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Auf mein Gedächtnis ist Verlaß, das habe ich ja – in der Hitze des Gefechts vielleicht zu vehement – betont (du hast immer recht haben wollen!, hält mir meine Mutter auch heute noch vor). Daß die Erinnerungsbilder auch kontinuierlich aneinandergefügt sind, das erscheint mir weniger sicher, wie ich zugeben muß.
Wenn ich die entsprechenden Szenen auch in einer Detailschärfe vor mir sehe wie auf Gemälden primitiver Maler, so muß ich zeitweise doch überlegen, wenn ich sie zu einer chronologischen Abfolge von Ereignissen aneinanderreihen will. Da sind Löcher, und manche von ihnen haben, allein schon im Gegensatz zu der grellen Beleuchtung drum herum, etwas Verwirrendes.
Ich bin an einem dieser Löcher angekommen. Von weitem habe ich es nicht gesehen. Ich war überzeugt, daß sich alles mühelos zusammenfügen ließe.
Ich bin in meinem Bett, na schön … Die Nähmaschine ist in Betrieb … Also ist Mademoiselle Pholien da … Also haben wir Freitag … Ich höre auch die Stimme einer alten Frau monoton vor sich hin murmeln. Es ist die Art von Gemurmel, die einem im Vorübergehen aus einem Beichtstuhl ans Ohr dringt. Es ist Tante Valérie, die ihre Litanei an Vorwürfen herunterleiert.
Auf dem nächsten, direkt darauffolgenden Bild tauche ich aber selber auf; ich habe den Hals umwickelt (man hatte also Angst, ich könnte mich erkältet haben), und ich stehe an meinem halbrunden Fenster. Mademoiselle Pholien hat die Maschine angehalten und zu heften begonnen; Tante Valérie redet; der Petroleumofen verströmt seine Wärme und seinen Petroleumgeruch, und draußen sehe ich die drei Azethylenlampen der Fischfrauen.
Alles scheint darauf hinzudeuten, daß es ein und derselbe Tag ist. Dennoch erinnere ich mich nicht, aus dem Bett gestiegen und vom Schlafzimmer meiner Eltern in die Kammer hinübergegangen zu sein. Und noch etwas macht mich stutzig. Bevor ich ins Bett gebracht wurde, hatte es geheißen, daß ich mich bei meiner Tante entschuldigen solle. Das hatte mich im Traum verfolgt; ich hatte einen unruhigen Schlaf gehabt deswegen. Und jetzt ist nicht mehr die Rede davon. Meine Tante kümmert sich nicht um mich.
Ist es ein anderer Tag heute? So, wie sich die Ereignisse aneinanderfügen, hätte ich das vorhin noch verneint, aber das Leben hat mich gelehrt, daß die Dinge nie wie bei einem Räderwerk ineinandergreifen und daß es so immer mal eine Art unerklärlichen Stillstand gibt.
Wenn nicht der gleiche Tag ist, dann ist es der folgende Freitag, da Mademoiselle Pholien nur freitags zum Nähen kommt. Bin ich krank gewesen? Das glaube ich nicht. Ist das Leben im Haus und auf dem Platz plötzlich so nichtssagend geworden, daß ich darin keinen Anhaltspunkt finde?
Ich könnte meine Mutter fragen, aber da würde ich vom Regen in die Traufe kommen; sie irrt sich nämlich oft um ein ganzes Jahr.
Im übrigen ändert das nichts. Worauf es ankommt, ist eine genaue Wiedergabe der Fakten, und dafür verbürge ich mich nach wie vor.
Es regnete. Es regnete schwarz. Ich saß nicht wie gewöhnlich zwischen meinem Spielzeug am Boden, ich stand am Fenster. Das Seidentuch (es war ein alter Schal meines Vaters, der ganz verschlissen war und nur benutzt wurde, wenn jemand Halsweh hatte) hielt mir den Hals warm. Die dicke Fischhändlerin, die von den anderen Titine genannt wurde, kippte trotz des Regens große Eimer voll Wasser über ihren Stand, um der Ware ein frischeres Aussehen zu geben.
Titine war ebenso schwergewichtig wie meine Tante, aber viel kleiner, mit einem kleinen grauen Dutt oben auf dem Kopf. Sie war die Komikerin unter den Marktfrauen, und sie hatte die Angewohnheit, den Passanten derbe Späße zuzurufen, über die sich die anderen ausschütteten vor Lachen.
Die Frauen, die mit ihren Karbidlampen am Nachmittag vom Marktplatz Besitz ergriffen, waren keine richtigen Händlerinnen, sondern schlugen Ware zweiter Wahl los. Im Winter kamen nicht viele, und sie verkauften nur Fisch und Meeresfrüchte. Im Sommer, wenn es frisches Obst und Gemüse gab, kamen mehr von diesen ›Resteverkäuferinnen‹, wie meine Mutter sagte.
Da kommen mir vergessene Episoden wieder in den Sinn. Titine hatte mich ins Herz geschlossen, ich weiß auch nicht, warum. Wenn ich an ihrem Stand vorüberkam, rief sie mich mit ihrer ordinären Stimme herbei: »Komm her, Jungchen …« Sie grapschte in einer ihrer Kisten oder einem Korb herum und drückte mir ein paar kleine Muscheln oder Garnelen in die Hand.
Es kam vor, daß meine Mutter das aus dem Laden heraus beobachtete.
»Hast du das gegessen?« fragte sie mich, wenn ich heimkam.
Alles, was es auf dem Vormittagsmarkt zu kaufen gab, war selbstverständlich gut, die Ware der Resteverkäufer jedoch galt als dubios.
»Du wirst schon sehen! Daß du auch nicht auf mich hören kannst! Du wirst dir eines Tages noch Typhus holen!«
Das Plakat war noch am selben Platz. Ich sah es im Halbdunkel an der Wand der Markthalle kleben. Aber konnte es nicht schon seit einer Woche da hängen? Auf einer anderen Wand war schließlich auch das Plakat von dem Zirkus, der letzten Sommer da gewesen war!
Was mich auch wundernimmt: daß ich überhaupt nicht darauf geachtet habe, was meine Tante sagte. Ich wäre schön in Verlegenheit, wenn ich sagen sollte, worum es bei ihren Selbstgesprächen ging!
Ich weiß hingegen, daß mich etwas stutzig gemacht hat, etwas Anormales. Ich habe mir den Marktplatz ganz genau angesehen und überlegt, was da fehlte. Ich sehe die große Uhr vor mir, die auf zehn nach fünf stand. Ich sehe die Umrisse von Männern hinter den Mattglasscheiben des ›Café Costard‹. Und ich habe sogar den Apotheker mit seinem grauen Spitzbart vor mir, wie er über seinen Ladentisch gebeugt dasteht und in einem Gefäß etwas mit dem Mörser zerstößt.
Dann habe ich weiter in die Höhe geschaut. Ja … Das war’s. Was nicht normal war an dem Platz, das war das Fenster meines Freundes Albert. Für mich war er mein Freund Albert, ohne daß ich je ein Wort mit ihm gewechselt hatte.
Sein Fenster hatte keinen richtigen Vorhang. Vor dem Abendessen jedoch trat Madame Rambures immer um die gleiche Zeit ans Fenster und hängte ein an Ringen befestigtes Stück Stoff davor. Es war schwarz und stammte wahrscheinlich von einem alten Kleid.
An diesem Abend – an welchem Freitag nun mag dahingestellt bleiben, da ich in diesem Punkt nicht sicher bin – war das Stück Stoff schon vorgehängt, obwohl es erst zehn nach fünf war. An einem Samstag wäre das einzusehen gewesen – da wurde das Fenster früher zugehängt, weil Albert gebadet wurde. Ich verfolgte die jeweiligen Vorbereitungen. Ich erinnere mich an die Zinkwanne und die beiden Krüge mit warmem Wasser, auch an die frische Wäsche, die Madame Rambures über eine Stuhllehne gebreitet hatte. Den schwarzen Vorhang brachte sie erst in letzter Minute an.
Da aber Mademoiselle Pholien bei uns war, war Freitag, und ich sah den schwarzen Stoff verstört, ja angsterfüllt an.
Mademoiselle Pholien hat mit uns zu Abend gegessen. Das passierte oft. Im Prinzip machte sie um sieben Uhr Schluß, doch es wurde oft später, weil immer noch eine Arbeit fertig zu machen war.
»Kümmern Sie sich doch nicht um mich«, wehrte sie ab. »Setzen Sie sich zu Tisch … Ich hab nur noch ein paar Minuten zu tun …«
Wir wußten, daß sich diese paar Minuten bis neun Uhr hinzogen und daß sie noch einen Teil der Nacht geblieben wäre, wenn meine Eltern es zugelassen hätten.
Sie machte es sich zum Vorwurf, uns ein zusätzliches Essen wegzunehmen. Es fehlte nicht viel, und sie wäre sich als Schnorrerin vorgekommen. Sie setzte sich auf die äußerste Stuhlkante und legte die kleinen Hände mit den spitzen Fingern ganz vorn auf dem Tisch ab.
Meinem Vater war zu der Zeit das Blut zu Kopf gestiegen, er saß mit hochroten Wangen und glänzenden Augen da. Nicht etwa, weil er getrunken hatte – ich glaube nicht, daß er trank –, sondern weil er den ganzen Tag bei Wind und Regen an der frischen Luft gewesen war. Da mußte ihm die Hitze in unserer kleinen Küche zusetzen.
Es gab Schweinekoteletts mit Rosenkohl. Dafür würde ich die Hand ins Feuer legen.
»Nur ein halbes«, murmelte Mademoiselle Pholien und spitzte die Lippen in einer Weise, die vornehm sein sollte; genau wie meine Mutter es bei guten Kundinnen tat.
»Nicht doch, Mademoiselle Pholien. Wo doch für alle genug da ist …«
Sie teilte dann trotzdem ihr Kotelett, und in einem unbeobachteten Augenblick legte sie mir verstohlen die eine Hälfte auf den Teller. »Pst …! In deinem Alter muß man essen!«
Ich wußte, daß sie es nachher mit dem Reiskuchen genauso machen würde. Das war geradezu zwanghaft bei ihr. Mein Vater mochte es nicht, wollte aber nichts sagen. Die Sache war um so lächerlicher, als bei uns wirklich nicht am Essen gespart wurde. Um so mehr, als die Marktfrauen fast alle Kundinnen waren und wir von ihnen alles sehr billig bekamen.
Urbain war mit seinem Kochgeschirr schon wieder weg und hockte wahrscheinlich in einer Ecke des Stalls.
»Wann gehst du nach Saint-Nicolas?« fragte meine Tante plötzlich.
»Am Montag«, antwortete mein Vater. Er machte ein sorgenvolles Gesicht.
»Ich möchte, daß du dich mal umhörst über diesen Monsieur Livet … Ich hab’s ja geahnt, daß er eine Kanaille ist wie die anderen auch … Alle diese Rechtsberater sind Kanaillen, und die Notare erst recht …«
Noch nie habe ich das Wort ›Kanaille‹ so aussprechen hören wie von Tante Valérie. Ihr großer Mund mit dem Oberlippenbart zerkaute es und spuckte es aus wie eine verdorbene Nuß, auf die man versehentlich gebissen hat. Riesenhaft saß sie da, auf ihrem Stuhl zusammengesackt, ganz rund, ganz wabbelig und doch kompakt; sie schluckte die ganze Hitze des Ofens, und sie sah uns einen nach dem anderen mit diesen Augen an, die stets voll Wasser standen.
»Ich bin sicher, daß er nach Saint-Nicolas gegangen ist, ohne mir etwas zu sagen … Er hat Elise und ihren Triquet getroffen. Er wird’s nicht zugeben, aber ich weiß, daß er sie getroffen hat … Was sie ihm versprochen haben, weiß ich nicht, das heißt, das kann man sich ja an fünf Fingern abzählen … Jedenfalls steht er auf ihrer Seite … Du könntest dich ein bißchen umhören. Es wird ihn doch jemand gesehen haben …«
Mademoiselle Pholien machte sich klein und wagte nicht zu kauen vor lauter Angst zu stören.
An diesem Abend wirkten alle am Tisch müde.
»Wenn du nach Caen gehst –«
»Mittwoch oder Donnerstag«, unterbrach sie mein Vater.
»Dann nimmst du mich im Wagen mit … Ich hab hier die Adresse eines Anwalts. Ich will ihm klipp und klar sagen, was los ist – daß ich um keinen Preis will, daß das Haus an diese Leute geht, weder das Haus noch ein Centime, gar nichts … Und daß ich euch zu meinen Erben bestimme.«
Darauf trat einen Moment Stille ein. ›Ein Engel schwebt durchs Zimmer‹, pflegt man in solchen Situationen zu sagen.
Meine Mutter und mein Vater haben es vermieden, sich anzusehen, sich dann letzten Endes doch angesehen, verstohlen, als ob das etwas Böses sei.
»Noch ein bißchen Rosenkohl, Tante …?«
»Danke! Der ist mir zu schwer verdaulich.«
Ich glaube, daß ich einen röteren Kopf bekommen hatte als mein Vater. Daß ich nicht eher daran gedacht hatte! Ich hatte mir überhaupt nichts gedacht! Ich hatte alles widerspruchslos hingenommen: daß Tante Valérie, die noch nie einen Besuch bei uns gemacht hatte, sich einfach in unserer ohnehin zu kleinen Wohnung einquartierte! Und ebenso alles, was mein Vater mir eingeschärft hatte: ›Und sag nie etwas über das, was du gehört hast …‹
Was hätte ich gehört haben sollen? – Dann war da noch die Sache mit dem Porträt gewesen, das sofort neu gerahmt und am besten Platz aufgehängt werden mußte, nämlich oberhalb der Marienfigur auf dem Kaminsims!
Was hatte ich gehört? Eine Geschichte mit einem Haus, das dämmerte mir jetzt wieder. Bei Tisch war mehrmals die Rede von einem Haus gewesen, das wir zuerst erben, dann doch nicht mehr erben sollten …
Bei uns hatte das Wort ›Haus‹ einen besonderen Klang. Ich habe seither oft daran gedacht. Ich weiß jetzt, daß das Haus meiner Tante in Saint-Nicolas seinerzeit um die dreißigtausend Francs wert gewesen sein durfte, da noch eine Wiese dazugehörte, die an benachbarte Bauern verpachtet war.
Meine Eltern brauchten keine dreißigtausend Francs. Seit mein Vater dreizehn gewesen war, hatte er, zuerst mit seinem eigenen Vater, dann mit Urbain, alle Märkte der Gegend abgeklappert. An sämtlichen Tagen im Jahr, oder doch fast, und bei jedem Wetter, und ich habe ihn nur zum Abendessen zu sehen bekommen. Und meine Mutter … Seit ihrer Heirat verbrachte sie ihr Leben damit, zwischen Küche und Laden hin- und herzurennen. Wir mußten also ein gutes Auskommen haben.
Hauseigentümer aber waren wir trotz allem nicht! Und auch das Wort ›Eigentümer‹ war ein besonderer Begriff, der in unserem Wortschatz einmalig war.
»Der Hauseigentümer ist vorhin vorbeigekommen …« Die Art, wie meine Mutter das abends verkündete, sagte alles.
»Ist er reingekommen?«
»Nein … Er hat sich ’ne ganze Weile am Schaufenster die Beine in den Bauch gestanden, wie immer …«
Tatsächlich war Monsieur Renoré etwas angsteinflößend. Ihm gehörte fast die Hälfte der Gebäude am Platz, die früher einmal einen zusammenhängenden Komplex gebildet hatten. Die Posthalterei, wenn ich mich nicht irre. Das von Albert und seiner Großmutter bewohnte Haus gehörte dazu, ebenso die Apotheke und das ›Café Costard‹. Monsieur Renoré selbst bewohnte in der Rue Saint-Jean ein altes Haus mit Toreinfahrt und in den Stein verankerten Halterungen für Fackeln sowie steinernen Klötzen, die das Aufsitzen aufs Pferd erleichterten.
Er war sehr mager und hatte weiße Haare, einen hellen, elfenbeinartigen Teint, eine lange Nase und einen großen schmallippigen Mund. Dazu scharf gemeißelte Züge wie ein Leichnam. Ich hatte noch nie eine Leiche gesehen, aber ich war überzeugt, daß Monsieur Renoré so aussah.
Im Winter trug er einen leicht taillierten Mantel mit Persianerkragen, und er hatte immer einen Stock mit Silberknauf in der Hand.
Es hieß, die Häuser gehörten nicht ihm, sondern den Jesuiten, und er sei selber so eine Art Laien-Jesuit. Zwei- oder dreimal pro Woche führte ihn sein Spaziergang beziehungsweise seine Inspektion bei uns vorbei. Er ging mit langsamen Schritten, wiegte dabei den Oberkörper vor und zurück und grüßte niemand. Er näherte sich dem Schaufenster und blieb lange davor stehen, was lächerlich war, da ein Mann sich nicht für eine Auslage von Baumwollstoffen, Damenkonfektion und Kurzwaren interessiert.
Meine Mutter bekam zittrige Finger, sobald sie seine Anwesenheit spürte, sobald sich seine Gestalt hinter der Schaufensterscheibe abzeichnete. Da war es um ihre Selbstbeherrschung geschehen. Sie wußte nicht mehr, was sie zu den Kundinnen sagen sollte, und ich glaube, sie hat sich dann schon mal beim Abmessen geirrt.
Was sah er sich an? Meine Mutter war es nicht, denn hinterher blieb er in gleicher Weise vor dem Fenster des Samenhändlers stehen, und da war keine Frau im Laden. Wollte er sich Klarheit darüber verschaffen, daß wir im Hause nichts kaputtgemacht hatten oder daß das Geschäft so florierte, daß wir die Miete pünktlich zahlen konnten?
»Unmöglich, daß es nicht gelingen soll, die Schenkung rückgängig zu machen!« wiederholte Tante Valérie gerade. »Erstens haben sie die Abmachungen gebrochen, nachdem sie nicht wie vereinbart bei mir im Hause gewohnt haben …«
»Haben sie sich schriftlich dazu verpflichtet?« fragte mein Vater.
Mir war das peinlich. Es wäre mir lieber gewesen, er hätte sich für die Sache mit dem Haus nicht interessiert.
»Schriftlich nicht, aber es ist vor dem Notar ausgesagt worden, der die Urkunde erstellt hat. Auch so eine Kanaille, der! Aber er wird vor Gericht wiederholen müssen, was er gehört hat …«
»Sie essen ja nichts, Tante … Und Sie auch nicht, Mademoiselle Pholien …«
Meine Mutter wollte, daß man aß. Sie nötigte die anderen, indem sie ihnen einfach etwas auflud. So, wie Mademoiselle Pholien ihrerseits mir etwas auf den Teller lud.
»Ich werde euch das Haus und die Möbel vermachen … Da ist auch noch Geld auf der Bank, das ich euch gebe, bevor ich sterbe …«
Welchen Freitag hatten wir? Nochmals: Ich weiß es nicht. Aber ist es nicht komisch, daß nichts mehr zur Sprache gebracht wurde, weder die morgendliche Szene noch meine zerbrochenen Tiere noch die Ohrfeige?
Der Rest ist noch verschwommener. Vielleicht hatte ich Schlaf. Ich wurde nicht sofort ins Bett gebracht, weil Mademoiselle Pholien noch in der Kammer zu nähen hatte. Die Läden vor dem Schaufenster waren geschlossen, und nur auf dem Oberlicht über der Tür wurde ein mit Regentropfen besetztes Stück Nacht sichtbar.
In einer Ecke des Ladens stand dicht bei der Wendeltreppe ein Pult, und mein Vater setzte sich dahinter. Tante Valérie war noch in der Küche geblieben. Meine Mutter legte die Stoffballen in die Regale zurück.
Manchmal rief ihr mein Vater etwas zu: »Ist noch von dem Madapolam CX 27 da?«
»Es war nur noch ein Kupon übrig. Ich hab ihn vorhin verkauft …«
»Und die doppelt breite Baumwolle in Ecru?«
»Ich hab den letzten Ballen angebrochen …«
Es ging also um die Bestellungen.
»Ist der Vertreter von Destrivoux & Söhne noch nicht vorbeigekommen? Ich hab Reklamationen wegen des geblümten Perkal von denen … Er ist offenbar nicht waschecht.«
Meine Tante setzte sich in Bewegung, ging in den Laden und pflanzte sich wie ein Turm zwischen den Ladentischen auf. Sie wußte nicht mehr recht, mit wem sie reden sollte, da meine Mutter sich emsig mit ihren Stoffballen zu schaffen machte, mein Vater beim Schreiben war und Mademoiselle Pholien mit der ratternden Nähmaschine die Decke zum Vibrieren brachte.
Ich war erfüllt von dem Wort ›Haus‹, und diese eine Silbe hatte an dem Abend für mich etwas Verdrießliches, ein wenig Beschämendes. Ich kann mich nicht erinnern, zum Schlafen nach oben gegangen zu sein, muß aber wie gewöhnlich meine Mutter geküßt und dann meinem Vater einen Kuß auf den Schnurrbart gedrückt haben.
Ob sie das später im Bett noch besprochen haben – all das mit dem Notar, der Erbschaft und Monsieur Livet?
›Da siehst du ja, Jérôme, daß du dich irrst‹, würde meine Mutter triumphierend sagen. ›Als Kind bildet man sich so schnell was ein!‹
Und doch irre ich mich nicht. Es hat sich tatsächlich so abgespielt. Warum ich früher aufgestanden bin als an anderen Tagen, dafür habe ich keine Erklärung. Das ist aber auch nicht so außergewöhnlich. Vielleicht war mir nicht gut.
Oder aber … Gewiß doch! Das ist das Nächstliegende. Es war ja immer wieder mal Großputz. Dann war den ganzen Tag über eine Putzhilfe da. Sie fing sehr früh an, noch ehe mein Vater aufbrach, damit der Laden rechtzeitig zur Öffnung fertig war. Meine Mutter half ihr, und sie hatte dabei ein schwarzes Tuch mit kleinen weißen Punkten um den Kopf gebunden. Wenn hinterher die Küche an die Reihe kam, machte sie oben rasch Toilette und nahm dann ihren Platz hinter dem Ladentisch ein.
Ja, so muß es gewesen sein … Bei solchen Gelegenheiten wurde mir das Frühstück nach oben gebracht, denn in der Küche wurden die Stühle auf den Tisch gestellt und die anderen Möbel in eine Ecke gerückt, bevor der Boden mit Scheuereimer und Schrubber bearbeitet wurde.
Das wäre eine Erklärung dafür, daß wir, Tante Valérie und ich, schon ab halb acht Uhr morgens bei dem halbkreisförmigen Fenster in der Kammer saßen, während es draußen noch fast dunkel war und die Straßenlaternen brannten.
Woran ich mich gut erinnere, das ist das Bild, das der Markt an diesem Samstag bot. Es war ein Tag mit dem ›großen Markt‹, und die Bäuerinnen aus der Umgebung hatten vier auf den Platz führende Straßen mit Beschlag belegt und sich mit ihren Körben, Hühner- und Kaninchenkäfigen hingesetzt.
Karren und Pferde hatten sie hinter der Markthalle gelassen, und von dort drüben kam Wiehern und das Stampfen von Hufen.
Es regnete nicht, das wunderte mich am meisten. Der Boden war noch feucht und dunkel, wie auch das langgestreckte Schieferdach der Markthalle. Das unerwartete aber – das, was die Häuserlandschaft veränderte – war der Nebel, den die gelben Lichtkreise der Gaslaternen kaum durchdrangen.
Es war kälter geworden. Die Leute hatten rote Nasen, und sie waren dauernd dabei, mit dem Taschentuch die Tropfen abzuwischen.
Die Tür zur Apotheke stand offen; eine alte Frau hatte den Boden aufgewischt und schob das Schmutzwasser mit dem Scheuertuch zur Schwelle. Ich sehe sie vor mir; sie wandte mir den Rücken zu, hatte den Kopf fast bis auf die beiden Stufen gesenkt, streckte den Hintern in die Höhe und hatte einen schmutzig-grauen Eimer neben sich.
Da waren Männer, die Kisten und Körbe schleppten, die Lastwagen entluden. Es war jetzt die Stunde der Plackerei, zu der der Markt noch denen von der Zunft gehörte, während die Hausfrauen noch den Morgenkaffee aufbrühten und eine Einkaufsliste machten.
»Ist es warm genug?«
Meine Mutter war im Eiltempo nach oben gekommen. Sie warf einen Blick in die Runde und vergewisserte sich, daß die Lampe in dem Petroleumofen nicht rauchte, da meine Tante sich nicht für Geld und gute Worte um so etwas gekümmert hätte.
»Kann ich noch was für Sie tun …? Was für ein Nebel! Da kann man mit den Schaufenstern ja grade noch mal anfangen!«
Ich wußte nicht, weshalb man mit den Schaufenstern noch mal anfangen sollte, und ich rätselte eine Weile an dieser Sache herum.
»Rufen Sie ruhig, wenn Sie irgendwas brauchen, Tante, ja? Und du, Jérôme, sieh zu, daß du artig bist … Nach den Weihnachtsferien gehst du mir wieder in die Schule. Jetzt lohnt sich’s nicht mehr …«
Morgens waren andere Gäste im ›Café Costard‹ als am Nachmittag. Am Morgen kamen die Obst- und Gemüsehändler, die Lkw-Fahrer und die Bäuerinnen, saßen dichtgedrängt an einer der ständig nassen Tischplatten und verzehrten unter großem Stimmengewirr und bei starkem Essensmief ihre von zu Hause mitgebrachten Brote.
Ich sah die vier den Platz betreten. Ich kannte sie nicht bis auf einen, habe aber sofort gespürt, daß ihre Ankunft etwas Ungewöhnliches zu bedeuten hatte. Da war ein großer Dünner mit einem taillierten Mantel und einem Monokel, der ein wichtiger Mann sein mußte. Ein kleiner Dicker ging neben ihm her, redete und gestikulierte dabei. Die beiden anderen sahen gewöhnlicher aus und hielten sich auf Distanz, als ob sie auf Anweisungen warteten.
Sie schlängelten sich durch das Marktgewoge und versuchten dabei, keine Spritzer auf ihre Mäntel zu bekommen. Dann sahen sie sich nach einer Stelle um, an der sie einigermaßen ungestört waren, stellten sich alle vier unter die große Uhr und schauten zu der Samenhandlung hinüber.
Der Große mit dem Monokel zog zwei- oder dreimal eine Taschenuhr hervor, drückte auf eine Feder, und dann sprang der Gehäusedeckel auf.
Wo war Tante Valérie? Im Moment saß sie nicht an ihrem Platz. Sie war wahrscheinlich auf dem Örtchen, das sie zweimal täglich zu festen Zeiten aufsuchte und dann jedesmal mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung verließ. Sie war bestimmt schmutzig. Ich sollte so was vielleicht nicht berichten, aber die Sache hat mich so schockiert, daß ich sie nicht verschweigen kann. Eines Tages also war ich vor ihr dort gewesen. Ich wußte, daß kein Papier mehr da war, weil ich das letzte Stück Zeitung verbraucht hatte. Und sie ist doch tatsächlich kommentarlos zurückgekommen und hat sich auf ihren Platz gesetzt, als ob nichts wäre!
Da unten ein weiterer Blick auf die Taschenuhr. Ich brauchte ja nur auf die große Uhr zu schauen: Es war eine oder zwei Minuten vor acht. Jetzt ein Zeichen des großen Dünnen. Der kleine Dicke setzte sich in Begleitung der beiden anderen in Bewegung, schlängelte sich erneut zwischen Bänken und Körben durch, ließ den einen Mann auf dem Trottoir vor der Samenhandlung zurück und betrat mit dem zweiten den schmalen Hauseingang neben dem Laden, der zu meinem Freund Albert hinaufführte.
Meine Mutter hätte gesagt, es sei das reinste Allerseelenwetter. Alles war weißlich-grau, alles war aufgeweicht, in Watte gepackt, irreal. Und die Geräusche hatten einen anderen Klang als sonst.
Der Inhaber der Samenhandlung, der ein flaches Käppchen aus schwarzem Satin auf dem kahlen Schädel trug, trat aus seinem stets dunklen Laden und sagte etwas zu dem draußen postierten Mann – was, kann ich nicht sagen. Ich kann auch nicht sagen, was der andere zur Antwort gab, aber er schaute zu dem halbrunden Fenster von Madame Rambures hinauf.
Und da hat es angefangen – ganz sacht und so unmerklich, daß ich, der ich doch gebannt zuschaute, nicht zu sagen vermocht hätte, wie es gekommen war: Die Leute haben begonnen, die Köpfe zu heben, sich in Gruppen zusammenzustellen. Und in der Zeit, die ich brauchte, mir selber das Fenster anzusehen, hatte sich unten schon ein Auflauf gebildet.
Der schwarze Vorhang war abgenommen. Das Zimmer wurde durch eine Petroleumlampe erhellt, weil drüben im ersten Stock kein Gasanschluß war. Albert saß in seinem kleinen, mit hochrotem Rips bezogenen Sesselchen, wie ich selber so gern eines gehabt hätte. Er war in der Unterhose, und seine Großmutter zog ihm gerade die Hose an.
Ich konnte sie nur in dieser vornübergebeugten Haltung halbwegs von Kopf bis Fuß sehen. Sie war schon fertig angezogen; im Morgenrock habe ich sie überhaupt nie zu Gesicht bekommen.
Sagte sie etwas zu ihm? Was redeten sie miteinander?
Dann hat sie den Kopf gehoben und ist verschwunden. Wahrscheinlich war an die Tür geklopft worden … Jetzt waren Männerbeine in schwarzen Schuhen und Hosen zu sehen, und mein Freund Albert war mit seiner halb hochgezogenen Samthose im Sessel liegengeblieben.
»Was ist los?« fragte meine Tante, die gerade zurückgekommen war.
Ich fuhr zusammen, als ob ich etwas angestellt hätte. Und jetzt bemerkte ich, daß Leute aus dem Café auf den Platz getreten waren und daß mindestens fünfzig Personen da herumstanden und nach oben sahen.
»Ich weiß nicht …«
»Sieht so aus, als ob sich da was abspielt … Geh und schau nach … Oder doch nicht … Wenn du dich erkältest, sagt deine Mutter wieder, es ist meine Schuld.«
»Ich geh nachsehen«, sagte ich.
»Jérôme! Nein … Du …«
Unten packte mich meine Mutter am Arm, als ich schon unter der Tür war. »Geh rauf, Jérôme … So was, das ist kein Anblick für dich …«
»Warum?«
»Darum! … Geh rauf! Außerdem ruft deine Tante nach dir.«
Wie lang mag ich unten gewesen sein? Als ich mich wieder an mein Fenster setzte, steckte Albert ordentlich in seiner Samthose. Ich sah nur die Beine des einen Mannes; der andere war nach unten gegangen und rief den Kollegen vom Trottoir herbei. – Der vierte, der mit dem Monokel, stand immer noch regungslos unter der großen Uhr und sah so aus, als würde er das Geschehen aus der Ferne dirigieren.
»Man könnte meinen, es ist die Polizei …«, murmelte Tante Valérie.
Ich wußte, daß es die Polizei war, weil ich den einen kannte – den, der ein Weilchen auf dem Trottoir geblieben war. Es war ein Mann mit langem Hals und vorspringendem Adamsapfel, der ab und zu auf dem Markt ein Protokoll aufzunehmen hatte.
Die Marktfrauen waren nicht alle von ihren Ständen weggelaufen. Der Betrieb ging trotz allem weiter, aber es gab verstreut diese und jene Gruppe, die auf das Haus mit der Samenhandlung schaute, und man merkte, daß die Leute leidenschaftlich diskutierten.
Was die drei Männer da drin machten? Der eine kam eben aus dem Haus, überbrachte dem Mann mit dem Monokel eine Meldung und rannte dann in einer anderen Richtung davon.
Die Käsefrau vor unserem Haus schlug sich mit ihren fetten Armen gegen die Hüften, um sich dadurch die Hände aufzuwärmen.
Und während meine Tante ihren Sessel näher ans Fenster rückte und mir dadurch die Sicht nahm, leierte sie ihre Sprüche herunter:
»Das wird noch übel enden … Wenn das erst mal anfängt … Kanaillen, alle miteinander … Gib mir meinen Umhang, Jérôme …«
Es hat zwei lange Stunden gedauert. Der Nebel hob sich nicht. Die Leute bewegten sich ständig in einer Wolke aus Feuchtigkeit. Die Nasen liefen, die Finger wurden steif, und die Hausfrauen gingen mit ihrem Netz oder der Einkaufstasche von Stand zu Stand, betasteten die Ware und gingen unter den Witzeleien der Marktfrauen mit würdevoller Miene weiter. – Ich glaube, es dürfte sich kaum jemand in den jeweiligen Gesten und dem Gesichtsausdruck von Marktbesucherinnen so gut auskennen wie ich – angefangen bei denen, die mit ihrem Dienstmädchen kamen, bis zu denen, die wie Madame Rambures eine halbe Stunde lang überlegten, bevor sie ein paar kleine billige Fische kauften und in der Zeit den Preis überschlugen – immer mit dem gleichen entmutigenden Ergebnis.
Wie sind diese anderen, diese Gestalten, auf den Platz gekommen? Wer hat ihnen Bescheid gegeben? Wo kamen sie her? Jedenfalls hat es nicht weit vom Café entfernt nach und nach eine Gruppierung von Männern gegeben – Männern mit harten Gesichtern, Schirmmützen und abgerissener Kleidung; solchen, denen ich es zutraute, daß sie den Pferden mit Rasiermessern die Sprunggelenke durchschnitten oder auf der Straße hinter Transparenten einhermarschierten.
Fast gleichzeitig mit diesen Männern waren uniformierte Polizisten aufgetaucht. Sie gingen betont gelassen auf und ab und ließen die anderen nicht aus den Augen.
Da lag etwas in der Luft zwischen den beiden Gruppen. Mißtrauen, aber auch eine gegenseitige Herausforderung. Als ob sie sagen wollten: ›Fang doch an, wenn du dich traust!‹, oder ›Legt doch los, ihr da drüben!‹
»Henriette! Henriette …!« schrie meine Tante von der obersten Treppenstufe.
»Ich komme …« Sie kam tatsächlich heraufgerannt. Sie war recht durcheinander.
»Was ist draußen los?«
»Das weiß man nicht … Die Polizei macht eine Haussuchung bei Madame Rambures – bestimmt wegen ihres Sohnes … Entschuldigen Sie mich, Tante, aber ich habe Kundschaft im Laden …«
Es war halb elf, als die Polizei abgezogen ist. Nicht die in Uniform, nur die beiden Männer, die um acht Uhr die Wohnung drüben betreten hatten. Ich hatte in der Zwischenzeit öfter ihre Beine und Füße zu sehen bekommen; sie hatten sich auch eine ganze Weile hingesetzt und mit Madame Rambures unterhalten. Der Dicke hatte dabei ein Notizbuch auf den Knien gehabt.
Der Mann mit dem Monokel hatte sich entfernt, als ob er die beiden anderen nicht kenne – um sich ein Stück weiter weg wieder mit ihnen zu treffen, da bin ich sicher. Heute bin ich der Ansicht, daß es irgendein hoher Beamter von der Präfektur war oder so was.
Drei Beamte … fünf … sechs … Um elf Uhr waren sie bereits zu acht. Sie patrouillierten jeweils zu zweit, machten sich dabei auf dem Trottoir möglichst breit, und ich nehme an, sie haben die Leute immer wieder zum Weitergehen aufgefordert.
Die Luft verfärbte sich schmutziggelb, als ob der hektische Betrieb auf dem Marktplatz den Nebel ganz allmählich angeschmutzt hätte. Ich merkte, daß die Gaslampen nicht gelöscht worden waren, wodurch dieser Tag vollends ungewöhnlich wurde.
Madame Rambures hängte plötzlich den schwarzen Vorhang vor ihr Fenster, und ich fragte mich, was Albert in dem dunklen Zimmer wohl anfangen konnte, ohne bedacht zu haben, daß sie natürlich vorher die Lampe angezündet hatten.
»Ich hab’s doch immer gesagt … Wenn solche Leute anfangen, Forderungen zu stellen, und man ihnen nicht rechtzeitig auf die Finger klopft …«
Von Zeit zu Zeit gab Tante Valérie zwischen zwei Seufzern den einen oder anderen Satz von sich, einfach so.
»Wann kommt die Zeitung, Jérôme? Ist es noch nicht soweit?«
Auf dem Markt verliefen die Geschäfte lebhaft und im üblichen Trott. Die Hausfrauen, die erst jetzt kamen, betrachteten erstaunt das Polizeiaufgebot hier und mit Besorgnis die Gruppe von Männern dort, die weiß Gott woher entsprungen schienen und in ihrem stummen Sarkasmus wie eine Bedrohung wirkten.
Ich habe an dem Vormittag weder an meine Spielzeugtiere gedacht noch an die Möbel. Ich bin nicht sicher, ob meine Mutter mir um zehn das Zuckerwasser mit Eigelb heraufgebracht hat, das ich zur Stärkung trinken sollte, weil ich offenbar nicht sehr robust war.
Heute bin ich der Ansicht, daß Kinder die Geschehnisse um sich herum zu scharf und zu intensiv registrieren, um das längere Zeit durchstehen zu können. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum jetzt wieder eine Lücke da ist.
Scharf werden die Bilder und Eindrücke für mich wieder von dem Moment an – wohl gegen drei, da es draußen fast dunkel war –, in dem meine Mutter endlich die Zeitung heraufbrachte, nachdem meine Tante zum soundsovielten Mal danach verlangt und laut in den Laden hinuntergerufen hatte.
Tante Valérie hat sich mit einem wahren Heißhunger auf die ersehnte Lektüre gestürzt. Ich mußte ihr die Brille bringen. Sie hat sich nicht die Mühe gemacht, sie zu putzen, obwohl eines der Gläser ganz verschmiert war.
»Also hör zu, Jérôme …:
›Schon seit Beginn der Ermittlungen gilt es für die Sûreté générale als gesichert, daß das Attentat an der Place de l’Etoile das Werk eines Einzeltäters ist. Die in ihrer Gefährlichkeit zwar nicht zu unterschätzende Bombe (die entstandenen Schäden wurden bereits beschrieben) war im übrigen von einfachster Bauart, so daß die Hypothese eines von Spezialisten organisierten Attentats auszuschließen ist.
Des weiteren sind dem königlichen Besuch besonders umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen vorausgegangen, so daß alle den bekannten Gruppierungen zuzurechnenden Verdächtigen streng überwacht oder gar in Präventivhaft genommen wurden.
Im Lauf des gestrigen Tages ist eine relativ große Anzahl von Personen, die sich unmittelbar am Ort des Attentats befanden, in die Sûreté geladen worden. Damit wurde der Tatsache Rechnung getragen, daß der Täter – wenn er infolge der entstandenen Panik auch entkommen konnte – von mehreren Umstehenden gesehen wurde, darunter einer ganzen Familie aus der Avenue des Ternes, die auf einer Auszugsleiter postiert war.
Die Polizei hat, wie bei derlei Ermittlungen üblich, in stundenlanger akribischer Kleinarbeit allen Personen, die den Attentäter gesehen haben könnten, mehrere hundert Fotos von Verdächtigen vorgelegt.
Wie verlautet, wurde der Verdacht durch mindestens fünf übereinstimmende Zeugenaussagen auf einen aus der französischen Provinz stammenden Mann gelenkt, der sich bereits früher unter ähnlichen Umständen strafbar gemacht hat.
Der potentielle Täter gilt als irregeleiteter Sohn aus gutem Hause; um das Fahndungsergebnis jedoch nicht zu gefährden, sind genauere Hinweise zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich.
Die entsprechenden Rechtshilfeersuche sind ergangen. Wir hoffen, bis in Kürze detailliert über diesen Fall berichten zu können, der glücklicherweise nicht die auf internationaler Ebene zu befürchtenden Folgen nach sich gezogen hat …‹«.
Da waren viele Worte, die ich nicht verstand. Tante Valérie hat bestimmte Sätze, die ihr wohl besonders gut gefielen, zwei- oder dreimal vorgelesen.
»Das ist bestimmt der Sohn!« schloß sie mit Nachdruck. Damit hat sie auf den morgendlichen Polizeibesuch in der Wohnung der Rambures’ angespielt.
Der Sohn, das war für mich aber Albert. Ich verstand überhaupt nichts mehr. Ich war wie vom Blitz getroffen.
»Demnach haben sie ihn scheint’s nicht aufgespürt …«
Ich dachte angestrengt nach. Ihn nicht aufgespürt? Aber Albert war doch dagewesen, er hatte ohne Hose dagesessen, als der Kommissar hereinkam!
»Wäre ja immerhin ganz schön dreist von ihm, sich ausgerechnet bei seiner Mutter zu verstecken …«
Das war zuviel. Ich war unfähig, das alles aufzunehmen. Mein Kopf war heiß, und es schwirrte alles darin herum.
Und dann … Was mir vor allem Angst einflößte, war der Anblick der beiden Gruppen unten: hier die Polizisten, die so taten, als spazierten sie einfach in der Gegend herum, und dort diese Handvoll Männer, die weiß der Himmel warum immer noch auf dem Platz herumstanden, auf dem sie nichts zu suchen hatten.
Ich hatte Angst, schreckliche Angst!