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Der Leiter der Kriminalpolizei wurde als Erster verständigt, was Coméliau, wenn er es erfahren hätte, bestimmt nicht erfreut hätte.

»Ausgezeichnet, mein Lieber. Und jetzt tun Sie mir den Gefallen und gehen Sie schlafen. Mit allem Übrigen befassen wir uns morgen. Sollen wir die beiden Bahnhofsvorsteher kommen lassen?«

Die beiden Bahnhofsvorsteher, von Goderville und von Moucher. Sie sollten dem Mann gegenübergestellt werden, den der eine am 9. Januar aus dem Zug steigen, der andere einige Stunden später wieder hatte einsteigen sehen.

»Colombani hat das schon erledigt. Sie sind bereits unterwegs.«

Jean Bronsky saß bei ihnen im Büro auf einem Stuhl. Noch nie hatte es so viele Gläser Bier und Sandwiches auf dem Tisch gehabt. Was den Tschechen am meisten wunderte, war, dass man anscheinend gar nicht daran dachte, ihn zu verhören.

Auch Francine Latour war da. Sie selbst hatte darauf bestanden mitzukommen, denn sie war felsenfest überzeugt, dass sich die Polizei geirrt hatte. Also hatte ihr Maigret die Akte Bronsky in die Hand gedrückt, wie man einem Kind ein Bilderbuch in die Hand gibt, damit es ruhig bleibt. Sie las in der Akte, wobei sie ihrem Geliebten hin und wieder einen entsetzten Blick zuwarf.

»Was machst du jetzt?«, fragte Colombani.

»Ich rufe noch den Herrn Untersuchungsrichter an, und dann gehe ich schlafen.«

»Soll ich dich nach Hause fahren?«

»Danke. Lass dich bitte meinetwegen nicht aufhalten.«

Maigret schwindelte schon wieder, und Colombani wusste es. Er gab dem Chauffeur laut die Adresse am Boulevard Richard-Lenoir an, aber kaum waren sie losgefahren, klopfte er an die Scheibe:

»Fahren Sie an der Seine entlang. In Richtung Corbeil.«

Er erlebte so den Anbruch des neuen Tages. Er sah, wie sich die ersten Angler an der Flussböschung niederließen, von der ein feiner Nebel aufstieg; er sah die ersten Schleppkähne, die sich vor den Schleusen stauten, und die Rauchsäulen, die von den Häusern zum perlmuttfarbenen Himmel aufzusteigen begannen.

»Ein bisschen weiter stromaufwärts werden Sie einen Gasthof finden«, sagte er zu dem Chauffeur, nachdem sie Corbeil hinter sich gelassen hatten.

Und da war er auch schon. Die schattige Terrasse ging auf die Seine hinaus, und rings um das Haus sah man kleine Lauben, in denen sich am Sonntag wahrscheinlich die Gäste drängten. Der Wirt, ein Mann mit lang herunterhängendem roten Schnurrbart, war gerade dabei, ein Boot auszupumpen, und auf der Brücke waren Fischernetze zum Trocknen ausgebreitet.

Es tat gut, nach der Nacht, die er hinter sich hatte, durchs taufeuchte Gras zu gehen, den Geruch der Erde und der im Kamin knisternden Scheite zu riechen und das noch ungekämmte Mädchen in der Küche hantieren zu sehen.

»Gibt’s schon Kaffee?«

»Bald. Eigentlich haben wir noch nicht offen.«

»Kommt die Dame, die bei Ihnen wohnt, gewöhnlich früh herunter?«

»Ich höre sie schon eine Zeitlang in ihrem Zimmer auf und ab gehen. Horchen Sie mal.«

Über der Zimmerdecke mit den dicken Holzbalken hörten sie tatsächlich Schritte.

»Ich mache gerade den Kaffee für sie.«

»Decken Sie den Tisch für zwei Personen.«

»Sind Sie ein Freund von ihr?«

»Ganz bestimmt. Es würde mich wundern, wenn es nicht so wäre.«

Und er war es auch wirklich. Es ging alles ganz einfach. Als er sich vorstellte, erschrak sie ein wenig, aber er sagte ganz freundlich:

»Gestatten Sie, dass ich mit Ihnen frühstücke?«

Auf dem Tisch vor dem Fenster lag eine rotkarierte Decke, und zwei Frühstücksgedecke aus dickem Steingut standen darauf. Der Kaffee duftete verlockend, und die Butter hatte einen Haselnussgeschmack.

Sie schielte, das schon, ja, sie schielte sogar entsetzlich. Sie wusste es, und als er sie ansah, wurde sie verlegen und erklärte beschämt:

»Mit siebzehn Jahren hat mich meine Mutter operieren lassen, weil mein linkes Auge nach innen sah. Nach der Operation sah es nach außen. Der Chirurg wollte es noch einmal kostenlos operieren, aber ich habe abgelehnt.«

Doch nach ein paar Minuten fiel es einem kaum noch auf. Man konnte sogar verstehen, dass manche sie beinahe hübsch fanden.

»Armer Albert! Wenn Sie ihn gekannt hätten! Ein so fröhlicher und guter Mensch, immer nur darauf bedacht, allen Menschen Freude zu machen.«

»Er war Ihr Vetter, nicht wahr?«

»Ja, ein weitläufiger Vetter dritten Grades.«

Auch ihr Akzent war reizvoll. Was man vor allem bei ihr spürte, war ein ungeheures Bedürfnis nach Zärtlichkeit. Nicht nach Zärtlichkeit, die sie für sich verlangte, sondern nach Zärtlichkeit, die sie an andere abgeben wollte.

»Ich war dreißig, als ich meine Eltern verlor. Ich war noch immer ohne Mann. Meine Eltern hatten ein kleines Vermögen, und ich hatte nie gearbeitet. Ich bin nach Paris gegangen, weil ich mich in dem großen Haus meiner Eltern einsam fühlte. Ich kannte Albert kaum, eigentlich nur vom Hörensagen. Ich habe ihn dann einmal besucht.«

Aber natürlich. Maigret verstand. Auch Albert war einsam, und sie hatte ihn wahrscheinlich mit einer Fürsorge umgeben, die er bis dahin nicht gekannt hatte.

»Wenn Sie wüssten, wie ich ihn geliebt habe! Ich habe nie von ihm verlangt, dass er mich liebt, verstehen Sie? Ich weiß genau, dass das nicht möglich gewesen wäre. Aber er hat so getan, als wäre es so, und ich tat, als glaubte ich es, damit er zufrieden war. Wir waren glücklich, Herr Kommissar. Ja, ich bin sicher, dass er ebenfalls glücklich war. Er hatte keinen Grund, es nicht zu sein, nicht wahr? Und wir hatten gerade unseren Hochzeitstag gefeiert. Ich weiß nicht, was auf der Rennbahn passiert ist. Er ließ mich auf der Tribüne zurück, während er zum Wettschalter ging. Auf einmal kam er ganz bedrückt wieder, und von dem Augenblick an sah er sich andauernd um, als suchte er jemanden. Er wollte, dass wir im Taxi heimfuhren, und drehte sich ständig um. Vor dem Haus sagte er zum Fahrer: ›Fahren Sie weiter!‹ Ich weiß bis heute nicht, warum. Er hat sich zur Place de la Bastille fahren lassen. Dort ist er ausgestiegen, nachdem er noch zu mir gesagt hatte: ›Fahr allein nach Hause. Ich bin in ein oder zwei Stunden zurück.‹ Er wurde nämlich verfolgt. Am Abend kam er nicht nach Hause, sondern rief mich an, er käme erst am nächsten Morgen. Am nächsten Morgen hat er mich dann noch zweimal angerufen …«

»Am Mittwoch?«

»Ja. Das zweite Mal, um mir zu sagen, ich sollte nicht auf ihn warten, sondern ins Kino gehen. Als ich nicht wollte, hat er darauf bestanden. Er ist fast böse geworden. Da bin ich eben gegangen. Haben Sie sie verhaftet?«

»Bis auf einen, den wir aber auch bald gefasst haben werden. Ganz allein ist er, glaube ich, nicht gefährlich, vor allem weil wir wissen, wer er ist, und seine Personenbeschreibung besitzen.«

Maigret ahnte gar nicht, wie wahr seine Worte waren. Zur gleichen Zeit nahm ein Inspektor vom Sittendezernat Serge Madok in einem Bordell am Boulevard de La Chapelle fest, in dem vorwiegend Araber verkehrten. Er hatte sich dort seit dem Vorabend versteckt gehalten und war beharrlich die ganze Nacht dortgeblieben.

Er leistete keinen Widerstand. Er war völlig benebelt, stockbetrunken, und man musste ihn zum Polizeiwagen tragen.

»Was werden Sie jetzt machen?«, fragte Maigret teilnahmsvoll, während er seine Pfeife stopfte.

»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich werde ich in meine Heimat zurückkehren. Ich kann das Restaurant nicht allein weiterführen. Ich habe niemanden mehr.«

Sie wiederholte den letzten Satz und blickte um sich, als suchte sie jemanden, den sie mit ihrer Fürsorge verwöhnen konnte.

»Ich weiß noch nicht, wie ich mir das Leben einrichten soll.«

»Wie wäre es, wenn Sie ein Kind adoptieren würden?«

Sie hob den Kopf und sah ihn einen Augenblick ungläubig an. Dann lächelte sie:

»Glauben Sie, dass ich das könnte … dass man mir eines anvertrauen würde … dass …«

Und der Gedanke nahm in ihrem Kopf gleich so fest Gestalt an, dass Maigret darüber erschrak. Wenn er es auch nicht nur so dahingesagt hatte, so hatte er doch nur vorfühlen wollen. Der Gedanke war ihm unterwegs im Taxi gekommen. Es war einer dieser verschlungenen, kühnen Einfälle, wie sie einem im Halbschlaf oder in einem Zustand starker Erschöpfung kommen und die man am nächsten Morgen als Hirngespinst erkennt.

»Darüber reden wir später noch. Denn ich möchte Sie wiedersehen, wenn Sie es gestatten. Übrigens muss ich noch mit Ihnen abrechnen, weil wir uns erlaubt haben, Ihr Lokal wieder aufzumachen.«

»Kennen Sie vielleicht ein Kind, das …«

»Nun, es gibt da eins, Madame, das vielleicht schon in einigen Wochen keine Mutter mehr haben wird.«

Sie wurde dunkelrot, und auch er war errötet. Er ärgerte sich jetzt, dass er diese Frage aufgeworfen hatte.

»Ein Baby, nicht wahr?«, stammelte sie.

»Ja, ein ganz kleines Baby.«

»Es kann doch nichts dafür, das Kleine.«

»Nein, es kann nichts dafür.«

»Und es ist ja nicht gesagt, dass es auch so wird wie …«

»Entschuldigen Sie, Madame, aber ich muss jetzt nach Paris zurück.«

»Ich werde darüber nachdenken.«

»Denken Sie nicht zu viel darüber nach. Ich mache mir schon Vorwürfe, dass ich überhaupt etwas gesagt habe.«

»Nein, ganz im Gegenteil. Darf ich es denn sehen?«

»Gestatten Sie mir noch eine Frage: Albert hat mir am Telefon gesagt, dass Sie mich kennen. Ich kann mich aber nicht erinnern, Sie je gesehen zu haben.«

»Aber ich. Ich habe Sie gesehen. Es ist schon lange her, ich war damals kaum zwanzig Jahre alt. Meine Mutter lebte noch, und wir haben die Ferien in Dieppe verbracht.«

»Im ›Hôtel Beauséjour‹!«, rief er aus.

Er war dort vierzehn Tage mit seiner Frau gewesen.

»Alle Gäste haben von Ihnen gesprochen und immer wieder verstohlen zu Ihnen hinübergeschaut.«

Es war ihm seltsam zumute, in dem Taxi, das ihn nach Paris zurückbrachte. Die Landschaft war in strahlendes Sonnenlicht getaucht, und überall an den Hecken sah man die ersten Knospen.

›Es wäre nicht schlecht, jetzt Urlaub zu machen‹, dachte er, vielleicht weil vorhin die Erinnerung an Dieppe in ihm wachgerufen worden war.

Er wusste, es würde nichts daraus werden, aber in bestimmten Zeitabständen packte ihn die Sehnsucht immer wieder. Es war wie ein Schnupfen, den er loswurde, indem er sich in die Arbeit stürzte.

Die Vororte … die Brücke von Joinville …

»Fahren Sie über den Quai de Charenton.«

Das Lokal war geöffnet. Chevrier sah verwirrt aus.

»Ich bin froh, dass Sie kommen, Chef. Man hat mich gerade angerufen, dass alles vorüber ist, und meine Frau weiß nicht, ob sie noch Einkäufe machen soll.«

»Ganz wie sie will.«

»Aber es nützt doch nichts mehr, oder?«

»Nein, das nicht.«

»Man hat mich auch gefragt, ob ich Sie gesehen hätte. Anscheinend hat man Sie bei Ihnen zu Hause und auch sonst überall gesucht. Wollen Sie am Quai anrufen?«

Er zögerte. Diesmal war er wirklich am Ende seiner Kraft, und er hatte nur noch einen Wunsch: sich ins Bett zu legen und in einen tiefen, traumlosen Schlaf zu sinken.

›Ich wette, ich werde vierundzwanzig Stunden hintereinander schlafen.‹

Das war natürlich eine Illusion. Leider. Man würde ihn schon vorher stören. Von jeher war man es am Quai des Orfèvres gewohnt – und er war selbst schuld daran –, bei jeder Kleinigkeit zu sagen: »Rufen Sie Maigret an.«

»Was soll ich Ihnen bringen, Chef?«

»Einen Calvados, wenn’s schon unbedingt sein muss.«

Mit Calvados hatte er angefangen. Und mit Calvados würde er aufhören.

»Hallo? Wer ist am Apparat?«

Es war Bodin. Den hatte er ganz vergessen. Bestimmt hatte er auch noch ein paar andere vergessen, die an verschiedenen Punkten von Paris noch auf verlorenem Posten standen.

»Ich habe den Brief, Chef.«

»Welchen Brief?«

»Den von den postlagernden Sendungen.«

»Ach, ja. Also gut.«

Armer Bodin. Er löste mit seinem Fund keine große Begeisterung aus.

»Soll ich ihn öffnen und Ihnen sagen, was in dem Umschlag ist?«

»Wenn es dir Spaß macht …«

»Einen Augenblick. Jetzt hab ich’s. Kein Brief. Nur eine Eisenbahnfahrkarte.«

»Schon gut.«

»Haben Sie das gewusst?«

»Ich habe es mir gedacht. Eine Rückfahrkarte erster Klasse Goderville-Paris.«

»Ja, stimmt. Übrigens warten da noch zwei Bahnhofsvorsteher.«

»Das ist Colombanis Sache.«

Und während Maigret seinen Calvados in kleinen Schlucken trank, lächelte er leise. Noch ein für Albert typischer Charakterzug. Er hatte ihn zwar nicht zu Lebzeiten gekannt, aber sein Bild sozusagen Stück für Stück zusammengesetzt.

Wie manche Rennbahnbesucher konnte auch er nicht umhin, auf den Boden zu sehen, der mit wertlos gewordenen Wettscheinen übersät ist und unter denen sich manchmal einer befindet, der gewonnen hat und nur irrtümlich weggeworfen wurde.

Was er an diesem Morgen gefunden hatte, war jedoch kein Wettschein gewesen, sondern eine Eisenbahnfahrkarte.

Wenn er nicht diese Marotte gehabt hätte … Wenn er nicht gesehen hätte, wem die Fahrkarte aus der Tasche gefallen war … Wenn der Name Goderville nicht augenblicklich das von der Picardie-Bande verschuldete Gemetzel heraufbeschworen hätte … Wenn ihm die Erregung nicht vom Gesicht abzulesen gewesen wäre …

»Armer Albert!«, seufzte Maigret.

… dann wäre er noch am Leben. Dafür aber hätten noch ein paar alte Bauern und Bäuerinnen ihr Leben eingebüßt, nachdem ihnen Maria zuvor noch die Fußsohlen verbrannt hätte.

»Meine Frau möchte lieber gleich schließen«, sagte Chevrier.

»Gut, dann macht zu.«

Und dann war er auf der Straße. Der Taxameter zeigte bereits einen astronomischen Betrag an. Zu Hause fand er eine Madame Maigret vor, die ihm nach der Begegnung mit Nine etwas weniger sanft als sonst erschien und die, als er bis zur Nase zugedeckt im Bett lag, gebieterisch erklärte:

»Diesmal ziehe ich das Telefonkabel heraus und mache niemandem auf.«

Er hörte noch den Anfang des Satzes; sein Ende erfuhr er nie.

 

Tucson (Arizona), 17. Dezember 1947