6
Ricain war mit unsicheren, zögernden Schritten durch die Tür hinausgegangen, wie ein Vogel, der sich nicht recht aus dem offenstehenden Käfig traut. Janvier sah seinen Chef fragend an. Wurde er wirklich ohne jede Überwachung einfach so in die freie Wildbahn entlassen?
Maigret tat so, als ob er die stumme Frage nicht verstehe, und blätterte weiter in seinen Akten, erhob sich schließlich seufzend und trat ans Fenster.
Er war schlechter Laune. Janvier war ins Büro der Inspektoren hinübergegangen, wo er sich im Flüsterton mit Lapointe besprach, als der Kommissar dazukam. Unwillkürlich fuhren die beiden Männer auseinander, aber das war völlig unnötig, denn Maigret schien sie überhaupt nicht wahrzunehmen.
So lief er von einem Büro ins andere, als wüsste er nicht, was er mit sich anfangen sollte. Er blieb vor einer Schreibmaschine, einem Telefon oder einem leeren Stuhl stehen und schob ohne jeden Grund einen Bogen Papier zur Seite.
Schließlich brummte er:
»Gebt meiner Frau Bescheid, dass ich zum Mittagessen nicht nach Hause komme.«
Die Tatsache, dass er nicht selbst telefonierte, sagte alles. Niemand traute sich, einen Ton zu sagen, noch weniger eine Frage zu stellen. Im Inspektorenbüro warteten alle gespannt ab. Er spürte es wohl, zuckte die Achseln, kehrte in sein eigenes Büro zurück und griff nach seinem Hut.
Er sagte weder, wohin er ging, noch, wann er zurück sein würde, gab keinerlei Anweisungen, als ob ihm die ganze Angelegenheit plötzlich völlig gleichgültig wäre.
Auf der breiten, staubigen Treppe klopfte er flüchtig seine Pfeife am Schuhabsatz aus, durchquerte den Hof, ging grüßend am Wachposten vorbei und wandte sich zur Place Dauphine.
Schon möglich, dass er eigentlich woandershin wollte. Im Geiste wanderte er in dem ihm so unvertrauten Viertel umher, auf dem Boulevard Grenelle, der Rue Saint-Charles, der Avenue La Motte-Picquet.
Er sah die Metro vor sich, die hier oberirdisch verlief und deren dunkle Schienen als Diagonale in den Himmel ragten, vermeinte das dumpfe Rattern der Waggons zu hören … Dann versetzte er sich wieder in die lauschige, ein wenig übertrieben herzliche Atmosphäre im ›Vieux-Pressoir‹, dachte an die allzu fröhliche Rose, die sich immer wieder die Hände an der Schürze abwischte, rief sich das wächserne Gesicht des ehemaligen Stuntmans und sein ironisches Lächeln ins Gedächtnis …
Da war auch Maki, der sanfte, schwere Mann in seiner Ecke, dessen Augen mit jedem Glas trüber und ausdrucksloser wurden … Gérard Dramin mit dem ausgezehrten Gesicht, der ständig an seinem Drehbuch korrigierte … Carus, der sich so eifrig bemühte, zu allen freundschaftlichen Kontakt zu pflegen, und die von Kopf bis Fuß künstliche Nora mit ihrem gebleichten Haar.
Es war wohl die Macht der Gewohnheit, dass er seinen Schritt, ohne sich dessen bewusst zu sein, zur ›Brasserie Dauphine‹ lenkte. Geistesabwesend nickte er dem Wirt zu, sog den angenehmen Geruch der Gaststätte ein, ging an seinen Ecktisch, setzte sich auf die Bank, wo er schon tausendmal Platz genommen hatte.
»Wir haben heute andouillette, Monsieur Maigret.«
»Mit Kartoffelbrei?«
»Und was möchten Sie vorher?«
»Irgendwas. Eine Karaffe Sancerre.«
Sein Kollege vom Nachrichtendienst aß in einer Ecke zusammen mit einem Beamten vom Innenministerium, den Maigret nur vom Sehen kannte. Die anderen Gäste waren fast ausnahmslos Stammkunden, überwiegend Anwälte, die bald über den Platz eilen würden, um im gegenüberliegenden Palais de Justice ihr Plädoyer zu halten, außerdem ein Untersuchungsrichter und ein Inspektor vom Überwachungsdienst der Spielbanken.
Auch dem Wirt war schnell klar, dass Maigret jetzt nicht für ein Gespräch aufgelegt war. Dieser kaute langsam, gewissenhaft, als vollziehe er eine feierliche Handlung.
Eine halbe Stunde später schlenderte er mit auf dem Rücken verschränkten Händen – wie ein alleinstehender Herr, der seinen Hund ausführt – einmal um den Palais de Justice herum, ohne auf seine Umgebung zu achten, schließlich stieg er die Treppe hoch und stieß die Tür zu seinem Büro auf.
Dort erwartete ihn eine Nachricht von Gastinne-Renette, wenn auch noch kein abschließender Bericht. Bei der aus der Seine gefischten Pistole handelte es sich sehr wohl um die Waffe, aus der der Schuss in der Rue Saint-Charles abgefeuert worden war.
Wieder hob er nur die Schultern, denn das hatte er schon im Voraus gewusst. Mitunter fühlte er sich von all diesen zweitrangigen Fragen, von diesen Berichten, Telefonaten, dem ständigen routinemäßigen Kommen und Gehen wie überschwemmt.
Joseph, der alte Bürodiener, klopfte leise an die Tür und trat sofort ein, ohne die Antwort abzuwarten, wie es seine Angewohnheit war.
»Ein Herr möchte Sie sprechen …«
Maigret nahm ihm den Zettel aus der Hand und warf einen kurzen Blick darauf:
»Führ ihn herein.«
Der Mann trug einen schwarzen Anzug, was einen seltsamen Kontrast zu seinem gebräunten Teint und dem silbergrauen Haarschopf bildete.
»Nehmen Sie Platz, Monsieur Le Gal. Mein herzliches Beileid …«
Der Mann hatte sich im Zug ausweinen können, und er schien sich Mut angetrunken zu haben. Seine Augen blickten trübe, und er sprach mit schwerer Zunge.
»Wo hat man sie hingebracht? … Ich wollte nicht in ihre Wohnung gehen, um diesen Mann nicht anzutreffen, denn ich fürchte, ich könnte ihn eigenhändig erwürgen …«
Wie oft schon hatte Maigret solche und ähnliche Reaktionen seitens der Angehörigen erlebt?
»Der Leichnam befindet sich nicht mehr in der Rue Saint-Charles, sondern im Gerichtsmedizinischen Institut …«
»Wo ist das?«
»Gleich neben dem Pont d’Austerlitz am Quai. Ich lasse Sie dort hinbringen, denn es ist unbedingt notwendig, dass Sie Ihre Tochter identifizieren.«
»Hat sie gelitten?«
Er ballte die Fäuste, doch fehlte es ihm an der rechten Überzeugung. Man spürte, dass sich seine Tatkraft während der langen Fahrt verflüchtigt hatte, auch sein Zorn war verraucht, so dass er jetzt mit leerem Kopf nur vorformulierte Sätze sprach, an die er selbst nicht mehr glaubte.
»Ich hoffe, Sie haben ihn festgenommen.«
»Wir haben keine Beweise gegen den Ehemann.«
»Aber Kommissar, schon als sie uns das erste Mal von diesem Kerl erzählt hat, habe ich gewusst, dass die Sache ein böses Ende nehmen würde …«
»Ist er denn einmal nach Concarneau mitgekommen?«
»Ich habe ihn nie gesehen … Nur ein schlechtes Foto … Sie hat keinen Wert darauf gelegt, ihn uns vorzustellen … Kaum hatte sie ihn kennengelernt, da existierte die Familie nicht mehr für sie …
Sie hatte nur eines im Sinn: so schnell wie möglich heiraten … Sie hat sogar selber die Einverständniserklärung getippt, ich musste nur noch unterschreiben … Ihre Mutter wollte mich daran hindern … Schließlich habe ich nachgegeben, so dass ich mich jetzt mitverantwortlich fühle für das, was passiert ist …«
Gab es nicht immer wieder bei jedem neuen Fall diese Mischung aus herzbewegenden Gefühlen und Erbärmlichkeit?
»Ist sie Ihre einzige Tochter?«
»Zum Glück haben wir noch einen fünfzehnjährigen Sohn.«
Im Grunde war Sophie schon seit langem aus ihrem Leben verschwunden.
»Kann ich sie nach Concarneau überführen lassen?«
»Was uns betrifft, so sind alle Formalitäten erledigt.«
›Formalitäten‹ hatte er gesagt!
»Hat man sie … Ich meine, gab es eine …«
»Eine Obduktion, ja, ja. Ich rate Ihnen, sich wegen der Überführung an ein Bestattungsinstitut zu wenden, das das Nötige veranlasst.«
»Und er?«
»Ich habe mit ihm darüber gesprochen. Er hat nichts gegen eine Beerdigung in Concarneau einzuwenden.«
»Ich hoffe nur, dass er nicht die Absicht hat, zu kommen … Dann könnte ich für nichts garantieren … Kaltes Blut zu bewahren, so wie ich, das ist bei uns nicht jedermanns Sache …«
»Ich weiß. Ich werde dafür sorgen, dass er in Paris bleibt.«
»Er war es doch, oder?«
»Ich muss Ihnen sagen, dass ich es nicht weiß.«
»Wer soll sie denn sonst ermordet haben? Sie sah doch alles nur noch mit seinen Augen. Er hatte sie im wahrsten Sinne des Wortes hypnotisiert. Seit ihrer Hochzeit hat sie uns keine drei Briefe geschrieben, und es war ihr schon zu viel, uns Neujahrswünsche zu schicken …
Ihre Adresse habe ich aus der Zeitung erfahren … Ich dachte, sie wohnen noch in der kleinen Pension in der Rue Montmartre, wo sie nach ihrer Hochzeit … Was für eine armselige Hochzeit, ohne Eltern, ohne Freunde! … Meinen Sie denn, dass das Glück bringen kann? …«
Maigret ließ ihn ausreden, nickte mitfühlend, doch dann begleitete er den Besucher, der eine starke Alkoholfahne hatte, an die Tür.
Wie stand es mit Ricains Vater? Würde er sich nun auch melden? Maigret war sicher, dass er bei ihm vorsprechen würde. Er hatte einen Inspektor nach Orly geschickt, einen anderen ins ›Hôtel Raphaël‹, um die Seite des Registers zu fotografieren, die der Portier ihm gezeigt hatte.
»Zwei Journalisten, Kommissar …«
»Sag ihnen, sie sollen sich an Janvier wenden.«
Dieser kam gleich darauf ins Büro.
»Was soll ich ihnen erzählen?«
»Irgendwas. Dass die Ermittlungen Fortschritte machen.«
»Sie waren davon überzeugt, dass Ricain hier sei, und haben einen Fotografen mitgebracht.«
»Dann sollen sie ihn halt suchen. Sie können ja an seiner Wohnung klingeln, wenn ihnen der Sinn danach steht.«
Bedächtig nahm er den Faden seiner Überlegungen wieder auf, die sich aus verschiedenen, widersprüchlichen Gedankengängen zusammensetzten. War es richtig gewesen, den übererregten Francis freizulassen? Weit würde er mit den zwanzig Franc nicht kommen, die der Kommissar ihm gegeben hatte. Er würde bald wieder in Geldnöten stecken, an verschiedene Türen klopfen, seine Freunde abklappern.
»Es ist doch immerhin nicht meine Schuld, wenn …«
Es war gerade so, als hätte Maigret ein schlechtes Gewissen, als hätte er sich etwas vorzuwerfen. Dauernd kehrten seine Gedanken zu dem Moment zurück, wo die ganze Sache ins Rollen gekommen war, nämlich zu dem Vorfall auf der Plattform des Busses.
Er sah die Frau mit dem ausdruckslosen Gesicht vor sich, deren Einkaufsnetz ihm gegen die Beine stieß. Ein Hühnchen, Butter, Eier, Lauch, Stangensellerie. Er hatte sich noch gefragt, warum sie zum Einkaufen eine so lange Busfahrt auf sich nahm.
Ein junger Mann rauchte eine zu kurze, zu dicke Pfeife. Seine blonde Mähne war so hell wie Noras gebleichtes Haar.
Zu diesem Zeitpunkt kannte er das ehemalige Mannequin noch nicht, das Carus im ›Raphaël‹ und auch sonst überall als seine Frau ausgab.
Er hatte für einen Augenblick das Gleichgewicht verloren, und jemand hatte ihm unmerklich seine Brieftasche aus der Gesäßtasche gezogen.
Diesen Augenblick hätte er gern genau durchleuchtet, denn er schien ihm ausschlaggebend. Dann war der Unbekannte vom fahrenden Bus abgesprungen, hatte sich an den Hausfrauen vorbeigedrängt und war kreuz und quer durch die engen Gassen des Marais-Viertels gerannt.
Der Kommissar sah ihn noch genau vor sich. Schon in diesem Moment war er sicher gewesen, dass er den Dieb wiedererkennen würde, denn er hatte sich noch einmal umgedreht.
Warum hatte er sich eigentlich umgedreht? Und warum hatte er die Brieftasche, nachdem er herausgefunden hatte, dass sie Maigret gehörte, in einen braunen Briefumschlag gesteckt und wieder an den rechtmäßigen Eigentümer zurückgeschickt?
Schon zu dem Zeitpunkt, als er den Diebstahl beging, glaubte er, dass die Polizei hinter ihm her sei … Er war davon überzeugt, dass man ihn des Mordes an seiner Frau anklagen und verhaften würde … Seine Angst vor der Festnahme hatte er mit einem merkwürdigen Argument begründet: Klaustrophobie …
In seiner dreißigjährigen Laufbahn war es noch nie vorgekommen, dass ein Verdächtiger damit seine Flucht begründete, doch bei genauerem Nachdenken musste Maigret zugeben, dass das nicht ausgeschlossen war. Er selber fuhr nur dann mit der Metro, wenn es sich nicht umgehen ließ, denn er hatte jedes Mal das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
Hing das nicht auch mit seiner Manie zusammen, andauernd aufzustehen und sich ans Bürofenster zu stellen?
Bisweilen erntete er Kritik – besonders von den Herren der Staatsanwaltschaft –, weil er persönlich Aufgaben übernahm, die eigentlich seinen Inspektoren vorbehalten waren, und weil er sich höchstpersönlich an den Tatort begab, um die Zeugen zu vernehmen, statt sie vorzuladen, und sogar ohne ersichtlichen Grund mehrmals dorthin zurückkehrte, ja, sich manchmal sogar selber in der prallen Sonne oder bei Regen um die heimliche Überwachung kümmerte.
Er war gern in seinem Büro, aber länger als zwei Stunden hielt er es darin nicht aus. Während der Ermittlungen wäre er am liebsten überall gleichzeitig gewesen.
Um diese Zeit hielt Bob Mandille sicher seinen Mittagsschlaf, denn das ›Vieux-Pressoir‹ schloss spät in der Nacht. Ob Rose sich wohl auch hinlegte? Was hätte sie ihm erzählt, wenn sie sich im leeren Restaurant gegenübergesessen hätten?
Jeder hatte von Ricain und Sophie eine andere Meinung, die sogar nach einigen Stunden ins Gegenteil umschlagen konnte, wie er es bei Carus erlebt hatte.
Was für ein Mensch war Sophie wirklich gewesen? Eines dieser Mädchen, die sich jedem Mann an den Hals werfen? Oder war sie so ambitioniert, dass sie sich eingebildet hatte, Francis könnte ihr zu einer Karriere als Filmstar verhelfen?
Sie traf den Produzenten heimlich in ihrem Liebesnest in der Rue François-1er, jedenfalls hatte Carus das behauptet.
Ricains Eifersucht wurde mehrfach erwähnt und dass er seine Frau praktisch nie allein ließ. Und doch störte es ihn nicht, sich von ihrem Liebhaber Geld zu borgen.
Wusste er Bescheid? Verschloss er absichtlich die Augen?
»Führen Sie ihn herein …«
Er hatte damit gerechnet. Es war der Vater, Ricains Vater, ein großer, kräftiger Mann, der trotz seiner stahlgrauen Haare, die er im Bürstenschnitt trug, noch jugendlich wirkte.
»Ich wusste nicht recht, ob ich kommen sollte …«
»Nehmen Sie Platz, Monsieur Ricain.«
»Ist er hier?«
»Nein. Heute Morgen war er noch in meinem Büro, aber inzwischen hat er das Polizeigebäude verlassen.«
Der Mann hatte ein scharfgeschnittenes Gesicht, helle Augen, die nachdenklich dreinblickten.
»Ich wäre gern schon früher gekommen, aber ich hatte Dienst auf der Linie Ventimiglia-Paris …«
»Wann haben Sie Francis zum letzten Mal gesehen?«
Überrascht wiederholte er:
»Francis?«
»So nennen ihn fast alle seine Freunde.«
»Wir haben ihn François genannt. Da muss ich einen Moment nachdenken … Er hat mich kurz vor Weihnachten besucht …«
»Hatten Sie ein gutes Verhältnis zueinander?«
»Ich habe ihn nur selten zu Gesicht bekommen.«
»Und seine Frau?«
»Er hat sie mir kurz vor seiner Hochzeit vorgestellt.«
»Wie alt war er beim Tod seiner Mutter?«
»Fünfzehn … Er war ein braver Junge, aber manchmal auch recht schwierig und rechthaberisch … Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte … Ich wollte, dass er zur Bahn geht … Nicht unbedingt als Arbeiter … Er hätte auch in der Verwaltung eine gute Stelle finden können.«
»Warum hat er Sie kurz vor Weihnachten aufgesucht?«
»Natürlich, weil er Geld brauchte … Er ist immer nur deswegen gekommen. Er hatte ja keinen richtigen Beruf … Er tat sich furchtbar wichtig mit seiner Schreiberei, behauptete, eines Tages würde er damit berühmt.
Ich hab getan, was ich konnte … Aber anbinden konnte ich ihn ja schließlich nicht … Oft war ich drei Tage lang von zu Hause weg … Für ihn war es auch nicht immer schön, in eine leere Wohnung heimzukommen und sich sein Essen selber zu kochen … Was ist denn Ihre Meinung, Herr Kommissar?«
»Ich weiß nicht so recht.«
Der Mann war sichtlich überrascht. Dass ein hoher Polizeibeamter keine eindeutige Meinung hatte, überstieg seine Vorstellungskraft.
»Halten Sie ihn denn nicht für schuldig?«
»Bislang gibt es keinen eindeutigen Beweis dafür, auch keinen eindeutigen dagegen.«
»Diese Frau hatte doch keinen guten Einfluss auf ihn, finden Sie nicht auch? Sie hat es nicht einmal für nötig gehalten, ein Kleid anzuziehen, als er sie mir vorgestellt hat. Sie kam in Hosen, und ihre Schuhe waren völlig runtergelatscht! Nicht einmal frisiert hatte sie sich … Nun ja, so laufen heutzutage viele auf der Straße herum …«
Dann trat ein längeres Schweigen ein. Monsieur Ricain beobachtete Maigret aus den Augenwinkeln. Schließlich holte er aus seiner abgegriffenen Brieftasche mehrere Hundertfrancscheine hervor.
»Es ist wohl besser, ich gehe nicht zu ihm … Wenn er mich sehen will, dann weiß er ja, wo ich wohne … Ich nehme an, dass er auch jetzt kein Geld hat. Er kann es vielleicht gebrauchen, um sich einen guten Anwalt zu nehmen.«
Wieder trat eine Pause ein. Dann kam die Frage:
»Haben Sie Kinder, Herr Kommissar?«
»Leider nein.«
»Ich möchte nicht, dass er sich im Stich gelassen fühlt … Was er auch Schlimmes angestellt hat, verantwortlich ist er nicht dafür. Sagen Sie ihm, wie ich darüber denke … Sagen Sie ihm, dass er jederzeit nach Hause kommen kann. Zwingen will ich ihn nicht … Ich verstehe ihn.«
Gerührt sah Maigret auf die Geldscheine, die von einer breiten, schwieligen Hand mit viereckigen Fingernägeln auf den Schreibtisch geschoben wurden.
»Tja …«, seufzte der Vater, erhob sich und nestelte an seinem Hut herum.
»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, so darf ich noch hoffen, dass er unschuldig ist … Wissen Sie, ich bin davon überzeugt … Was immer auch in der Zeitung steht, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er so etwas getan hat …«
Der Kommissar begleitete ihn bis zur Tür, drückte ihm die Hand, die sich ihm zögernd entgegenstreckte.
»Besteht noch Hoffnung?«
»Man soll die Hoffnung nie aufgeben.«
Als er wieder allein war, überlegte er, ob er nicht Doktor Pardon anrufen sollte. Er hätte sich jetzt gern mit ihm unterhalten, ihm eine Menge Fragen gestellt, obwohl sein Freund weder Psychiater noch Psychologe war.
Doch als praktischer Arzt in einem dichtbevölkerten Stadtviertel hatte er schon alles Mögliche erlebt, und oft hatten Maigret die klugen Bemerkungen Doktor Pardons wertvolle Hinweise gegeben.
Doch um diese Zeit befand er sich in seiner Praxis, wo an die zwanzig Patienten im Wartezimmer saßen. Ihr allmonatliches Abendessen aber fand erst in der folgenden Woche statt.
Wie sonderbar: Ganz plötzlich überkam ihn ein Gefühl der Verlassenheit, ohne dass er einen wirklichen Grund dafür hätte angeben können.
Er war nur ein Rädchen in der komplizierten Maschinerie der Justiz, er verfügte über Spezialisten, Inspektoren, Telefon, Telegraph und auch sonst jedmögliche Unterstützung. Er wiederum unterstand der Staatsanwaltschaft und dem Untersuchungsrichter. Die höchste und letzte Instanz aber waren die Richter und die Geschworenen.
Warum fühlte er sich nichtsdestotrotz allein verantwortlich? Ihm war, als hinge das Schicksal eines Menschen einzig von ihm ab – obwohl er noch nicht einmal wusste, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte –, eines Menschen jedenfalls, der die Pistole aus der Schublade der weißgestrichenen Kommode herausgenommen und damit auf Sophie geschossen hatte.
Ein Detail hatte ihm von Anfang an zu schaffen gemacht, für das er auch jetzt keine ausreichende Erklärung fand. Dass jemand im Streit oder im Augenblick starker Erregung auf den Kopf des Gegners zielt, ist sehr ungewöhnlich.
Selbst wenn man sich verteidigt, zielt man unwillkürlich auf die Brust, und nur Berufskiller schießen in den Bauch, da sie wissen, dass man solche Schüsse selten überlebt.
Der Mörder war von seinem Opfer nur etwa einen Meter entfernt gewesen und hatte auf den Kopf gezielt … Wollte er einen Selbstmord vortäuschen?
Nein, denn er hatte ja die Waffe in der Wohnung zurückgelassen, wenn man Ricain Glauben schenken durfte.
Das Ehepaar kehrte gegen zehn Uhr nach Hause zurück. Die beiden waren in Geldnot … Entgegen seiner Gewohnheit ließ Francis seine Frau in der Rue Saint-Charles zurück und machte sich auf die Suche nach Carus oder einem anderen Bekannten, der ihm mit zweitausend Franc aus der Klemme helfen konnte.
Warum hatte er so lange gewartet? Er wusste doch, dass er die Summe schon am nächsten Morgen bezahlen musste!
Er ging noch einmal zum ›Vieux-Pressoir‹, öffnete die Tür einen Spaltbreit, nur um zu sehen, ob der Produzent eingetroffen war.
Zu dieser Zeit befand sich Carus bereits in Frankfurt, das wurde eben in Orly nachgeprüft. Weder Bob noch sonst jemand aus der Clique wusste darüber Bescheid …
Nora dagegen war in Paris … Und zwar nicht in ihrer Hotelsuite, wie sie heute Morgen behauptet hatte, denn das Register am Empfang widerlegte diese Aussage …
Warum aber hatte sie die Unwahrheit gesagt? Wusste Carus, dass sie ausgegangen war? Hatte er sie bei seiner Ankunft in Frankfurt denn nicht angerufen? …
Das Telefon klingelte.
»Hallo … Doktor Delaplanque möchte Sie sprechen … Soll ich durchstellen?«
»Ja, bitte … Hallo? …«
»Maigret? Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber da ist etwas, das mir seit heute Morgen keine Ruhe lässt. Ich habe es in meinem Bericht nicht erwähnt, da die Sache nicht ganz eindeutig ist … Während der Obduktion habe ich an den Handgelenken der Leiche Spuren festgestellt, die darauf hindeuten, dass jemand sie sehr hart angefasst hat … Es sind keine richtigen Blutergüsse …«
»Und was noch? …«
»Das ist alles … Ich will zwar nicht meine Hand dafür ins Feuer legen, dass dem Mord eine handgreifliche Auseinandersetzung vorausging, aber wundern würde es mich nicht … Ich könnte mir vorstellen, dass der Angreifer sie an den Handgelenken gepackt und sie weggestoßen hat … Gut möglich, dass sie aufs Sofa gefallen ist, sich wieder aufgerichtet hat und dass jemand genau in diesem Moment auf sie geschossen hat … So ließe sich auch erklären, dass die Kugel in einer Höhe von etwa einem Meter zwanzig in der Wand gefunden wurde, denn wenn die junge Frau aufrecht gestanden hätte …«
»Ich verstehe. Sind die Striemen mit bloßem Auge erkennbar?«
»Nur eine Druckstelle ist ein bisschen deutlicher zu sehen. Sie könnte von einem Daumen stammen, aber ganz sicher lässt sich das nicht sagen. Aus diesem Grund konnte ich diesen Punkt nicht in meinen offiziellen Bericht aufnehmen … Aber vielleicht können Sie etwas damit anfangen …«
»So, wie die Dinge im Moment liegen, muss ich alles berücksichtigen. Vielen Dank, Doktor.«
Janvier stand schweigend in der Tür.
Wieder hatte er sich, diesmal allein, mit grimmiger Miene ins Grenelle-Viertel begeben, so als ob es eine Sache zwischen ihm und diesem Viertel wäre. Er war am Seine-Ufer entlanggeschlendert, vierzig Meter unterhalb des Pont Bir-Hakeim stehen geblieben, genau an der Stelle, wo die Pistole in den Fluss geworfen und wieder herausgefischt worden war, dann war er auf das große Gebäude am Boulevard de Grenelle Nummer 9 zugegangen.
Er blieb eine Zeitlang vor dem Eingang stehen, ging schließlich hinein und klopfte ans Glasfenster der Conciergeloge. Die Concierge war eine junge, liebenswürdige Person, die ihn in ein helles, freundliches Wohnzimmer bat.
Er zeigte ihr seine Dienstmarke und fragte:
»Sind Sie für die Mietzahlungen zuständig?«
»Ja, Herr Kommissar.«
»Sie kennen natürlich François Ricain?«
»Sie wohnen in einer der Einzimmerwohnungen, die auf den Hof rausgehen, und kommen selten hier vorbei … Ich meine, sie kamen selten vorbei … Ach ja, ich habe gehört, dass er wieder hier ist … Aber sie … Natürlich habe ich die beiden gekannt, und es war mir sehr peinlich, ihnen dauernd eine Mahnung schreiben zu müssen. Im Januar haben sie um eine Zahlungsfrist von einem Monat gebeten, am fünfzehnten Februar wollten sie eine weitere Stundung … Der Hausbesitzer hat verfügt, dass sie die Wohnung räumen müssen, wenn sie am fünfzehnten März nicht die sechs Monate, die sie im Rückstand sind, bezahlen …«
»Haben sie bezahlt?«
»Der fünfzehnte war vorgestern …«
Der Mittwoch …
»Haben Sie sich nicht gewundert, dass sie nicht bei Ihnen aufgetaucht sind?«
»Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie zahlen würden … Am Morgen hat Monsieur Ricain seine Post nicht abgeholt, und da habe ich mir gedacht, dass er mir wohl lieber nicht über den Weg laufen wollte. Sie haben übrigens nur selten Briefe bekommen, meistens nur Prospekte und Magazine, die sie abonniert hatten … Am Nachmittag habe ich an ihre Tür geklopft, aber es hat niemand aufgemacht …
Am Donnerstagmorgen habe ich es wieder versucht, und da immer noch keiner aufgemacht hat, habe ich einen der Mieter gefragt, ob er etwas gehört hat … Ich habe sogar schon überlegt, ob sie sich vielleicht bei Nacht und Nebel aus dem Staub gemacht haben … Das wäre ja sehr einfach möglich gewesen, weil das Tor zur Rue Saint-Charles immer offen steht.«
»Was halten Sie von Ricain?«
»Ich habe nicht besonders viel von ihm mitgekriegt … Von Zeit zu Zeit hat sich mal der eine oder andere Mieter beschwert, weil sie bis in die frühen Morgenstunden Musik gemacht haben oder Freunde bei sich hatten, aber das machen andere Leute hier auch, vor allem die jungen … Er sah ein bisschen wie ein Künstler aus.«
»Und sie?«
»Was soll ich zu ihr sagen? Sie haben beide am Hungertuch genagt … Ein schönes Leben hatte sie nicht … Ist es denn erwiesen, dass es kein Selbstmord war?«
Er erfuhr nichts Neues und insistierte deshalb auch nicht allzu sehr. Er schlenderte umher, sah sich das Straßenschild, die Häuser, die offenen Fenster und die kleinen Läden an.
Um sieben Uhr stieß er die Tür zum ›Vieux-Pressoir‹ auf und war fast enttäuscht, dass er Fernande nicht auf ihrem Barhocker fand.
Bob Mandille saß an einem Tisch und las die Abendzeitung, während der Kellner letzte Hand an die Tischdekoration legte, indem er auf jede gewürfelte Decke eine Kristallvase mit einer Rose stellte.
»Da sieh mal an! Der Kommissar …«
Bob stand auf, um Maigret die Hand zu drücken.
»Und, was haben Sie herausgefunden? Die Journalisten sind schon ganz ärgerlich. Sie behaupten, sie würden von der Polizei bewusst im Ungewissen gelassen …«
»Wir haben ganz einfach im Moment nichts zu sagen.«
»Stimmt es, dass Sie Francis freigelassen haben?«
»Wir haben ihn gar nie festgenommen, Francis Ricain kann kommen und gehen, wie es ihm beliebt. Wer hat Ihnen das erzählt?«
»Huguet, der Fotograf, der im selben Mietshaus wohnt, im vierten Stock. Er ist der Mann mit den zwei Frauen, der noch einer Dritten ein Kind gemacht hat … Er hat ihn im Hof gesehen, als er in seine Wohnung zurückkam … Eigentlich wundert es mich, dass er nicht bei mir war … Sagen Sie mal, hat er denn überhaupt Geld?«
»Ich habe ihm zwanzig Franc gegeben, damit er etwas essen und mit dem Bus fahren kann …«
»Na, dann wird er wohl bald hier aufkreuzen … Es sei denn, er hat bei seiner Zeitung vorbeigeschaut, und die Kasse war ausnahmsweise mal nicht leer … Manchmal geschehen ja Wunder …«
»Haben Sie Nora am Mittwochabend gesehen?«
»Nein, hier ist sie nicht gewesen … Übrigens erinnere ich mich nicht, sie jemals ohne Carus gesehen zu haben, und Carus war auf Dienstreise.«
»Ja, in Deutschland. Sie ist allein ausgegangen. Ich frage mich nur, wo sie gewesen ist.«
»Hat sie es Ihnen nicht gesagt?«
»Sie behauptet, gegen neun Uhr ins ›Hôtel Raphaël‹ zurückgekommen zu sein.«
»Und das stimmt nicht?«
»Laut Hotelunterlagen war es nach elf.«
»Komisch …«
Bobs ironisches Lächeln war wie ein feiner Riss in seinem starren Gesicht.
»Finden Sie das lustig?«
»Sie müssen schon zugeben, dass es Carus ganz recht geschehen würde! … Er nützt ja auch schamlos jede Gelegenheit aus. Wäre doch lustig, wenn auch Nora umgekehrt … Und trotzdem kann ich mir das bei ihr nicht vorstellen.«
»Weil sie ihn liebt?«
»Nein, weil sie zu intelligent und zu berechnend ist. Sie würde doch nicht alles aufs Spiel setzen, jetzt, wo sie ihr Ziel schon fast erreicht hat, und das nur wegen eines Abenteuers – da mag der Mann noch so verführerisch sein.«
»Vielleicht war sie ihrem Ziel nicht so nahe, wie Sie meinen.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Carus hat sich regelmäßig mit Sophie in einer kleinen Wohnung in der Rue François-1er getroffen, die er einzig zu diesem Zweck gemietet hatte.«
»Also doch ein richtiges Verhältnis?«
»Er behauptet es jedenfalls. Er behauptet sogar, dass in ihr das Zeug zu einem Filmstar steckte und dass sie es innerhalb kürzester Zeit geschafft hätte.«
»Meinen Sie das jetzt im Ernst? Carus, der immer so … aber sie war doch bloß eins von diesen jungen Dingern, wie man sie dutzendweise antrifft … Schon allein auf den Champs-Élysées könnte man genug hübsche Mädchen auflesen, um alle Kinoleinwände der Welt zu bevölkern.«
»Nora wusste von ihrem Verhältnis.«
»Also jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr … Allerdings, wenn ich mich in all den Liebesgeschichten meiner Gäste zurechtfinden müsste, hätte ich längst Magengeschwüre … Erzählen Sie das mal meiner Frau! Sie wäre sehr gekränkt, wenn Sie nicht wenigstens kurz bei ihr in der Küche vorbeischauen würden. Sie ist ja ganz verknallt in Sie … Wie wär’s mit einem Gläschen?«
»Gern, aber lieber später …«
Die Küche war geräumiger und moderner, als er sie sich vorgestellt hatte. Wie erwartet, wischte sich Rose die Hand an der Schürze ab, bevor sie sie ihm entgegenstreckte.
»Sie haben ihn also doch freigelassen!«
»Wundert Sie das?«
»Ich weiß auch nicht mehr … Jeder, der hierherkommt, hat sich eine andere Geschichte zurechtgelegt … Die einen sind davon überzeugt, dass Francis sie aus Eifersucht umgebracht hat … Andere halten einen Liebhaber, dem sie den Laufpass geben wollte, für den Mörder … Und wieder andere sagen, dass sich eine Frau an ihr gerächt hat …«
»Nora?«
»Wer sagt denn so was?«
»Carus hatte mit Sophie ein Verhältnis, und Nora wusste davon … Er hatte die Absicht, Sophie zu lancieren.«
»Stimmt das, oder haben Sie sich das jetzt nur ausgedacht, um mich zum Reden zu bringen?«
»Nein, ich sage die Wahrheit. Überrascht Sie das?«
»Mich? … Ich wundere mich schon seit längerem über gar nichts mehr … Wenn Sie wie ich im Gastgewerbe tätig wären …«
Sie schien ganz zu vergessen, dass die Leute von der Kriminalpolizei auch einige Erfahrung im Umgang mit Menschen hatten.
»Aber eins will ich Ihnen sagen, mein lieber Kommissar: Wenn Nora sie umgebracht hat, dann werden Sie sich sehr schwertun, es zu beweisen, denn sie ist gerissen genug, um Sie alle hinters Licht zu führen … Essen Sie hier? Es gibt Ente in Orangensauce. Als Vorspeise kann ich Ihnen ein paar Dutzend Kammmuscheln empfehlen, die eben frisch aus La Rochelle eingetroffen sind … Meine Mutter hat sie mir geschickt … Ja, ja … Sie ist über fünfundsiebzig und geht jeden Morgen in die Markthallen.«
Huguet, der Fotograf, betrat mit seiner Freundin das Restaurant. Man sah es diesem strahlenden jungen Mann mit dem rosigen Gesicht an, dass er stolz darauf war, mit einer Frau auszugehen, die im siebten Monat schwanger war.
»Darf ich bekannt machen? … Kommissar Maigret … Jacques Huguet … Seine Freundin …«
»Jocelyne …«, ergänzte der Fotograf, als sei es von Bedeutung oder als empfände er ein besonderes Vergnügen dabei, diesen poetischen Namen laut auszusprechen.
Mit übertriebener Fürsorglichkeit, so dass man sich schon fast fragte, ob er sich über sie lustig machen wollte, säuselte er:
»Was möchtest du trinken, mein Schatz?«
Er schien ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen zu wollen, blickte sie voller Anteilnahme und Zärtlichkeit an, als ob er allen sagen wollte:
›Seht nur, wie verliebt ich bin, und ich finde gar nichts dabei … Wir haben zusammen geschlafen … Wir erwarten ein Kind … Wir sind glücklich … Und es ist uns völlig gleichgültig, wenn ihr uns lächerlich findet.‹
»Was darf ich euch bringen, Kinder?«
»Einen Fruchtsaft für Jocelyne … Für mich ein Glas Portwein.«
»Und für Sie, Monsieur Maigret?«
»Ein Bier.«
»Hat Francis sich noch nicht blicken lassen?«
»Seid ihr denn verabredet?«
»Nein, aber ich nehme mal an, dass er seine Freunde gerne wiedersehen möchte … Schon allein, um ihnen zu zeigen, dass er frei ist, dass man ihn nicht hat festhalten können … So ist er ja …«
»Haben Sie denn gedacht, dass wir ihn verhaften würden?«
»Ich weiß nicht … Was die Polizei tun wird, lässt sich schwer vorhersehen …«
»Halten Sie es für möglich, dass er seine Frau ermordet hat?«
»Was macht es schon für einen Unterschied, ob er es war oder jemand anderer? … Sie ist so oder so tot! … Wenn Francis sie umgebracht hat, dann wird er dafür gute Gründe gehabt haben …«
»Was für Gründe könnten das denn gewesen sein?«
»Keine Ahnung … Vielleicht hatte er die Nase voll von ihr … Oder sie hat ihm Szenen gemacht … Vielleicht hat sie ihn auch betrogen … Jeder sollte nach seiner Fasson selig werden, nicht wahr, mein Schatz?«
Drei Personen, die nicht zur Stammkundschaft gehörten, sahen sich unschlüssig nach einem Tisch um.
»Sie sind zu dritt?«
Ein älteres Ehepaar und ein junges Mädchen.
»Nehmen Sie bitte hier Platz.«
Nun zog Bob seine große Schau ab: Er legte ihnen die Karte vor, erteilte geflüsterte Ratschläge, pries den Weißwein aus der Charente an, die chaudrée …
Von Zeit zu Zeit zwinkerte er seinen Freunden zu.
Da betrat Ricain das Restaurant. Als er den Kommissar im Gespräch mit Huguet und dem schwangeren Mädchen entdeckte, blieb er wie angewurzelt stehen.
»Da bist du ja endlich!«, rief der Fotograf. »Wie ist es dir denn ergangen? Wir dachten schon, du würdest in einem finsteren Gefängnis schmachten.«
Francis brachte ein mühsames Lächeln zustande.
»Ich bin da, wie du siehst … Guten Abend, Jocelyne … Sind Sie meinetwegen hier, Kommissar?«
»Heute Abend eher wegen der Ente mit Orangensauce.«
»Was möchtest du trinken?«, fragte Bob, der seine Bestellung gerade an den Kellner weitergegeben hatte.
»Ist das Portwein? …«
Er zögerte.
»Nein … Lieber einen Scotch … Aber vielleicht stehe ich bei dir zu tief in der Kreide …«
»Heute gebe ich dir noch einmal Kredit!«
»Und morgen?«
»Das hängt vom Kommissar ab …«
Maigret fand den Ton ein wenig befremdlich, aber so ging man wohl in diesen Kreisen miteinander um.
»Sind Sie bei der Zeitung gewesen?«, fragte er Ricain.
»Ja … Woher wissen Sie das?«
»Na ja, Sie brauchten doch Geld …«
»Ich habe mit Mühe und Not hundert Franc vom Honorar bekommen, das sie mir noch schulden.«
»Und was ist mit Carus?«
»Bei ihm war ich nicht …«
»Und dabei haben Sie ihn am Mittwochabend und dann fast während der ganzen Nacht gesucht.«
»Heute ist nicht mehr Mittwoch.«
»Übrigens habe ich Carus gesehen«, mischte sich der Fotograf ins Gespräch. »Ich war im Studio, wo er gerade von einem mir unbekannten jungen Mädchen Probeaufnahmen machen ließ. Er hat mich sogar gebeten, Fotos zu machen …«
»Von dem jungen Mädchen?«
Maigret fragte sich, ob er auch mit Sophie Aufnahmen gemacht hatte.
»Er kommt hierher zum Abendessen … Jedenfalls hatte er das um drei Uhr nachmittags vor, aber bei ihm weiß man nie … Und schon gar nicht bei Nora … Übrigens habe ich auch Nora getroffen …«
»Heute?«
»Vor zwei oder drei Tagen … In einem Lokal, wo ich sie nie vermutet hätte, einer kleinen Tanzbar in Saint-Germain-des-Prés, wo nur Jugendliche verkehren.«
»Wann war das?«, fragte Maigret, plötzlich hellwach.
»Lassen Sie mich nachdenken … Heute haben wir Samstag … Freitag … Donnerstag … Nein, am Donnerstag war ich in der Premiere der Ballettaufführung … Also am Mittwoch … Ich war auf der Suche nach Motiven für einen Artikel über Teenager … Man hatte mir von diesem Lokal erzählt …«
»Können Sie sich an die Uhrzeit erinnern?«
»Es war so gegen zehn … Ja, ich bin wohl gegen zehn Uhr dort eingetroffen … Jocelyne war bei mir … Was möchtest du, Schatz … Zehn Uhr, das stimmt doch? … Ein etwas heruntergekommenes, aber sehr originelles Lokal, in dem junge Männer verkehren, die sich das Haar bis in den Nacken wachsen lassen.«
»Hat Nora Sie gesehen?«
»Das glaube ich nicht … Sie saß in einer Ecke und hat sich mit einem Muskelprotz unterhalten, der jedenfalls kein Teenager mehr war … Ich vermute, er war der Besitzer. Die beiden schienen ernsthaft zu diskutieren …«
»War sie lange dort?«
»Ich habe mir meinen Weg durch die zwei oder drei Räume gebahnt, wo fast alle getanzt haben … Wenn man das überhaupt noch Tanzen nennen kann … Sie klebten alle eng aneinander und versuchten eben, sich so gut es ging zu bewegen …
Zwischen den vielen Gesichtern und Schultern der jungen Leute habe ich sie immer mal wieder kurz auftauchen sehen … Sie war immer noch am Diskutieren … Der Typ hatte einen Bleistift hervorgeholt und schrieb Zahlen auf einen Zettel.
Eigentlich komisch, das Ganze … Schon im normalen Leben kommt sie einem ziemlich unwirklich vor … Aber in diesem bizarren Lokal … Das hätte ein gutes Foto abgegeben!«
»Hast du denn keins gemacht?«
»Ich bin doch nicht blöd … Da hätte ich Ärger mit Papa Carus bekommen … Immerhin bezahle ich meine Brötchen zur Hälfte mit seinem Geld …«
Maigret sagte laut:
»Noch ein Bier, Bob …«
Irgendwie hatte sich seine Stimme verändert, auch seine Körperhaltung war straffer geworden.
»Können Sie mir wieder den Tisch in der Ecke reservieren, wo ich gestern saß?«
»Essen Sie denn nicht mit uns?«, fragte der Fotograf verwundert.
»Ein andermal.«
Er musste jetzt allein sein, in Ruhe nachdenken können. Ein Zufall hatte ihm seine säuberlich aneinandergereihten Gedankengänge durcheinandergebracht. Das ganze Gebäude war zusammengebrochen.
Francis war beunruhigt und ließ ihn nicht aus den Augen. Auch Bob hatte die Veränderung bemerkt, die mit dem Kommissar vorgegangen war.
»Dass sich Nora in ein solches Lokal wagt, scheint Sie wohl zu überraschen? …«
Doch der Kommissar wandte sich an Huguet:
»Wie heißt denn dieses Lokal?«
»Wollen Sie denn auch eine Studie über die Beatniks machen? … Lassen Sie mich nachdenken … Das Schild ist nicht besonders originell … Es stammt sicher noch aus der Zeit, als es noch ein Bistro für Clochards war … ›As de Pique‹, ja, so heißt es … Wenn Sie hochkommen, links …«
Maigret trank sein Glas aus.
»Also, Sie halten mir den Tisch in der Nische frei«, sagte er zum zweiten Mal.
Wenige Augenblicke später saß er in einem Taxi. Er ließ sich bis zur Place de la Contrescarpe fahren.
Bei Tageslicht sah das Lokal unansehnlich und verblichen aus. Es war leer, bis auf drei langhaarige junge Männer und ein Mädchen in einem Männeranzug, das ein Zigarillo rauchte. Ein Mann in einem schmuddeligen Pullover kam aus dem Nebenraum getrottet, trat hinter die Theke und musterte Maigret argwöhnisch.
»Was soll’s denn sein?«
»Ein Bier«, sagte Maigret, ohne nachzudenken.
»Und sonst?«
»Nichts.«
»Keine Fragen?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ich bin nicht von gestern, und ein Kommissar Maigret kommt nicht hierher, weil er Durst hat. Also, Sie müssen schon Farbe bekennen.«
Grinsend schenkte sich der Mann ein Gläschen Schnaps ein.
»Jemand ist am Mittwochabend hierhergekommen …«
»Ein paar Hundert Jemands, wenn ich Sie korrigieren darf.«
»Ich meine eine Frau, mit der Sie ein langes Gespräch geführt haben.«
»Die Hälfte der Leute waren Frauen, und ich habe mit einer ganzen Reihe von ihnen Gespräche geführt, wie Sie es nennen.«
»Nora.«
»Ach, die meinen Sie. Na und?«
»Warum ist sie hergekommen?«
»Aus dem Grund, der sie durchschnittlich einmal im Monat hierherführt.«
»Nämlich?«
»Um die Abrechnung zu verlangen.«
»Wie denn das?«
Doch die verblüffende Wahrheit dämmerte ihm bereits, bevor der Mann zur Antwort ansetzte:
»Weil sie hier die Chefin ist, ja, ja, Monsieur Maigret! … Sie hängt es nicht an die große Glocke … Ich bin nicht einmal sicher, ob Papa Carus davon weiß. Jeder hat das Recht, sein Geld so zu investieren, wie es ihm passt, oder etwa nicht?
Ich habe Ihnen nichts verraten … Sie erzählen mir eine Geschichte, und ich antworte weder mit Ja noch mit Nein … Selbst wenn Sie wissen wollen, ob sie noch andere Lokale wie dieses hier besitzt …«
Maigret blickte ihn fragend an, und der Mann senkte bejahend die Augenlider.
»Es gibt eben Leute, die mit der Zeit gehen«, bemerkte er in leichtem Plauderton. »Es sind nicht immer diejenigen, die das Gras wachsen hören, die ihr Geld am besten anlegen … Wenn ich drei solcher Kneipen wie diese hier hätte, würde ich mich schon nach einem Jahr an die Riviera zurückziehen …
Besäße ich aber gleich ein Dutzend, darunter welche am Pigalle und auf den Champs-Élysées, ja, dann …«