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Er war nun am toten Punkt angelangt. Im Laufe fast aller seiner Ermittlungen trat irgendwann der Moment ein, wo alles ins Stocken geriet und Maigret anscheinend nichts weiter tat, als vor sich hin zu brüten, wie seine Mitarbeiter sich hinter vorgehaltener Hand zuflüsterten.
Während der ersten Phase, in der er sich unvermittelt in ein wildfremdes Milieu versetzt fand, völlig unbekannten Menschen gegenüberzutreten hatte, nahm er alles Leben der neuen Umgebung in sich auf, bis er damit vollgesogen war wie ein Schwamm.
So war es am Vorabend im ›Vieux-Pressoir‹ gewesen, wo sich, ohne dass er sich dessen bewusst war, auch die feinsten atmosphärischen Schwankungen, jede Nuance in der Gestik und Mimik der Anwesenden in sein Gedächtnis gegraben hatten.
Wenn er nicht so erschöpft gewesen wäre, hätte er sich noch in den ›Club Zéro‹ begeben, wo der eine oder andere aus der Clique verkehrte.
Nun war er randvoll mit Eindrücken, Bildern, Sätzen, mehr oder weniger belangvollen Aussagen und erstaunten Blicken, aber noch wusste er nicht, wie er sich auf all das einen Reim machen sollte.
Wer ihn näher kannte, vermied es tunlichst, ihn mit Fragen oder auch nur stummer Neugier zu behelligen, denn er reagierte schnell gereizt.
Wie erwartet, lag eine Notiz auf seinem Schreibtisch, er solle den Richter Camus anrufen.
»Hallo? … Hier spricht Maigret …«
Er hatte erst selten mit diesem Richter zusammengearbeitet. Er gehörte weder zu den lästigen Störenfrieden, noch war er einer von denen, die sich diskret zurückhalten und der Polizei Zeit lassen, ihre Arbeit zu machen.
»Ich habe um Ihren Anruf gebeten, weil mich der Staatsanwalt angerufen hat … Er möchte schnellstens über den Stand der Ermittlungen informiert werden …«
Am liebsten hätte Maigret gebrummelt:
›Bei null!‹
Das hätte genau der Wahrheit entsprochen. Ein Verbrechen stellt einen nicht vor eine algebraische Aufgabe. Es konfrontiert einen mit Menschen, von denen man noch am Vortag nicht das Geringste wusste, die einfach nur irgendwelche Passanten waren. Ganz plötzlich aber fällt jede ihrer Gesten, jedes ihrer Worte ins Gewicht, und jeder Winkel ihres Lebens wird durchleuchtet.
»Die Ermittlungen gehen weiter«, sagte er schließlich. »Wahrscheinlich werden wir in einer oder zwei Stunden im Besitz der Mordwaffe sein. Im Augenblick suchen Froschmänner die Seine danach ab.«
»Wie sind Sie mit dem Ehemann verfahren?«
»Er ist hier, im Aquarium.«
Er korrigierte sich sofort, denn dieser Ausdruck war nur seinen Inspektoren geläufig. Wenn man nicht recht wusste, was man mit einem Zeugen anfangen sollte, ihn aber nicht aus den Augen verlieren wollte, wenn man es mit einer verdächtigen, aber noch nicht geständigen Person zu tun hatte, schickte man sie ins Aquarium.
Man komplimentierte sie in den als Warteraum dienenden Glasverschlag im langen Flur:
»Warten Sie doch bitte einen Augenblick …« Ständig saßen hier Leute, aufgeregte, mitunter weinende und sich die Augen wischende Frauen, ihre Unsicherheit überspielende Ganoven, dann und wann auch Biedermänner, die gottergeben auf die hellgrün gestrichenen Wände starrten und sich fragten, ob man sie nicht einfach vergessen hatte.
Oftmals genügten eine oder zwei Stunden im Aquarium, um die Leute zum Reden zu bringen. Zeugen, die fest entschlossen waren, keinen Ton von sich zu geben, wurden danach wesentlich zugänglicher.
Hatte man sie aber einen halben Tag lang »vergessen«, was ab und zu vorkam, dann ließen sie die Tür nicht aus den Augen, sprangen auf, sobald der Bürodiener näher kam, in der Hoffnung, dass sie nun endlich an der Reihe wären.
Wenn sie mittags die Inspektoren weggehen sahen, nahmen sie all ihren Mut zusammen und gingen zu Joseph, um ihm ausnahmslos dieselbe Frage zu stellen:
»Weiß der Kommissar auch wirklich, dass ich hier bin?«
»Er ist immer noch in einer Besprechung.«
Weil ihm nichts Besseres eingefallen war, hatte Maigret auch Ricain ins Aquarium geschickt.
Er übersetzte dem Untersuchungsrichter:
»Er ist im Warteraum. Ich werde ihn wieder vernehmen, sobald ich neue Informationen habe.«
»Welchen Eindruck haben Sie? Schuldig?«
Schon wieder so eine Frage, die nur ein Richter stellen konnte, der noch nicht lange mit Maigret zusammenarbeitete.
»Ich habe überhaupt keinen Eindruck.«
Genau so war es auch. Solange es irgend ging, vermied er es, sich eine Meinung zu bilden. Und im Übrigen »bildete« er sich auch keine Meinung. Er blieb unvoreingenommen, bis er eindeutige Beweise hatte oder der Verdächtige zusammenbrach.
»Glauben Sie, dass es noch lange dauern wird?«
»Ich hoffe nicht.«
»Schließen Sie Raubmord von vornherein aus?«
Als ob nicht jedes Verbrechen mit Raub einherginge! Sie sprachen eben zwei verschiedene Sprachen, im Palais de Justice hatten sie ein ganz anderes Bild von den Menschen als bei der Kriminalpolizei.
Es war nur schwer vorstellbar, dass ein Unbekannter, der auf Geld aus war, nach zehn Uhr nachts in der Rue Saint-Charles an der Wohnungstür geklingelt und Sophie, die schon im Nachthemd war, ihn ohne weiteres eingelassen hatte!
Entweder besaß ihr Mörder einen Schlüssel, oder es war jemand, den sie kannte und dem sie vertraute. Noch dazu hatte der Täter in ihrer Gegenwart die Kommodenschublade geöffnet, um die Waffe herauszunehmen.
»Halten Sie mich bitte auf dem Laufenden … Und lassen Sie mich nicht allzu lange warten … Die Staatsanwaltschaft wird schon ungeduldig …«
Ja, ja! Die Staatsanwaltschaft hat es immer eilig. Diese Herren, die bequem in ihren Büros sitzen und das Verbrechen nur aus juristischen Texten und Statistiken kennen! Da reicht schon ein Telefonanruf aus dem Kabinett des Ministers – und schon fangen sie an zu zittern.
»Warum ist noch niemand verhaftet worden?«
Der Minister wiederum bekam den Druck der Presseberichterstattung zu spüren. Die ist jeden Tag auf neue Sensationsmeldungen aus und braucht deshalb Bluttaten und interessante Fälle. Wenn die Gier der Leserschaft zu lange unbefriedigt bleibt, vergisst sie die ganze Sache. Ein Fall löst den anderen ab. Da können die Schlagzeilen noch so gut gewesen sein!
»Wie Sie wünschen, Herr Richter … Ja, Herr Richter … Ich rufe Sie wieder an, Herr Richter …«
Er zwinkerte Janvier zu.
»Geh immer mal wieder in den Flur, und sieh nach, wie er sich aufführt … Ich traue ihm zu, dass er durchdreht oder versucht, mit Gewalt hier einzudringen …«
Er sah trotzdem erst einmal die Post durch, begab sich dann zum Rapport beim Leiter der Kriminalpolizei, wo er seine Kollegen antraf und die laufenden Angelegenheiten kühl und sachlich besprochen wurden.
»Was Neues, Maigret?«
»Nein, nichts, Herr Direktor.«
Hier wurde nicht ständig nachgehakt. Diese Leute hier wussten, wie so etwas abläuft.
Als der Kommissar kurz vor zehn Uhr wieder in sein Büro trat, wollte ihn jemand von der Wasserpolizei sprechen.
»Haben Sie die Waffe gefunden?«
»Zufällig ist die Strömung in diesen Tagen ziemlich schwach, und die Seine wurde letzten Herbst an dieser Stelle ausgebaggert. Meine Leute haben fast sofort, etwa vierzig Meter von der Brücke und zehn Meter vom linken Ufer entfernt, eine Pistole vom Kaliber 6.35 belgischen Fabrikats gefunden. Das Magazin enthält noch fünf Kugeln.«
»Können Sie sie zu Gastinne-Renette bringen?«
Und zu Janvier sagte er:
»Kümmerst du dich darum? Die Kugel hat er bereits.«
»Sofort, Chef.«
Beinahe hätte Maigret in der Rue de Bassano angerufen, unterließ es dann aber doch, seinen Besuch anzukündigen. Er lenkte seine Schritte zur großen Treppe, wobei er es absichtlich vermied, sich nach dem Warteraum umzudrehen.
Bestimmt hatte Ricain ihn gesehen und fragte sich jetzt, wohin er ging. Unterwegs begegnete er dem jungen Lapointe, der eben eintraf, so dass er nicht mit dem Taxi fuhr, wie er ursprünglich vorhatte, sondern sich vom Inspektor zu dem Gebäude bringen ließ, wo Carus seine Geschäftsräume hatte.
Er studierte die Messingschilder unter dem Torbogen und stellte fest, dass sich in fast jedem Stockwerk eine Filmgesellschaft befand. Diejenige, die ihn interessierte, nannte sich Carossoc und war im Hochparterre.
»Soll ich Sie begleiten?«
»Das wäre mir sehr recht.«
Maigrets Methode, immer einen Inspektor bei sich zu haben, wurde im Übrigen auch im Lehrbuch für angehende Polizeioffiziere der Kriminalpolizei empfohlen.
Der Eingangsbereich war eher düster. Das einzige Fenster ging auf den Hof hinaus, wo ein Chauffeur damit beschäftigt war, einen Rolls-Royce zu polieren. Eine rothaarige Sekretärin war für die Telefonzentrale zuständig.
»Wo finden wir Monsieur Carus, bitte?«
»Ich weiß nicht, ob er schon hier ist.«
Als ob nicht alle Mitarbeiter auf dem Weg in ihr Büro zwangsläufig an ihr vorbeimussten!
»Ihr Name, bitte … Haben Sie einen Termin?«
Sie erhob sich von ihrem Stuhl, wollte sie ins Vorzimmer führen, sie sozusagen ins Aquarium der Filmgesellschaft stecken.
»Danke … Wir warten lieber hier …«
Das passte ihr offensichtlich nicht. Anstatt ihren Chef anzurufen, verschwand sie durch eine Polstertür und ließ die beiden Männer drei oder vier Minuten lang allein.
Anschließend kam nicht sie als Erste wieder aus der Tür, sondern Carus höchstpersönlich. Er trug einen hellgrauen Fil-à-Fil-Anzug, war tadellos rasiert und duftete nach Lavendel.
Offensichtlich war er gerade beim Friseur gewesen und hatte sich auch das Gesicht massieren lassen. Er gehörte zu jenen Männern, die sich allmorgendlich eine gute halbe Stunde in einem verstellbaren Friseursessel entspannen.
»Wie geht es Ihnen, mein lieber Freund?«
Mit gewinnendem Lächeln reichte er seinem lieben Freund, von dessen Existenz er noch am Abend zuvor keinen blassen Schimmer gehabt hatte, die Hand.
»Treten Sie bitte ein … Sie auch, junger Mann … Ich nehme an, es ist einer Ihrer Mitarbeiter …«
»Inspektor Lapointe …«
»Sie können gehen, Mademoiselle … Ich bin für niemanden zu sprechen und auch telefonisch nicht zu erreichen, außer der Anruf kommt aus New York.«
Lächelnd erklärte er:
»Ich kann es nicht leiden, durch Telefonate gestört zu werden …«
Immerhin standen drei Telefonapparate auf seinem Schreibtisch. Die Wände des großen Raumes waren mit beigefarbenem Leder verkleidet, aus demselben Material waren auch die Sessel gefertigt, die sich gegen den in warmem Braunton gehaltenen Teppichboden abhoben.
Auf dem mächtigen Palisanderholzschreibtisch türmten sich so viele Akten, dass sie genügend Arbeit für ein Dutzend Sekretärinnen abgegeben hätten.
»Nehmen Sie doch bitte Platz … Was darf ich Ihnen anbieten?«
Er ging zu einem niedrigen Schrank, der sich als eine gutausgestattete Bar entpuppte.
»Für einen Aperitif ist es vielleicht noch ein bisschen zu früh, aber ich habe mir sagen lassen, Sie hätten eine besondere Vorliebe für Bier … Ich übrigens auch … Ich habe ein ganz köstliches Bier hier, das ich direkt aus München kommen lasse.«
Er wirkte viel überschwenglicher als am Vorabend, wahrscheinlich, weil er nicht auf Nora Rücksicht nehmen musste.
»Gestern Abend haben Sie mich völlig unvorbereitet angetroffen. Als ich beschlossen habe, bei meinem alten Freund Bob essen zu gehen, was ich oft tue, war ich nicht darauf gefasst, Ihre Bekanntschaft zu machen … Ich hatte vorher zwei oder drei Whiskys zu mir genommen, dann noch ein paar Gläschen Champagner … Nein, betrunken war ich nicht … Das bin ich nie … Trotzdem kann ich mich heute nicht mehr genau an jedes einzelne Detail unseres gestrigen Gesprächs erinnern … Meine Frau wirft mir vor, ich hätte zu viel und zu leidenschaftlich geredet … Auf Ihr Wohl! … Ich hoffe, Sie haben einen anderen Eindruck von mir gewonnen …«
»Sie schienen in François Ricain einen vielversprechenden jungen Mann zu sehen, der das Zeug hat, ein großer Regisseur zu werden …«
»Tja, so ähnlich muss ich mich wohl geäußert haben … Ich bin halt ein Mensch, der Vertrauen in die jungen Leute setzt und mit seiner Begeisterung nicht hinterm Berg hält.«
»Denken Sie denn heute anders darüber?«
»Nein! Überhaupt nicht! Nur würde ich mich etwas differenzierter ausdrücken … Ich finde, Ricain hat einen Hang zu Unordnung und Chaos … Mal ist er allzu sehr von sich überzeugt, dann wieder mangelt es ihm an Selbstvertrauen …«
»Wenn ich mich recht entsinne, haben Sie sich dahingehend geäußert, dass die beiden eine glückliche Ehe führten.«
Carus hatte es sich in einem der Sessel bequem gemacht und die Beine übereinandergeschlagen. Er hielt sein Glas in der einen, eine Zigarre in der anderen Hand.
»Habe ich das gesagt?«
Ganz plötzlich sprang er auf die Beine, stellte das lästige Glas auf eine Konsole, zog einige Male an seiner Zigarre und begann, unruhig auf und ab zu gehen.
»Hören Sie, Kommissar, es war mir sehr daran gelegen, dass Sie heute Morgen in mein Büro kommen …«
»Diesen Eindruck hatte ich auch …«
»Nora ist eine außergewöhnliche Frau … Obwohl sie fast nie einen Fuß hier ins Büro setzt, würde ich sie trotzdem als meine beste Mitarbeiterin bezeichnen.«
»Sie haben mir von ihren übersinnlichen Wahrnehmungen erzählt …«
Carus fuhr mit der Hand durch die Luft, als wollte er Wörter von einer unsichtbaren Tafel wischen.
»Das sage ich nur, wenn sie dabei ist, weil es sie freut … In Wirklichkeit besitzt sie einen scharfen Verstand und große Menschenkenntnis … Ich bin immer gleich Feuer und Flamme … Ein wenig zu vertrauensselig …«
»Sie dient Ihnen sozusagen als Korrektiv?«
»Gewissermaßen … Sobald meine Scheidung ausgesprochen ist, werde ich sie bestimmt heiraten … Wir führen ja jetzt schon praktisch eine Ehe …«
Die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, brachte ihn sichtlich in Schwierigkeiten, er suchte nach Worten, blickte starr auf die Zigarrenasche.
»Also … Wie soll ich es sagen? … Trotz ihrer Überlegenheit ist Nora doch nicht gegen Eifersucht gefeit … Darum habe ich auch gestern lügen müssen …«
»In Bezug auf die Szene im Schlafzimmer?«
»Ja … Natürlich hat sie sich ganz anders abgespielt, als ich es Ihnen dargestellt habe … Es stimmt schon, dass Sophie sich in das Zimmer geflüchtet hatte, um sich auszuweinen, denn Nora hatte sie hart angefahren. Was sie ihr genau gesagt hat, weiß ich nicht mehr, denn wir hatten alle eine Menge getrunken … Kurz, ich bin ihr nachgegangen, um sie zu trösten …«
»War sie Ihre Geliebte?«
»Wenn Sie auf diesem Ausdruck bestehen … Sie hat sich in meine Arme gekuschelt, und nach und nach sind wir unvorsichtig geworden, sogar sehr unvorsichtig …«
»Hat Ihre Frau es gesehen?«
»Ein Polizeikommissar hätte ohne weiteres einen Ehebruch feststellen können …«
Ein selbstgefälliges Lächeln huschte über sein Gesicht.
»Jetzt sagen Sie mal, Monsieur Carus … Ich nehme an, dass jeden Tag hübsche Mädchen in Ihren Büros aufkreuzen. Die meisten sind zu allem bereit, nur um eine kleine Rolle zu ergattern.«
»Das stimmt.«
»Soweit ich weiß, sind Sie nicht abgeneigt, die Situation immer mal wieder auszunützen.«
»Daraus habe ich nie ein Geheimnis gemacht …«
»Auch nicht vor Nora?«
»Ich will es Ihnen erklären … Dass ich ab und zu die Bereitwilligkeit eines hübschen Mädchens ausnütze, macht Nora nicht allzu viel aus, solange daraus kein festes Verhältnis wird. Das gehört eben mit zum Beruf. Alle Männer tun das, nur dass sich nicht jedem dieselben Gelegenheiten bieten … Sie selbst, Herr Kommissar …«
Maigret sah ihn mit durchdringendem Blick an. Er lächelte nicht.
»Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen zu nahegetreten bin … Ja, wo war ich eben? … Ich weiß wohl, dass Sie einige Leute aus unserem Freundeskreis befragt haben und dass Sie das auch weiterhin tun werden … Ich will lieber offen mit Ihnen reden … Sie haben ja gehört, wie Nora von Sophie spricht …
Es täte mir leid, wenn Sie ihre Reden für bare Münze nehmen und sich eine falsche Vorstellung von dem armen Mädchen machen würden …
Sie war keineswegs auf eine Karriere versessen, ganz im Gegenteil, und sie ist auch nicht einfach mit dem erstbesten Mann ins Bett …
Sie war blutjung, fast noch ein Kind, als sie sich in Ricain verliebt hat. Kein Wunder, denn er hat eine magnetische Anziehungskraft … Frauen fühlen sich ja zu zerrissenen, ehrgeizigen, verbitterten und gewalttätigen Männern hingezogen …«
»Würden Sie ihn als einen solchen Mann charakterisieren?«
»Und Sie?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Kurzum, sie hat ihn geheiratet … Sie hat an ihn geglaubt … Sie ist ihm überallhin gefolgt, wie ein gut dressiertes Hündchen, sie hat den Mund gehalten, wenn er es von ihr verlangt hat, sie hat sich möglichst kleingemacht, um ihm nicht lästig zu werden, und sich mit der unsicheren Existenz abgefunden, die er ihr aufgezwungen hat.«
»War sie unglücklich?«
»Sie hat bestimmt darunter gelitten, aber sie hat sich nichts anmerken lassen … Dazu kommt noch, dass er sie zwar als passives Anhängsel brauchte, dass sie ihm aber mitunter auch auf die Nerven ging. In solchen Augenblicken beschuldigte er sie: Sie sei ihm ein Klotz am Bein, behindere seine Karriere und sei außerdem noch strohdumm …«
»Hat sie Ihnen das erzählt?«
»Das war unschwer zu erraten aus den Wortwechseln, die in meiner Gegenwart stattgefunden haben.«
»Waren Sie Sophies Vertrauensperson?«
»Ja, so könnte man es nennen … Gegen meinen Willen, das können Sie mir glauben … Sie hat sich so verloren gefühlt in diesem Milieu, sie fand den Umgang zu hart und hatte niemanden, an den sie sich klammern konnte.«
»Wann sind Sie ihr Liebhaber geworden?«
»Das Wort gefällt mir gar nicht … Ich habe vor allem Mitleid und Zärtlichkeit für sie empfunden … Ich wollte ihr helfen …«
»Bei ihrer Karriere?«
»Sie werden überrascht sein, aber ich hatte sehr wohl daran gedacht, dass sie Karriere machen könnte … Aber Sophie hat sich dagegen gesträubt … Sie war keine aufsehenerregende Schönheit wie Nora, nach der sich jeder auf der Straße umdreht …
Ich habe ein ziemlich gutes Gespür für die Wünsche des Publikums … Sonst würde ich einen anderen Beruf ausüben … Mit ihrem eher durchschnittlichen Gesicht und ihrer zarten Figur entsprach Sophie genau der Vorstellung, die die meisten Leute von einem jungen Mädchen im Kopf haben …
Eltern hätten sie mit ihrer Tochter identifiziert, junge Männer mit ihrer Cousine oder ihrer Freundin … Sie verstehen mich doch?«
»Hatten Sie die Absicht, sie zu lancieren?«
»Sagen wir mal, ich habe mit dem Gedanken gespielt.«
»Haben Sie mit ihr darüber gesprochen?«
»Nur andeutungsweise … Ich habe ihr vorsichtig auf den Zahn gefühlt.«
»Wo haben Sie sich getroffen?«
»Sie stellen mir da eine ziemlich peinliche Frage … Es lässt sich wohl nicht umgehen …«
»Schon deshalb nicht, weil ich die Antwort ohnehin herausfinden würde.«
»Also, gut! Ich habe ein recht hübsches, komfortables Appartement in einem Neubau Ecke Rue François-1er und Avenue George-V gemietet, nur dreihundert Meter von hier entfernt …«
»Eine kleine Zwischenfrage: War diese Wohnung nur für Ihre Zusammenkünfte mit Sophie bestimmt, oder haben Sie sich dort auch mit anderen Frauen getroffen?«
»Eigentlich hatte ich sie für Sophie gemietet … Hier konnten wir uns schlecht zurückziehen, und zu ihr mochte ich auch nicht gehen.«
»Waren Sie nie in Abwesenheit ihres Mannes in ihrer Wohnung?«
»Ein- oder zweimal vielleicht …«
»Vor kurzem?«
»Das letzte Mal war ich vor vierzehn Tagen bei ihr … Sie hatte mich nicht angerufen, wie sie es sonst getan hat … In der Rue François-1er habe ich sie auch nicht angetroffen. Ich habe bei ihr zu Hause angerufen, und sie hat mir gesagt, dass sie sich nicht wohl fühlt.«
»War sie krank?«
»Nein, niedergeschlagen … Francis wurde immer launischer … Mitunter sogar gewalttätig … Ihre Geduld war erschöpft, sie wollte weglaufen, irgendwohin, im erstbesten Laden eine Stelle als Verkäuferin annehmen.«
»Haben Sie ihr davon abgeraten?«
»Ich habe ihr die Adresse eines Anwalts gegeben, damit sie ihn wegen einer möglichen Scheidung konsultiert … Das wäre für beide Seiten besser gewesen.«
»War sie dazu entschlossen?«
»Sie hatte noch Bedenken … Francis tat ihr leid … Sie fühlte sich verpflichtet, so lange bei ihm auszuhalten, bis er beruflich fest im Sattel saß …«
»Hat sie mit ihm darüber gesprochen?«
»Das würde mich sehr wundern.«
»Wieso sind Sie sich dessen so sicher?«
»Weil er sich furchtbar aufgeregt hätte.«
»Ich möchte Sie nun etwas fragen, Monsieur Carus. Überlegen Sie sich Ihre Antwort gut! Wussten Sie, dass Sophie vor etwa einem Jahr schwanger war?«
Das Blut schoss ihm in den Kopf, mit zitternden Fingern drückte er seine Zigarre im Kristallaschenbecher aus.
»Ja, ich habe es gewusst …«, murmelte er und setzte sich wieder. »Aber ich sage Ihnen gleich, ja, ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, dass ich nicht der Vater des Kindes war … Zu diesem Zeitpunkt hatten wir noch kein intimes Verhältnis …
Im Übrigen war diese Schwangerschaft der Auslöser dafür, dass sie mir ihre Sorgen anvertraut hat … Ich habe gemerkt, dass sie immer unruhiger wurde … Ich habe sie zur Rede gestellt … Sie hat mir gestanden, dass sie ein Kind erwartet und Francis sehr aufgebracht sein würde.«
»Warum denn das?«
»Weil das Kind eine weitere Belastung wäre und ihn noch mehr an seiner Karriere hindern würde … Sie kamen ja so schon auf keinen grünen Zweig … Mit einem Kind … Jedenfalls war sie sich sicher, dass er ihr das nicht verzeihen würde, und hat mich deshalb um die Adresse eines Arztes oder einer Hebamme gebeten, die ihr aus der Klemme helfen könnten.«
»Haben Sie das getan?«
»Ich muss gestehen, dass ich gegen das Gesetz verstoßen habe …«
»Jetzt ist es sowieso zu spät, um das Gegenteil zu behaupten.«
»Ich habe ihr diesen Freundschaftsdienst erwiesen, weil …«
»Hat Francis denn nichts davon erfahren?«
»Nein … Er ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um zu bemerken, was um ihn herum vor sich geht, auch wenn es sich um seine eigene Frau handelt.«
Er erhob sich, wirkte unschlüssig. Wohl um seine Verlegenheit zu verbergen, holte er neue Bierflaschen aus der Bar.
Monsieur Gaston, wie man ihn vertraulich und zugleich respektvoll nannte, war ein gediegener und würdevoller Herr, der sich sehr wohl der Verantwortung bewusst war, die auf den Schultern des Portiers eines Grandhotels lastet. Schon bevor Maigret durch die Drehtür hereingekommen war, hatte er ihn erkannt und die Stirn gerunzelt, während er im Geiste die Gesichter aller Gäste an sich vorbeiziehen ließ, denen der Besuch der Polizei gelten könnte.
»Warte einen Augenblick hier, Lapointe …«
Er selbst musste sich gedulden, bis Monsieur Gaston eine alte Dame abgefertigt hatte, die sich nach der Landezeit eines Flugzeugs aus Buenos Aires erkundigte und ihm dann diskret die Hand drückte.
»Keine Sorge. Nichts Schlimmes.«
»Sobald ich Sie sehe, frage ich mich immer …«
»Wenn ich mich nicht irre, bewohnt Monsieur Carus eine Suite bei Ihnen, im vierten Stock.«
»Das stimmt … Mit Madame Carus …«
»Ist sie unter diesem Namen bei Ihnen eingetragen?«
»Nun ja, so nennen wir sie halt …«
Ein unmerkliches, vielsagendes Lächeln spielte um Monsieur Gastons Lippen.
»Ist sie oben?«
Ein kurzer Blick auf das Schlüsselbrett.
»Ich weiß gar nicht, warum ich überhaupt nachschaue … Eine alte Gewohnheit … Um diese Zeit frühstückt sie wohl gerade …«
»Monsieur Carus war diese Woche verreist, stimmt’s?«
»Ja, am Mittwoch und am Donnerstag.«
»Ist er allein verreist?«
»Sein Chauffeur hat ihn gegen fünf Uhr nach Orly gefahren … Ich glaube, er musste nach Frankfurt fliegen.«
»Wann ist er zurückgekommen?«
»Gestern Nachmittag, aus London …«
»Sie sind zwar nachts nicht am Empfang, aber vielleicht können Sie herausfinden, wann Madame Carus am Mittwochabend das Hotel verlassen hat und um wie viel Uhr sie zurückgekommen ist.«
»Das haben wir gleich.«
Er blätterte in einem großen Register mit schwarzem Einband.
»Wenn unsere Gäste abends heimkommen, gehen sie meistens zur Reception, um dem Nachtportier zu sagen, wann sie geweckt werden wollen, und ihr Frühstück zu bestellen.
Madame Carus macht das immer … Die Zeit wird nicht vermerkt, aber aus der Reihenfolge der Namen lässt sich in etwa abschätzen, um wie viel Uhr jemand eingetroffen ist.
Sehen Sie selbst … Am Mittwoch steht ihr Name ungefähr an zehnter Stelle … Miss Trevor … Geht früh schlafen, ein altes Fräulein, das immer vor zehn zurückkommt … Die Maxwells … Über den Daumen gepeilt, würde ich sagen, sie kam zwischen zehn Uhr und Mitternacht zurück, jedenfalls vor Mitternacht … Und auch vor Theaterschluss … Heute Abend werde ich beim Nachtportier nachfragen.«
»Vielen Dank. Können Sie mich bei ihr anmelden?«
»Sie möchten sie sehen? … Kennen Sie sie denn?«
»Gestern habe ich mit ihr und ihrem Mann nach dem Abendessen noch einen Kaffee getrunken. Ich statte ihr also eine Art Höflichkeitsbesuch ab.«
»Geben Sie mir bitte Nummer vierhundertdrei … Hallo? … Madame Carus? … Hier spricht der Portier … Kommissar Maigret möchte wissen, ob Sie ihn empfangen können … Ja … In Ordnung … Ich werde es ausrichten.«
Und zu Maigret:
»Sie bittet Sie, sich zehn Minuten zu gedulden.«
Brauchte sie den Aufschub, um noch letzte Hand an ihr kunstvolles, gespenstisches Make-up zu legen, oder wollte sie vorher in der Rue de Bassano anrufen?
Der Kommissar ging zu Lapointe zurück. Schweigend liefen die beiden die Vitrinen ab, wo Schmuck der führenden Pariser Juweliere oder auch Pelzmäntel und feinste Dessous ausgestellt waren.
»Hast du keinen Durst?«
»Nein, danke …«
Sie hatten das unangenehme Gefühl, unter Beobachtung zu stehen, und fühlten sich erleichtert, als die zehn Minuten um waren und sie einen der Fahrstühle betraten.
»Vierter Stock.«
Nora, die ihnen sogleich die Tür öffnete, trug einen Morgenrock aus blassgrünem Satin, der genau auf ihre Augenfarbe abgestimmt war. Ihre Haare wirkten noch farbloser als am Vorabend, beinahe weiß.
Im geräumigen Empfangszimmer waren zwei Fenstertüren, von denen die eine auf einen Balkon hinausging.
»Ich war nicht auf Ihren Besuch gefasst und bin eben erst aufgestanden …«
»Ich hoffe, wir haben Sie nicht beim Frühstück gestört.«
Das Tablett befand sich nicht in diesem Raum, sondern vermutlich nebenan.
»Möchten Sie meinen Mann sprechen? … Er ist schon längst in sein Büro gegangen …«
»Nein, ich habe Ihnen ein paar kleine Fragen zu stellen. Natürlich sind Sie nicht verpflichtet, mir zu antworten … Zuerst eine Routinefrage, die ich allen stelle, die Sophie Ricain kannten. Sie richtet sich nicht gegen Ihre Person. Wo waren Sie am Mittwochabend?«
Mit unbewegtem Gesicht setzte sie sich in einen der weißbezogenen Sessel und fragte:
»Um wie viel Uhr?«
»Wo haben Sie zu Abend gegessen?«
»Lassen Sie mich nachdenken … Mittwoch? … Gestern waren Sie mit uns zusammen … Am Donnerstag habe ich allein im ›Fouquet’s‹ zu Abend gegessen, nicht im ersten Stock, das tue ich nur, wenn ich mit Carus ausgehe, sondern an einem Einzeltisch im Parterre … Mittwoch … Am Mittwochabend habe ich überhaupt nicht gegessen, so einfach ist das.
Außer dem Frühstück nehme ich meistens nur noch eine Mahlzeit zu mir … Wenn ich zu Mittag esse, lasse ich das Abendessen ausfallen … Und wenn ich zu Abend esse, habe ich mittags nichts zu mir genommen … Am Mittwoch haben wir mit Freunden im ›Berkeley‹ gegessen.
Am Nachmittag war ich zur Anprobe, ganz in der Nähe … Dann habe ich im Café ›Chez Jean‹ in der Rue Marbeuf einen Aperitif getrunken … Gegen neun Uhr war ich wieder im Hotel …«
»Sind Sie sofort in Ihre Suite hochgegangen?«
»Ja … Ich habe bis ein Uhr morgens gelesen, denn ich kann nicht so früh einschlafen … Vorher habe ich noch ein wenig ferngesehen …«
In einer Ecke des Salons stand ein Fernseher.
»Fragen Sie mich nicht nach dem Programm … Ich weiß nur noch, dass junge Sänger und Sängerinnen aufgetreten sind … Reicht Ihnen das? … Oder soll ich den Zimmerkellner rufen? Es ist zwar nicht derselbe … Aber heute Abend können Sie den Nachtkellner fragen …«
»Haben Sie etwas bei ihm bestellt?«
»Einen Piccolo …«
»Um welche Uhrzeit?«
»Das weiß ich nicht mehr … Kurz bevor ich mit meiner abendlichen Toilette begonnen habe. Sie haben mich doch hoffentlich nicht im Verdacht, in die Rue Saint-Charles gefahren zu sein und die arme Sophie umgebracht zu haben?«
»Ich verdächtige niemanden. Ich tue nur meine Pflicht und versuche, den Leuten möglichst nicht lästig zu fallen. Die Art, wie Sie gestern Abend über Sophie Ricain gesprochen haben, schien mir allerdings darauf hinzudeuten, dass Sie nicht gerade ein gutes Verhältnis zueinander hatten.«
»Ich habe aus meinem Herzen keine Mördergrube gemacht …«
»Gestern kam das Gespräch auf eine Party, bei der Sie Sophie in den Armen Ihres Mannes überrascht haben …«
»Ich hätte es nicht erwähnen sollen … Ich wollte Ihnen damit nur zeigen, dass sie sich an alle Männer herangemacht hat, dass sie weder ein Unschuldsengel noch die unnahbare Geliebte von Francis war, als die sie Ihnen sicher beschrieben worden ist.«
»Wen meinen Sie denn damit?«
»Ich weiß nicht … Die Männer lassen sich von einem solchen Theater gern hinters Licht führen … Bei den meisten Leuten, mit denen wir Kontakt haben, gelte ich wahrscheinlich als kalt, ehrgeizig und berechnend … Geben Sie es ruhig zu!«
»Niemand hat sich derartig geäußert …«
»Ich weiß aber ganz genau, dass sie so denken … Selbst der gute Bob, der es doch besser wissen müsste! Die kleine Sophie dagegen, das sanfte und hingebungsvolle Wesen, erscheint in ihren Augen als unverstandene Liebende … Denken Sie, was Sie wollen … Ich habe Ihnen jedenfalls die Wahrheit gesagt!«
»War Carus ihr Liebhaber?«
»Wer behauptet denn das?«
»Sie haben mir doch selbst erzählt, Sie hätten die beiden überrascht …«
»Ich habe nur gesagt, dass sie sich in seine Arme gekuschelt und dass sie geschluchzt hat, um getröstet zu werden, aber ich habe nie behauptet, dass Carus ihr Liebhaber war …«
»Aber dafür alle anderen Männer, stimmt’s? Das wollten Sie doch damit sagen?«
»Fragen Sie sie doch … Wir werden ja sehen, ob sie sich trauen, Sie anzulügen …«
»Und Ricain …«
»Sie bringen mich in eine schwierige Lage … Es ist nicht meine Art, über Leute, mit denen wir Umgang pflegen, ohne eng mit ihnen befreundet zu sein, ein endgültiges Urteil abzugeben … Habe ich Ihnen denn gesagt, dass Francis davon wusste? … Schon möglich … Ich rede immer ziemlich freiheraus …
Carus fand Wunder was an diesem Jungen, er hat ihm eine glänzende Zukunft vorausgesagt … Ich halte ihn für einen gerissenen Typ, der sich als Künstler aufspielt … Doch entscheiden Sie selbst …«
Maigret erhob sich und holte seine Pfeife aus der Westentasche.
»Das ist alles, was ich von Ihnen wissen wollte. Ah, noch eine kleine Frage. Vor etwa einem Jahr war Sophie schwanger.«
»Ich weiß …«
»Hat sie mit Ihnen darüber geredet?«
»Sie war im zweiten oder dritten Monat, genau erinnere ich mich nicht mehr … Francis wollte kein Kind, er hatte Angst um seine Karriere … Da haben sie mich gefragt, ob ich eine Adresse wüsste … Jemand hatte ihr geraten, in die Schweiz zu fahren, aber sie konnte sich nicht zu einer so weiten Reise entschließen.«
»Haben Sie ihr helfen können?«
»Ich habe ihr gesagt, dass ich niemanden kenne … Ich wollte uns aus solchen Geschichten heraushalten.«
»Wie ist die Sache ausgegangen?«
»Aus ihrer Sicht gut, denn sie hat nicht mehr darüber gesprochen und auch kein Kind zur Welt gebracht …«
»Ich danke Ihnen.«
»Sind Sie nicht in Carus’ Büro gewesen?«
Maigret antwortete mit einer Gegenfrage:
»Hat er Sie denn nicht angerufen?«
Auf diese Weise war er sicher, dass die junge Frau, sobald sie allein wäre, mit ihrem Liebhaber telefonieren würde.
»Danke, Gaston …«, sagte er, als er am Empfang vorbeikam.
Draußen atmete er erst einmal tief durch.
»Wenn das Ganze mit einer großen Gegenüberstellung endet, dann wird es hoch hergehen.«
Gleichsam um sich den Mund auszuspülen, ging er ins erstbeste Bistro ein Glas Weißwein trinken. Seit dem frühen Morgen hatte er Lust darauf, schon seit seinem Besuch im Hotel in der Rue Saint-Louis en l’Ile, und auch das Bier, das Carus ihm eingeschenkt hatte, konnte ihn nicht davon abbringen.
»Zum Quai, mein Lieber. Jetzt bin ich aber gespannt, in welchem Zustand wir unseren Francis antreffen werden.«
Er saß nicht im Aquarium, wo sich nur eine alte Frau und ein junger Mann mit gebrochener Nase aufhielten. Als er in sein Büro trat, fiel sein Blick als Erstes auf Janvier. Dieser deutete auf einen wutschnaubenden Ricain.
»Ich habe ihn reinholen müssen, Chef. Er hat einen fürchterlichen Krawall im Flur veranstaltet und wollte, dass der Bürodiener ihn sofort zum Leiter der Kriminalpolizei führt, andernfalls, hat er gedroht, würde er die Presse informieren.«
»Das ist mein gutes Recht! …«, keuchte der junge Mann. »Ich bin es leid, wie ein Idiot oder ein Verbrecher behandelt zu werden … Meine Frau wurde ermordet, und ich werde überwacht, als ob ich auf der Flucht wäre. Ich werde nicht eine Minute lang in Ruhe gelassen und …«
»Möchten Sie einen Anwalt?«
Francis hielt einen kurzen Moment inne und starrte Maigret hasserfüllt an.
»Sie … Sie …«
Vor lauter Wut hatte es ihm die Sprache verschlagen.
»Sie spielen hier den väterlichen Freund … Sie sagen sich wohl andauernd vor, was für ein guter, geduldiger, verständnisvoller Mensch Sie sind … Das habe ich im ersten Moment auch gedacht … Jetzt aber stelle ich fest, dass alles, was über Sie erzählt wird, dummes Gewäsch ist …«
Er redete sich immer mehr in Rage, und die Worte sprudelten immer schneller aus ihm heraus.
»Was zahlen Sie den Journalisten, damit sie Sie beweihräuchern? … Was war ich doch für ein Idiot … Als ich in der Brieftasche auf Ihren Namen gestoßen bin, habe ich mir eingebildet, dass es eine Rettung für mich gibt, dass mich endlich jemand verstehen würde.
Ohne meinen Anruf hätten Sie mich nie und nimmer gefunden … Mit Ihrem Geld hätte ich … Und ich habe noch nicht einmal ein bisschen Kleingeld aus Ihrer Brieftasche genommen, um mir etwas zu essen zu kaufen.
Mit dem Ergebnis, dass Sie mich in ein schäbiges Hotelzimmer einsperren … Und ein Inspektor draußen vor der Tür Wache schiebt.
Dann stecken Sie mich in Ihre Rattenfalle, und Ihre Leute begutachten mich ab und zu mal durch die Glasscheibe … Mindestens zwölf habe ich gezählt, die sich über den komischen Kauz amüsiert haben!
Und das alles nur, weil meine Frau in meiner Abwesenheit ermordet wurde und die Polizei unfähig ist, die Bürger zu schützen … Denn anstatt nach dem wirklich Schuldigen zu fahnden, hält sie sich an den Ehemann, der einen geradezu idealen Tatverdächtigen abgibt, nur weil er das Pech hat, die Nerven zu verlieren …«
Maigret zog gemächlich an seiner Pfeife, blickte Francis ins Gesicht, der nun, außer sich vor Wut, mit geballten Fäusten mitten im Raum stand und wild herumfuchtelte.
»Haben Sie ausgeredet?«
Er sprach mit ruhiger Stimme, ohne jeden Anflug von Ungeduld oder Ironie.
»Wollen Sie immer noch einen Anwalt anrufen?«
»Ich kann mich auch allein verteidigen … Irgendwann müssen Sie ja Ihren Irrtum einsehen und mich freilassen!«
»Sie sind frei …«
»Sie meinen …«
Schlagartig fiel seine Erregung von ihm ab. Ungläubig und mit hängenden Armen starrte er den Kommissar an.
»Sie sind immer frei gewesen, und das wissen Sie auch. Letzte Nacht habe ich Ihnen nur deshalb eine Unterkunft verschafft, weil Sie kein Geld hatten und, wie ich vermutet habe, nicht in der Rue Saint-Charles übernachten wollten.«
Maigret zog seine Brieftasche hervor, ebendie, die Francis ihm auf der Plattform des Busses entwendet hatte, und entnahm ihr zwei Zehnfrancscheine.
»Das reicht, um eine Kleinigkeit zu essen und ins Grenelle-Viertel zurückzufahren. Von Ihren Freunden leiht Ihnen sicher einer etwas für die dringendsten Ausgaben. Ich möchte Ihnen auch mitteilen, dass ich Ihren Schwiegereltern telegraphiert habe und dass Ihr Schwiegervater heute Abend in Paris eintrifft. Ich weiß nicht, ob er mit Ihnen in Verbindung treten wird. Ich habe nicht selbst mit ihm telefoniert, aber er beabsichtigt offenbar, den Leichnam seiner Tochter in die Bretagne überführen zu lassen.«
Ricain sagte keinen Ton mehr davon, dass er gehen wolle. Er gab sich alle Mühe, den Ausführungen des Kommissars zu folgen.
»Als Ehemann liegt die Entscheidung natürlich bei Ihnen.«
»Wozu raten Sie mir?«
»Die Kosten für die Beerdigung sind hoch. Ich nehme auch an, dass Sie nicht oft Gelegenheit haben werden, zum Friedhof zu gehen. Wenn also die Familie darauf besteht …«
»Ich muss es mir noch überlegen …«
Maigret war an den Wandschrank getreten, wo er immer eine Flasche Cognac und Gläser aufbewahrte. Diese Vorkehrung hatte sich schon oft als überaus nützlich erwiesen.
Er schenkte aber nur ein Glas ein, das er dem jungen Mann reichte.
»Trinken Sie!«
»Und Sie?«
»Nein, ich möchte nichts.«
Francis leerte das Glas in einem Zug.
»Warum geben Sie mir Alkohol?«
»Damit Sie wieder zu sich kommen.«
»Ich werde doch sicher beschattet.«
»Das erübrigt sich, wenn Sie mir sagen, wo ich Sie erreichen kann. Wollen Sie in die Rue Saint-Charles zurück?«
»Wohin sollte ich sonst gehen?«
»Einer meiner Inspektoren ist im Moment noch dort. Übrigens wurde gestern Abend zweimal angerufen. Der Inspektor ist ans Telefon gegangen, aber es hat sich niemand gemeldet.«
»Ich kann es nicht gewesen sein, da ich ja …«
»Ich habe Sie nicht gefragt, ob Sie es waren. Jemand hat bei Ihnen angerufen, jemand, der anscheinend keine Zeitung gelesen hat. Ich möchte nur wissen, ob dieser Mann oder diese Frau erwartet hat, Ihre Stimme zu hören oder die Ihrer Frau …«
»Keine Ahnung …«
»Ist es nie vorgekommen, dass Sie ans Telefon gegangen sind und die Person am anderen Ende nichts gesagt hat?«
»Sie haben doch sicher irgendwelche Hintergedanken, oder?«
»Nehmen wir einmal an, jemand dachte, Sie seien abwesend, und wollte mit Sophie sprechen.«
»Schon wieder! Was haben Ihnen nur all die Leute erzählt, die Sie gestern Abend und heute Morgen vernommen haben? Was für übles Gerede versuchen Sie da …«
»Eine Frage, Francis!«
Dieser zuckte zusammen, denn auf diese Anrede war er nicht gefasst gewesen.
»Wie haben Sie sich verhalten, als Sie vor etwa einem Jahr erfahren haben, dass Sophie schwanger ist?«
»Sie ist nie schwanger gewesen …«
»Ist der medizinische Bericht schon da, Janvier?«
»Hier liegt er, Chef … Delaplanque hat ihn eben geschickt …«
Maigret überflog ihn kurz.
»Da steht es! Sie werden gleich sehen, dass ich nicht einfach irgendetwas behaupte, sondern mich nur an den medizinischen Befund halte.«
Ricain sah ihn mit wildem Gesichtsausdruck an.
»Du lieber Gott, was soll denn das alles? Man könnte meinen, Sie legen es darauf an, mich wahnsinnig zu machen … Erst werde ich beschuldigt, ich hatte meine Frau umgebracht, und dann …«
»Ich habe Sie in keinem Moment beschuldigt.«
»Darauf läuft es aber doch hinaus … Erst machen Sie Andeutungen … Und dann wollen Sie mich wieder beruhigen …«
Er packte das Glas, das eben noch Cognac enthalten hatte, und schleuderte es zu Boden.
»Eigentlich müsste ich Ihre hinterhältigen Tricks längst kennen! … Ja, einen tollen Film gäbe das … Aber die Präfektur würde ihn sofort verbieten … Sophie soll also vor einem Jahr schwanger gewesen sein? … Und da wir keine Kinder haben, müssen wir wohl zu einer Engelmacherin gegangen sein … Ich habe Sie doch richtig verstanden? … So sieht also die neuerliche Anklage aus, die Sie gegen mich vorbringen, da sich die erste nicht halten lässt!«
»Ich habe nicht behauptet, dass Sie davon wussten, ich habe Sie nur gefragt, ob Ihre Frau mit Ihnen darüber gesprochen hat. In Wirklichkeit hat Sie sich an jemand anderen gewandt.«
»Weil das jemand anderen betraf und nicht mich, ihren Ehemann?«
»Sie wollte Ihnen Unannehmlichkeiten, vielleicht auch einen Gewissenskonflikt ersparen. Sie meinte, dass ein Kind in Ihrer beruflichen Situation nur ein Handicap wäre.«
»Und?«
»Sie hat sich einem Ihrer Freunde anvertraut.«
»Aber wem denn, verdammt noch mal?«
»Carus.«
»Was? Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass sie es Carus …«
»Das hat er mir heute Morgen erzählt. Nora hat seine Aussage eine halbe Stunde später bestätigt, allerdings hat sie in einem wichtigen Punkt nicht mit ihm übereingestimmt. Sie behauptet, dass Sophie nicht allein war, als sie ihr ihre Schwangerschaft eröffnet hat. Sie seien dabei gewesen.«
»Das ist gelogen …«
»Schon möglich.«
»Glauben Sie ihr?«
»Im Augenblick glaube ich niemandem.«
»Auch mir nicht?«
»Auch Ihnen nicht, Francis. Sie sind trotzdem frei.«
Maigret steckte sich eine Pfeife an, setzte sich an seinen Schreibtisch und begann in einer Akte zu blättern.