3. Kapitel
Stefan blickte bereits seit einigen Minuten auf ein Paar rote Lackschuhe, die am Nebentisch leicht auf und ab wippten. Sie gehörten einem weiblichen Wesen, das man nur als Traumfrau bezeichnen konnte. Etwa 30 Jahre alt, trug sie ihr tiefschwarzes Haar offen, so dass es ihre schmalen Schultern sanft umspielte. Die makellosen, gebräunten Beine verschwanden unter einem Sommerkleid, das ihren vollendet schönen Körper perfekt zur Geltung brachte.
Sie war den beiden bereits beim Betreten des Lokals aufgefallen und Klaus bedauerte genau wie Stefan, dass sie sich in Begleitung eines Mannes befand, dem sie seine bezaubernde Beute nur schwer würden abjagen können. Besagter Begleiter war einer dieser Managertypen, die vor Charme und Geld nur so trieften. Zwischen den beiden präsentierte sich eine einzelne rote Rose. Doch auch dieser Inbegriff der Schönheit konnte es an Grazie und Eleganz mit dieser Tischnachbarin nicht aufnehmen.
Es war wieder einmal Mittwoch, also der Tag in der Woche, an dem sich die beiden Freunde immer zum Essen in ihrem Stammlokal trafen. Klaus beschwerte sich wieder einmal über diese Managertypen, die sich aus dem Pool der Damenwelt die besten Stücke herausfischten, während für Menschen wie sie nur die zweite Wahl (zum Glück nicht immer tiefgefroren) übrig blieb.
An jenem Abend hasste Klaus ohnehin alles und jeden. Besonders aber Manager und Großkonzerne.
Der Konzern, dessen Produkte die beiden seit Jahren verkauften, hatte jedem seiner Handelsvertreter die Provisionsstaffelung für das kommende Jahr per Post zukommen lassen, und diese lag im Durchschnitt zwei Prozent unter den aktuellen Werten.
Anders als Klaus hatte Stefan seine Post des Tages noch nicht komplett durchgesehen, und infolgedessen wusste er bis zum Abend noch nichts davon. Schließlich hatte Heider ihm am Vormittag von Steinbergs wundersamer Genesung erzählt und ihn danach in die Residenz gebeten.
Nachdem er die beiden am späten Nachmittag verlassen hatte, fuhr er weder in seine Firma zurück noch nach Hause. Stattdessen setzte er sich ins Auto und erreichte nach wenigen Minuten Fahrzeit einen See, an dessen Ufer er die frische Herbstluft bis zum Sonnenuntergang genoss.
Danach musste er sich ziemlich beeilen, um rechtzeitig in seinem Stammlokal einzutreffen, wo Klaus schon ungeduldig auf ihn wartete.
Seine Blicke waren immer noch auf die roten Schuhe gerichtet und die Gedanken bei Steinberg, als er unwirsch aus seinem Tagtraum gerissen wurde.
„Hörst du mir überhaupt zu?“ Klaus hatte seinen ‚ich, Papa ? du böser Sohn’-Blick aufgesetzt und sah Stefan mit ernster Miene an.
Erst jetzt registrierte Stefan, dass er offensichtlich schon seit mindestens sieben Minuten nichts vom Geschehen um sich herum wahrgenommen hatte.
Vor ihm stand völlig unberührt ein Teller mit immer noch dampfenden Spaghetti Bolognese. Klaus’ Hälfte des Tisches hatte sich bereits in ein Schlachtfeld aus abgenagten Knochen sowie anderen Speiseresten verwandelt, welches an eine römische Fressorgie erinnerte. Wie immer benötigte er an diesem Tag sicherlich wieder nur sieben Minuten für seine unkonventionelle Nahrungsaufnahme.
Seit sie diesen Herrenabend eingeführt hatten, erlebte man immer das gleiche Ritual. Klaus nahm das ‚Reserviert’-Schild vom Tisch mit der Nummer 12 und stellte es auf dem Nebentisch ab. Dabei war es ihm völlig egal, ob sich bereits jemand dort niedergelassen hatte oder nicht.
Aufgrund seiner massigen Figur, in der sich 110 kg Lebendgewicht manifestierten, stieß er dabei selten auf Gegenwehr.
Dabei war Klaus ein herzensguter Mensch, der immer wieder in der Lage war, mit seinen kleinen Scherzen und seinem gewinnenden Lächeln, Menschen zu bezaubern.
Sobald er seinen, wie er es stets nannte, Adoniskörper hinter den Tisch geschoben hatte, begann im Allgemeinen die Prozedur der Bestellung. Oftmals begleitet von ein paar Anweisungen für den Küchenchef.
Als Franco, der Chef und gleichzeitig Ober des Restaurants, ihn einmal im Scherz aufforderte, sich sein Essen doch allein zuzubereiten, verschwand Klaus für mindestens 45 Minuten in der Küche.
Seit diesem Tag fand man auf der Speisekarte ‚Rinder-Filet mit Kirsch-Pfeffersoße nach Art des Klauses’. Jeder Gast, der sich über diesen Namen wunderte, bekam von Franco die kleine Geschichte über dessen Entstehung zu hören.
Diesmal begnügte sich Klaus jedoch mit einer 700-g-Schweinshaxe, weil er bereit mittags ein Häppchen gegessen hatte. Da saß er nun und sah seinen Freund und Berufskollegen strafend an.
Stefans Gedanken bahnten sich nur widerwillig den Weg zurück in die Realität, als Klaus fragte, was er denn von der ganzen Sache hielte.
„Welche Sache meinst du?“, fragte Stefan vorsichtig, fast schon schüchtern.
„Ich habe keine Lust jetzt noch einmal von vorn anzufangen“, entrüstete sich Klaus, unmittelbar, bevor er nach dem Ober rief, um zwei Verdauungsschnäpse zu bestellen.
Das Einzige, was Stefan zu verdauen hatte, waren die Ereignisse des Tages, und die spülte er bereitwillig mit einem Brandy herunter.
Klaus sinnierte noch lange über seine Anfänge als Handelsvertreter des Konzerns, und sein ehemaliger Schüler hörte wie immer mit wissbegierigem Blick zu. Schließlich arbeitete Klaus schon seit fast 25 Jahren mit dem Stammhaus des Konzerns zusammen und sollte demnächst dafür besonders geehrt werden. Auf dieses Ereignis würde Stefan noch 18 Jahre warten müssen. Allerdings wollte er sich dann bereits im Ruhestand irgendwo außerhalb Deutschlands befinden. Klaus sprach wieder einmal von den Provisionssätzen seiner Anfangszeit, die seinem Gesprächspartner jedes Mal neidisch die Tränen in die Augen trieben.
An diesem Abend tauschten sie jedoch zum ersten Mal die gewohnten Rollen. Diesmal trank Stefan mehr als sein Körper vertrug, und Klaus setzte ihn, wie Stefan erst am nächsten Morgen erfahren sollte, kurz nach Mitternacht stockbesoffen ins Taxi. Stefan konnte nur hoffen, dass er, anders als Klaus, den Taxifahrer nicht mit seinem falschen Gesang gequält hatte.
Irgendwo wurde ein Computer eingeschaltet.
Vor ihm saß ein einzelner Mann und freute sich über das, was er da las. Es war eine Zusammenfassung von Erkenntnissen, die andere Menschen in mühevoller Kleinarbeit zusammengetragen hatten.
Doch wer würde den Unterschied schon bemerken?
Er hatte hier und da den Text etwas verändert und druckte die letzten Seiten des Endprodukts aus. Bereits 10 Stunden später würde er vor einem breiten Publikum am Rednerpult stehen und eine bahnbrechende Rede halten, die ihm endlich die Anerkennung bescheren würde, um die er sein Leben lang betrogen worden war.
Noch einmal ging er alles Wort für Wort durch.
„Menschen werden normalerweise in eine bestimmte Gesellschaftsform hineingeboren, in der sie meist ihr Leben lang verweilen. Die Gläubigen, die Pessimisten, die Atheisten und vor allem die logisch Denkenden sind im Normalfall ein Produkt ihrer Umwelt sowie ihrer Erziehung und Erfahrungen.
Dabei gibt es zwei grundsätzliche Charaktere.
Wir unterscheiden zwischen einer westlichen sowie einer östlichen Denkweise.
Die erste, also die westlich denkende Gruppe, sah stets nach vorn und traf alle Entscheidungen nach logischen Aspekten. Sehr professionell und, wie gesagt, immer unter erklärbaren Gesichtspunkten.
Immer auf der Suche nach dem Neuen, was es zu erforschen oder zu entwickeln galt. Stets den Blick nach vorn gerichtet. Philosophische Gedanken passten nicht zu diesen Menschen, weshalb man sich auch nicht damit auseinandersetzte. Unter ihnen fand man die größten Entdecker und Wissenschaftler.
Die zweite Gruppe, also die mit der östlichen Denkweise, traf ihre Entscheidungen meistens aus dem Bauch heraus. Was sich gut anfühlte, das war auch gut, war dabei die Devise, nach der sie handelte. Die meisten Entscheidungen wurden oftmals auch entgegen der eigenen Vernunft rein gefühlsmäßig getroffen. Die größten Dichter und Philosophen entstammten dieser Gruppe.
Philosophische Gedanken zur Entstehungstheorie als logische Konsequenz waren Denkansätze, die nur sehr selten vorkamen.“
An dieser Stelle würde er eine kleine Pause einlegen, um den Kollegen auf den Zuhörerplätzen Gelegenheit zum Nachdenken zu geben.
Die nächste Frage, mit der er sich vor den größten Philosophen des Landes in Szene setzen wollte, wäre das Leben selbst. Das Sein und seine Entstehung.
„‚Das Leben ist, was unsere Gedanken daraus machen,’, sagte der römische Kaiser Marc Aurel einst.
Wusste er überhaupt, wie recht er damit hatte?
Alles, was wir erleben, entsteht aus unseren Gedanken. Anders als allgemein angenommen brauchen Gedanken keine der uns bekannten Energiequellen. Weder Materie noch Raum sind erforderlich, damit sie entstehen.
Sie sind quasi der Grundstein des Seins.
Dabei gibt es mindestens drei Ebenen, die relativ deutlich voneinander abgegrenzt sind.
Auf der untersten Ebene existiert all das, was wir bewusst erleben. All die Dinge, die unsere fünf Sinne erfassen können. Diese Ebene kennen wir als das Bewusstsein. Darin ist zum Beispiel ein Stein ein Stein und ein Vogel ein Vogel. Die meisten Menschen nehmen dies als gegeben hin und leben ausschließlich auf dieser Bewusstseinsebene. Sie versuchen es nicht näher zu verstehen und fügen sich bedingungslos den erlernten physikalischen Gesetzen.
Die zweite Ebene beherbergt das Unterbewusstsein. Unsere Träume und die Möglichkeit unser Bewusstsein zu lenken. Hier sind gewissermaßen die Spielregeln unseres Lebens zu Hause und es entstehen die Naturgesetze, die uns helfen, die Welt zu verstehen.
In der dritten Ebene wohnt so eine Art Überbewusstsein. Also die pure Gedankenkraft, welche die beiden anderen erst ermöglicht. Man könnte tatsächlich sagen: der Stoff, aus dem die Träume sind.
Wir leben alle in der untersten Ebene.
Das Unterbewusstsein, eine Stufe darüber, macht zwar die Spielregeln, lässt sich aber nicht in die Karten gucken.
Das heißt, normalerweise nicht. Denn hin und wieder gelingt es ein paar von uns Menschen mit ihr Verbindung aufzunehmen.
Telepathen zum Beispiel sind in der Lage, auf einem schmalen Pfad des Unterbewusstseins zu kommunizieren. So wie Henry und Maria, die als ›Los Telepanthers‹ mit ihren Fähigkeiten ihr Publikum über viele Jahre verblüfften.
Telekineten wie z. B. Uri Geller gelingt es sogar, einen ganz schmalen Schlitz durch die Unterbewusstseins-Ebene, bis hin zur dritten, der Überbewusstseinsebene, zu öffnen, wo sie Einfluss auf Materie nehmen können.
Zu unserem Glück sind die Fähigkeiten solcher Menschen immer nur auf einen kurzen Augenblick bzw. einen einzelnen Gedankenstrang begrenzt. Sie können also keine wirklich großen Schäden anrichten.“
Selbstzufrieden zog er das nächste Blatt Papier aus dem Drucker.
Eine komplette Abhandlung zu dem Thema, so war er sich sicher, würde niemand der Zuhörer in dieser Phase fordern, sodass ihm dafür noch mindestens ein paar Monate Zeit blieben.
Nachdem er das letzte Blatt ordentlich in seiner Aktentasche verstaut hatte, ging er zu Bett, wo er den baldigen Ruhm fast schon mit den Fingern greifen konnte.
Er musste nur dafür sorgen, dass keiner seiner Studenten vorzeitig Wind von der Sache bekam.
Steinbergs wundersame Genesung hielt immer noch an. Dr. Mangold spielte sogar mit dem Gedanken, den Fall Heinz Steinberg zu publizieren, was dieser jedoch hartnäckig ablehnte.
Tagelang versuchte er ihn davon zu überzeugen, dass die Welt von dieser plötzlichen Wandlung erfahren müsse.
Steinberg könne mit ihm zusammen in Fernsehsendungen auftreten. Die besten Ärzte der Welt würden die Veränderungen in seinem Organismus genau untersuchen. Vielleicht würde man sogar den Auslöser für bestimmte Krankheiten entdecken, um anderen Menschen frühzeitig helfen zu können.
Egal was Steinberg seinem Arzt entgegenhielt, und wie sehr er sich gegen diese Idee stellte, Dr. Mangold wollte die Sache einfach nicht auf sich beruhen lassen. Er wusste, dass er Steinbergs Zustimmung brauchte, und irgendwann würde der alte Mann, der seinem Arzt so viel zu verdanken hatte, einlenken.
Wieder einmal saß er in der privaten Wohneinheit Steinbergs, um seine Überredungskünste einzusetzen, als ein Klingeln aus seiner Kitteltasche ein Telefonat ankündigte. Dr. Mangold klappte sein Handy auf und führte es ans Ohr. Augenblicklich verblasste sein Gesicht. Das ganze Telefonat dauerte nur wenige Sekunden, in denen Dr. Mangold nicht ein einziges Wort sprach. Danach verließ er die Wohneinheit und sprach das Thema nie wieder an.
„Sie sprachen neulich davon, dass ich inzwischen bereit zum Lernen und Verstehen wäre. Was meinten Sie damit?“
Der alte Herr saß Stefan an diesem Tag in einem gemütlichen Sessel gegenüber und ließ die Frage einen Moment auf sich wirken. Stefan hatte nicht den Eindruck, dass er zu senil war, um sie zu verstehen, sondern vielmehr konnte er beobachten, wie Steinberg seine Worte mit Bedacht auswählte.
„Ich wusste, dass Sie mich das eines Tages fragen würden“, erwiderte er kurz. Dann forderte er Heider auf, sie (wieder einmal) allein zu lassen.
Abermals konnte Stefan die enttäuschten Blicke des Riesen ausmachen. Doch als alter loyaler Freund brachte Heider genügend Verständnis auf, um dem Wunsch des Alten zu entsprechen.
Sie saßen diesmal in einem gemütlich eingerichteten Zimmer in der Privatwohnung des kleinen Nebengebäudes. Hier gab es einen Fernseher sowie einen Videorekorder, mit dem Heider regelmäßig bestimmte ausgewählte Sendungen für Heinz aufzeichnete.
Ein Regal mit Büchern nahm eine halbe Wand ein, was den ganzen Raum zu einer Art Studierzimmer machte. Der Schreibtisch jedoch wirkte unbenutzt, weil Steinberg diesen Raum in der Vergangenheit nur selten hatte nutzen können. Der Tisch, auf dem Fernseher und Videorekorder standen, war fahrbar, sodass er jederzeit ans Krankenbett geschoben werden konnte.
Stefan saß auf einem Stuhl vor dem Schreibtisch, auf dem sein Gegenüber die Hände wie zum Gebet gefaltet hatte.
Den ursprünglichen Plan, nach draußen zu gehen und sich auf eine Bank zu setzen, hatte das Wetter in dem Augenblick vereitelt, als Heinz sich gerade mit Stock und Strickjacke bewaffnet hatte. Zurück ins Krankenzimmer wollte er nicht, weshalb Heider die Bibliothek, wie er den Raum nannte, herrichtete.
Es wurde Kaffee angeboten, den Stefan dankend annahm. Steinberg hatte ihm sogar einen Aschenbecher bringen lassen, obwohl Stefan sich anfangs kaum traute, Gebrauch davon zu machen. Draußen regnete es an diesem Tag immer wieder, sodass sie sich endgültig dafür entschieden, im Haus zu bleiben.
Seine Arbeit für diesen Tag hatte Stefan bereits um 12.30 Uhr erledigt. Also hatte er ausreichen Zeit zur Verfügung um die die Residenz zu fahren.
Zu viele Fragen, die ihn seit seinem letzten Besuch quälten, waren noch unbeantwortet. Und endlich sollte er einen kleinen Teil der Zusammenhänge verstehen, die seinem Gastgeber so viel bedeuteten und auch sein weiteres Leben bestimmen sollten. Einen kleinen Teil dessen, was einen halb toten alten Mann und seinen Besucher miteinander verband.
Neugierig folgte Stefan der Geschichte, die Steinberg zu erzählen hatte. Während er nah am geöffneten Fenster inzwischen eine Zigarette nach der anderen rauchte, wurde er mit Dingen konfrontiert, die alles, was er bis dahin erlebt und empfunden hatte, in ein völlig neues Licht tauchte.
Steinberg begann sehr feinfühlig, jedoch ohne den geringsten Zweifel an seinen Ausführungen aufkommen zu lassen.
„Ich wusste bereits bei unserer ersten Begegnung, dass es eines Tages dazu kommen würde. Ich sah es ihnen bereits damals an.“
Nach diesem Satz legte er eine kleine Pause ein, weil er genau wusste, welche Reaktion von Stefan ihn nun erwartete.
„Wir sind uns meines Wissens noch nie begegnet. Ich bin mir sicher, dass Sie mich mit jemandem verwechseln müssen.“
Stefans Herzschlag wurde in diesem Moment spürbar schneller. Es packte ihn eine innere Unruhe, als Steinberg nach einem Schluck heißen Kaffee von ihrer ersten Begegnung sprach. Stefan musste seine Tasse mit beiden Händen festhalten, um ihren Inhalt nicht. vor lauter Nervosität zu verschütten
„Selbstverständlich können Sie sich daran nicht mehr erinnern. Es war damals im Frühjahr 1959. Ich war zu dieser Zeit noch als Pfarrer an einer evangelischen Kirche tätig. An jenem Sonntag standen insgesamt drei Taufen an, was für die damalige Zeit nicht ungewöhnlich war. Du warst Nummer zwei.
Noch bevor mein mit Weihwasser benetzter Finger über deinen kleinen Kopf strich, spürte ich es bereits.
Ich sah einen Menschen, der zwar erst am Beginn seines Lebens stand, aber von dem ich genau wusste, dass ich ihn eines Tages wiedersehen würde.“
In dem Moment fiel Stefan die Kaffeetasse aus der Hand, und ihr restlicher Inhalt ergoss sich über seine Hose.
Steinberg fügte noch einige Details, wie den Namen der Kirche sowie die Vornamen von Stefans Eltern hinzu, um jeden Zweifel auszuräumen.
Stefans Atmung wurde schwerer. Er suchte mit seinen Augen verzweifelt nach etwas im Raum, auf das er sich konzentrieren könnte. Etwas, an dem er sich im Geiste festhalten konnte.
Dann sah er den Alten an, der ihn völlig entspannt anlächelte.
„Du siehst also, dass nichts auf dieser Welt ohne Grund geschieht.“
Fassungslos saß Stefan also dem Menschen gegenüber, der ihn vor nunmehr über 48 Jahren kirchlich getauft hatte.
Er versuchte, sich Steinberg im Gewand eines Pfarrers vorzustellen, doch es gelang ihm nicht. Er sah nur einen alten Mann, für den diese Begegnung mehr als nur ein Wiedersehen war. Die Tatsache, dass er ihn mit „Du“ ansprach, wurde durch das, was er sagte, zu einer absoluten Selbstverständlichkeit.
Diese Erkenntnis schnürte Stefan den Hals zu.
„Warum ich?“, fragte er stotternd.
Zärtlich drückte Steinberg über den Schreibtisch hinweg die Hand, die soeben die Tasse wieder abgestellt hatte, und erklärte ihm, dass eine Menge Arbeit vor ihnen läge.
„Wie haben Sie mich wiedergefunden?“, fragte Stefan zögernd.
Zwischen den einzelnen Worten rang er nach Luft.
„Es war dein Buch“, sagte Steinberg seelenruhig „Und bevor ich es vergesse: Mein Name ist Heinz und ich möchte, dass du mich beim Vornamen nennst. In meinem Alter legt man nicht mehr so viel Wert auf dumme Gesellschaftsregeln.“ Dann sprach er weiter.
„Deine Geschichte erzählt von einer Entstehungstheorie, für die bereits anerkannte Philosophen in der Vergangenheit häufig verspottet wurden. Du hast dich sicherlich an einem von ihnen orientiert, vermute ich.“ Wieder sah er seinen Gesprächspartner erwartungsvoll an.
Nun war Stefan an der Reihe eine kurze Erklärung zu formulieren.
„Ich muss leider passen, aber ich hatte vorher nie etwas von einem dieser Leute gelesen oder gehört. Zumindest nicht, bevor ich mein Buch geschrieben hatte. Im Nachhinein stieß ich jedoch immer häufiger auf Menschen, die sich bereits früher mit ähnlichen Vermutungen auseinandersetzten.
Für mich war es der nächste logische Schritt, nachdem ich mir unsere Physik, so weit sie sich für mich bis dahin erschlossen hatte, näher betrachtete.
Alles war so logisch, dass es schon wieder unlogisch erschien.
Warum geht z. B. unsere Weltanschauung immer nur so weit, wie wir sie verstehen wollen und auch können? Ich habe versucht, es so, wie ich es mir vorstelle, in meinem Buch zu erklären.
Die Logik und die sogenannten physikalischen Erkenntnisse verdrängen seit Anbeginn der Zeit immer wieder die kleinen und auch großen unerklärbaren Phänomene, die einst wesentlich häufiger auftraten als heute.
Unser technisches Verständnis lässt immer weniger Spielraum für so etwas.
Egal, ob es sich dabei um Telepathie oder Telekinese handelt, all diese Dinge werden von unseren Wissenschaftlern und Physikern entweder ignoriert, oder aber durch eine hübsch zubereitete Verkettung logischer Zusammenhänge einfach neu definiert.
Ich weiß, dass es schwer zu verstehen ist. Die berühmte Frage, ? was befindet sich außerhalb unserer Welt? ? war es, die mich nachdenken ließ.
Das Nichts kann es nicht geben.
Zumindest nicht laut unseren Wissenschaftlern. Da selbst diese hoch dotierten Experten einen solchen Umstand nicht länger unbeantwortet lassen konnten, arbeitet man inzwischen an der Theorie des gekrümmten Raums.
Ich könnte wetten, dass es nur einer Frage der Zeit ist, bis diese vage Theorie zum festen Bestandteil unserer Physik wird. Und genau damit würden diese Leute in meinen Augen das bestätigen, was ich schon lange vermute.
Demzufolge wären wir in der Lage unsere Welt selbst zu kreieren.
Dabei bereiten wir alles passend für unser Verständnis neu auf, womit wir wieder bei den verschiedenen Entstehungstheorien wären.
Ich fragte mich damals, was wäre, wenn nichts von alledem, was wir erleben, real ist?
Was wäre, wenn unsere komplette Welt, so wie wir sie kennen, sich selbst aus unseren eigenen Gedanken formt. Gedanken, deren Ursprung nicht in Raum und Zeit, so wie wir sie verstehen, zu suchen sind?
Dann wäre alles, was unsere fünf Sinne wahrnehmen, nicht mehr als eine gemeinsame Fiktion, an der wir alle teilhaben und zu der jeder von uns seinen Beitrag leistet.
Wir wären nicht mehr als das Produkt von Gedanken, deren Existenz sich außerhalb unserer Vorstellungskraft befände. Bündeln wir jedoch unsere Gedanken zu einem großen Gedankenblock zusammen, dann entstünde zwangsläufig eine Kraft, die tatsächlich in der Lage wäre, unsere Welt komplett zu verändern.
Einzelne Menschen, die natürlich von unseren Wissenschaftlern nur müde belächelt werden, haben es meiner Ansicht nach bereits nachgewiesen, Menschen wie Uri Geller oder Nina Kulagina, um nur zwei von ihnen zu nennen, haben gezeigt, dass es möglich ist, die Naturgesetze außer Kraft zu setzen; indem sie Löffel verbogen, Uhren anhielten oder zum Laufen brachten, Kompassnadeln bewegten oder sogar den Herzschlag anderer Lebewesen beeinflussten.
All das, nur durch die Kraft ihrer Gedanken, und ohne körperlichen Kontakt aufzunehmen.
Was speziell im Fall von Uri Geller auffiel, war die Tatsache, dass parallel zu seinen Vorführungen (zum Beispiel im Fernsehen) Menschen, die er zum Mit- und Nachmachen aufforderte, zu ähnlichen Erfolgen kamen wie er selbst.
Die Menschen waren davon überzeugt, und allein diese Überzeugung reichte aus, um die gewünschten Reaktionen herbeizuführen.
Ich glaube, dass ich, als einfacher und in diesen Dingen unerfahrener Mensch, meine Geschichte in erster Linie als Warnung geschrieben habe. Ich habe meine Fantasie frei laufen lassen und gefragt, was wäre, wenn eines Tages jemand in der Lage wäre, unsere Gedanken zu beeinflussen?
Er könnte im wahrsten Sinne des Wortes unsere gesamte Welt komplett aus den Angeln heben.“
Damit beendete Stefan die kleine Exkursion in sein Verständnis der Welt.
Heinz, wie er ihn fortan nannte, erwies sich als aufmerksamer Zuhörer. Dann holte er zum verbalen Gegenschlag aus.
„Du hast eine Geschichte geschrieben und bist davon überzeugt, dass sie deiner Fantasie entsprungen sei. Eine Geschichte, von der du glaubst, dass sie sich nie zugetragen hat.“
Stefan nickte kurz.
„Ich muss dich da leider eines Besseren belehren“, gab Heinz ihm zu verstehen „Genauso, wie du zum Ende deiner Geschichte glaubst, alles nur geträumt zu haben, gehst du davon aus, dass sich das Ganze in Wahrheit nie ereignet hat. Du bist davon überzeugt, dass weder Frau Kerner noch Maria oder eine der anderen Personen aus deiner Geschichte je existiert haben.
Auch in diesem Punkt irrst du.
Alles in deiner Geschichte ist tatsächlich passiert.
Es konnte jedoch niemand davon ausgehen, dass du dich so gut daran erinnern und es später sogar aufschreiben würdest.
Du warnst mit deiner Geschichte vor etwas, das bereits seit Jahrhunderten immer wieder geschieht. Etwas, das früher schon geschah und das zu verhindern immer schwieriger wird.
Nur aus diesem Grund lebe ich wahrscheinlich noch. Und glaube mir, es ist kein Zufall, dass das Schicksal uns zusammengeführt hat.
Auch wenn sich kein Mensch in deinem Umfeld an diese Geschichte erinnert, hat das nicht automatisch zu bedeuten, dass sie sich nicht tatsächlich ereignet hat.“
Stefan hörte wohl, was Heinz ihm zu sagen versuchte, doch es war ihm einfach nicht möglich, daran zu glauben. Heinz sah ihm sein Mistrauen an und versuchte seine Darstellung der Geschichte auf eine andere Art zu erklären.
„Ich wette, dass du inzwischen immer wieder etwas von Willi gehört hast. Habe ich recht?“
Stefans Hände zitterten.
Willi war laut seinem Roman der erste virtuelle Computergeist, der in einem unterirdischen Labor erschaffen wurde. Die erste künstliche Intelligenz. Stefan musste daran denken, wie Willi ihn immer nannte. ‚Amigo’ das spanische Wort für ‚Freund’.
Fast jeder, der die Geschichte las, liebte Willi.
Es handelte sich um ein Geschöpf, das im Computer entstanden war und die Neugierde sowie die moralische Reinheit eines Kindes besaß. Anscheinend hatte Stefan mit seiner Geschichte Willi in den Köpfen der Leser Leben eingehaucht.
Auch Heinz sprach von diesem virtuellen Geist, als ob es sich dabei um etwas Lebendes handeln würde.
Willi war es auch, der ihm am Ende der Story half, Schwarzenbeck, dem Leiter der Anlage, sowie den anderen Bösewichten das Handwerk zu legen. Aus seiner virtuellen Welt heraus war er in der Lage die computergesteuerten Sicherungssysteme zu blockieren und den kompletten Keller unter Wasser zu setzen, bevor er sich selbst, also das Programm, das er war, in einen Großrechner außerhalb der Anlage transferierte.
Stefans Gedanken fuhren plötzlich Achterbahn. Nur mit großer Mühe gelang es ihm zu antworten.
„Es ist richtig“, sagte Stefan „Tatsächlich hat sich nach dem Erscheinen meines Buches jemand als Willi ausgegeben und mich permanent belästigt.
Egal zu welcher Zeit ich meinen Computer einschaltete. Immer wieder fand ich eine entsprechende Nachricht.
Da ich jedoch davon ausging, dass einer meiner Freunde, die mein Buch kannten, mir einen Streich spielte, tat ich es auch als einen solchen ab. Einen Streich unter Freunden. Mein Freund Klaus, den ich seinerzeit in Verdacht hatte, erklärte mir damals, dass ich unter Verfolgungswahn leide.
Zwei Tage, nachdem ich ihn beschuldigt hatte, hörten die Nachrichten, die angeblich von Willi stammten, plötzlich auf, was ich als Indiz für Klaus’ Schuld wertete.
Es war übrigens am selben Tag, an dem viele Computerbesitzer ihr komplettes System neu einrichten mussten, weil das Computervirus mit dem Namen ›I am‹ den größten deutschen Server innerhalb weniger Stunden von innen heraus zerstört hatte.
Damals war ich mir sicher, dass auch Klaus’ Computer betroffen war und seine kleinen Streiche deshalb endeten.“
Heinz’ Blicke schienen ihn in dem Moment zu durchbohren, aber gleichzeitig auch auffangen zu wollen.
„Hat er dir gegenüber später jemals zugegeben, mit den Nachrichten von Willi etwas zu tun zu haben?“
„Nein“
„Hätte er es dir gegenüber irgendwann zugegeben?“
„Ja“, hauchte Stefan leise. „Klaus hätte mir irgendwann davon erzählt, und wir hätten gemeinsam darüber gelacht. Doch dieser Fall trat nie ein.“
Langsam begann Stefan zu verstehen, was Heinz ihm mitzuteilen versuchte.
„Oh Gott“, rief er plötzlich aus.
„Willi hat tatsächlich existiert. Und sein Programm befand sich anscheinend auf genau dem Server, der damals durch den Virus zerstört wurde.“
Er rannte aus dem Raum ins Freie, fiel mit den Knien in eine Wasserpfütze und übergab sich.
Heider, der die Situation vom Fenster aus beobachtete, eilte zu ihm. Stefan bat Heider, ihn für diesen Abend bei Heinz zu entschuldigen. Dann torkelte er wie ein Betrunkener zu seinem Auto. Aus dem Augenwinkel heraus glaubte er zu sehen, wie der südländische Krankenpfleger mit einem anderen Mann zusammen hinter ihm ein Auto bestieg. Doch das war ihm in diesem Moment völlig egal. Wahrscheinlich, so glaubte er damals, mäße er diesem Mann viel zu viel Bedeutung bei. Er öffnete seine Fahrertür, drehte den Zündschlüssel und fuhr nach Hause.