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»Pardon, Madame …«

Nach minutenlangem, geduldigem Bemühen gelang es Maigret endlich, seine Besucherin zu unterbrechen.

»Sie behaupten also, dass Ihre Tochter Sie vergiften will?«

»Ja, das stimmt.«

»Gerade vorhin haben Sie mir aber nicht weniger bestimmt versichert, dass Ihr Schwiegersohn immer im Korridor dem Zimmermädchen auflauert, um heimlich Gift in Ihren Kaffee oder in einen Ihrer zahlreichen Gesundheitstees zu schütten.«

»Auch das ist richtig.«

»Ja, aber …«, er blickte auf seine Notizen, die er sich im Laufe der schon mehr als einstündigen Unterhaltung gemacht hatte, oder er tat zumindest so, als blicke er darauf, »… am Anfang haben Sie mir erzählt, dass Ihre Tochter und ihr Mann einander hassen.«

»Auch das ist die Wahrheit, Herr Kommissar.«

»Aber beide sind sich darin einig, Sie umbringen zu wollen?«

»Aber nein! Das ist es ja gerade … Sie versuchen, jeder für sich, mich zu vergiften, verstehen Sie?«

»Und Ihre Nichte Rita?«

»Versucht es unabhängig von den anderen.«

Es war Februar. Das Wetter war mild und sonnig. Nur ab und zu zeigten sich einige dunkle Wolken am Himmel, die vereinzelte Regenschauer brachten. Dennoch hatte Maigret, seit seine Besucherin da war, schon dreimal im Ofen gestochert, dem letzten Ofen im Hause, den er mit so viel Mühe gerettet hatte, als hier am Quai des Orfèvres die Zentralheizung eingebaut worden war.

Die Frau musste schon ganz in Schweiß gebadet sein unter dem Nerzmantel, den sie über einem schwarzen Seidenkleid trug, und unter der Last ihres Schmucks, der überall prangte, an den Ohren, am Hals, an den Handgelenken, am Busen, wie bei einer Zigeunerin.

Und mit ihrer grellen, dick aufgetragenen Schminke, die zuerst zu klumpen und sich jetzt aufzulösen begann, erinnerte sie wirklich eher an eine Zigeunerin als an eine Dame der feinen Gesellschaft.

»Drei Personen wollen Sie also vergiften.«

»Sie wollen es nicht nur, sie haben schon damit angefangen.«

»Und Sie behaupten, dass jeder es ohne Wissen des anderen tut.«

»Ich behaupte es nicht, ich weiß es.«

Sie hatte den gleichen rumänischen Akzent wie eine berühmte Schauspielerin, die an einem Boulevardtheater auftrat, und die gleichen brüsken Bewegungen, die Maigret jedes Mal zusammenzucken ließen.

»Ich bin nicht verrückt. Lesen Sie … Ich nehme an, Sie kennen Professor Touchard? … Er wird als Sachverständiger bei allen großen Prozessen hinzugezogen …«

Sie hatte an alles gedacht, hatte sogar den berühmten Irrenarzt von Paris konsultiert und sich von ihm ein Attest ausstellen lassen, das ihr völlige Zurechnungsfähigkeit bescheinigte.

Es half nichts, man musste ihr geduldig zuhören und, um sie zufriedenzustellen, ab und zu ein paar Worte auf einen Notizblock kritzeln. Sie war auf Empfehlung eines Ministers gekommen, der den Leiter der Kriminalpolizei persönlich angerufen hatte. Ihr Mann, der erst vor wenigen Wochen gestorben war, war Staatsrat gewesen. Sie wohnte in der Rue de Presbourg, in einem dieser riesigen Steinblöcke, deren Fassaden auf die Place de l’Etoile gehen.

»Also, mit meinem Schwiegersohn ist das so … Ich habe das Problem genau untersucht … Ich beobachte ihn seit Monaten.«

»Er hat also schon zu Lebzeiten Ihres Mannes damit angefangen?«

Sie reichte ihm einen Plan vom ersten Stock des Hauses, den sie selbst sorgfältig gezeichnet hatte.

»Mein Zimmer ist mit A bezeichnet, das meiner Tochter und ihres Mannes mit B. Aber Gaston schläft schon seit einiger Zeit nicht mehr in diesem Zimmer.«

Zu Maigrets Erleichterung klingelte das Telefon. So hatte er endlich einen Augenblick Ruhe.

»Hallo … Wer ist am Apparat?«

Der Telefonist verband ihn gewöhnlich nur in dringenden Fällen.

»Entschuldigen Sie, Herr Kommissar. Ein Mann, der seinen Namen nicht sagen will, besteht darauf, Sie zu sprechen. Er beschwört mich, es gehe um Leben und Tod.«

»Und er will mich persönlich sprechen?«

»Ja. Darf ich durchstellen?«

Schon hörte Maigret eine verängstigte Stimme fragen:

»Hallo, sind Sie es?«

»Kommissar Maigret, ja.«

»Entschuldigen Sie … Mein Name würde Ihnen nichts sagen. Sie kennen mich nicht, aber Sie haben meine Frau gekannt. Nine … Hallo! Ich muss Ihnen alles erzählen, ganz schnell, weil er vielleicht hierherkommt.«

Maigret dachte zuerst: ›Na so was! Noch ein Verrückter. Es gibt solche Tage …‹

Es war ihm aufgefallen, dass die Verrückten im Allgemeinen serienweise auftreten, als stünden sie unter dem Einfluss des Mondes. Er nahm sich vor, gleich hinterher im Kalender nachzusehen.

»Zuerst wollte ich zu Ihnen kommen. Ich war schon am Quai des Orfèvres, aber ich habe mich nicht getraut, zu Ihnen reinzukommen, weil er mir auf den Fersen war. Er hätte bestimmt nicht gezögert, auf mich zu schießen.«

»Von wem sprechen Sie?«

»Einen Augenblick … Ich bin ganz in der Nähe, gegenüber Ihrem Büro; eben konnte ich noch das Fenster sehen … Am Quai des Grands-Augustins. Sie kennen doch das kleine Café ›Aux Caves du Beaujolais‹? … Ich bin in einer Telefonzelle. Hallo? Hören Sie noch?«

Es war zehn nach elf morgens. Maigret schrieb automatisch die Zeit und den Namen des Cafés auf seinen Block.

»Ich habe schon alles Mögliche versucht. Ich habe mich auch an einen Polizisten an der Place du Châtelet gewandt.«

»Wann?«

»Vor einer halben Stunde … Einer der Männer war mir auf den Fersen, der kleine Dunkelhaarige, es sind nämlich mehrere, die sich ablösen. Ich bin nicht sicher, ob ich sie alle erkenne. Ich weiß nur, dass der kleine Dunkelhaarige …«

Stille.

»Hallo!«, rief Maigret.

Nach einigen Sekunden meldete sich der andere wieder.

»Entschuldigen Sie. Ich habe gehört, wie jemand ins Café kam, und glaubte schon, er sei es … Ich habe die Tür der Telefonzelle einen Spaltbreit aufgemacht, um nachzusehen, aber es ist nur ein Lieferant … Hallo!«

»Was haben Sie zu dem Polizisten gesagt?«

»Dass mir seit gestern Abend ein paar Männer folgen … Seit gestern Nachmittag, um genau zu sein. Dass sie bestimmt auf eine Gelegenheit warten, mich umzubringen. Ich habe ihn gebeten, den zu verhaften, der hinter mir her war.«

»Und er hat sich geweigert?«

»Er hat gesagt, ich solle ihm den Mann zeigen. Aber da war er plötzlich nirgends mehr zu sehen. Deswegen hat er mir nicht geglaubt … Ich bin also zur nächsten Metrostation gelaufen, in einen Wagen gesprungen und, als der Zug abfuhr, wieder ausgestiegen. Ich bin durch alle Gänge gerannt … Dann bin ich gegenüber dem Kaufhaus Bazar am Hôtel de Ville wieder rausgekommen und dann durch das Kaufhaus gegangen …«

Er musste schnell gegangen sein. Vielleicht war er sogar gelaufen; er war außer Atem und keuchte.

»Ich wollte Sie also bitten, mir sofort einen Inspektor in Zivil zu schicken, hierher, in die ›Caves du Beaujolais‹ … Er soll mich nicht ansprechen … Er soll sich ganz unauffällig benehmen … Ich werde hinausgehen, der andere wird mir höchstwahrscheinlich folgen … Er braucht ihn nur zu verhaften, und ich komme dann zu Ihnen und erkläre Ihnen alles.«

»Hallo!«

»Ich sage, dass ich …«

Stille. Undefinierbare Geräusche.

»Hallo? Hallo!«

Niemand mehr am anderen Ende der Leitung.

»Ich sagte gerade …«, fuhr die alte Dame mit dem Gift unerschütterlich fort, als sie sah, dass Maigret auflegte.

»Einen Augenblick, bitte.«

Er ging zur Tür, die sein Büro mit dem der Inspektoren verband, und öffnete sie.

»Janvier! Setz deinen Hut auf, und lauf zum Quai des Grands-Augustins rüber. Dort gibt es ein Café namens ›Aux Caves du Beaujolais‹. Frag, ob der Mann noch dort ist, der soeben angerufen hat.«

Er nahm den Hörer ab.

»Verbinden Sie mich mit dem Café ›Caves du Beaujolais‹.«

Während er wartete, blickte er aus dem Fenster. Jenseits der Seine, wo der Quai des Grands-Augustins zum Pont Saint-Michel hin ansteigt, konnte er die schmale Vorderfront eines Bistros erkennen, in dem er ab und zu ein Glas an der Theke getrunken hatte. Er erinnerte sich, dass man eine Stufe hinuntersteigen musste, dass es in dem Raum kühl war und dass der Wirt eine schwarze Küferschürze trug. Ein vor dem Lokal parkender Lastwagen versperrte die Sicht auf die Tür. Auf dem Gehsteig gingen Leute vorüber.

»Sehen Sie, Herr Kommissar …«

»Bitte noch einen Augenblick, Madame.«

Und Maigret stopfte sich mit Sorgfalt seine Pfeife, den Blick weiterhin unverwandt aus dem Fenster gerichtet.

Die alte Frau mit ihren Giftgeschichten würde ihm noch den ganzen Vormittag stehlen, wenn nicht mehr. Sie hatte allerlei Papiere mitgebracht, Pläne, Bescheinigungen, ja sogar Lebensmittelanalysen, die sie vorsichtshalber von ihrem Apotheker hatte machen lassen.

»Ich war von Anfang an misstrauisch, verstehen Sie?«

Sie roch nach einem widerlichen Parfüm, das sich im ganzen Büro verbreitete und den guten Pfeifengeruch völlig verdrängt hatte.

»Hallo? Haben Sie die Nummer, um die ich Sie gebeten hatte?«

»Ich habe angerufen, Herr Kommissar. Ich rufe dauernd an, aber es ist ständig besetzt. Oder es hat jemand vergessen, den Hörer aufzulegen.«

Janvier, der nicht einmal die Jacke angezogen hatte, überquerte mit schlaksigem Schritt die Brücke und betrat gleich darauf das Café. Der Lastwagen fuhr endlich an, aber man konnte trotzdem nicht ins Innere der Kneipe sehen, weil es dort zu dunkel war. Wieder vergingen ein paar Minuten. Dann läutete das Telefon.

»Also, Herr Kommissar. Ich habe die Nummer. Sie ist endlich frei.«

»Hallo? Wer ist am Apparat? Bist du’s, Janvier? War der Hörer nicht aufgelegt? Also, was gibt’s?«

»Hier hat wirklich ein kleiner Mann telefoniert.«

»Hast du ihn gesehen?«

»Nein. Er war schon fort, als ich kam. Angeblich hat er die ganze Zeit durch die Scheibe der Telefonzelle geschaut und immer wieder die Tür einen Spaltbreit aufgemacht.«

»Ja, und?«

»Ein Gast ist hereingekommen, hat zur Telefonzelle hinübergesehen und sich dann an die Theke gestellt und ein Glas Schnaps bestellt. Sobald der andere ihn gesehen hat, hat er das Gespräch unterbrochen.«

»Sind beide weggegangen?«

»Ja, der eine hinter dem andern her.«

»Lass dir vom Wirt eine möglichst genaue Beschreibung der beiden Männer geben … Hallo? … Und wenn du schon dort bist, geh über die Place du Châtelet zurück. Frag die verschiedenen Polizisten, die dort stehen. Versuch herauszukriegen, ob einer von ihnen vor etwa einer dreiviertel Stunde von dem gleichen Mann gebeten worden ist, seinen Verfolger festzunehmen.«

Als er auflegte, blickte ihn die alte Frau voller Genugtuung an und meinte, als wollte sie ihm eine gute Note erteilen:

»Genau so stelle ich mir eine Untersuchung vor. Sie verlieren keine Zeit. Sie denken an alles.«

Maigret setzte sich seufzend wieder hin. Am liebsten hätte er das Fenster aufgemacht, weil er in dem überheizten Raum fast erstickte. Aber vielleicht gelang es ihm so, seine Besucherin, den Schützling des Ministers, schneller loszuwerden.

Aubain-Vasconcelos. So hieß sie. Der Name sollte ihm für immer im Gedächtnis bleiben. Dennoch sah er sie nie wieder. War sie in den darauffolgenden Tagen gestorben? Wohl kaum. Er hätte davon gehört. Oder hatte man sie in eine Anstalt gebracht? Vielleicht hatte sie sich, von der Polizei enttäuscht, an einen Privatdetektiv gewandt? Vielleicht war sie aber auch am nächsten Morgen mit einer anderen fixen Idee erwacht?

Auf jeden Fall musste er sich fast noch eine Stunde lang anhören, was sie von den Bewohnern des großen Hauses in der Rue de Presbourg erzählte, wo es wahrscheinlich nicht gerade lustig zuging und wo man ihr den ganzen Tag lang Gift in die Getränke schüttete.

Am Mittag konnte er endlich das Fenster öffnen. Dann ging er, die Pfeife zwischen den Zähnen, zum Chef hinüber.

»Haben Sie sie freundlich abgewimmelt?«

»So freundlich wie möglich.«

»Sie soll in ihrer Jugend eine der schönsten Frauen in ganz Europa gewesen sein. Ich habe ihren Mann flüchtig gekannt. Er war der sanfteste, unauffälligste, langweiligste Mensch, den man sich vorstellen kann. Gehen Sie ein wenig Luft schnappen, Maigret?«

Er zögerte. Auf den Straßen roch es schon nach Frühling. In der ›Brasserie Dauphine‹ hatte man bereits die Terrasse eingerichtet, und die Worte des Chefs waren eine Einladung, dort mit ihm vor dem Mittagessen in Ruhe einen Aperitif zu trinken.

»Ich glaube, ich bleibe besser hier. Ich habe heute Morgen einen seltsamen Anruf bekommen.«

Gerade als er darüber sprechen wollte, klingelte das Telefon. Der Chef meldete sich und reichte Maigret den Hörer.

»Für Sie, Maigret.«

Der Kommissar erkannte die Stimme sofort wieder. Sie klang jetzt noch angstvoller als am Morgen.

»Hallo … Wir sind vorhin unterbrochen worden … Er ist reingekommen. Er hätte durch die Tür der Telefonzelle mithören können. Ich habe es mit der Angst bekommen.«

»Wo sind Sie jetzt?«

»Im ›Tabac des Vosges‹, an der Ecke Place des Vosges und Rue des Francs-Bourgeois … Ich habe versucht, ihn abzuschütteln. Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, aber ich schwöre Ihnen, ich täusche mich nicht, er will mich umbringen … Ich kann Ihnen das nicht so schnell erklären … Ich hab schon gedacht, die anderen würden sich über mich lustig machen, aber Sie, Sie …«

»Hallo?«

»Er ist hier … ich … Entschuldigen Sie.«

Der Chef blickte Maigret, der ein finsteres Gesicht machte, fragend an.

»Ist irgendwas nicht in Ordnung?«

»Ich weiß nicht. Eine sonderbare Geschichte. Gestatten Sie?«

Er ging an einen anderen Apparat.

»Verbinden Sie mich sofort mit dem ›Tabac des Vosges‹ … Beim Chef, ja.«

Und, zum Chef gewandt, sagte er:

»Hoffentlich hat er nicht vergessen einzuhängen.«

Das Telefon begann fast augenblicklich zu läuten.

»Hallo? ›Tabac des Vosges‹? … Ist der Wirt am Apparat? … Ist der Gast, der vorhin telefoniert hat, noch bei Ihnen? … Wie? … Ja, sehen Sie nach … Hallo? … Er ist gerade gegangen? … Hat er gezahlt? … Sagen Sie, ist ein anderer Gast reingekommen, während er telefoniert hat? … Nein? … Auf der Terrasse? … Sehen Sie nach, ob er noch da ist … Er ist auch weg? … Ohne auf den Aperitif zu warten, den er bestellt hat? … Danke … Nein … Wer am Apparat ist? … Die Polizei … Nein, es hat nichts mit Ihnen zu tun.«

Dann beschloss Maigret endgültig, den Chef nicht zur ›Brasserie Dauphine‹ zu begleiten. Als er die Tür zum Inspektorenbüro öffnete, sah er, dass Janvier schon zurück war und auf ihn wartete.

»Komm, erzähl.«

»Das ist ein komischer Kauz, Chef. Ein kleiner Mann mit Regenmantel, grauem Hut und schwarzen Schuhen. Er ist ins ›Caves du Beaujolais‹ gestürmt, sofort zur Telefonzelle gestürzt und hat dem Wirt zugerufen: ›Bringen Sie mir, was Sie wollen.‹ Der hat dann durch die Scheibe gesehen, wie er in der Zelle aufgeregt gestikuliert hat. Und dann, als der andere reingekommen ist, ist er wie ein Springteufel aus der Zelle gesprungen und, ohne etwas zu trinken oder auch nur ein Wort zu sagen, in Richtung Place Saint-Michel davongestürmt.«

»Und der andere?«

»Auch ein Kleiner, jedenfalls nicht sehr groß, untersetzt, schwarzhaarig.«

»Und was sagt der Polizist von der Place du Châtelet?«

»Die Geschichte ist wahr. Der Mann im Regenmantel hat sich außer Atem und ganz aufgeregt an ihn gewandt. Er hat ihn heftig gestikulierend gebeten, jemanden festzunehmen, der ihn verfolge. Er konnte ihn aber in der Menge nicht mehr entdecken. Der Polizist sagte, er würde den Vorfall auf jeden Fall in seinem Rapport erwähnen.«

»Du gehst jetzt zur Place des Vosges, in das Lokal an der Ecke der Rue des Francs-Bourgeois.«

»Gut.«

Ein kleiner, heftig gestikulierender Mann in beigem Regenmantel und mit grauem Hut. Das war alles, was man von ihm wusste. Man konnte nichts anderes tun als sich ans Fenster stellen und die Leute beobachten, die aus den Büros kamen und in die Cafés und Restaurants und auf die Terrassen strömten. Ein heller, heiterer Tag in Paris. Wie immer Mitte Februar freute man sich mehr über die Vorboten des Frühlings, als wenn er wirklich kam. Und die Zeitungen würden zweifellos in den nächsten Tagen berichten können, dass der berühmte Kastanienbaum am Boulevard Saint-Germain erste Blüten zeigte.

Maigret rief die ›Brasserie Dauphine‹ an.

»Hallo? … Joseph? … Hier Maigret. Kannst du mir zwei kleine Bier und Sandwiches bringen? … Für eine Person, ja.«

Noch bevor die Sandwiches da waren, kam ein Anruf für ihn. Er erkannte die Stimme sofort. Nicht umsonst hatte er den Telefonisten angewiesen, jeden, der ihn verlangte, unverzüglich mit ihm zu verbinden.

»Hallo? … Diesmal bin ich ihn, glaub ich, losgeworden.«

»Wer sind Sie?«

»Nines Mann. Aber das spielt keine Rolle … Es sind mindestens vier, die Frau nicht mitgerechnet … Es muss unbedingt sofort jemand kommen und …«

Diesmal war er nicht dazu gekommen zu sagen, von wo er telefonierte. Maigret rief die Zentrale an. Es dauerte einige Minuten. Der Anruf kam vom Restaurant ›Quatre Sergents de La Rochelle‹ am Boulevard Beaumarchais, in der Nähe der Bastille.

Es war auch nicht weit von der Place des Vosges entfernt. Der kleine Mann im Regenmantel ging also praktisch immer im gleichen Viertel im Zickzack hin und her.

»Hallo? Bist du’s, Janvier? … Ich hab mir schon gedacht, dass du noch da bist«, sagte Maigret, der ihn noch einmal in dem Lokal an der Place des Vosges angerufen hatte.

»Lauf schnell zum Restaurant ›Quatre Sergents de La Rochelle‹ rüber … Ja. Lass das Taxi warten.«

Eine Stunde verging, ohne dass jemand anrief, ohne dass man etwas von Nines Mann erfuhr. Als das Telefon endlich läutete, war nicht er, sondern ein Kellner am Apparat.

»Habe ich die Ehre, mit Kommissar Maigret zu sprechen? … Mit Kommissar Maigret persönlich? … Hier ist der Kellner vom ›Café de Birague‹, Rue de Birague. Ich spreche im Auftrag eines Gastes, der mich gebeten hat, Sie anzurufen.«

»Wie lange ist das her?«

»Vielleicht eine Viertelstunde. Ich hätte sofort anrufen sollen, aber um diese Zeit haben wir Hochbetrieb hier.«

»Ein kleiner Mann mit Regenmantel?«

»Ja … Na gut … Ich hatte schon Angst, dass er mir einen Streich spielen wollte … Er hatte es sehr eilig. Er hat die ganze Zeit auf die Straße geblickt … Warten Sie, ich muss noch mal genau überlegen … Er sagte, ich sollte Ihnen mitteilen, dass er versuchen würde, den Mann ins ›Canon de la Bastille‹ zu locken. Kennen Sie es? Es ist die Brasserie an der Ecke des Boulevard Henri-IV. Er möchte, dass Sie schnell jemanden hinschicken … Warten Sie, das ist noch nicht alles. Sie werden schon wissen, was es bedeutet. Er hat wörtlich gesagt: ›Es ist jetzt ein anderer, es ist der große Rothaarige, der Gemeinste von allen …‹«

 

Maigret ging selbst hin. Er hatte ein Taxi genommen und bis zur Place de la Bastille nicht einmal zehn Minuten gebraucht. Es war ein großes, ruhiges Lokal, in dem vor allem Stammgäste verkehrten, die das Tagesgericht oder kalten Aufschnitt aßen. Er hielt nach einem Mann im Regenmantel Ausschau und inspizierte die Kleiderständer, in der Hoffnung, einen beigen Regenmantel zu entdecken.

»Sagen Sie, Garçon …«

Es waren sechs Kellner da, dazu die Kassiererin und der Wirt. Er befragte sie alle. Niemand hatte den Mann gesehen. Er setzte sich also in eine Ecke in der Nähe der Tür, bestellte ein kleines Bier, zündete sich eine Pfeife an und wartete. Eine halbe Stunde später bestellte er trotz der Sandwiches einen Teller Sauerkraut. Er beobachtete die Leute, die draußen vorübergingen. Bei jedem Regenmantel zuckte er zusammen, und es gab viele davon, weil schon der dritte Regenschauer an diesem Morgen niederging. Ein klarer, durchsichtiger Regen, einer von der harmlosen Sorte, der den Schein der Sonne nicht trübte.

»Hallo? … Kriminalpolizei? … Hier Maigret. Ist Janvier zurück? … Geben Sie ihn mir … Bist du’s, Janvier? … Spring in ein Taxi, und komm zu mir ins ›Canon de la Bastille‹. Du hast recht, das scheint unser Kneipen-Tag zu sein. Ich warte auf dich … Nein, nichts Neues.«

Möglich, dass der aufgeregte Mann ihn nur zum Besten hielt. Und wenn schon! Maigret ließ trotzdem den diensthabenden Inspektor im ›Canon de la Bastille‹ zurück, während er selbst ins Büro zurückfuhr.

Es war kaum anzunehmen, dass Nines Mann seit halb eins ermordet worden war, denn er schien sich nicht in abgelegene Gegenden zu wagen. Er suchte sich im Gegenteil belebte Viertel und verkehrsreiche Straßen aus. Trotzdem setzte sich der Kommissar mit der polizeilichen Notrufzentrale in Verbindung, der innerhalb von Minuten alle Vorfälle in Paris gemeldet wurden.

»Wenn man Ihnen meldet, dass ein Mann in Regenmantel einen Unfall gehabt hat, in einen Streit oder sonst was verwickelt war, rufen Sie mich bitte an.«

Er gab auch Anweisung, dass einer der Wagen der Kriminalpolizei im Hof zu seiner Verfügung bleiben solle. Vielleicht war das lächerlich, aber er wollte nichts außer Acht lassen, was ihm vielleicht nützen konnte.

Er empfing einige Leute, rauchte eine Pfeife nach der anderen, stocherte hin und wieder im Ofen, während das Fenster die ganze Zeit offen stand, und warf ab und zu einen strengen Blick auf das Telefon, das stumm blieb.

»Sie haben meine Frau gekannt«, hatte der Mann gesagt.

Er suchte in seinem Gedächtnis nach einer Nine. Es mussten ihm viele Nines begegnet sein. Vor einigen Jahren hatte er eine gekannt, die eine kleine Bar in Cannes betrieben hatte. Aber sie war schon damals eine alte Frau gewesen und inzwischen bestimmt gestorben. Und eine Nichte seiner Frau, die eigentlich Aline hieß, wurde von allen Nine genannt.

»Hallo? Kommissar Maigret?«

Es war vier Uhr. Obwohl es draußen noch ganz hell war, hatte Maigret schon die Lampe mit dem grünen Schirm auf dem Schreibtisch angeknipst.

»Hier spricht der Vorsteher vom Postamt 28 in der Rue du Faubourg-Saint-Denis. Entschuldigen Sie bitte die Störung. Wahrscheinlich handelt es sich um einen schlechten Scherz. Vor ein paar Minuten war hier jemand am Paketschalter und … Hallo? … Er sah aus, als hätte er es eilig, und machte einen verängstigten Eindruck. Das hat mir die Schalterbeamtin, Mademoiselle Denfer, gesagt. Er hat sich andauernd umgedreht, hat ihr dann ein Papier hingeschoben und gesagt: ›Fragen Sie nicht, was das zu bedeuten hat. Geben Sie das gleich telefonisch an Kommissar Maigret durch.‹ Dann ist er in der Menge verschwunden. Die Angestellte ist daraufhin zu mir gekommen. Ich habe das Papier hier vor mir liegen. Es ist mit Bleistift geschrieben, in einer ganz krakeligen Schrift. Der Mann hat es bestimmt im Gehen geschrieben. Hier steht also:

Ich konnte nicht ins ›Canon‹ kommen … Verstehen Sie, was das bedeutet? … Ich nicht … Aber das macht nichts. Dann kommt ein Wort, das ich nicht entziffern kann … Jetzt sind es zwei. Der kleine Dunkelhaarige ist zurückgekommen … Ich bin allerdings nicht sicher, ob es wirklich ›Dunkelhaarige‹ heißt … Was sagen Sie? … Gut, wenn Sie meinen, dass es stimmt … Das ist aber nicht alles … Ich bin sicher, dass sie beschlossen haben, mich heute zu kriegen. Ich bin schon fast am Quai. Aber sie sind schlau. Informieren Sie die Polizisten.

Das ist alles. Wenn Sie wollen, stelle ich Ihnen den Brief per Eilboten zu … Mit dem Taxi? … Von mir aus. Das heißt, nur, wenn Sie mir die Fahrt bezahlen. Ich kann mir nämlich nicht erlauben …«

 

»Hallo? … Janvier? … Du kannst zurückkommen, Alter.«

Eine halbe Stunde später saßen sie beide rauchend in Maigrets Büro, in dem der Ofen glühte.

»Hast du dir wenigstens Zeit genommen, zu Mittag zu essen?«

»Ich habe im ›Canon de la Bastille‹ einen Teller Sauerkraut gegessen.«

Er also auch! Maigret hatte inzwischen die Fahrradpatrouillen und die Stadtpolizei alarmiert. Die Pariser, die in die Kaufhäuser gingen, sich auf den Gehsteigen drängten, sich in die Kinos oder in die Eingänge der Metrostationen schoben, merkten von alledem nichts, obwohl Hunderte von Augen aufmerksam die Menge absuchten und an jedem beigefarbenen Regenmantel und jedem grauen Hut hängenblieben.

Gegen fünf Uhr, als das Gedränge im Châtelet-Viertel seinen Höhepunkt erreicht hatte, kam noch ein Regenschauer vom Himmel. Das Pflaster glänzte nass, die Straßenlaternen waren von einem Lichthof umgeben, und auf den Gehsteigen stand alle zehn Meter jemand und hob den Arm, um ein Taxi herbeizuwinken.

»Der Wirt von den ›Caves du Beaujolais‹ schätzt ihn auf fünfunddreißig bis vierzig Jahre, der vom ›Tabac des Vosges‹ dagegen auf nicht mehr als dreißig. Er ist glattrasiert, hat einen rosigen Teint und helle Augen. Aber was für eine Art Mensch er ist, habe ich nicht herausfinden können. Man hat mir jedes Mal geantwortet: ›Ein Mann, wie er zu Dutzenden herumläuft.‹«

Madame Maigret, die ihre Schwester zum Abendessen eingeladen hatte, rief um sechs Uhr an, um sich zu vergewissern, dass ihr Mann pünktlich zu Hause sein werde, und um zu bitten, auf dem Nachhauseweg beim Konditor vorbeizugehen.

»Würdest du bis neun Uhr hier die Stellung halten? Ich werde Lucas bitten, dich danach abzulösen.«

Janvier war einverstanden. Man konnte nichts anderes tun als warten.

»Wenn irgendetwas los ist, soll man mich zu Hause anrufen.«

Er dachte dann auch daran, zu dem Konditor in der Avenue de la République zu gehen, dem einzigen in Paris, der nach Madame Maigrets Meinung gutes Blätterteiggebäck zu machen verstand. Er begrüßte seine Schwägerin, die wie immer nach Lavendel roch. Dann aßen sie zu Abend, und er trank hinterher ein Glas Calvados. Bevor er Odette zur Metro brachte, rief er die Kriminalpolizei an.

»Lucas? … Nichts Neues? … Bist du immer noch in meinem Büro?«

Lucas schien es sich in Maigrets Sessel bequem gemacht zu haben und las wahrscheinlich in einem Buch, die Füße auf Maigrets Schreibtisch.

»Mach weiter, Alter. Gute Nacht.«

Als er von der Metrostation zurückkam, war der Boulevard Richard-Lenoir menschenleer, und seine Schritte hallten in der Stille wider. Er hörte andere Schritte hinter sich. Er fuhr zusammen und drehte sich unwillkürlich um, weil er an den Mann dachte, der um diese Zeit vielleicht noch voll Angst in den Straßen herumlief, dunkle Ecken mied und in den Bars und Cafés ein bisschen Sicherheit suchte.

Er schlief vor seiner Frau ein – sie behauptete es wenigstens, genau wie sie immer behauptete, dass er schnarche –, und der Wecker auf dem Nachttisch zeigte auf zwei Uhr zwanzig, als ihn das Telefon aus dem Schlaf riss. Es war Lucas.

»Ich störe vielleicht umsonst, Chef. Ich habe noch nicht viel herausgefunden. Die Wache von der Notrufzentrale hat mich gerade angerufen, an der Place de la Concorde sei ein Mann tot aufgefunden worden. Beim Quai des Tuileries. Es betrifft also das 1. Arrondissement. Ich habe das Kommissariat angerufen und gebeten, man solle alles unverändert lassen … Wie? … Gut. Wenn Sie wollen … Ich schicke Ihnen ein Taxi.«

Seufzend beobachtete Madame Maigret, wie ihr Mann in die Hose schlüpfte und nach seinem Hemd suchte.

»Glaubst du, dass es lange dauern wird?«

»Ich weiß es nicht.«

»Hättest du nicht einen Inspektor hinschicken können?«

Als sie ihn im Esszimmer das Büfett öffnen hörte, wusste sie gleich, dass er sich noch einen Calvados eingoss. Dann kam er noch einmal zurück, um seine Pfeifen zu holen, die er vergessen hatte.

Das Taxi wartete schon. Die Boulevards waren fast menschenleer. Über der grünlichen Kuppel der Oper stand, größer und leuchtender als sonst, der Mond.

An der Place de la Concorde standen zwei Autos am Gehsteigrand, unweit der Tuilerien. Dunkle Gestalten liefen geschäftig hin und her.

Das Erste, was Maigret bemerkte, als er aus dem Taxi stieg, war der helle Fleck eines beigen Regenmantels auf dem silbrig glänzenden Gehsteig.

Während die Polizisten in ihren Pelerinen zurücktraten und ein Inspektor des 1. Arrondissements auf ihn zutrat, murmelte er:

»Es war also doch kein Scherz. Sie haben ihn gekriegt.«

Man hörte das Rauschen der ganz in der Nähe dahinfließenden Seine, und fast lautlos glitten Wagen vorüber, die von der Rue Royale zu den Champs-Elysées fuhren. Die roten Leuchtbuchstaben des ›Maxim’s‹ funkelten durch die Nacht.

»Ein Messerstich, Herr Kommissar«, meldete Inspektor Lequeux, den Maigret gut kannte. »Wir haben auf Sie gewartet, damit wir ihn wegbringen können.«

Warum spürte Maigret schon in diesem Augenblick, dass etwas nicht stimmte?

Die Place de la Concorde, in deren Mitte der weiße Obelisk aufragt, war zu groß, zu kühl und zu weit. Irgendwie passte sie nicht zu den Telefonanrufen am Morgen, und auch nicht zum Café ›Aux Caves du Beaujolais‹, zum ›Tabac des Vosges‹ und zum Restaurant ›Quatre Sergents‹ am Boulevard Beaumarchais.

Bis zu seinem letzten Anruf, bis zu dem Brief, den er auf dem Postamt im Faubourg Saint-Denis abgegeben hatte, hatte sich der Mann innerhalb eines Viertels mit engen, belebten Straßen bewegt.

Würde sich jemand, der sich verfolgt weiß, der spürt, dass ihm ein Mörder auf den Fersen ist, und der jeden Augenblick damit rechnet, dass ihm der tödliche Schlag versetzt wird, auf die gleichsam im Unendlichen sich verlierende Weite einer Place de la Concorde hinauswagen?

»Ihr werdet sehen, dass er nicht hier ermordet worden ist.«

Eine Stunde später sollte man den Beweis dafür haben, als der Polizist Piedbœuf, der vor einem Nachtlokal in der Rue de Douai auf Wache stand, seinen Rapport machte.

Vor dem Kabarett hatte ein Auto gehalten, dem zwei Männer im Smoking und zwei Frauen in Abendkleidern entstiegen. Sie waren alle fröhlich, ein wenig angeheitert, vor allem einer der Männer, der, als die anderen schon im Lokal verschwunden waren, noch einmal zurückgekommen war.

»Hören Sie, Wachtmeister. Ich weiß zwar nicht, ob es richtig ist, dass ich Ihnen das sage, denn ich möchte nicht, dass man uns den Abend verdirbt … Aber egal! Machen Sie damit, was Sie wollen … Vorhin, als wir an der Place de la Concorde vorbeigefahren sind, hat vor uns ein Auto gehalten. Ich saß am Steuer und habe gebremst, weil ich dachte, die hätten eine Panne. Sie haben irgendetwas aus dem Wagen gezerrt und auf den Gehsteig gelegt. Ich glaube, es war eine Leiche …

Das Auto war ein gelber Citroën mit Pariser Nummer, und die beiden letzten Ziffern waren eine 3 und eine 8.«