsselungsverfahren entwickelt, aber auch dies konnte Ralf nur begrenzte Zeit davon abhalten diese Sender zu nutzen.

Zwei weitere Computer waren Tag und Nacht damit beschäftigt Spielfilme aus dem Internet herunterzuladen, noch bevor die dazugehörigen Kinopremieren erfolgten.

Laut Ralf war es ihm gelungen auch dafür einen Schutzmechanismus zu entwickeln, sodass er von dem Vorwurf der unerlaubten Aneignung von Raubkopien verschont blieb.

Die zwei letzten im Raum dienten für Programmentwicklungen oder einfach nur zur Freizeitgestaltung, wie zum Beispiel Onlinespiele.

Ralf bot Goran an etwas am Rechner zu spielen, was dieser jedoch ehrfürchtig ablehnte.

Ralf kannte sich in Sachen Technik wirklich so gut aus, dass Schwarzenbeck seine wahre Freude an ihn gehabt hätte.

Sicherlich hatte Schwarzenbeck zur gleichen Zeit wieder die besten verfügbaren Computerexperten um sich geschart, um erneut eine virtuelle Welt zu erschaffen. Im Anschluss daran würde man diese Welt analysieren, um die so erworbenen Erkenntnisse mit ihren Verknüpfungen auf unser Leben übertragen zu können.

Schließlich hatte man es damals im Keller unter dem Potsdamer Platz schon einmal fast geschafft.

Das zu verhindern war Stefan auch diesmal losgezogen und hatte inzwischen sogar seinen eigenen Telepaten zur Seite.

Ralf bewies sich als loyaler Freund, der keine unnötigen Fragen stellte. Nur einmal, als er Stefan die Hand auf die Schulter legte, konnte man erkennen, dass er versuchte, mit ihm mitzufühlen. Egal, in welcher Lage sich Stefan gerade befand.

Nach der Besichtigung von Ralfs Heiligtümern gingen sie wieder zurück ins Wohnzimmer, wo ihre vollen Gläser auf sie warteten.

Ralf und Stefan sprachen noch lange über alte Zeiten und Goran hörte ihnen mit großen glänzenden Augen zu. Die beiden Älteren sinnierten über die Anfänge der EDV und ihre ersten persönlichen Berührungen damit.

So hatten Ralf und Stefan zum Beispiel damals eine sogenannte Zehnertastatur für einen Commodore 64 hergestellt. Nachdem Stefan seinerzeit die Tastatur einer ausrangierten Registrierkasse in ein eigens von ihm angefertigtes Holzgehäuse eingebettet hatte, war es Ralfs Aufgabe diese mit dem eigentlichen Computer zu verbinden.

Als wahrer Experte ließ es sich Ralf nicht nehmen, dafür eine 36-polige NATO-Steckerverbindung zu benutzen, von der er versprach, dass diese selbst noch 12 Meter unter Wasser ihre Aufgabe erfüllen wurde.

Trotz dieses Versprechens hatte Stefan jedoch vorsichtshalber darauf verzichtet, diesen seinen ersten Heimcomputer mit in die Badewanne zu nehmen.

 

Ralf war zwar elf Jahre jünger als Stefan, hatte aber in seinem Leben wesentlich mehr über Computer gelernt, als dieser jemals erlernen würde.

Während sich Stefans Programmierkenntnisse auf ein paar einfache Basicdialekte beschränkten, die er sich selbst aus Büchern beibrachte, erlernte Ralf Programmiersprachen, deren Namen sein Freund zuvor nicht einmal gehört hatte.

Nach seiner Ausbildung als Hochfrequenztechniker stürzte sich Ralf geradezu ins Thema Computer. Er besuchte diverse Abendlehrgänge an verschiedenen Hochschulen, die er alle ausnahmslos als Bester seiner Gruppe abschloss. Während andere junge Leute ihre Abende in Diskotheken verbrachten, widmete sich Ralf ausschließlich den Hobbys Computer und Elektronik.

Die beiden plauderten über verschiedene Spiele, die sie früher teilweise bis spät in die Nacht hinein online spielten, und der Tatsache, dass Stefan Ralf nie lange Paroli bieten konnte.

Inzwischen arbeitete sein ehemaliger Spielgefährte in einer Firma, die sich mit der Entwicklung einer speziellen Software für die innerdeutsche Flugsicherheit einen Namen gemacht hatte und dafür sogar einen wissenschaftlichen Preis erhalten hatte. Ralf war an diesem Projekt seinerzeit maßgeblich beteiligt.

Da sein zweites Interessengebiet jedoch immer noch die Elektronik war, kreierte er nebenher die verschiedensten Hilfsmittel für die Wachschutzfirma seines Bruders.

Angefangen bei computergestützten vollautomatischen Überwaschungs-Systemen bis hin zur mobilen Überfallmeldeanlage hatte Ralf seinen Bruder im Laufe der letzten Jahre schon mit den exotischsten Innovationen versorgt.

Später am Abend bestellten sie sich telefonisch etwas zu Essen ins Haus. Ralf und Stefan tranken dazu zwei Whiskey, während Goran mit einer Coke vorlieb nahm.

Gegen 1.30 Uhr verabschiedete sich der Gastgeber, weil er am nächsten Tag früh aufstehen musste, und ging in sein Schlafzimmer.

Goran und Stefan wurden mit ein paar Decken und dem Hinweis, sich wie zu Hause fühlen zu können, zurückgelassen. Als Schlafgelegenheit dienten die zwei Flügel einer Eckcouch im Wohnzimmer, auf denen sie die folgende Nacht verbrachten.

Als Stefan und Goran am nächsten Morgen wieder erwachten, war Ralf bereits zu seiner Arbeitsstelle aufgebrochen. Anders als Stefan besaß er nie eine Fahrerlaubnis und war somit auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen.

Immer wenn man ihn danach fragte, warum er nie einen Führerschein gemacht hatte, antwortete er ‚keine Zeit‘.

In der kleinen Küche standen eine Thermoskanne mit heißem Kaffee und zwei Tassen bereit. Ein Zettel, den Ralf auf dem Küchentisch hinterlassen hatte, wies auf den spärlichen Inhalt seines Kühlschrankes hin, über den sie frei verfügen könnten. Abends wollte er ihn auffüllen, weshalb er sich nach der Arbeit etwas verspäten würde.

Ferner lag auf einem der beiden Plätze am Frühstückstisch ein dickerer Briefumschlag, der an Stefan adressiert war. Stefan nahm ihn vom Tisch und öffnete ihn. Neben einem Handy fand er einen Brief mit folgendem Text:

Sicherlich wirst du dich gestern Abend gewundert haben, dass ich bestimmte Fragen nicht gestellt habe. Ich tat es aus zwei Gründen nicht. Zum einen weiß ich nicht, was dein junger Begleiter mit diesen Dingen zu tun hat, und zum anderen ist es wahrscheinlich ganz gut, wenn ich deine momentane Situation nicht zu gut kenne.

So muss ich wenigstens nicht lügen, wenn mich eines Tages jemand danach fragt.

Die Tatsache, dass du ein paar Tage bei mir untertauchen willst, sowie die Telefonverbindung, die ich neulich für dich hergestellt habe, sagen mir, dass du irgendjemanden im Nacken hast und in Berlin nicht gesehen werden willst.

Du kannst gerne so lange bei mir wohnen, wie du für die Erledigung deiner Angelegenheit benötigst.

Nun zu dem Handy, das du zusammen mit diesem Brief gefunden hast. Ich dachte mir, dass du zurzeit dein eigenes Handy nicht benutzen möchtest. Deshalb stelle ich dir eine meiner neuesten technischen Spielereien zur Verfügung.

Bitte entferne die eingelegte Chipkarte nicht, denn sie ist eine Eigenentwicklung von mir. Ich habe mir erlaubt, diese Chipkarte so zu modifizieren, dass sie ihren Identitätscode zu jeder vollen Stunde nach einem vorgefertigten Muster selbstständig ändert. Die Rufnummernübertragung ist deaktiviert, sodass der Angerufene keine Möglichkeit hat, seinen Anrufer zu identifizieren.

Da der Code zu jeder vollen Stunde wechselt, ist es zwingend erforderlich, Gespräche nur innerhalb dieser Zeiten zu führen. Es ist jedoch nur ein einziges Gespräch zwischen zwei Intervallen möglich.

Das Telefon selbst kann nicht angerufen werden, da es keiner festen Telefonnummer zugeordnet ist. Bitte pass auf, dass du folgende Tastenkombinationen nicht versehentlich betätigst.

Es sind die Kombinationen * 8 # sowie * 5 #, die deinen Standort per GPS ermitteln und diese Daten an meinen Server senden.

Sobald dies geschieht, wird automatisch ein Alarm ausgelöst. Die Dringlichkeit des Alarms hängt von der jeweiligen Kombination ab. Benutzt du die * 5 #, handelt es sich um einen einfachen Notruf an die zuständige Polizei. Wenn du jedoch * 8 # drückst, dann handelt sich um einen Alarm, der direkt an die nächste Anti-Terroreinheit übermittelt wird.

Bei der ersten Kombination wird dieser Alarm an eine Wachschutzfirma in Berlin weitergeleitet.

Die zweite Kombination geht direkt an die nächste zuständige Spezialeinheit für Verbrechensbekämpfung, die inzwischen überall in Europa existieren und grenzüberschreitend zusammenarbeiten.

Ich dachte mir, dass du für dieses Telefon im Moment vielleicht Verwendung findest und es bei dieser Gelegenheit für mich testen könntest.

Und nun wünsche ich euch erstmal einen guten Appetit mit dem wenigen, was mein Kühlschrank zu bieten hat.

 

Gruß Ralf“

 

Stefan nahm das Telefon samt beigelegtem Ladekabel an sich.

Die Tatsache, dass dieses Telefon nicht zurückverfolgt werden konnte, nutzte Stefan, um die Telefonnummer von Rudi zu wählen. Es klingelte ein paar Mal und schon hörte er, dass jemand das Gespräch annahm.

Sofort fing Stefan zu sprechen an.

Hallo Rudi. Ich bin es, du musst mir unbedingt sagen, wo sich der ›Club‹ befindet. Hast du mich verstanden?“

Keine Antwort.

Rudi???“

Immer noch keine Reaktion.

Ein leises Murmeln verriet, dass sich am anderen Ende Menschen unterhielten. Gerade als Stefan das Gespräch wieder beenden wollte, fragte ihn plötzlich jemand in einem unverkennbaren Dialekt, woher er die Telefonnummer hätte, und ob er ein Freund des Verstorbenen sei.

Auch wenn Stefan Ralf und seiner Aussage über die Sicherheit des Handys vertraute, ließ er vorsichtshalber den Daumen seiner rechten Hand auf der Taste mit dem roten Telefonhörer liegen, als er fragte, woran Rudi verstorben war und mit wem er gerade spräche. Die Antwort überraschte Stefan seltsamerweise nicht besonders, als er erfuhr, dass sich ein Polizist am anderen Ende befand.

Der Mann, den Sie wollten sprechen, wurde heute Morgen von einem Lastauto überfahren. Wir wissen noch nicht, wer der Fahrer war. Wer sind Sie also?“

Wortlos beendete Stefan das Gespräch und sah stumm in die Luft. Wer dafür verantwortlich war, das konnte er sich nur zu gut vorstellen. Ausgerechnet der Mann, der ihm in Mexiko half, wurde das Opfer von genau dieser Hilfsbereitschaft ihm gegenüber.

Goran sah Stefan an, dass etwas nicht stimmte, fragte aber nicht sofort nach. Ein paar Augenblicke später, nach denen die Zeit in Mexiko noch einmal in Stefan auflebte, berichtete er Goran, was geschehen war, und dass sie von nun an völlig auf sich selbst gestellt wären.

Und dafür blieben ihnen nur die Hinweise, die ein alter Mann in vielen Jahren zusammengetragen hatte. Denen galt es zu folgen.

 

Also machten sie sich auf den Weg zur Dorfkirche in Tempelhof, von der Heinz glaubte, dass Schwarzenbeck etwas in ihr gefunden hatte, das ihn auf die Spur von ‚Libri Cogitati‘ brachte.