Kapitel 9

Loano gefiel Tinchen auf Anhieb. Zwar war sie schon des öfteren durchgefahren und hatte sich jedesmal über die Wohnsilos geärgert, die auf der Piazza gleich neben dem Bahnhof in die Höhe ragten und wohl die Bestrebungen der Stadtväter dokumentieren sollten, daß man keineswegs hinter dem Mond lebe und auch etwas von moderner Architektur verstünde – aber nun schlenderte sie staunend durch die malerischen Gassen mit ihren jahrhundertealten Torbögen und war ganz enttäuscht, wenn sie dahinter statt einer Kesselschmiede oder eines Spezereienhändlers nur eine ganz prosaische chemische Reinigung entdeckte. Auch der Doria-Palast – in jedem Reiseführer an erster Stelle abgehandelt – diente nicht mehr als Residenz des alten genuesischen Fürstengeschlechts. Waren die stolzen Herrscher in früheren Zeiten hoch zu Roß die breite Treppe hinaufgesprengt (mit viel Phantasie lassen sich sogar noch Hufabdrücke ausmachen), so müssen sich die heutigen Bewohner des Palazzo zu Fuß in ihre Büros bemühen. Es war zum Rathaus degradiert worden.

In einem Schaufenster auf der Palmenpromenade entdeckte Tinchen eine Korallenkette. Sie wollte schon lange eine haben, aber die jeweiligen Preise hatten immer in krassem Gegensatz zu ihrem Budget gestanden. Die hier war aber gar nicht so entsetzlich teuer! Dafür war sie vermutlich auch nicht echt. Mit Schaudern dachte Tinchen an die kleine Elfenbein-Eule, die sie unlängst auf dem Markt für Mutsch gekauft hatte. Die sammelte ja diese Viecher und hatte mindestens drei Dutzend zu Hause in der Vitrine stehen, aus Holz, aus Porzellan, aus Keramik, aus Bast – nur ein elfenbeinerner Uhu war noch nicht darunter.

Als sie Fritz Schumann ihre Neuerwerbung gezeigt hatte, hatte der nur gegrinst. »Das ist billiger Plastikkram mit einem Eisenkern in der Mitte, damit das Ding schwerer wird. So etwas dürfen Sie nie auf dem Markt kaufen, Tina! Diese fliegenden Händler bleiben immer nur ein paar Stunden am selben Ort, damit man nicht mehr reklamieren kann. Wenn sie die ganze Küste abgegrast haben, fangen sie wieder von vorne an. Alle Gäste, die sie übers Ohr gehauen haben, sind in der Zwischenzeit abgereist, und die neuen haben meistens keine Ahnung!«

Jetzt stand die elfenbeinerne Plastikeule auf Tinchens Nachttisch als tägliche Warnung vor preisgünstigen Gelegenheitskäufen. ›Occasione‹, hatte der Vogelhändler gesagt! Was ist überhaupt eine Okkasion? Alles, was nicht ganz so sündhaft teuer ist, wie man befürchtet hat!

Immer noch liebäugelte Tinchen mit der Kette. Das Geschäft machte eigentlich einen ganz soliden Eindruck. Soweit sie sehen konnte, gab es hier nicht den üblichen Andenkenkitsch; und die Seidentücher, die neben der Tür an einem Haken flatterten, waren nicht nur wirklich aus Seide, sondern darüber hinaus sogar recht geschmackvoll. Fragen kostet nichts! Entschlossen betrat Tinchen den Laden.

Er war leer. Dafür gab es Korallenketten in jeder Länge. Sie lagen in einem Kästchen offen auf dem Ladentisch. Ein bißchen mißtrauisch nahm sie eine davon in die Hand. Sie fühlte sich echt an, aber das hatte die Eule auch getan. »Kann ich Ihnen helfen?«

Hinter ihr betrat eine schlanke Dame mit einem markanten Ahnengesicht den kleinen Verkaufsraum.

»Sie sprechen deutsch?« fragte Tinchen verblüfft.

»Ich bin Deutsche.«

»Da bin ich aber froh!« Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Um die landesübliche Feilscherei, bei der sie schon rein rhetorisch noch immer den kürzeren zog, wurde sie diesmal wohl herumkommen. Und schon sprudelte sie die Eulengeschichte heraus.

»Sie können zufrieden sein, daß Sie nicht mehr Lehrgeld bezahlt haben! Was glauben Sie, wie viele Touristen hier schon goldene Uhren gekauft und erst zu Hause festgestellt haben, daß es bloß Doublé war? Aber Sie können ganz unbesorgt sein, meine Korallen sind wirklich echt. Wieviel möchten Sie denn ausgeben?«

Vergeblich schielte Tinchen auf die Preisschilder. Sie konnte keins entziffern. Als Frau von Welt hatte man zu wissen, was so etwas kostet, als Tinchen Pabst hatte sie aber herzlich wenig Ahnung. »Ich weiß nicht recht, vielleicht fünfzig Mark …?«

»Viel zu teuer!« tönte eine Stimme aus dem Hintergrund. »Dafür kriegen Sie ja schon fast einen Trauring!«

»Sollte ich wirklich mal einen brauchen, dann werde ich ihn hoffentlich geschenkt bekommen! Oder müssen sich Ihre Bräute die Ringe immer selbst kaufen?« Tinchen war empört! Wo kam dieser Klaus Brandt schon wieder her? Spionierte der ihr nach? Sein impertinentes Lächeln machte sie noch zorniger. »Haben Sie heute schon wieder Ausgang?«

»Habe ich Ausgang, Tante Josi?«

Die Verkäuferin blickte ratlos zwischen den beiden hin und her.

»Ich verstehe überhaupt nichts. Kennst du die junge Dame, Klaus?«

»Kennen ist maßlos übertrieben! Wir sind uns erst zweimal begegnet, nur scheine ich keinen so nachhaltigen Eindruck hinterlassen zu haben wie umgekehrt. Aber wenigstens kann ich Sie bei dieser Gelegenheit mit meiner Tante Josephine bekannt machen! Tante Josi, das ist Tina Pabst, zur Zeit Leithammel bei Neckermann-Reisen oder einem ähnlichen Touristenbagger. Was sie macht, wenn sie richtig arbeitet, weiß ich noch nicht! Würdest du ihr bitte bestätigen, daß wir Blutsverwandte ersten Grades sind? Sie glaubt mir das nämlich nicht.«

Die Verkäuferin schmunzelte. »Seit wann legst du so großen Wert auf unsere verwandtschaftlichen Beziehungen? Im allgemeinen pflegt man mit alten Tanten nicht zu renommieren.«

»Erstens bist du nicht alt, Tante Josi, was ist schon ein Dreivierteljahrhundert in der Menschheitsgeschichte, und zweitens hält mich Tina für einen Playboy, der sich auf betuchte Frauen der gehobeneren Jahrgänge spezialisiert hat. Du wirst verstehen, daß dieser Verdacht meinem Image sehr unzuträglich ist!«

»Welchem Image?«

»Dem eines fleißigen Doktoranden, der Tag und Nacht schuftet, um mit seiner Dissertation der staunenden Fachwelt völlig neue Erkenntnisse auf dem Gebiet der Computertechnik vermitteln zu können.«

»Vorausgesetzt, die Fachwelt kann noch ein paar Jahre darauf warten!« konterte Tinchen. Plötzlich hatte sie glänzende Laune, fand alte Tanten reizend, dachte nicht mehr an Korallenketten und Karmeliterkloster, wartete.

»Wir gehen schwimmen!« beschloß Brandt. »Ich hole nur schnell meine Sachen. Paß auf, Tante Josi, daß sie in der Zwischenzeit nicht türmt! Am besten schließt du die Tür ab!«

»Ich hab’ doch gar nichts dabei!« protestierte Tinchen, aber Brandt hörte sie nicht mehr.

»Wir werden schon etwas Passendes finden!« Tante Josi ging zu einem gut bestückten Ständer, auf dem Badeanzüge und Bikinis in allen Farbschattierungen hingen. »Größe vierzig, stimmt’s?«

Tinchen nickte. Ein Glück, daß sie die Kette noch nicht gekauft hatte! Hoffentlich würde noch genug Geld für ein Stück Pizza übrigbleiben. Seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen, und ihr Magen knurrte wie ein Hofhund.

Gerade als sie sich für einen weißen Bikini entschieden hatte, kam Brandt zurück. »Nicht den, Tina, dafür sind Sie noch nicht braun genug! So was können Sie in zwei Monaten anziehen!« Fachmännisch prüfte er die Auswahl und zog schließlich ein winziges blaues Etwas mit Lurexfäden heraus. »Das ist er!«

»Sieht aus wie Geschenkpapier!« Tinchen verschwand in der Umkleidekabine. Geschmack hat er ja, dachte sie, während sie sich vor dem Spiegel drehte, aber er hat auch den kleinsten Bikini erwischt, der da war. Direkt unanständig! Ein Glück, daß Mutsch sie so nicht sehen konnte. Die hatte sich ihren letzten Badeanzug kurz nach der Währungsreform gekauft und ihn nur drei- oder viermal getragen, weil er keine angeschnittenen Beine gehabt hatte. »Der ist mir einfach zu genierlich«, hatte sie behauptet und darauf bestanden, daß man die Ferien künftig nur noch im Gebirge verbrachte, wo ein Badeanzug nicht unbedingt zum Urlaubsgepäck gehörte. Die Bergseen waren zum Baden ohnehin zu kalt, außerdem konnte Frau Antonie nicht schwimmen. »Wenn der liebe Herrgott das gewollt hätte, dann hätte er mir Flossen gegeben!« pflegte sie zu sagen.

»Soll ich helfen?«

»Das könnte Ihnen so passen!« Erschrocken streifte Tinchen das Kleid über den Bikini, stopfte Slip und BH in ihre Umhängetasche, die sich daraufhin nicht mehr schließen ließ, und öffnete die Tür. »Ich hab’ ihn gleich anbehalten! Was kostet er?«

Ratlos sah sie auf die Tasche. Wie sollte sie jetzt bloß das Portemonnaie herauskriegen? »Ach, hätten Sie vielleicht doch eine Tüte?« Tante Josi holte eine durchsichtige Cellophanhülle unter dem Ladentisch hervor. Tinchen wurde rot. »Ich hatte eigentlich mehr an etwas Solideres gedacht …« Verstohlen hielt sie Tante Josi die halbgeöffnete Tasche entgegen. Die nickte verstehend und reichte eine rote Plastiktüte herüber.

»Was bin ich Ihnen schuldig?«

»Gar nichts«, versicherte Brandt. »Tante Josi zieht mir den Betrag vom Taschengeld ab!«

Warum muß er alles gleich wieder kaputtmachen, dachte Tinchen enttäuscht.

»Ich berechne Ihnen nur den Einkaufspreis, einverstanden?« Sie nickte dankbar. Offenbar arbeitete Tante Josi gar nicht als Verkäuferin, vielmehr schien ihr das Geschäft zu gehören. Ob sie wirklich Brandts Tante war? Aber hätte sie sonst anstandslos geduldet, daß er mit ihr schwimmen ging? Sei nicht immer so mißtrauisch, Ernestine, glaube an das Gute im Menschen! Sie ist seine Tante! Nimm es als Tatsache hin und geh ihr nicht weiter auf den Grund!

Brandt übernahm die Führung. Er steuerte Tinchen schräg über die Promenade, vorbei an den vor Anker liegenden Fischerbooten, die in dem leicht bewegten Wasser einander freundschaftlich zunickten, vorbei an den überfüllten Stränden, wo schon ein verirrter Wasserball bei den Sonnenanbetern eine Kettenreaktion auslöste, vorbei an Musikboxen und schwitzenden Kellnern, die mit Tabletts voller Eisbecher durch das Menschengewimmel pflügten, bis er endlich auf eine ins Meer ragende Klippe deutete. »Mein Stammplatz! Nicht gerade komfortabel, dafür kostet er keinen Eintritt, und deshalb kommt auch selten jemand hin.«

Wenig später turnte Tinchen über die Klippen. Die hilfreich ausgestreckte Hand ihres Cicerone übersah sie geflissentlich. Sie war nicht Tante Josi!

»Seien Sie nicht albern, Tina, die Steine sind glatt, und wenn …«

»Au!« Die Warnung kam zu spät! Tinchen war von einem algenbewachsenen Stein abgerutscht und hielt sich jetzt mit schmerzverzerrtem Gesicht den rechten Fuß. »Ich kann nicht mehr weiter! Der ist mindestens gebrochen!«

»Nicht bewegen! Ich hole Sie!« Brandt balancierte zurück. »Stützen Sie sich fest auf mich, und dann treten Sie mal ganz vorsichtig auf!« Tinchen tat es. »Ist wohl noch mal gutgegangen, aber es tut höllisch weh!«

»Soll ich Sie tragen?«

»Bloß nicht!« Seinen stützenden Arm nahm sie aber gerne. Mit zusammengebissenen Zähnen humpelte sie die restlichen Meter bis zu einer großen Felsplatte, die fast waagerecht über dem Wasser hing. »Bricht die auch nicht ab?« Dann verfolgte sie schweigend, wie Brandt die mitgebrachten Luftmatratzen aufblies. Kräftige Lungen hatte er! Sicherlich Nichtraucher! Sie wollte sich auch schon längst die Qualmerei abgewöhnen, aber es hieß ja immer, dann würde man sofort zunehmen, und das wiederum bedeutete den Verzicht auf kleine Bikinis mit Silberfäden.

Sie hatte ihr Kleid ausgezogen und sah zufrieden an sich herab. Brandt hatte recht gehabt, für einen weißen Badeanzug war sie wirklich noch zu blaß, aber der blaue hob sich schon wunderbar von ihrer leicht gebräunten Haut ab. Brandt trug natürlich Weiß. Konnte der sich ja auch leisten! Angeber!

Der Angeber hatte sein atemraubendes Werk beendet. Er legte die Luftmatratzen dicht nebeneinander, deckte zwei Frotteehandtücher darüber und machte eine einladende Handbewegung: »Weiter auseinander geht’s nicht, sonst fallen Sie ins Meer!«

»Wieso ich? Sie liegen doch an der Außenkante!« Sie plumpste auf die Matratze und streckte sich wohlig aus.

»Erst einschmieren!« Er förderte eine Flasche Sonnenöl zutage und begann, Tinchens Arme einzureiben. Einen Augenblick lang ließ sie es sich gefallen, dann nahm sie ihm die Flasche aus der Hand. »Das kann ich selber!«

»Auch auf dem Rücken?«

Widerwillig drehte sie sich um. Dabei empfand sie seine kräftigen Hände doch als so angenehm! Dumme Gans! Man verliebt sich nicht in jemanden, den man erst zweimal gesehen hat! Dazu ist es viel zu früh! Auch wenn man jetzt in Italien lebt, wo die Sonne scheint und die Wellen glucksen und überhaupt alles ganz anders und viel, viel schöner ist.

Brandt schraubte die Flasche zu. »Es wird ja immer behauptet, daß die Liebe vom Wandel der Zeit unberührt bleibt. Ich stelle mir aber gerade vor, wie Hero und Leander am Strand sitzen und sich gegenseitig mit Lichtschutzfaktor sechs einreiben!«

»Hatten die ja noch gar nicht«, murmelte Tinchen und war auch schon eingeschlafen.

Eiskalte Wasserspritzer weckten sie wieder auf. Neben ihr stand ein triefender Brandt und schüttelte sich wie ein nasser Hund. »Los, Tina, kommen Sie mit! Das Wasser ist ganz warm!«

»Will nicht. Wenn die Sonne wirklich so viel Energie abstrahlt, weshalb macht dann ein Sonnenbad so faul?« Sie blinzelte zu ihm hoch.

»Außerdem bin ich keine Sardine!«

»Was soll das heißen?«

»Sehen Sie sich doch mal an!« Sie deutete auf die klebrigen schwarzen Flecken, mit denen Brandts Beine bedeckt waren. Abfallprodukte der Zivilisation. »Das ist doch Teer, oder?«

»Wahrscheinlich. Dagegen hilft nur Petroleum.« Er wühlte in seiner Tasche und brachte ein kleines Fläschchen zum Vorschein. »Der kluge Mann baut vor! Angeblich soll ja das Meer die große Energiequelle der Zukunft sein. Mir wäre fürs erste schon damit gedient, wenn wir das hineingelaufene Öl wieder herausholen könnten!«

Die Teerflecken waren notdürftig beseitigt. »Wie wäre es mit einer kleinen Erfrischung? Nicht der Durst macht uns zu schaffen, sondern daß man nichts zu trinken kriegt!« Bäuchlings robbte er zum Rand der Klippe und zog an einer dort befestigten Schnur. »Ich weiß, daß Rotwein Zimmertemperatur haben soll, aber der hier stand schon kurz vor dem Siedepunkt!«

Er entkorkte die tropfende Flasche und reichte sie Tinchen. »Sie können ihn ruhig trinken! Ist ein ganz leichter Landwein. Gläser müssen auch irgendwo sein.« Wieder kramte er in seiner unergründlichen Tasche.

»Geht auch Pappe?«

Der zerbeulte Becher war offenbar schon häufiger benutzt worden. Tinchen winkte dankbar ab. »Sie verwöhnen mich zu sehr!« Sie setzte die Flasche an, nahm einen kräftigen Schluck und hustete los. »Was ist denn das?« keuchte sie, »Rostschutzfarbe?« An ihrer Hand zeigten sich rötliche Spuren.

»Um Himmels willen, jetzt habe ich den Metaxa erwischt!« Brandt riß ihr die Flasche: aus der Hand. »Den hat mir mal ein Freund aus Griechenland mitgebracht, und neulich habe ich das Zeug in eine Korbflasche umgefüllt, weil ich die Originalpulle als Blumenvase brauchte. Sie hat einen so schönen langen Hals.«

»Den habe ich auch!« kicherte Tinchen. Der scharfe Schnaps war ihr zu Kopf gestiegen und hatte dort einiges Unheil angerichtet. Das kommt davon, wenn man mit nichts im Magen griechisch trinkt! Wieso überhaupt griechisch? War sie nicht in bella Italia? Und wieso hatte der Adonis da drüben einen Bruder bekommen? Zwei Adonisse? Oder war einer davon Apoll? Römischer Liebesgott mit vier Buchstaben, kam in jedem Kreuzworträtsel vor. Quatsch, der heißt doch Eros! Alles, was mit -os oder -is endet, ist griechisch! Bloß, wie kam der griechische Eros hierher? Sie gab es auf, die Geheimnisse des Olymps zu enträtseln, rollte sich zusammen und schlief kurzerhand wieder ein.

Laute Stimmen schreckten sie auf. »Kiek mal, Bruno, ’ne Robinsine!«

»Laß ma mit deine ewije Fische in Ruhe, ick hab’ ja doch keene Ahnung, wie die Biester alle heeßen!«

Auf dem Wasser schaukelte ein Tretboot, besetzt mit zwei Männern, von denen der eine die Küste mit einem Feldstecher abgraste.

»Ick rede nich von Fische, ick meene den weiblichen Robinson da oben uff’n Felsen. Oder sollte ick besser Loreley sagen?«

»Jib ma die Kieke!«

Das Glas wechselte den Besitzer. »Nee, Loreley is det nich, die war blond.«

»Woher weeßte det?«

»Weil Joethe von det joldene Haar jeschwärmt hat.«

»Dez war aba nich Joethe, det waren andrer!«

»Na, denn war et Schiller, eener von beeden isset ja imma!« Er schwenkte seinen Strohhut. »Soll’n wa ruffkommen, Kleene?«

»Nein, ich will gerade gehen!« Eilends zog Tinchen ihr Kleid über den Kopf und rollte das Handtuch zusammen. Zwischendurch warf sie einen vorsichtigen Blick zum Boot hinunter. Aber das hatte sich schon wieder in Bewegung gesetzt. »Na, vielleicht een andret Mal!« winkte Bruno.

Erleichtert setzte sich Tinchen wieder hin. Das hätte ihr gerade noch gefehlt! Ein Glück, daß sie rechtzeitig aufgewacht war. Nicht auszudenken, wenn diese unternehmungslustigen Berliner tatsächlich gelandet wären und sie im Schlaf überrascht hätten. Weit und breit kein Mensch! Und sie selbst gehbehindert und schutzlos den lüsternen Knaben ausgeliefert! Das hatte man nun davon, wenn man sich dazu überreden ließ, mit einem wildfremden Mann in die Einöde zu ziehen! Erst macht er einen betrunken, und dann verschwindet er einfach! Seine Sachen waren zwar alle noch da, aber die könnte er später immer noch holen! Er wußte ja, daß sie mit ihrem lädierten Fuß kaum selbst die Klippen hochkäme und nicht imstande wäre, auch noch eine Tasche mitzunehmen. Tasche? Du liebe Zeit, er hatte doch wohl nicht ihr Handtäschchen geklaut? Viel Geld war ja nicht mehr drin, und dem Busfahrer würde sie notfalls ihren Ring als Pfand dalassen, aber Ausweis, Führerschein … Tinchen suchte hektisch. Nichts! Sie kippte Brandts Badetasche aus, durchwühlte ihren Inhalt, fand aber außer schon Bekanntem nur das leicht zerknitterte Foto einer langmähnigen Schönheit. Wahrscheinlich ein früheres Opfer dieses hinterhältigen Handtaschenräubers! Sie zerriß das Bild und warf die Schnipsel ins Meer. Alles andere sollte man auch reinschmeißen! Der würde ziemlich dumm dastehen, wenn er bei seiner Rückkehr nichts mehr fände! Wütend gab sie der Luftmatratze einen Tritt. Und was lag darunter?

»Na schön, ein Dieb ist er nicht, aber ein verantwortungsloser und gemeiner Abenteurer bleibt er trotzdem! Und auf so was muß ausgerechnet ich reinfallen!« Schniefend kramte sie nach einem Taschentuch. Wie üblich fand sie keins. Dieser geschniegelte Angeber hatte bestimmt eins dabei! Man durchsucht zwar keine fremden Hosentaschen, aber das war Tinchen egal. Erleichtert schnaubte sie in das hellblaue Tuch. Lackaffe, blöder! Wählt seine Taschentücher passend zum T-Shirt! Und dann diese messerscharfen Bügelfalten! Warum trug er nicht Jeans wie andere Studenten auch? Paßte wohl Tantchen nicht? Na, die würde sich wundern!

Einen Augenblick zögerte Tinchen noch, dann warf sie kurzentschlossen die Hosen über die Klippen und spähte hinterher. Schade, ganz würden sie wohl nicht versinken, der Gürtel war an einer Felsspitze hängengeblieben, aber die Hosenbeine klatschten im Rhythmus der Wellen auf die glibbrigen Steine, und die Bügelfalten waren draußen!

So, das wäre geschafft! Und jetzt der Rückmarsch! Leicht würde er nicht werden, denn mit dem rechten Fuß konnte sie nur ganz vorsichtig auftreten, und selbst dann tat er scheußlich weh. Zu allem Überfluß hatte sie sich auch noch einen Sonnenbrand geholt. Jedesmal, wenn das Kleid ihre Oberschenkel berührte, brannte es wie Feuer. »Nicht in der Sonne einschlafen!« pflegte sie regelmäßig ihren Gästen zu predigen, und was tat sie? Egal, heute war sowieso alles schiefgegangen, und der Sonnenbrand war bloß das I-Tüpfelchen.

Sie hängte sich die Tasche um den Hals und begann den Aufstieg. Die ersten paar Meter gingen ganz gut, aber dann kam ein hoher abgeschliffener Stein, auf dem sie mit ihren glatten Sohlen keinen Halt fand. Dann eben barfuß! Eine kleine Pause konnte sie ohnehin gebrauchen.

Sie schlüpfte aus den Schuhen und stand vor einem neuen Problem: Wohin damit? Die Hände brauchte sie zum Festhalten, die Tasche war zu klein – was machte man bloß in solchen Fällen? Tinchen rekapitulierte sämtliche Bergsteigerfilme, die sie im Fernsehen über sich hatte ergehen lassen, fand aber keine Situation, die ihrer jetzigen entsprochen hätte. Die jeweiligen Alpinistinnen waren entweder per Hubschrauber oder von wettergegerbten Naturburschen gerettet worden, die ihnen erst in einer einsamen Schutzhütte mit Schnee die halberfrorenen Füße abgerieben und sie anschließend auf ihren Armen ins Tal getragen hatten. Tinchen wollte nicht ins Tal, sie wollte die Klippen hoch, und ein Retter war auch nicht in Sicht. Weit draußen tauchte ab und zu der Kopf eines einsamen Schwimmers aus den Wellen, aber ihr Rufen und Winken bemerkte er nicht.

Ratlos schlenkerte sie die Schuhe hin und her. Natürlich hätte sie sie zwischen den Steinen verstecken und an einem der nächsten Tage holen können, aber barfuß durch den halben Ort und dann noch in den Bus? Schließlich knotete sie die Riemchen zusammen, hängte sich die Sandalen über den Arm und machte sich wieder an die Kletterei. Na also, ohne Schuhe ging es viel besser! Die Hälfte hatte sie schon geschafft.

»Halt!! Nein!!« schrie sie plötzlich, griff nach den Sandalen und kriegte noch eine zu fassen. Die andere schoß in Purzelbäumen abwärts und blieb auf der Felsplatte liegen direkt neben Brandts Badetasche.

Tinchen heulte hemmungslos. Jetzt war sie beinahe oben gewesen, und nun das! Wenn sie sich nicht beeilte, schaffte sie es überhaupt nicht mehr. Die Dämmerung brach herein, und die dauerte hier unten nie sehr lange. Vorsichtig kletterte Tinchen wieder zurück. Es ging besser, als sie erwartet hatte. Bis auf den Riß im Saum, aber das Kleid war ja sowieso zu lang gewesen. Man soll doch zeigen, was man hat! Endlich hatte sie wieder die Plattform erreicht, hinkte zu ihrem Schuh und bekam Kulleraugen. Er war in der Mitte durchgebrochen und nur noch als Fischfutter zu gebrauchen, vorausgesetzt, die Viecher fraßen Schlangenleder. In hohem Bogen warf sie den Schuh ins Meer. Dafür nun die ganze halsbrecherische Kraxelei! Die hätte sie sich weiß Gott sparen können! Im Bus könnte sie jetzt schon sitzen, in einem schönen weichen Lederpolster … statt dessen hockte sie auf diesem dämlichen Felsen und hatte die ganze Ochsentour noch einmal vor sich! Sie tastete nach einem Handtuch und wischte sich über das tränenverschmierte Gesicht. Und alles bloß wegen dieses geschniegelten Affen, dieses Gigolos, dieses gewissenlosen … ihr fiel nichts Passendes mehr ein, mit dem sich die negativen Charakterzüge des betreffenden Herrn ausreichend definieren ließen, und so heulte sie erst mal wieder ein bißchen vor sich hin.

»Das Tinchen saß auf einem Stein, einem Stein …«, klang es mehr laut als melodisch, aber Tinchen erschien es wie eine Opernarie.

»Entschuldigen Sie, daß es so lange gedauert hat, aber da draußen hatte sich jemand zuviel zugemutet und schlappgemacht. Den mußte ich erst an Land bringen!« Brandt zog sich über die Klippe und griff nach seinem Handtuch.

»Wie heroisch! Und wie passend, daß gerade heute ein geeignetes Objekt für Ihre humanitären Anwandlungen in greifbarer Nähe war! Kriegen Sie jetzt die Rettungsmedaille?«

»Wofür denn? Ich war doch bloß so eine Art moralische Unterstützung. Als der Mann merkte, daß er nicht mehr allein war, konnte er wieder schwimmen. Ich bin lediglich neben ihm hergepaddelt, bis er Boden unter den Füßen hatte. Für eine Medaille reicht das nicht.«

»Ihr Pech!«

»Nö, gar nicht. So ein Ding muß man bloß regelmäßig putzen und auf Verlangen vorzeigen, wobei dann immer eine ausführliche Schilderung der Heldentat erwartet wird.«.

»Diese Aussicht müßte Ihrem Hang zur Selbstdarstellung doch sehr entgegenkommen!«

»Warum sind Sie plötzlich so kratzbürstig, Tina? Ich gebe ja zu, daß ich Sie eine ganze Weile alleingelassen habe, aber Sie haben fest geschlafen, zusammengerollt wie ein Embryo. Ich bin kein Maler, der stundenlang ein schönes Gesicht anstarren kann, und einseitige Unterhaltungen sind auf die Dauer so unergiebig. Also bin ich schwimmen gegangen. Sind Sie mir deshalb böse?« Prüfend sah er sie an. »Haben Sie etwa geweint?«

»Weshalb sollte ich?« Tinchen war gar nicht wohl in ihrer Haut. Das alles hörte sich so logisch an, aber sie hatte gleich wieder das Schlimmste vermutet. »Mir ist vorhin eine Mücke ins Auge geflogen, die ging so schwer raus.«

»Wahrscheinlich ist sie ertrunken! Sie müssen ja wahre Tränenbäche vergossen haben!« Er fing an, den herumliegenden Inhalt seiner Tasche zusammenzusuchen. »Wir sollten uns ein bißchen beeilen, es wird langsam kühl.« Suchend sah er sich um. »Wo ist eigentlich meine Hose?«

»Im Wasser!« sagte Tinchen.

»Verflixt!« Jetzt war es mit seinem Gleichmut vorbei. »Wie ist sie denn da hingekommen?«

»Runtergefallen!«

»Einfach so?«

»Wie denn sonst?«

»Das frage ich Sie ja!« Brandt beugte sich über die Klippe.

»Nichts zu sehen.«

»Vorhin war sie aber noch da!« Auf allen vieren kroch Tinchen über das Plateau und kniete sich neben ihn. »Verstehe ich nicht! Ich hatte nicht weit genug geworfen, und da war sie mit dem Gürtel an dem Stein da vorne hängenge …« Erschrocken hielt sie sich den Mund zu.

Brandt stand auf und blickte finster auf sie herab. »Tina, beichte!«

Das Du überhörte sie erst einmal. Jetzt sah sie sich in die Defensive gedrängt, und es wäre albern gewesen, auf Förmlichkeiten herumzureiten. »Als ich aufwachte, saß ich hier ganz allein, meine Handtasche war weg, und dann kamen auch noch die beiden Männer …«

»Welche Männer?«

»Die mit der Loreley. Sie ist auch gar nicht von Goethe oder Schiller, sondern von Heinrich Heine. Dann hab’ ich ein Taschentuch gesucht, und weil Sie überhaupt nicht mehr wiederkamen, habe ich die Hose ins Wasser geworfen!«

»Du hättest lieber den Metaxa nehmen sollen! Den hast du offenbar nicht vertragen!«

»Der hatte keine so schönen Bügelfalten!«

Er half ihr wieder auf die Beine und sah sie besorgt an. »Mädchen, du hast einen Sonnenstich bekommen! Laß mal sehen, ob du Fieber hast!«

Schön kühl war seine Hand und sehr zärtlich. »Ich hab’ keinen Sonnenstich! Mir ist nur reichlich flau im Magen, weil ich seit heute früh nichts gegessen habe. Als dann noch diese beiden Freizeitkapitäne auftauchten und die Klippen entern wollten, muß wohl bei mir irgendwas ausgehakt haben. Dabei waren sie eigentlich ganz ulkig!«

Während Brandt den Felsen entrümpelte, erzählte Tinchen – diesmal jedoch etwas zusammenhängender – ihre ganze Leidensgeschichte.

Allerdings unterschlug sie den Taschendieb und das zerrissene Foto. Vielleicht würde er es gar nicht vermissen. Sicher war es nur eins von vielen. »Meine Schuhe sind auch hin!« beendete sie ihr Klagelied, »oder wenigstens einer davon. Der andere hängt oben zwischen den Steinen.«

»Armes Aschenbrödel! Wie gut, daß es gleich vorn an der Promenade einen Prinzen gibt, der calzolaio heißt und wunderhübsche Schuhe hat.«

»Aschenbrödel hat aber kein Geld mehr, Es hat schon alles für ein Ballkleid mit Lurexfäden ausgegeben.«

Sie wehrte sich nicht, als er sie in seine Arme nahm. Seine Lippen waren weich und zärtlich, aber »er sollte sich lieber zweimal am Tag rasieren!« dachte sie; bevor sie glücklich die Augen schloß.

 

Langsam schraubte sich der Wagen über die Serpentinen aufwärts. Seine Scheinwerfer pieksten Lücken in die Dunkelheit und beleuchteten abwechselnd Olivenbäume, Kakteen und Petersilienbeete. Nach Tinchens Ansicht eine viel zu prosaische Kulisse; zu diesem märchenhaften Abend hätten Orchideen oder wenigstens Rosen gehört, die man pflücken und an sein klopfendes Herz drücken könnte. Jedenfalls taten das die Damen in den einschlägigen Romanen aus Schumanns Hotelbibliothek, die überwiegend aus den zurückgelassenen Taschenbüchern abgereister Gäste bestand.

Tinchen hatte wirklich Herzklopfen und weiche Knie bis zu den Augen. Vergessen war der verkorkste Nachmittag, vergessen die peinliche Situation im Schuhgeschäft, als Tinchen nur noch zwei zerfranste Tausend-Lire-Lappen im Portemonnaie gefunden hatte und warten mußte, bis Brandt sie auslöste. Den Schuldschein hatte er abgelehnt, aber sie würde ihm das Geld gleich heute noch zurückgeben! Oder morgen! Der Abend hatte ja noch gar nicht richtig angefangen …

»Wohin bringen Sie mich eigentlich? Auf Ihr Schloß?«

»Abwarten!«

Immer weiter ging es aufwärts, immer schmaler wurde die Straße. Weit unten verschmolz Loano zu einem Mosaik bunter Lichter, und dicht über dem Meer stand der Mond, dünn wie eine Oblate und in einem so leuchtenden Orange, wie Tinchen ihn nie gesehen hatte. Glühwürmchen hatten ihre Heckleuchten eingeschaltet und geisterten durch die Abendluft wie Flitter.

Plötzlich hörte die Straße auf, Straße zu sein, und verwandelte sich in eine Art Maultierpfad. Brandt lenkte den Wagen auf eine notdürftig mit Schotter befestigte Wiese und zog den Zündschlüssel ab.

»Den Rest müssen wir zu Fuß gehen!«

Mit leisem Bedauern stieg Tinchen aus. Sie hätte noch stundenlang so weiterfahren können, aber allem Anschein nach war hier die Welt zu Ende. Oder vielleicht doch nicht? Erstaunt bemerkte sie erst jetzt die vielen Autos, die auf diesem Parkplatz standen. Mindestens ein Dutzend waren es, und alles Exemplare der oberen Preisklasse.

»Komm, Aschenbrödel, jetzt zeige ich dir mein Schloß!« Brandt ergriff ihren Arm und steuerte sie vorsichtig durch die Dunkelheit. Gehorsam hinkte Tinchen nebenher und fragte sich, wo dieser Ausflug wohl enden würde.

»Achtung, hier wird’s eng!« Ein halbverfallener Torbogen tauchte auf, von einer müden Laterne nur spärlich beleuchtet, dahinter machte der Weg eine scharfe Kurve, und plötzlich war alles in strahlende Helligkeit getaucht. Ein Kastell mußte das sein. Oder wenigstens etwas Ähnliches. Schmiedeeiserne Ampeln flankierten ein wahrhaft königliches Portal und warfen ihren Schein auf die riesigen Agaven, die sich neben der Treppe ausbreiteten.

»Das ist ja wirklich ein Schloß!« flüsterte Tinchen andächtig. Brandt lächelte spöttisch. »Märchengläubige kleine Mädchen soll man nicht enttäuschen!« Er öffnete die Tür und ließ sie eintreten.

»Du solltest aber vorsichtshalber keine livrierten Diener erwarten, die dich zu einem baldachingekrönten Prunkbett führen! Der Torre vecchio ist ein ganz simples Speiserestaurant, allerdings ein sehr gutes!«

Von einer Halle führten Türen in mehrere kleine Speisesäle. Fast jeder Tisch war besetzt, und zwar überwiegend von Italienern, wie Tinchen mit einem kurzen Blick feststellte.

»Eisbein mit Sauerkraut gibt’s hier genausowenig wie fish and chips!« erklärte Brandt die fehlende Invasion hungriger Touristen.

»Setzen wir uns auf die Terrasse?«

Am dienernden Maître vorbei führte er sie ins Freie. Eine halbhohe Mauer aus uralten Steinen begrenzte einen kleinen Platz, auf dem nur vier Tische Platz gefunden hatten. Einer war noch frei. Brandt rückte Tinchen den Stuhl zurecht und vertiefte sich zusammen mit dem herbeigeeilten Kellner in die Speisekarte, deren Lektüre längere Zeit in Anspruch nahm. Von der in schnellem Italienisch geführten Unterhaltung verstand Tinchen kaum die Hälfte, aber es schien sich um das schwerwiegende Problem zu handeln, ob der prosciutto di parma auch wirklich von dort stammte und wann man die piccioni hereinbekommen habe.

»Mögen Sie Langusten?«

Nein, wollte Tinchen sagen, die diese nur aus Fühlern und Beinen bestehenden Schalentiere lediglich im Aquarium gesehen hatte und sich nicht vorstellen konnte, daß so etwas überhaupt eßbar sei, aber sie wußte natürlich, daß sie als Delikatesse galten und bei Feinschmeckern sehr beliebt waren.

»Die esse ich sogar leidenschaftlich gern!« versicherte sie im Brustton der Überzeugung, nicht gewillt, sich mit ihrem eher der soliden Hausmannskost zugeneigten Geschmack zu blamieren. Und was, um alles in der Welt, waren piccioni? Klang irgendwie nach Gemüse! Na, sie würde sich einfach überraschen lassen! Vorsichtshalber angelte sie eine Scheibe Weißbrot aus dem bereitgestellten Körbchen, bestrich sie dick mit Butter und biß hinein. Wer weiß, ob sie von dem, was sie erwartete, überhaupt satt werden würde.

Der Kellner zog ab und kehrte gleich darauf zurück. In seinen Armen trug er ein Bastkörbchen, das er wie ein Baby an die Brust gedrückt hielt und dann andachtsvoll präsentierte.

»Va bene«, sagte Brandt, nachdem er probiert hatte, und nickte. In einem leuchtenden Rot floß der Wein in die Gläser.

»Die Farbe suche ich schon lange«, murmelte Tinchen.

»Wofür denn?«

»Für meinen Nagellack!«

Einen Augenblick lang hatte es Brandt die Sprache verschlagen, dann lachte er schallend los. »Dein Hang zum Prosaischen ist wirklich entsetzlich, Tina! Da führe ich dich in eins der besten Restaurants an der ganzen Küste, lasse dir einen Port zelebrieren, nach dem sich alle rotnasigen Weinkenner die Finger lecken würden, und du denkst an Nagellack!« Er hob sein Glas. »Prosit, Aschenbrödel, trinken wir auf den verlorenen Schuh, dem ich diesen Abend zu verdanken habe.«

Das stimmte sogar. Ursprünglich hatte sich Tinchen nur nach Verenzi zurückbringen lassen wollen, vor allem deshalb, weil sie Brandt das verauslagte Geld wiedergeben wollte. Aber dann war ihr in dem Schuhgeschäft regelrecht schlecht geworden, und Brandt hatte angeordnet, daß sie erst einmal etwas essen müsse. Richtig diktatorisch war er geworden! Nun saß sie hier in diesem Luxusschuppen mit 325 Lire in der Tasche und dem Gefühl, wirklich ein Aschenbrödel zu sein, zu dem ein leibhaftiger Prinz herabgestiegen war und sie in eine ganz andere Welt geführt hatte. Bei Florian hatte es immer nur zu McDonald’s gereicht!

Tinchen gab sich einen Ruck. Wie kam sie nur ausgerechnet jetzt auf Florian?

»Wo sind wir hier eigentlich?« fragte sie um einiges zu munter, denn Brandt machte keinerlei Anstalten, die versikkerte Unterhaltung wieder in Gang zu bringen.

»In Corsenna. Es wird behauptet, vor Jahrhunderten sei es ein Schlupfwinkel von Seeräubern gewesen. Daran muß was Wahres sein. Ihre Nachkommen haben ein Restaurant daraus gemacht und plündern ahnungslose Besucher genauso schamlos aus wie ihre Altvorderen. Nicht umsonst gelten die Italiener als sehr traditionsbewußt.«

Eine Prozession von Kellnern nahte, beladen mit Beistelltischen und furchterregenden Gerätschaften. Vor Tinchen wurde ein Arsenal von Bestecken aufgebaut, deren Zweck ihr völlig unklar war. Eine große Platte kam auf den Tisch, die Kupferhaube wurde abgenommen, und da lagen sie, die gräßlichen Viecher mit den großen schwarzen Knopfaugen und den endlos langen Fühlern. Schön sahen sie nicht aus in ihrem Bett aus Dekorationsgemüse, aber wenigstens friedlich! Wie rückte man den Biestern jetzt zu Leibe?

Ihr Gegenüber beobachtete sie schmunzelnd und wartete. Tinchen wartete ebenfalls. Desgleichen die Langusten. »Nun fang doch endlich an! Ich denke, du ißt sie so gern!« Tinchen wurde kleinlaut. »Aber bloß in entkleidetem Zustand. Ich dachte immer, das Ausziehen sei euch Männern vorbehalten!«

»Aschenbrödel, du wirst frivol!« Geschickt zerteilte er eine Languste und legte die eßbaren Teile auf Tinchens Teller.

»Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen!« rezitierte sie und hantierte noch etwas unbeholfen mit der zweizinkigen Gabel. »Ich wußte gar nicht, daß das so wörtlich gemeint war!«

Die Teller wurden abgeräumt, neue kamen, und Tinchen futterte sich zufrieden durch das Menü. Der Parmaschinken war exzellent, die piccioni entpuppten sich als ganz ordinäre Tauben, schmeckten aber trotzdem, das Kalbsschnitzel war zart und der Käse unbekannt und rosarot, worauf Tinchen beschloß, endlich satt zu sein.

Belustigt hatte Brandt verfolgt, wie seine Begleiterin eine Platte nach der anderen leerte. »Allmählich begreife ich, weshalb Pauschalreisen immer teurer werden!«

»Sie vergessen meinen Nachholbedarf!«

»Willst du nicht endlich mit diesem albernen Sie aufhören, Aschenbrödel? Oder kennst du ein Märchen, in dem der Prinz seine Prinzessin siezt?«

Bisher hatte Tinchen eine direkte Anrede nach Möglichkeit vermieden, aber nun war ihr das Sie doch wieder herausgerutscht. Weshalb nur konnte sie nicht zu dem burschikos-kameradschaftlichen Umgangston finden; der ihr doch in der Redaktion nie schwergefallen war?

Gleich am ersten Tag hatte sie Florian geduzt, und zwar nicht nur, weil »das hier so üblich« ist, wie er ihr versichert hatte. Schon wieder Florian!

Brandt goß neuen Wein in die Gläser und stieß mit ihr an. »Ich heiße Klaus und bei den Eingeborenen Claudio. Du kannst dir also das Passende heraussuchen.«

Tinchen schwieg und wartete auf den obligatorischen Kuß. Sie wurde enttäuscht. Brandt rückte lediglich seinen Stuhl neben den ihren und legte seinen Arm um ihre Schultern. »Siehst du, Aschenbrödel, ich habe dir die ganze Welt zu Füßen gelegt.« Er deutete auf die Lichterpünktchen, die aus der Tiefe heraufschimmerten. In der Ferne jammerte der Neun-Uhr-Zug durch das Tal, verschwand in einem der zahllosen Tunnel, tauchte leuchtend wie eine Bernsteinkette auf und wurde vom nächsten Tunnel wieder verschluckt.

Wie zufällig lehnte sie den Kopf an seine Schulter. »Danke.«

Er rührte sich nicht, und sie wagte kaum zu atmen aus Angst, die schweigende Vertrautheit zu stören.

Plötzlich stand er auf. »Entschuldige mich bitte einen Moment, bin gleich wieder da.«

Wie lange ist gleich? Nach zehn Minuten wurde Tinchen unruhig. Ein Mann, der bekanntlich weder frischen Lidschatten auftragen noch sich die Nase pudern muß, kann doch keine Ewigkeit auf der Toilette verbringen! Selbst wenn er, hm, an Verdauungsbeschwerden leiden sollte! Was, wenn er nun doch einen zweifelhaften Charakter hatte und sie einfach hier sitzenließ? Mit der unbezahlten Rechnung und 325 Lire. Damit wäre in diesem feudalen Kasten ja nicht einmal die Klofrau zufrieden! Nervös schielte sie zur Tür. Der dort postierte Kellner guckte schon reichlich komisch. Na also, nun kam er auch noch geradewegs auf sie zu. So etwas Ähnliches hatte sie erwartet.

»Posso versar Le ancora un bicchiere?«

»Wie bitte? Ach so, ja, si, grazie.« Nun war schon alles egal! Wenn sie sowieso als Zechprellerin verhaftet werden würde, konnte sie wenigstens den Wein austrinken. In einem Zug leerte sie das Glas. Hoppla, warum schaukelte der Mond jetzt wie eine Papierlaterne? Sie kniff die Augen zusammen und machte sie ganz langsam wieder auf. Na bitte, nun stand er wieder still. Statt dessen bewegte sich das Windlicht auf dem Tisch. Immer näher kam es, und hinter ihm ragte ein bedrohlicher Schatten auf …

»Wir müssen gehen, Tina, da hinten zieht ein Gewitter auf. Vorsichtshalber habe ich schön den Wagen zugemacht. Mit offenem Verdeck dürfte es gleich sehr ungemütlich werden!«

Wolken, dick wie Klöße, ballten sich über den Bergen zusammen. Tinchen ließ sich fröstelnd in Tante Josis Wolljacke wickeln, die der vorausschauende Brandt mitgebracht hatte. »Hat es im Paradies eigentlich auch geregnet? Oder fliegen wir jetzt bloß gewaltsam da raus?«

»Keine Ahnung! Aber eins weiß ich sicher: Wenn wir nicht gleich verschwinden, kommen wir heute nicht mehr nach Hause. Ein Gewitterregen verwandelt diese jämmerliche Zufahrtsstraße in eine Schlammwüste.«

Die ersten Regentropfen klatschten auf die Steine, als sie den Wagen erreicht hatten. Es war der letzte, die anderen Autos waren schon alle weg.

»Statt nach unten hätten wir lieber mal nach oben sehen sollen!« schimpfte Brandt und deutete auf den pechschwarzen Himmel, aus dem jetzt eine wahre Sturzflut herunterkam. »Mein Steuermannspatent kriege ich nämlich erst im nächsten Jahr.«

Später hätte Tinchen nicht sagen können, wie sie den Berg heruntergekommen waren. Sie hatte die Augen fest geschlossen gehalten und sich krampfhaft am Sitz festgeklammert, während Brandt im Schneckentempo die Serpentinen heruntergerollt war. Zweimal hatte er hörbar die Luft eingesogen, weil der Wagen seitlich wegrutschte, und Tinchen hatte sich überlegt, daß ihr Leben zwar kurz und nicht besonders ereignisreich, aber zumindest in den letzten Stunden doch sehr schön gewesen war.

Unten an der Küste tobte sich das Gewitter erst richtig aus. Peitschenknallende Blitze schossen durch die Luft, unmittelbar darauf krachten Donnerschläge, und der Wagen wischte sich unermüdlich den Regen aus den Augen. Die Straßen waren menschenleer. Auf der Promenade trieften ein paar vergessene Sonnenschirme; auf einem hing sogar ein hinaufgewehtes Tischtuch. Das Meer war beinahe schwarz. Schwere Brecher wälzten sich gischtsprühend über den Strand und klatschten an die Mauer.

Wie es jetzt wohl auf unserer Klippe aussieht? Die Hosen dürften endgültig weg sein, selbst wenn sie sich vorher doch noch irgendwo verklemmt hatten. »Aber das Taschentuch habe ich noch!« sagte Tinchen laut, zog ein zerknülltes Stück Stoff aus der Tasche und hielt es Brandt entgegen. Dann steckte sie es doch schnell wieder ein. »Ich werde es wohl besser erst waschen.«

»Du kannst es ruhig behalten«, sagte er gleichgültig.

Im Lido brannte kein Licht. Paolo, der Nachtportier, steckte den Kopf aus der Tür, beäugte im Schein eines Kerzenstummels die Ankömmlinge und murmelte ein unwilliges »Buona sera«, als er Tinchen erkannte. Anschließend verkroch er sich wieder. Genau wie eine Schildkröte, ging es Tinchen durch den Kopf.

»Willst du nicht aussteigen?«

Sie zuckte zusammen. »Doch, natürlich.« Zögernd angelte sie ihre Tüte vom Rücksitz. War das nun alles? Kein zärtliches »Auf Wiedersehen, Aschenbrödel«, kein Abschiedskuß, kein »Es war schön mit dir«? Sie war maßlos enttäuscht. Er hatte ja nicht einmal so viel Anstand, auszusteigen und ihr aus dem Wagen zu helfen. Allerdings mußte ihr Gerechtigkeitssinn zugeben, daß Höflichkeit auch ihre Grenzen haben konnte – zumindest bei einem Platzregen.

»Das Geld! Ich habe ja das Geld vergessen!« Ein Glück, daß ihr das noch rechtzeitig genug eingefallen war! Immerhin eine kleine Galgenfrist. »Warte einen Moment, ich hole es schnell. Oder möchtest du nicht lieber für einen Augenblick hereinkommen?«

»Weder noch! Das eilt nun wirklich nicht so! Ich rufe dich an, Tina. Und jetzt mach, daß du ins Haus kommst, sonst holst du dir noch nasse Füße!«

Er zog die Wagentür ins Schloß und brauste ab.

Dumme Tine, was hast du dir eigentlich eingebildet? Liebe auf den ersten, oder nein, auf den dritten Blick? Das hast du nun davon! Der Prinz ist weg, das Märchen aus! Vorzeitig beendet von einem simplen Gewitterregen. Hatschi!

Langsam schlurfte sie zur Tür. Sie hätte doch lieber das Karmeliterkloster besichtigen sollen!