Kapitel 12

Hinter der Zeitung, die er als Barrikade aufgebaut hatte, tauchte Florians Gesicht hoch. »Guten Morgen, Tinchen. Ausgeschlafen?«

Sie würdigte ihn keines Blickes, entfaltete die Serviette, goß Kaffee in die Tasse, suchte aus dem Brotkorb das noch am wenigsten pappige Brötchen, bestrich es mit Marmelade – schwieg.

»Schlechte Laune?«

»Warum sollte ich?«

»Eben!«

Die Minuten dehnten sich, zertröpfelten in lange Sekunden.

»Möchtest du vielleicht von der Zeitung was abhaben?«

»Nein.«

Schweigen.

»Himmeldonnerwetter, Tinchen, jetzt spiel’ nicht die beleidigte Leberwurst! Ich gebe ja zu, daß ich gestern ein bißchen über die Stränge geschlagen bin und zu viel getrunken habe, aber das ist noch lange kein Grund …«

»Mona-Lisa-Cocktails!! Deshalb bist du auch den ganzen Abend das dämliche Grinsen nicht mehr losgeworden!« Mit betont desinteressierter Miene stand sie auf. »Im übrigen ist mir dein Privatleben völlig egal!«

Der majestätische Abgang, den sie oben vor dem Spiegel geübt hatte, wurde durch den hereinstürmenden Bommel beeinträchtigt. Er kugelte laut kläffend in den Speisesaal, wieselte um Tinchens Beine und gab nicht eher Ruhe, bis sie sich hinabgebeugt und ihn ausgiebig gestreichelt hatte.

»Der muß heute nacht herumgestreunt sein!«

»Der hat heute nacht bei mir geschlafen«, berichtigte Tinchen.

Florian seufzte sehnsüchtig: »Warum kann ich nicht auch so ein Hundeleben führen?«

AUS TINCHENS TAGEBUCH

6. Juli

Lilo ist ein Miststück! Fragte heute früh ganz harmlos, ob ich wirklich keine Besitzansprüche auf Flox hätte. Sie hätte den Eindruck, daß er sich mir gegenüber verpflichtet fühle. Habe ihr erklärt, daß Kleinkinder zu starker Mutterbindung neigen. Darauf meinte sie, es sei Sache der Mutter, ihre Kinder frühzeitig genug abzunabeln. Im übrigen sei sie heute abend mit ihm verabredet.

Und wenn schon! Ich muß sowieso Strümpfe waschen.

 

8. Juli

Männer, die gut mit Frauen zurechtkommen, sind meist solche, die auch ohne sie fertig werden. Klaus gehört dazu. Blieb den ganzen Abend über reserviert. Schwärmte von Tante Josis Krankenkost und seiner Schwester Tanja, die sich jeden zweiten Tag telefonisch nach seinem Befinden erkundigt habe. Bekam ganze Krankengeschichte zu hören und zum Abschied väterlichen Kuß auf die Stirn. Wenn man wirklich so alt ist, wie man sich fühlt, dann bin ich 120.

Florian heute nur kurz gesehen. Buchte für Dienstag Busfahrt nach Portofino. Bot ihm ein paar Prospekte an, um sich über Wissenswertes informieren zu können, da er von seiner Reiseleiterin in dieser Hinsicht nichts zu erwarten habe. Lehnte ab mit der Begründung, er sei nicht an Sehenswürdigkeiten interessiert, sondern an netter Gesellschaft.

 

10. Juli

Gestern ganzen Nachmittag am Strand gelegen. Allein mit Bommel. Florian lag zwanzig Meter weiter links. Mit Lilo. Trug neuen rosa Badeanzug mit passender Sonnenbrille und machte auf Dame. Sollte ihn eigentlich warnen. Würde aber nichts nützen, er hat einen schalldichten Kopf.

Morgens um zwei heftiges Gewitter. Bommel noch mehr Angst als ich. Hunde wären viel nützlichere Haustiere, wenn sie bei Gewitter die Fenster schließen würden, statt sich wimmernd im Bett zu verkriechen.

 

11. Juli

War gestern offiziell bei Tante Josi zum Tee eingeladen. Allein. Mußte Sandkuchen essen und Fotoalben betrachten. Klaus sehr fotogen. Hat schon als Schulkind immer adrett (und langweilig) ausgesehen. War Klassenbester, Schulsprecher und Studentenmeister im Kraulen (oder so ähnlich). Mußte Tante Josi Autobiographie liefern. Schien befriedigt, daß ich »auch Akademikerin« sei (die zwei Semester!!). Musterknabe später dazugekommen. Trug hellgrauen Flanell und tat sehr beschäftigt. Brachte mich zurück ins Hotel. Bin dezentem Abschiedskuß durch leidenschaftliche Umarmung zuvorgekommen. Florian saß in der Halle. Hat alles mitgekriegt.

 

12. Juli

Zufällig auf der Pizza gewesen, als Bus aus Portofino zurückkam. Florian als letzter ausgestiegen. Konnte sich wohl nicht trennen! Lilo sehr elegant in weißem Hosenanzug (wie kommt sie bloß an die vielen Klamotten? Sie kriegt doch auch nicht mehr Geld als ich?). Hoffe, daß Flor –

Es klopfte. Tinchen klappte das Tagebuch zu und stopfte es schnell ins Schubfach. »Pronto!«

Durch den Türspalt schob sich ein Plüschkamel. Am Halsband trug es eine Rose, die mit Sicherheit aus dem großen Strauß in der Halle stammte, und einen Zettel. »Ich bin auch eins! Flox.« las Tinchen. Und was für ein großes!, dachte sie, während sie das Kamel aufhob und aufs Bett setzte. Ein Mann hat im Durchschnitt dreißig Kilogramm Muskulatur und etwa anderthalb Kilo Hirnsubstanz. Das erklärt manches!

 

»Da draußen steht ein Hippietyp mit Handgepäck auf dem Rücken und behauptet, er will zu dir!«

»Gib ihm zweihundert Lire und schick ihn zum Campingplatz!« Tinchen schob Lilo die Spesenkasse über den Schreibtisch. »Die Jungs müssen uns mit dem deutschen Konsulat verwechseln. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie ich die ganzen Almosen verbuchen soll.«

Lilo öffnete die Tür und winkte. Ein schlaksiger Jüngling mit Zweitagebart sowie einer soliden Dreckschicht auf Gesicht und Händen schlappte langsam näher. Vorsichtig linste er um die Ecke. »Morgen, Tinchen.«

»Karsten!!! Wo um alles in der Welt kommst du denn her? Ich denke, du angelst Lachse? Ist zu Hause etwas passiert?«

»Nö, da ist alles in Ordnung.« Er druckste herum, zog mit dem Fuß einen Stuhl heran, setzte sich, klimperte mit den Büroklammern, räusperte sich und sah schließlich treuherzig zu seiner Schwester auf.

»Weißte, Tine, das mit Schweden ist in die Hose … wollte sagen, ist schiefgegangen. Der Bernd hat vorige Woche seinen Wagen an eine Straßenbahnhaltestelle gebrettert, und für die Reparatur ist sein ganzes Reisegeld draufgegangen. Die Haltestelle muß er auch noch bezahlen. Nun ist es mit unserer Fahrt natürlich Essig gewesen.« Er zögerte einen Augenblick. »Außerdem glaube ich nicht, daß Papa mir überhaupt noch einen Urlaub bewilligt hätte.«

»Verstehe ich nicht. Wie bist du denn hier runtergekommen?«

»Per Anhalter.«

»Und das hat Paps erlaubt?« Langsam hatte sich Tinchen von ihrer Überraschung erholt. »Irgend etwas stimmt doch da nicht!«

»Die Eltern wissen ja gar nicht, daß ich hier bin!«

So, jetzt war es endlich heraus! Karsten atmete auf. Den Rest würde er seiner Schwester erst allmählich beichten, alles auf einmal wäre wohl doch zuviel.

Die griff schon nach dem Telefon, aber Karsten schüttelte den Kopf. »Noch nicht anrufen. Das dicke Ende kommt ja erst! Ich wollte dir die ganze Sache doch in Raten verklikkern!«

Sie ließ den Hörer wieder los. »Raus mit der Sprache! Was hast du angestellt?«

»Ich gar nichts! Du mußt das andersherum sehen! Man hat mit mir was angestellt! Man hat mich nämlich nicht versetzt!«

Sie holte tief Luft. »Ein Jahr vor dem Abi! Das ist ja eine reizende Überraschung!«

»Für mich nicht«, sagte Karsten, »aber für die Eltern wird es eine werden.«

»Das wissen sie auch noch nicht?«

»Woher denn? Ich bin doch gleich am letzten Schultag abgehauen! Hab’ bloß meine Sachen zusammengesucht und bin getürmt. Zum Glück war Mutti bei Oma, einkochen helfen, und da habe ich bloß einen Zettel auf mein Bett gelegt und bin stiftengegangen.«

»Daß Mutsch jetzt halb verrückt ist vor Angst, hast du wohl nicht einkalkuliert?«

»Ich hab’ doch geschrieben, daß ich trampen gehe«, verteidigte er sich, »und hinterher sind sie bestimmt froh, wenn ich heil zurückkomme. Bis dahin hat sich dann auch die Aufregung wegen der miesen Zensuren gelegt. Man muß ja nicht freiwillig in das Zentrum eines Hurrikans laufen, die Nachwirkungen sind auch noch schlimm genug.«

»Karsten, du bist ein Idiot!«

Er nickte bestätigend. »Das hat mein Lateinpauker auch gesagt.« Dann etwas kleinlauter: »Rufste jetzt mal zu Hause an? Ich gehe solange auf die Toilette, muß mich sowieso ein bißchen frisch machen.«

»Hiergeblieben!!« donnerte Tinchen.

Bisher hatte Lilo dem Dialog schweigend zugehört, aber nun ergriff sie Karstens Partei. »Dein Bruder hat recht. Am besten sagst du jetzt nur, daß er gesund und dreckig hier angekommen ist und heute abend selbst noch einmal anrufen wird. Dann ist es auch billiger!«

Sie nickte Karsten zu. »Komm mit, du Held! Die Toilette ist nebenan in der Bar. Hast du überhaupt schon etwas gegessen?«

»Ja, zwei Pfirsiche und ’ne Cola, aber das war heute früh um sechs.«

Als Tinchen nach zehn Minuten in die Bar kam, vertilgte ihr Bruder gerade das vierte Hörnchen.

»Am Buffet schließen sie schon Wetten ab, wie viele er noch schafft«, lachte Lilo und orderte das fünfte.

»Seit dem Mittagessen gestern habe ich ja auch nichts Vernünftiges mehr in den Magen gekriegt, und dieses ostpreußische Mißgeschick hätte ich auch nicht gegessen, wenn ich nicht solchen Kohldampf gehabt hätte.«

»Was war denn das?«

»Ich glaube, es sollten Königsberger Klopse sein, aber die Tante auf dem Campingplatz in Como hatte vom Kochen noch weniger Ahnung als Tinchen.« Er spülte den letzten Bissen mit einem Schluck Cappuccino hinunter. »Sag’ mal, haben die hier auch Pizza?«

»Wieviel Geld hast du eigentlich dabei?« wollte Tinchen wissen. »Bei deinem Appetit hast du in drei Tagen meine gesamten Ersparnisse verfressen!«

»Hast du mit Papa telefoniert?« Karsten hielt es für besser, die Geldfrage nicht näher zu erörtern, hauptsächlich deshalb, weil es nichts zu erörtern gab. Er besaß etwas mehr als 7000 Lire und den Fünfzigmarkschein, den ihm seine Großmutter zum Ankauf des roten Judogürtels geschenkt hatte. Na ja, der konnte warten.

»Ich habe im Geschäft angerufen und Papa vorbereitet. Jetzt kannst du dich vorbereiten! In einer halben Stunde ruft er zurück.«

»Dann reicht es ja noch für ein Hörnchen«, sagte Karsten erleichtert. Die Aussicht auf das väterliche Donnerwetter erschütterte ihn nicht mehr; tausend Kilometer Telefonkabel waren eine beruhigende Distanz.

Diesen Eindruck schien auch Herr Pabst zu haben. Er verbiß sich alle Vorwürfe, zeigte sogar Verständnis für seinen geflüchteten Sohn, bedauerte aber dessen Vertrauensmangel im Hinblick auf die schulische Katastrophe. »Wieso habe ich davon nie etwas erfahren?« – »Den blauen Brief hatte ich abgefangen, und seitdem ich achtzehn bin, kann ich die Klassenarbeiten selbst unterschreiben!« erwiderte sein Sprößling. Darauf sagte Herr Pabst gar nichts mehr, bewilligte seinem Stammhalter zwei Wochen Ferien unter der schwesterlichen Obhut, sicherte die telegraphische Überweisung der mutmaßlichen Spesen zu sowie eine intensive Nachhilfe in Mathe und Latein, sobald der Nestflüchter wieder zu Hause sei.

»Den letzten Satz hätte er sich wirklich sparen können«, maulte Karsten, nachdem er das Telefongespräch so knapp wie möglich wiedergegeben hatte. »Jetzt macht der ganze Urlaub keinen Spaß mehr.«

»Von mir aus könntest du heute schon zurückfahren«, sagte seine Schwester ungnädig. »Oder willst du mir mal verraten, wo ich dich unterbringen soll? Wir haben nämlich Hauptsaison und in ganz Verenzi kein freies Zimmer.«

»Brauch’ ich ja gar nicht«, versicherte Karsten sofort. »Ich habe einen Schlafsack mit und knacke bei dir auf dem Fußboden.«

»Hemmungen hast du wohl gar nicht?«

»Ich denke nur rationell! Ein Zimmer kostet normalerweise einen Haufen Geld. Da du mietfrei wohnst, kann man das doch sparen und lieber anders verwenden. Ich habe auch gar nicht viel zum Anziehen mit« – er zeigte auf eine Art Seesack, der mit einem komplizierten Röhrensystem verbunden war und mit einem herkömmlichen Rucksack herzlich wenig Ähnlichkeit hatte –, »und wenn ich dich nicht blamieren will, muß ich mir noch ein paar Sachen kaufen.«

»Aber nicht auf Kosten meines ungestörten Privatlebens!« protestierte Tinchen. »Jetzt komm erst mal mit ins Hotel. Vielleicht weiß Fritz noch eine andere Möglichkeit.«

Nachdem Tinchen ihren Bruder vorgestellt und die Vorgeschichte seines plötzlichen Auftauchens erzählt hatte, betrachtete Schumann den Zuwachs gründlich von Kopf bis Fuß. »Wenn der gewaschen ist, möchte ich ihm eine gewisse Familienähnlichkeit nicht absprechen. Stellen Sie ihn erst mal unter die Dusche, Tina, er ruiniert das Renommee meines Hauses!« Karsten bekam Tinchens Zimmerschlüssel ausgehändigt und trabte ab. Schumann kratzte sich am Kopf. »Ein Zimmer habe ich beim besten Willen nicht mehr, und daß der Bengel bei Ihnen wohnt, halte ich für unklug. Sie wissen doch, wie die Leute sind! Und wenn er zehnmal Ihr Bruder ist – getratscht wird trotzdem! Wollen Sie nicht mal mit Herrn Bender reden? Ich könnte eine Notliege in sein Zimmer stellen lassen, groß genug ist es ja.«

Unter normalen Umständen hätte Tinchen sofort nach diesem Strohhalm gegriffen, aber die Umstände waren eben alles andere als normal. Florians Versöhnungsgeschenk hatte sie zwar angenommen, und sie bemühte sich auch um einen unverbindlichen Umgangston, aber das alte kameradschaftliche Verhältnis war noch längst nicht wiederhergestellt. Auf keinen Fall wollte sie sich Florian gegenüber verpflichten, was unweigerlich der Fall wäre, wenn er mit dem armen Obdachlosen Zimmer und Bett teilte

»Vielleicht fällt mir noch etwas anderes ein«, tröstete sie sich, obwohl sie ganz genau wußte, daß ihr bestimmt nichts einfallen würde.

Auf der Suche nach dem richtigen Zimmer war Karsten zunächst in die entgegengesetzte Richtung gelaufen und im Halbdunkel auf einen Hund getreten, der an solche Behandlung nicht gewöhnt war und sein Mißfallen laut und deutlich kundtat. Sofort öffnete sich eine Tür, und es erschien Florian, bewaffnet mit Scheuerlappen sowie einer Flasche Superblitz, dem Universalreinigungsmittel für Polster und Teppiche, vorgestern erst im deutschen Supermarkt gekauft und heute schon halbleer. Fluchend ging er in die Knie, bereit, die Spuren von Bommels Freßlust zu beseitigen. Er hatte einsehen müssen, daß sich Francas Tierliebe auf Gassigehen und gelegentliche Leckerbissen beschränkte und sie nicht gewillt war, auch noch die Folgen dieser nahrhaften Zuwendung zu entfernen.

Die Überraschung war beiderseitig! Während Karsten freudestrahlend auf Florian zuging, zeigte dessen Gesicht blankes Entsetzen. »Jetzt bist du mitten reingetreten!«

»Wo rein?«

»Frag’ nicht so lange, zieh’ deine Treter aus und gib sie her!« Fünf Minuten später weichten die Turnschuhe im Waschbecken und Karsten in der Badewanne. Erstaunlich schnell hatte Florian die Zusammenhänge und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten erfaßt, und noch schneller hatte er die Möglichkeit gesehen, sich bei Tinchen einen Stein ins Brett zu setzen.

»Bei deiner Schwester darfst du nicht wohnen, das ist aus moralischen Gründen nicht drin. Aber wenn es dir nichts ausmacht, kannst du bei mir bleiben. Im Wagen habe ich einen Schlafsack, den können wir …«

»Hab’ selber ’ne Penntüte mit!« winkte Karsten ab, »aber Ihre könnte ich drunterlegen, damit es nicht so hart ist.« Als Karsten krebsrot und bis auf einen schwärzlichen Rand in der Halsgegend auch gründlich gesäubert aus der Wanne stieg, war er davon überzeugt, in Florian einen wahrhaften Freund gefunden zu haben. Der hatte ihm sofort das Du angeboten und ihn aufgefordert, sich aus seinem Kleiderschrank zu bedienen. Dann hatte er ihm eine Handvoll Lirescheine in die Hand gedrückt, »damit du deine Schwester nicht für jede Zigarettenpackung anpumpen mußt, solange das Geld von deinem Vater noch nicht da ist«.

Daß er in Zukunft den Liebeswerber spielen und Florians Hoheslied singen sollte, ahnte er allerdings nicht. Er hatte sich lediglich gewundert, daß Florian auf seine gezielten Fragen so ausweichend geantwortet hatte. Eigentlich ging ihn die ganze Geschichte ja auch gar nichts an, nur konnte er sich keinen besseren Schwager vorstellen als diesen sympathischen und so überaus hilfsbereiten Florian Bender. »Ich verstehe nicht, weshalb du bei Tinchen noch nicht gelandet bist. Die ist doch sonst nicht so dämlich! Oder bist du nur zu schüchtern?«

»Wenn ich das nicht wäre, dann warst du wahrscheinlich schon Onkel!« knurrte Florian grimmig, während er die Schuhe zum Trocknen über die Bettpfosten stülpte.

 

Die ersten Auswirkungen des Familienzuwachses bekam Tinchen bereits im Speisesaal zu spüren. Ihr kleiner Tisch, hinter einem Pfeiler verborgen und durch ein dickblättriges Grüngewächs zusätzlich getarnt, reichte für drei Personen nicht mehr aus; jetzt fand sie sich gleich neben der Tür wieder, wo jeder Schmetterling sie freudig begrüßte und bei dieser Gelegenheit Wünsche und Beschwerden ablud. Letztere waren in der Überzahl.

»Fräulein Tina, ich kriege jeden Tag einen anderen Liegestuhl. Der von heute ist ganz durchgesessen. Können Sie nicht mal dafür sorgen, daß …«

»Ich habe gestern ein Tuch gekauft, aber nun paßt es in der Farbe nicht zu meinem Kleid. Was heißt ›umtauschen‹ auf italienisch?«

»Im Nebenzimmer bellt dauernd ein Hund! Muß ich mir das gefallen lassen? Einen Socken hat er mir auch schon geklaut.«

»Wenn das so weitergeht, esse ich künftig in der Küche«, schimpfte sie. »Vorhin hat mich einer gefragt, warum wir nicht mal einen bunten Abend veranstalten mit Gesangswettbewerb oder einem Tanzturnier. Dann gäbe es wenigstens mal richtig was zum Lachen. Ich bin doch hier nicht als Kindergartentante angestellt, der dauernd irgendwelche Spiele einfallen müssen. Jetzt habe ich erst die Esel-Safari angeleiert, und nun soll ich schon wieder …«

»Wo hast du denn die anderen Esel alle her, Tine?«

»Einer fehlt uns noch!« giftete sie zurück. Sie war gereizt und nicht in der Stimmung, sich auch noch von ihrem Bruder anfrotzeln zu lassen.

Zwar war der Sonderzug heute ausnahmsweise einmal pünktlich gewesen, aber dafür hatte es Ärger gegeben mit zwei reiferen Damen, die gemeinsam ein Doppelzimmer gebucht und sich während der Reise so gründlich zerstritten hatten, daß sie bereits im Bus die entferntesten Plätze belegt und angekündigt hatten, für den Rest ihres Lebens kein einziges Wort mehr miteinander zu wechseln.

»Das brauchen Sie ja auch nicht, wenn Sie nicht wollen«, hatte Tinchen gesagt und krampfhaft nach einer Lösung gesucht, »tun Sie doch einfach so, als ob die andere nicht da sei.«

»Das ist unmöglich«, hatte die eine Doppelzimmerhälfte geantwortet, »Luise schnarcht.«

»Ich schnarche überhaupt nicht«, hatte die andere Hälfte protestiert, »und selbst wenn, dann nur nachts, während Käte vierundzwanzig Stunden lang hustet. Kaum achthundert Mark Rente, aber dreißig Zigaretten pro Tag! Als ihre Mutter noch lebte, hat sie sogar …«

»Wären Sie eventuell bereit, in den Nachbarort zu gehen?« Tinchen wußte, daß bei Lilo nicht alle Zimmer belegt waren. »San Giorgio ist nur fünf Kilometer entfernt.«

»Je weiter, desto besser!« hatte Luise behauptet und sogar auf eigene Kosten ein Taxi genommen, »damit ich keine Minute länger als notwendig mit dieser … dieser Lebedame dieselbe Luft atmen muß!«

Die Lebedame hatte nur »Phhh« gemacht und während der Fahrt den ganzen Bus mit Einzelheiten aus dem ohnehin nicht sehr ergiebigen Liebesleben ihrer ehemaligen Busenfreundin Luise unterhalten.

Tinchen hatte jedenfalls wieder einmal restlos genug von Touristen im allgemeinen und weiblichen Schmetterlingen im besonderen. Und trotzdem würde sie morgen wieder einen ganzen Käfig voll nach Nizza transportieren müssen – zum elften Mal!