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Gestern habe ich versucht, meine Mutter auszufragen. Sie hat sich so gut wie nicht verändert, und ihre weißen Haare sind von ihren blonden Haaren kaum zu unterscheiden. Sie wohnt in Caen, und rein durch Zufall liegt ihre Wohnung in einem Haus, das von einem gewissen Monsieur Jambe verwaltet wird, der seinerzeit Kanzleigehilfe bei dem Anwalt war, den meine Tante dort aufgesucht hatte.

»Du lieber Gott, Jérôme! Solche Sachen weißt du noch?«

Meine Mutter hingegen hatte Mühe, sich zu erinnern.

»Du redest von der Geschichte, die damals passiert ist, als Tante Valérie bei uns war? Dieser Anarchist, der der Vater eines kleinen Jungen von schräg gegenüber war, ja? Der kleine Junge ist dann in einem Sanatorium gestorben …«

»Nicht in einem Sanatorium«, habe ich sie sanft berichtigt. »Seine Großmutter war mit ihm irgendwo auf die Höhe oberhalb von Nizza gezogen.«

»Wenn ich bloß dran denke, wie diese Tante Valérie mir zusetzen konnte mit ihrem Porree!«

Jetzt war ich derjenige, der erstaunte Augen machte. Von Porree war mir rein gar nichts in Erinnerung.

»Weißt du nicht mehr? Sie konnte Porree nicht ausstehen, noch nicht mal den Geruch … Sie hat immer behauptet, ich würde welchen ins Ragout und in die Suppe tun. Und wenn ich im Laden gestanden habe, ist sie hingegangen und hat die Topfdeckel hochgehoben …«

»Hast du wirklich keinen drangetan?«

»Na ja, ein klein wenig, aber ich hab ihn wieder rausgenommen, wenn er gar war … Einfach nur, um den Geschmack zu heben … Und eines Abends hat sie ein Stückchen auf ihrem Teller gefunden. Du warst schon im Bett – das war, als du Mumps hattest … Ich war müde … Sie hat angefangen und mich eine Lügnerin genannt, weil ich ihr gesagt hatte, es ist kein Porree drin. Dann hat sie eins nach dem anderen alles mögliche ausgepackt, ich weiß nicht mehr, was alles … Dein armer Vater, der nie was gesagt hat, ist ganz blaß geworden, und seine Schnurrbartspitzen haben gezittert. Er ist aufgestanden, und ich weiß heute noch nicht, wie er es fertiggebracht hat, etwas zu sagen …

›Haben Sie vielleicht die Güte, still zu sein! Meine Frau ist hier zu Hause, haben Sie verstanden? Und Sie, Sie werden ab morgen nicht mehr hier sein …‹

Ich glaube, Tante Valérie hat ihn dann noch einen Mörder genannt. Und am nächsten Morgen wollte sie nicht abfahren … Sie hat sich auf jede erdenkliche Weise an uns geklammert. Man hat sie fast mit Gewalt aus dem Haus stoßen und zur Kleinbahn bringen müssen …«

»Aber was war mit der Festnahme?«

»Ach so, ja … Das war kurz vorher … Ist es da nicht um eine Prämie gegangen? Wart mal … Eben fällt mir was ein – ja! Ein Apotheker aus Lisieux hat zur Entdeckung des Attentäters verholfen … Wie hieß er doch noch gleich?«

»Rambures … Gaston Rambures …«

»Stimmt. Er hat sich schwer an der Hand verletzt, als er die Bombe geworfen hat … Er trug einen Verband an der linken Hand, das haben hinterher alle gesagt, die ihn irgendwo gesehen haben … Und was hat seine Mutter gemacht, die die Wunde zu versorgen hatte? Sie wußte ja, daß hier am Ort alle ein Auge auf sie haben; deshalb hat sie den Zug nach Lisieux genommen und ist in der Nähe des Bahnhofs in eine Apotheke gegangen … Und jetzt paß auf, wie der Zufall so spielt! Rat mal, wer gleichzeitig mit in der Apotheke war …? Urbain!«

»Was? Unser Urbain?«

»Ja. Es war Markttag in Lisieux, und Urbain war mit Vater hingefahren. Ich weiß nicht mehr, was er bei dem Apotheker wollte. Jedenfalls hat er Madame Rambures erkannt … Madame Rambures andererseits, die hat Urbain aber nicht gekannt …

›Wissen Sie, wer das war?‹ hat er zu dem Apotheker gesagt, ohne sich dabei was zu denken.

Der Apotheker aber, der hat sich was dabei gedacht und ist zur Polizei gegangen. Er hatte ihr Wasserstoffsuperoxyd verkauft und alles mögliche Verbandmaterial. Die Polizei hat bei den Rambures’ noch mal ermittelt und sich davon überzeugt, daß weder Madame Rambures noch ihr Enkel verletzt waren … Wenn’s mir recht ist, haben sie dem Apotheker nicht die volle Belohnung geben wollen, und die eine Hälfte haben sich die Polizisten geteilt …«

Ich habe dann noch versucht, aus meiner Mutter etwas über die eigentliche Festnahme rauszukriegen. Aber ihr Erinnerungsvermögen funktioniert offenbar anders als meines. Sie erinnert sich an manches, was sie erzählt bekommen hat, wie etwa die Episode mit dem Apotheker. Aber was für Wetter zum Beispiel an dem Abend war, das ist ihr entfallen.

»Es hat geregnet, nicht wahr?« meinte sie und war sichtbar bemüht, sich zu konzentrieren.

»Eben nicht!« habe ich aufgetrumpft. »Es hatte den ganzen Tag geregnet, aber am Abend ist Wind aufgekommen … Erinnerst du dich nicht an das Dach der Markthalle mit den Schieferplatten, die im Mondlicht glänzten? Und die vielen Leute, die auf dem Dach standen wie an einem Abend mit Feuerwerk? Und dann noch die Gendarmen, die bei uns gegen die Hauswand gepißt haben – erinnerst du dich nicht mehr?«

Sie hat den Kopf geschüttelt. »Nein … Das ist mir nicht aufgefallen …«

 

Wenn ich meine Mutter ausgefragt habe, dann nur, um Lücken aufzufüllen. Tatsächlich entsinne ich mich mancher Momente so gut, als ob es erst gestern gewesen sei.

Meine Eltern waren nicht neugierig – wir hatten uns ja zu Tisch gesetzt, ohne herauskriegen zu wollen, was die Polizeibeamten vorhatten. Die Fensterläden waren heruntergelassen. Im Laden war die Gaslampe auf kleine Flamme gestellt, und mein Vater redete über Café, das ältere der beiden Pferde. Und daß es bald ersetzt werden müsse.

Ich bin bei den Geräuschen von draußen mehrmals zusammengefahren. Es waren unbestimmte Geräusche, für die ich keine Erklärung hatte – schleppende Schritte, Stimmen … Es herrschte ein Kommen und Gehen wie morgens kurz vor Marktbeginn.

Da, plötzlich, ein durchdringendes Pfeifen, etwa wie damals an dem Sonntagvormittag, als die jungen Leute aufgetaucht waren und auf zwei Fingern gepfiffen hatten.

Mein Vater stand auf und ging zur Tür, wo der Riegel schon vorgeschoben war.

»Paß auf, André …«, warnte meine Mutter.

Er machte die Tür ein Stück auf. Ein Windstoß fegte herein, Lärmen drang zu uns herüber.

»Komm, André … Es lohnt sich nicht, sich für so was einer Gefahr auszusetzen … Wenn du was sehen willst, geh lieber rauf ans Fenster …«

Ich witschte ohne ein Wort aus der Küche und ging nach oben in die Kammer, die zwar im Dunkeln lag, von draußen aber Lichtreflexe abbekam. Und da fiel mir der Mond auf beziehungsweise eher der Abglanz auf dem Markthallendach, das zu leuchten schien. Es stand noch niemand darauf.

Man sah nur Gruppen beisammenstehen, und alle Leute schauten in die gleiche Richtung. In der Samenhandlung und in der Apotheke von Monsieur Bou waren uniformierte Polizisten. Im Obergeschoß war der rosa Vorhang weggerissen. Ich sah Madame Rambures, allerdings ohne Kopf und Oberkörper, auf der Bettkante sitzen, und ich erkannte auch Albert, der den Uniformierten im Weg stand und von ihnen herumgeschubst wurde.

Da man keine Stimmen hörte, wirkten die Bewegungen unkoordiniert. Man ahnte, daß im Treppenhaus hinauf- und hinuntergerannt wurde. Im zweiten Obergeschoß mit seinen zwei Dachfenstern, wo eine alte, gebrechliche Frau wohnte, wurde es hell.

In meiner Nähe bewegte sich etwas – meine Tante. Als ich mich kurz darauf wieder umsah, war sie nicht mehr da. Dafür waren mein Vater und meine Mutter oben.

»Sieht nach Schlägerei aus, meinst du nicht auch?« sagte meine Mutter.

Auch ich spürte sie in der Luft liegen. Abgesehen von dem Pfiff vorhin, verhielten sich die Gaffer noch ruhig, aber es war zu spüren, daß ein kleiner Anstoß genügte … Ich selbst war so in Hochspannung, daß ich ganz flach atmete und dabei den Mund aufsperrte wie ein Fisch, der nach Luft schnappt.

»Da – schaut!« keuchte ich. »Die Tante!« Ich wies mit dem Finger auf sie hinunter.

Tante Valérie war da draußen! Sie stand direkt gegenüber dem Eingang zu den Rambures’, gleich neben dem Mann mit dem Monokel und den Beamten. Da stand sie, den Bauch nach vorn geschoben, die Hände über dem Bauch verschränkt, übermächtig. Und niemand wagte es, Gott weiß, warum, sie in die Menge zurückzudrängen.

»Mademoiselle Pholien ist bestimmt ganz aus dem Häuschen«, hörte ich meine Mutter sagen. »Wo sie doch so ängstlich ist …« Sie ging zu der Wand und klopfte. »Mademoiselle Pholien! Mademoiselle Pholien! Kommen Sie rüber zu uns … Aber ja! Warten Sie … Mein Mann kommt und bringt Sie her … Geh runter, André … Sie traut sich bestimmt nicht allein aus dem Haus. Ich bin sicher, sie hat im Dunkeln gesessen und gebetet …«

Arme Mademoiselle Pholien – so zart und schmächtig, so unscheinbar, daß sie fast ätherisch wirkte! Bei meiner Mutter war es manchmal auch so, daß sie die Gegenstände eher sacht zu streifen als zu berühren schien. Heute habe ich manchmal den Eindruck, daß diese Art von Frauen ausgestorben ist.

Es ist genau in dem Moment losgeplatzt, in dem sich Mademoiselle Pholien im Kielwasser meines Vaters auf die Straße getraut hat, um die paar Meter bis zu uns zurückzulegen.

Da war plötzlich ein Schrei, mag der Himmel wissen, woher. »Rübe ab!«

Dann Schweigen, als ob die Menschen noch zauderten, als ob sie plötzlich die Tragweite dieser Minute ermessen könnten.

Und darauf, diesmal von der entgegengesetzten Seite des Platzes, in der Nähe des Feinkostgeschäfts Wiser, ein weiterer Schrei, ordinär, drohend:

»Nieder mit den Bullen!«

Jetzt war es, als ob gerade eine Rakete am Himmel erschienen sei – es entstand ein dumpfes Raunen, ein nicht lokalisierbares Stimmengewirr, ein Wogen, Schieben und Stampfen innerhalb der Menschenmenge.

An jenem Abend bin ich nicht auf die Idee gekommen, nach dem Grund der Zusammenrottung zu fragen, und ich glaube, das ist auch sonst niemand in den Sinn gekommen. Es schien auf der Hand zu liegen. Die Stimmung putschte sich von allein hoch und brauchte keinen ersichtlichen Grund.

Die Beamten machten den Fehler, die Menge zurückzustoßen, und daraufhin ging nicht nur ein Pfiff los, es kamen Hunderte von Pfiffen. Gleichzeitig entdeckte ich einen ersten Zuschauer auf dem grauen Dach der Markthalle.

»Kommen Sie herein, Mademoiselle Pholien … Ich hab’s mir schon gedacht, daß Sie in Unruhe sind …«

»Aber was haben die alle?« fragte die Ärmste hilflos.

»Nehmen Sie Platz … Mein Mann schenkt uns ein Schlückchen Calvados ein …«

Von überall her kamen Leute, sie strömten aus allen umliegenden Straßen herbei, und der Platz füllte sich mit unglaublicher Geschwindigkeit.

Jetzt wurde unten gegen unsere Läden geschlagen, gerufen … Und da war immer noch dieses eigenartige Geräusch von vielen, vielen Schuhsohlen, die sich über das Pflaster schieben.

»Daß sie aber auch nicht daran gedacht haben, den armen Kleinen wegzubringen!«

Es war nicht gänzlich unerwartet, Albert mit seinem großen weißen Kragen mitten im Zimmer stehen zu sehen, ohne daß sich jemand um ihn kümmerte. Er weinte nicht. Er wußte einfach nicht, wo er sich hinstellen sollte.

Eine Scheibe zerbarst; ich glaube, es war beim Apotheker. Ich bin aber nicht sicher, weil ein paar Sekunden später schon zehn, zwanzig Fenster durch Steinwürfe zu Bruch gegangen waren. Und jetzt wurde auch die Gendarmerie herbeigerufen.

»Was machen die denn? Verstehn Sie das, Monsieur André, was die machen?« jammerte Mademoiselle Pholien.

»Sie suchen ihn, nehme ich an«, antwortete mein Vater. »Wenn sie ihn gefunden hätten, dann wäre jetzt alles vorbei …«

Ich sah meine Eltern im Dunkeln, und ihre Gesichter wurden nur durch den Widerschein von draußen erhellt. Manchmal sahen ein paar Leute von der Straße zu uns hoch und blieben mit ihren Blicken an unseren Gesichtern hängen, da wir wohl recht merkwürdig aussahen.

Es waren auch Kinder da. Ganze Familien waren gekommen wie zu einer Militärparade. Gassenjungen schlängelten sich zwischen den Beinen der Erwachsenen durch und stießen zum Spaß durchdringende Schreie aus, die zu noch größerem Wirrwarr beitrugen.

Und meine Tante … Durch besondere Vergünstigung thronte sie immer noch in dem abgesperrten Bezirk direkt vor der Tür zur Samenhandlung. Sie stand bei den Prominenten, und ich könnte schwören, gesehen zu haben, wie sie mit ihnen redete.

»Nieder mit dem Hund! Rübe ab …!« brüllten die einen.

»Nieder mit der Polente! Tod den Bullen …« erwiderten die anderen.

Da hat sich an unserem dunklen Beobachtungsposten eine Stimme erhoben, und sie gehörte zu mir. Ich kann mir vorstellen, wie meine Eltern hochfuhren, denn ich bin ja selber zusammengefahren, als ich mich mit einer unerwarteten, schier unmenschlichen Ruhe sagen hörte:

»Ich weiß, wo er ist!«

»Siehst du ihn?«

»Nein … Aber ich weiß, wo er ist …«

Ich stand auf. »Schau her, Mutter«, sagte ich und klopfte gegen die blinde Tür. »Bei Albert haben sie das gleiche Versteck.«

Die anderen hörten mir nicht bis zum Schluß zu. Wegen der Gendarmen – es waren etwa zwanzig Mann zu Pferd, die aus der Rue Saint-Yon herausritten – kam Bewegung in die Menge. Durch das Gewoge entstand ein solcher Druck auf unsere Läden unten, daß man meinen konnte, sie würden nachgeben, alle die Leute vor dem Haus würden kreuz und quer durchs Schaufenster in das Geschäft rollen.

»Hast du den Riegel vorgeschoben, André?«

Plötzlich kam meiner Mutter eine Idee. Sie schaute zu meiner Tante auf der Straße unten, dann suchte sie im Halbdunkel einen Blick von mir aufzufangen.

»Jérôme … Du hast ihr doch wenigstens nicht gesagt …«

»Nie im Leben!«

Ich war rot geworden. Ich fühlte mich schuldig. Ich hatte ein Stechen in der Brust, eine unerträgliche Beklemmung. Nein … Gesagt hatte ich es meiner Tante nicht, das stimmte. Aber hatte ich alles in allem nicht doch zuviel gesagt? Hatte ich nicht mit Absicht ein überlegenes Lächeln aufgesetzt, wenn sie mich belauerte, etwas aus mir herauszukriegen versuchte? War es nicht vorgekommen, daß ich unwillkürlich das Versteck fixiert hatte? Und? Wenn sie es erraten hatte? Oder jeden Moment erraten würde?

»Da- sie hängen den Vorhang vors Fenster …«

Es war sicher jemand eingefallen, daß das Schauspiel oben im Zimmer die Menge nur noch mehr anstachelte. Sobald die unten das halbrunde Fenster jedoch mit einem schwarzen Vorhang zugehängt sahen, ging ein zorniges Gejohle los; es wurde von hinten nach vorn gedrückt, dann von vorn nach hinten und wieder umgekehrt.

Wie hat meine Mutter seitdem diese Einzelheiten vergessen können? Ich habe noch den Geruch des Calvados in der Nase, den mein Vater eingeschenkt hatte. Und ich sehe die an der Einbiegung zur Rue Saint-Yon unbeweglich und dicht aneinandergedrängt stehenden Pferde mit ihren Reitern vor mir.

Ob jetzt Männer kamen und den Pferden die Sprunggelenke durchschnitten?

Es entstand ein Lärmen. Im ›Café Costard‹ kurbelten sie den Laden hinunter.

»Rübe ab …! Rübe ab …!«

Das war jetzt kein Zorngeschrei mehr. So eigenartig das klingen mag, aber die Menge amüsierte sich und skandierte diese Worte wie eine Melodie, wie ganz gewöhnliche Worte.

Aber sie wurde ungeduldig. Da waren auch welche, die das nicht mehr verstehen konnten, die Gott weiß was für Grausamkeiten in dieser nicht enden wollenden Menschenjagd witterten – ein Geheimnis, Unfähigkeit der Polizei, irgendwelche Fehler. Die Menschen wurden ärgerlich.

»Schluß damit!« schrie jemand.

Der Wachtmeister stand unter der Tür der Samenhandlung und wollte das Wort ergreifen, aber seine Stimme ging im Gejohle unter.

»Nieder mit den Bullen!«

»Nieder mit der Polente!«

»Faulpelze!«

»Nieder mit …«

Jetzt sah man … Das kam so unerwartet, daß mir wenigstens der Atem stockte. In dem engen und dunklen Hausflur, der zu den Rambures’ führte, zeichneten sich Gestalten ab. Zuerst nahm ich nur etwas Weißes wahr, und das hatte die Form von Alberts Kragen. Tatsächlich, er war es, und er wurde von seiner Großmutter und zwei Männern begleitet.

Sie wurden aus dem Haus gebracht, warum, weiß ich nicht. Einen Augenblick schwieg die Menge, da sie wohl ebenso verwundert war und die Zusammenhänge zu erfassen suchte.

»Durchlassen …! Macht den Weg frei! Durchlassen …«

Da war bestimmt niemand, der etwas gegen diese alte Frau mit ihrer geraden Haltung und den kleinen erstaunten Jungen haben konnte. – Der neuerliche Schub kam von hinten, wo man erriet, daß etwas vor sich ging, aber nicht wußte, was. Nur noch ein paar Meter, dann hatte die Gruppe die Ecke zur Rue Saint-Joseph erreicht, die verlassen dalag.

Es erwies sich als unmöglich. Der eine Polizist wurde angerempelt. Er schwankte und suchte Halt an der Mauer des Cafés. Der andere hatte gerade noch Zeit, sich schützend hinter Madame Rambures zu stellen und den Kleinen an der Hand zu packen.

Glücklicherweise waren sie kurz vor der Tür des ›Café Costard‹. Sie konnten hinein, und die Tür schloß sich hinter ihnen.

Zur gleichen Zeit zersplitterten irgendwo Fensterscheiben. Menschen, die das vielleicht gar nicht wollten, wurden von der Schubkraft der Menge in den Hausflur der Rambures getragen, den die Polizei vergeblich zu verteidigen suchte.

»Aber was machen die noch?« fragte meine Mutter ungeduldig. »Haben sie ihn, oder suchen sie ihn noch?«

O Gott … Das war nun wirklich das komischste. Meine Tante war mit vom Strudel erfaßt worden, vollführte mit ihren dicken Armen eine Art Schwimmbewegung und strandete mit der Menge im Laden des Samenhändlers.

An dem halbkreisförmigen Fenster waren kauernde Menschen sichtbar; die Münder standen offen, sie gestikulierten, sie schrien, aber es war nichts zu hören bei dem allgemeinen Stimmengewirr. Hundert, zweihundert Menschen saßen jetzt auf dem Dach der Markthalle, und sie waren im Mondlicht so scharf zu erkennen, daß man den Zigarettenrauch aufsteigen sah.

Von den berittenen Gendarmen waren welche abgestiegen; wahrscheinlich warteten sie auf Anweisungen. Sie hatten sich an den Hauswänden entlang aufgestellt, und ich weiß noch, daß einer – ein großer Rothaariger – sich umdrehte und gegen eine Tür pinkelte. Seine Kameraden wollten sich ausschütten vor Lachen, dann machte es ihm einer nach, und dann noch einer.

»Sie machen noch alles kaputt«, klagte Mademoiselle Pholien.

Als erstes flog ein Sessel durchs Fenster und zerschellte auf dem Trottoir. Die Menge begrüßte ihn mit einem Jubelschrei wie einen Feuerwerkskörper am Nationalfeiertag. Dann kam ein kleinerer Sessel hinterher, der von Albert. Als nächstes folgte ein Uhrengehäuse.

»Mutter …! Mutter!« rief ich und grub meine Fingernägel in ihren nackten Arm.

»Was hast du? Sag doch was!«

Sie mußte denken, ich hätte mir weh getan oder es sei mir schlecht.

»Mutter!« Ich brachte kein Wort heraus. Mein Mund ging weit auf, und vor lauter Anstrengung tat mir die Kehle weh. »Schau …«

Die Tür … Die blinde Tür … Weshalb war mir das nicht sofort aufgefallen? Sie stand offen!

»Sie haben ihn festgenommen!«

»Du lieber Gott, André … Der Kleine gehört doch ins Bett! Ich bin sicher, er wird noch krank …«

Porzellangeschirr … Töpfe … Alles flog durchs Fenster. Dann war eine Petroleumlampe an der Reihe, sie brannte noch und erlosch erst in der Luft.

Das Zimmer der Rambures lag inzwischen im Dunkeln, aber jetzt kamen die Mansardenfenster dran. Ob die arme Alte in ihrer Wohnung war? Man scherte sich nicht darum, und auch ihre Möbel zerbarsten auf dem Trottoir.

»Wenn die Gendarmen jetzt schießen würden«, sagte mein Vater, »also, ich glaube, es würde einen Aufstand geben.«

»Aber was können sie mit ihm gemacht haben?«

»Sie verstecken ihn … Zu seinem eigenen Schutz … Die Menge würde ihn lynchen.«

Was war das, lynchen? Ich wußte es nicht, und doch fragte ich nicht danach.

»Wenn sie bloß nicht das Haus anzünden!« Meine Mutter stellte sich wieder einmal das Schlimmste vor. »Hast du den Riegel auch wirklich vorgelegt unten? Bring doch auf alle Fälle das Geld rauf, André …«

Mein Vater ging das Geld holen.

»Und mach bloß kein Licht an!« rief ihm meine Mutter von der obersten Treppenstufe nach.

Wer weiß – vielleicht würde es die draußen anstacheln, wenn sie hier drinnen Licht sahen?

Die große Uhr der Markthalle war direkt vor meinen Augen, und doch habe ich den ganzen Abend und einen Teil der Nacht hindurch nicht eine Sekunde lang daran gedacht, nachzusehen, wie spät es ist. Ich mußte müde sein. Ich hätte schon längst ins Bett gehört. Meine fieberhafte Unruhe wurde durch die Müdigkeit nur noch erhöht, meine Sensibilität nur noch verschärft. Mir tat alles weh. Weinen hätte mir gutgetan, aber ich konnte es nicht.

»Sieht so aus, als ob da oben einer …« Mademoiselle Pholien beugte sich weiter nach vorn. »Zwei Häuser weiter … Über dem Eisenwarengeschäft …«, murmelte sie.

Wir haben den Atem angehalten, alle vier. Waren wir die einzigen, die das sahen? Die auf dem Platz unten konnten jedenfalls wegen des breiten Dachüberstands nicht sehen, was auf dem Dach des Eisenwarenhändlers vor sich ging, drei Häuser von dem Samengeschäft entfernt.

Auf dem stark zugespitzten Dach war eine Luke aufgegangen. Ein Gesicht war aufgetaucht, ein Mann hatte sich langsam hochgezogen …

»Er flieht …«

Der Mann stellte für mich einen solchen Inbegriff von Angst dar, wie ich es seither nicht mehr erlebt habe. Ich hätte einen Eid darauf leisten können, den Mann vom Plakat wiederzuerkennen. Da war der vorspringende Adamsapfel und der offene Hemdkragen wie auf dem Foto. Er hatte einen weißen Verband um die Hand. Jetzt kam noch jemand hinter ihm aus der Luke. Ein Uniformierter.

Und da ging mir auf, daß die Angst dieses Mannes nichts damit zu tun hatte, daß er gefaßt worden war. Es war auch nicht die brüllende Menge unten. Es war ihm schwindlig!

Der Polizist, dem die Höhe nichts auszumachen schien, schubste ihn vor sich her wie ein Paket, und sie erreichten beide den Dachfirst.

Auf dem Dach der Markthalle erhob sich Geschrei, weil die beiden von dort aus gesehen worden waren. Die Leute unten dagegen konnten nichts erkennen und wußten nicht, was los war.

Einen Augenblick lang dachte ich … Er stand in der Nähe eines Kamins auf dem Dachfirst, und er schwankte … Im nächsten Moment tritt er ins Leere, dachte ich. Und tatsächlich, der Polizist mußte ihn halten und auf die andere Dachschräge drängen.

Selbst unsere Stimmen hatten an diesem Abend nicht ihren natürlichen Klang, schienen aus einer anderen Welt zu kommen. Zum Beispiel die meines Vaters, als er mit unnatürlicher Ruhe seinen Kommentar abgab.

»Sie führen ihn über die Dächer ab, um ihn vor der Menge zu schützen.«

Er hatte seinen Satz noch nicht ganz zu Ende gebracht, da erhob sich an anderer Stelle Geschrei. Und das war weniger Wut – als vielmehr Protestgeschrei, das sogar etwas belustigt klang.

An der Ecke der Rue Saint-Yon hatten Feuerwehrmänner mit glänzenden Helmen im Schutz der Gendarmen und ihrer Pferde einen Wasserwerfer in Aufstellung gebracht.

Ein Mann, den ich nicht kannte, allem Anschein nach der Bürgermeister, stand gestikulierend am Fenster über der Apotheke und versuchte, sich Gehör zu verschaffen. Jemand war sogar auf die Idee gekommen, ein Clairon zu holen, um damit die Menge zum Schweigen zu bringen.

Von unten, gleich vor unseren Läden, drang es herauf: »Der Ausrufer …«

»Aber nein … Der kommt doch mit der Trommel …«

»Was sagt er?«

Und dieses ›Was sagt er?‹ griff nach und nach immer weiter um sich; die Antwort kam auf dem gleichen Weg zurück bis zu unserer Hauswand.

»… daß der Mörder nicht mehr da ist … Er ist schon im Gefängnis … Alle sollen nach Haus gehen … Sieht so aus, als ob die Feuerwehrleute …«

Der erste Strahl traf auf die Pferdebeine, weil zuerst nicht genug Druck da war. Dann stieg er in die Höhe, es gab Flüche und Gelächter. Eine Frau schlug sich ihren Rock über den Kopf, und die Umstehenden machten sich alle über ihren hellblauen Baumwollunterrock lustig.

»Leg dich schlafen, Jérôme … Komm … Du siehst doch, daß Schluß ist …«

Und es war tatsächlich Schluß, einfach so. So ohne alles, daß es nicht mehr zu verstehen war, wie kurz vorher die allgemeine Erregung derart hohe Wellen geschlagen hatte.

Innerhalb von Minuten standen nur noch vereinzelte Gruppen auf dem Platz herum; die Gendarmen saßen wieder auf und schoben die Menge langsam weiter. Sie hatten den Degen in der Scheide und scherzten mit den Leuten. Die auf dem Markthallendach kletterten wieder hinunter, wobei sie sich gegenseitig halfen, und ein kleiner Dicker, dem das Hinaufklettern keine so große angst gemacht haben konnte, traute sich jetzt nicht mehr hinunter.

Meine Hände zitterten. Ich fror.

»Vielleicht sollte er etwas Warmes zu sich nehmen«, meinte meine Mutter.

»Gib ihm lieber ein wenig Alkohol auf einem Stück Zucker …«

»Glaubst du, ich kann Licht anmachen?«

Da begann ich zu weinen, sachte, unmerklich. Nicht so wie die anderen Male, nicht aus Traurigkeit, und nicht aus Zorn. Meine warmen Tränen waren der Ausdruck einer großen Leere, einer ungeheuren Entmutigung. Ich hätte mich am liebsten auf den Boden gelegt und wäre bis zum nächsten Tag einfach liegengeblieben. Ich wehrte mich dagegen, daß meine Mutter mich auszog. Der Calvados brachte mich zum Husten, und ich wollte, daß meine Eltern glaubten, auch der Alkohol sei schuld an meinen Tränen.

»Da kommt Tante Valérie zurück …«

Ich schaute trotz allem hin. Sie stand mit einem Herrn, den ich nicht kannte, mitten auf dem Platz. Sie winkte von weitem ein wenig zu uns herüber, sagte noch einiges, wobei sie den Kopf schüttelte und die Hände auf dem Bauch hatte. Dann verabschiedete sie sich von dem Herrn wie von einem guten Bekannten, und der zog den Hut vor ihr.

»Geh und mach auf, André … Nicht doch, Mademoiselle Pholien …! Gehen Sie nicht gleich … Wir wollen noch einen Happen essen.«

»Jetzt haben sie ihn doch noch gekriegt!« waren die ersten Worte meiner Tante, als sie unten zur Tür hereinkam. »Sie mußten ihn nach hinten abführen, über die Rückseite der Häuser … Ich glaub, die Menge hätte ihn in Stücke gerissen, wenn sie ihn gehabt hätte!«

»Geh schlafen, Jérôme …«

»Nein!«

Ich ging mit den anderen nach unten. Ich blieb an die Wand gelehnt in einer Ecke stehen und sah ihnen beim Essen zu. Sie haben nämlich noch einen Rest kalten Braten und Käse gegessen. Dann hat meine Mutter Kaffee aufgebrüht.

»Heute oder in ein paar Wochen …«, hat meine dicke häßliche Tante gebrummt. Ihr Blick wanderte zu mir hin. Was dann kam, das war für mich bestimmt, das sollte mir angst machen und mir weh tun: »… wird ihm trotzdem der Kopf abgeschlagen!«

Meiner Mutter blieb der Bissen im Hals stecken; auch sie sah mich an. Dann heftete sich ihr Blick auf meine Tante, und ich kapierte, daß der Spuk vorbei war, daß das dreckige Stück Vieh fort mußte.

Ich bin sicher, daß es darum ging – um meine Tante, als sie in der Nacht so lange und leise auf meinen Vater eingeredet hat.

Was ich aber nicht wußte und erst gestern erfahren habe: daß ein Stückchen Lauch dann letzten Endes ausschlaggebend sein würde …

 

Nieul-sur-Mer, 1940