Es ist eine Sache, mit gutem Beispiel voranzugehen,
wenn dir ein halbes Dutzend Soldaten folgt. Wenn es
zehntausend sind, ist es etwas ganz anderes.
Das Leben Dassem Ultors
Duiker
Es war nun eine Woche her, seit Duiker auf die Spur gestoßen war, die die Flüchtlinge aus Caron Tepasi zurückgelassen hatten. Sie waren ganz offensichtlich Richtung Süden getrieben worden, um Coltaines dahinstolpernde Stadt noch weiter anschwellen zu lassen; zumindest nahm der Historiker das an. Es gab nichts anderes in diesem verwüsteten Land. Die Trockenzeit hatte begonnen, und die Sonne brannte von einem wolkenlosen Himmel auf die Gräser herab, bis sie so spröde aussahen wie Drähte und sich auch so anfühlten.
Tag um Tag war vergangen, und noch immer hatte Duiker die Faust und den Flüchtlingstreck nicht einholen können. Die wenigen Male, da er in Sichtweite der gewaltigen Staubwolke gekommen war, hatten Reloes Tithansi – Vorreiter den Historiker daran gehindert, noch näher heranzukommen.
Irgendwie schaffte es Coltaine, seine Leute unaufhörlich in Bewegung zu halten und immer weiter auf den Sekala zuzumarschieren. Und was macht er, wenn er dort angekommen ist? Wird er mit der alten Furt im Kücken eine Verteidigungsstellung aufbauen?
So ritt Duiker dem Treck hinterher. Das, was die Flüchtlinge zurückließen, wurde weniger, doch es wurde zugleich auch ergreifender. Kleine Gräber säumten die aufgegebenen Lagerstellen, und die Knochen von Pferden und Vieh lagen herum; genau wie die häufig reparierte Achse eines Wagens, die letztlich doch aufgegeben worden war, wobei der Rest des Wagens auseinander genommen und die Einzelteile mitgenommen worden waren. Die von Fliegenschwärmen umschwirrten Abtritt-Gräben stanken erbärmlich.
Eine andere Geschichte erzählten die Orte, an denen es zu kleineren Scharmützeln gekommen war. Zwischen den nackten, zurückgelassenen Leichen der Tithansi-Stammeskrieger lagen zerschmetterte wickanische Lanzen ohne Spitzen. Man hatte die Leichen der Tithansi all dessen beraubt, was vielleicht noch einmal benutzt werden konnte: Ledergurte und -riemen, Hosen und Gürtel, Waffen, sogar der Zöpfe. Tote Pferde wurden als Ganzes fortgeschleift, sodass nichts weiter als ein Stück blutverschmierter Grasnarbe übrig blieb.
Duiker hatte den Punkt, an dem ihn das, was er sah, noch hätte in Erstaunen versetzen können, längst überschritten. Wie die Tithansi-Stammeskrieger, mit denen er gelegentlich ein paar Worte wechselte, hatte auch er angefangen zu glauben, dass Coltaine kein Mensch, sondern irgendetwas anderes war, dass er seine Soldaten und die Flüchtlinge in unbeugsame Werkzeuge des Unmöglichen verwandelt hatte. Trotzdem gab es keine Hoffnung auf einen Sieg. Kamist Reloes Apokalypse bestand aus den Armeen vier großer und eines Dutzends kleinerer Städte, aus unzähligen Stämmen und einer Horde von Bauern, die so groß war wie ein Binnenmeer. Und sie rückte immer näher heran, im Augenblick damit zufrieden, Coltaine zum Sekala zu eskortieren. Es lief alles auf eines hinaus: Eine Schlacht stand bevor. Die Vernichtung.
Duiker ritt während des Tages, durstig, hungrig, vom heißen Wind ausgetrocknet, die Kleider nur noch Fetzen. Ein Versprengter aus der Armee der Bauern, ein alter Mann, der fest entschlossen war, am letzten Gefecht teilzunehmen. Die Tithansi-Reiter, die ihn sahen, wussten, wer er war, und schenkten ihm – abgesehen von einem Winken aus der Ferne – keine weitere Beachtung. Alle zwei, drei Tage gesellte sich eine Gruppe zu ihm, gab ihm etwas zu essen, zu trinken und Futter für das Pferd. In gewisser Weise war er für sie zu einer Art Ikone geworden; seine Reise hatte etwas Symbolisches bekommen, war mit ungebetener Bedeutung aufgeladen worden. Der Historiker hatte deswegen Schuldgefühle, doch er nahm die Geschenke mit aufrichtiger Dankbarkeit entgegen – schließlich sorgten sie dafür, dass er und sein Pferd am Leben blieben.
Dennoch wurde sein treues Reittier schwächer. Von Tag zu Tag wurden die Zeitabschnitte länger, in denen Duiker abstieg und es am Zügel führte.
Die Abenddämmerung brach herein. Die in einiger Entfernung zu erkennende Staubwolke zog immer noch weiter, und schließlich war sich Duiker sicher, dass Coltaines Vorhut den Fluss erreicht hatte. Die Faust würde darauf bestehen, dass der gesamte Treck die ganze Nacht weiterziehen würde, um das Lager zu erreichen, das die Vorhut gerade jetzt anlegte. Wenn Duiker irgendeine Chance hatte, jemals wieder zu ihnen zu stoßen, dann war es in dieser Nacht.
Er kannte die Furt nur von den Karten, und seine Erinnerungen waren frustrierend ungenau. Der Sekala war im Schnitt fünfhundert Schritt breit und floss Richtung Norden zur Karas-See. Ein paar Hundert Schritt südlich der Furt kauerte ein kleines Dorf in einer Biegung zwischen zwei Hügeln. Er glaubte sich auch an einen Hinweis auf einen alten, toten Flussarm erinnern zu können.
Das letzte Licht des sterbenden Tages warf lange Schatten über das Land. Der hellste Stern glänzte bereits am immer dunkler werdenden Blau des Himmels. Wie schwarze Ascheflocken erhoben sich auch die Kapmotten mit der Hitze, die vom ausgedörrten Boden aufstieg.
Duiker schwang sich wieder in den Sattel. Eine kleine Gruppe von Tithansi-Vorreitern ritt eine halbe Meile im Norden über einen Hügelkamm. Duiker schätzte, dass er noch mindestens eine Länge vom Fluss entfernt war. Die Patrouillen der Stammeskrieger würden zahlreicher werden, je näher er ihm kam. Er hatte keine Ahnung, wie er sich ihnen gegenüber verhalten sollte.
Der Historiker hatte sein Pferd den größten Teil des Tages am Zügel geführt und sich so auf einen anstrengenden Nachtritt vorbereitet. Er würde alles brauchen, was das Tier ihm geben konnte, er fürchtete, dass es vielleicht doch nicht genug sein könnte. Er trieb die Stute an, und sie verfiel in einen leichten Trab.
Die weit entfernten Tithansi schenkten ihm nicht die geringste Aufmerksamkeit und gerieten schon bald außer Sicht. Mit klopfendem Herzen ließ Duiker sein Pferd in leichten Galopp fallen.
Ein Windstoß strich über sein Gesicht. Welcher Gott auch immer dafür verantwortlich sein mochte – der Historiker zischte ihm seinen Dank zu. Die Staubwolke voraus begann allmählich näher zu rücken.
Der Himmel wurde noch dunkler.
Ein Schrei erklang ein paar Hundert Schritt zu seiner Linken. Ein Dutzend Reiter, die Fellstreifen an ihren Lanzen befestigt hatten. Tithansi. Duiker salutierte ihnen mit hochgereckter Faust.
»Im Morgengrauen, alter Mann!«, brüllte einer von ihnen. »Es ist Selbstmord, jetzt anzugreifen!«
»Reite zu Reloes Lager!«, schrie ein anderer. »Nach Nordwesten, alter Mann – du hältst genau auf die feindlichen Linien zu!«
Duiker winkte ihre Worte beiseite, er gestikulierte wie ein Wahnsinniger. Er hob sich leicht in den Steigbügeln, wisperte der Stute etwas ins Ohr, drückte sanft mit den Knien. Das Tier streckte den Kopf ein bisschen weiter nach vorn, senkte ihn leicht, und seine Schritte wurden länger.
Als er die Kuppe eines niedrigen Hügels erreichte, sah der Historiker schließlich den Ort der Entscheidung vor sich liegen. Voraus und zu seiner Rechten lag das Lager der Tithansi-Lanzenreiter, tausend oder noch mehr Fellzelte, zwischen denen Kochfeuer flackerten. Berittene Patrouillen bildeten eine ruhelose Linie hinter den Zelten, schützten das Lager vor den Trupps des Feindes, die sich an der Furt eingegraben hatten. Links vom Lager der Tithansi breiteten sich hunderttausend Behelfszelte aus – die Armee der Bauern. Rauch hing wie ein aschebefleckter Mantel über der zerlumpten Siedlung.
An den Feuern wurden Mahlzeiten zubereitet. Am hinteren Rand des Lagers, dem Fluss zugewandt, konnte er eine Reihe vorgeschobene Außenposten erkennen. Zwischen den beiden Lagern verlief ein Korridor, der nicht mehr als zwei Wagenlängen breit war und sich bis zu der leicht abschüssigen Schwemmlandebene hinabzog, wo sich näher am Flussufer Coltaines aus Erde aufgeschüttete Befestigungen befanden.
Duiker lenkte sein Pferd den Korridor hinunter; er ritt im vollen Galopp. Die Tithansi-Vorreiter hinter ihm waren ihm nicht gefolgt, doch jetzt beobachteten ihn die Krieger, die die Lager bewachten – allerdings noch ohne offensichtliches Interesse.
Als er durch den Korridor ritt und am Lager der Stammeskrieger zu seiner Rechten vorbeikam, sowie an dem Meer aus Zelten der Bauern zu seiner Linken, sah er aufgeschüttete Schanzen, in ordentlichen Reihen aufgestellte Zelte, gut bemannte Außenposten – die Horde hatte noch zusätzlichen Schutz. Der Historiker sah zwei Banner aus Sialk und Hissar, reguläre Infanterie. Behelmte Köpfe drehten sich in seine Richtung; das Trommeln der Hufe seines Pferdes zog Blicke auf sich – genau wie die Warnschreie der Tithansi-Krieger.
Die Stute mühte sich ab. Coltaines Außenposten waren fünfhundert Schritt voraus, und sie schienen nicht näher zu rücken. Er hörte das Hufgetrappel der Verfolger. Es wurde lauter. Auf dem malazanischen Bollwerk erschienen Gestalten, machten Bogen schussbereit. Der Historiker betete, dass sich ein paar gewitzte Köpfe unter den Soldaten befanden, auf die er zuritt. Er fluchte, als er sah, wie die Bogen gehoben und gespannt wurden.
»Mich doch nicht, ihr Bastarde!«, brüllte er auf Malazanisch.
Bogensehnen sangen. Pfeile sirrten ungesehen durch die Nacht.
Hinter ihm wieherten die Pferde, als seine Verfolger die Zügel anzogen. Noch mehr Pfeile flogen durch die Luft. Duiker riskierte einen kurzen Blick zurück über die Schulter und sah, dass die Tithansi sich bemühten, außer Bogenschussweite zu kommen. Zappelnde Pferde und Leichen lagen am Boden.
Er ließ die Stute in leichten Galopp fallen, dann in Trab, als er sich den Erdwällen näherte. Sie war schweißgebadet, und ihr Kopf hing tief herab.
Duiker ritt mitten in eine Gruppe blauhäutiger Wickaner vom Wiesel-Clan hinein, die ihn schweigend anstarrten. Als er sich umblickte, fühlte sich der Historiker in guter Gesellschaft – die Krieger aus den Steppen des nordöstlichen Quon Tali sahen aus wie Gespenster, ihre Gesichter waren von einer Erschöpfung gezeichnet, die seiner eigenen gleichkam.
Hinter dem Lager des Wiesel-Clans waren Zelte in militärischer Ordnung aufgeschlagen und zwei Flaggen gehisst – die der Hissari-Garde, die loyal geblieben war, und die einer Kompanie, deren Banner Duiker nicht erkannte, abgesehen von einer stilisierten Armbrust im Zentrum des Wappens, die die malazanischen Seesoldaten symbolisierte.
Hände reckten sich ihm entgegen, um ihm aus dem Sattel zu helfen. Junge und alte Wickaner versammelten sich um ihn, ein leises Murmeln stieg von ihnen auf. Ihre Sorge galt der Stute. Ein alter Mann packte den Historiker am Arm. »Wir werden uns um dieses tapfere Pferd kümmern, Fremder.«
»Ich glaube, sie ist erledigt«, sagte Duiker. Eine Woge der Trauer stieg in ihm auf. Bei den Göttern, bin ich müde. Die untergehende Sonne brach durch die Wolken knapp über dem Horizont, badete alles in goldenem Licht.
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Unsere Pferdefrauen kennen sich mit so etwas aus. Sie wird bald wieder in Ordnung sein. Da kommt ein Offizier – geh also.«
Ein Hauptmann der unbekannten Kompanie von Seesoldaten erschien. Er stammte aus Falar, sein Bart und sein langes, welliges Haar waren feuerrot. »Ihr habt wie ein Malazaner im Sattel gesessen«, sagte er, »aber Ihr seid gekleidet wie ein verdammter Dosii. Erklärt Euch, und zwar schnell.«
»Ich bin Duiker, Historiker des Imperiums. Seit dieser Treck Hissar verlassen hat, habe ich versucht, ihn einzuholen.«
Die Augen des Hauptmanns weiteten sich. »Das sind einhundertundsechzig Längen – Ihr erwartet von mir, dass ich das glaube? Coltaine hat Hissar vor beinahe drei Monaten verlassen.«
»Ich weiß. Wo ist Bult? Ist Kulp zur Siebten zurückgekehrt? Und wer im Namen des Vermummten seid Ihr?«
»Lull, Hauptmann der Seesoldaten von Sialk, vom Cartheron-Flügel der Sahul-Flotte. Coltaine hat uns zu einer Besprechung zusammengerufen – Ihr solltet besser mitkommen, Historiker.«
Sie machten sich auf den Weg durch das Lager. Duiker war entsetzt über das, was er erblickte. Hinter den groben Schützengräben der Seesoldaten war ein breites, leicht abschüssiges Feld, durch das ein einziger von Seilen abgegrenzter Weg führte. Zur Rechten standen Hunderte von Wagen, deren Ladeflächen mit Verwundeten überfüllt waren. Die Wagenräder waren tief im blutgetränkten Schlamm eingesunken. Vögel flatterten durch die von Fackeln erhellte Nachtluft und schrien aufgeregt durcheinander – es schien, als hätten sie Gefallen an dem Geschmack von Blut gefunden. Das sich unruhig bewegende Feld zur Linken war Vieh; es stand Schulter an Schulter und wogte in einer brodelnden Flut unter einer in der Luft schwebenden Wolke aus Rhizan; die geflügelten Echsen feierten inmitten der Fliegenschwärme ein wahres Festmahl.
Ein Stück voraus senkte sich das Feld zu einem Stück Marschland ab, das von Holzstämmen überbrückt wurde. Die schlammigen Wasserflächen schimmerten rot. Dahinter wiederum lag eine breite, bucklige Insel in einem toten Flussarm, auf der in chaotischem Gedränge die Flüchtlinge lagerten. Es mussten Zehntausende sein.
»Beim Atem des Vermummten«, murmelte der Historiker. »Müssen wir etwa da mittendurch?«
Der Hauptmann schüttelte den Kopf und deutete auf ein großes Bauernhaus, das sich auf der gleichen Seite der Straße zur Furt befand wie das Vieh. »Da! Coltaines Krähen-Clan bewacht die Südseite entlang der Hügel, um sicherzustellen, dass sich kein Stück Vieh verirrt oder von den Einheimischen geschnappt wird – hinter dem Hügel, auf der anderen Seite, ist ein Dorf.«
»Habt Ihr vorhin Sahul-Flotte gesagt? Wenn das stimmt – warum seid Ihr dann nicht bei Admiral Nok in Aren, Hauptmann?«
Der rothaarige Soldat zog eine Grimasse. »Ich wünschte, wir wären dort. Wir haben uns von der Flotte getrennt und in Sialk angelegt, um ein paar Reparaturen durchzuführen – unser Transportschiff war siebzig Jahre alt, und es hat angefangen leckzuschlagen, kaum dass wir zwei Stunden von Hissar entfernt waren. Der Aufstand hat in der gleichen Nacht begonnen, also haben wir das Schiff verlassen, haben zusammengesucht, was noch von der dortigen Kompanie Seesoldaten übrig war, und haben dann den Flüchtlingstreck der malazanischen Bürger aus Sialk eskortiert.«
Das Bauernhaus, dem sie sich jetzt näherten, war ein robustes, imposantes Bauwerk; seine Bewohner waren kurz vor der Ankunft des Trecks geflohen. Das Fundament war aus behauenen Steinen, und die Wände bestanden aus gespaltenen Stämmen, deren Ritzen mit in der Sonne gebranntem Lehm abgedichtet worden waren. Vor der schweren Eingangstür aus Eichenholz hielt ein Soldat der Siebten Wache. Er nickte Hauptmann Lull zu und blickte Duiker aus zusammengekniffenen Augen an.
»Kümmere dich nicht um die Stammeskleidung«, sagte Lull zu ihm, »er ist einer von uns. Wer ist schon da?«
»Alle, außer der Faust, den Waerlogas und dem Hauptmann der Sappeure, Hauptmann.«
»Vergiss den Hauptmann der Sappeure«, sagte Lull. »Er hat sich noch nie auf einer dieser Besprechungen blicken lassen.«
»Jawohl, Hauptmann.« Der Soldat klopfte mit der behandschuhten Hand gegen die Tür und stieß sie auf.
Rauchschwaden trieben heraus. Duiker und der Hauptmann traten ins Innere des Bauernhauses. Bult und zwei Offiziere der Siebten hockten um die mächtige, mit Steinen eingefasste Feuerstelle am hinteren Ende des Raums und stritten sich, wobei es ganz offensichtlich um den verstopften Kamin ging.
Lull nahm seinen Schwertgürtel ab und hängte die Waffe an einen Haken neben der Tür. »Wofür im Namen des Vermummten braucht ihr hier drin ein Feuer?«, wollte er wissen. »Es ist doch auch so schon heiß genug und stinkt.« Er wedelte mit der Hand den Rauch beiseite.
Einer der Offiziere der Siebten drehte sich um, und Duiker erkannte in ihm den Soldaten, der neben ihm gestanden hatte, als Coltaine und seine Wickaner in Hissar gelandet waren. Ihre Blicke trafen sich.
»Bei Toggs Füßen, es ist der Historiker!«
Bult richtete sich auf und drehte sich um. Sein Mund und die Narbe verzogen sich zu dem bekannten doppelten Grinsen. »Sormo hatte also Recht – er hat schon vor Wochen gerochen, dass Ihr auf unserer Spur seid. Willkommen, Duiker!«
Da Duiker befürchtete, dass seine Beine jeden Moment nachgeben würden, setzte er sich auf einen der Stühle, die an die Wand geschoben worden waren. »Es tut gut, Euch zu sehen, Onkel«, sagte er und lehnte sich zurück; seine schmerzenden Muskeln ließen ihn zusammenzucken.
»Wir wollten gerade einen Kräutertee kochen«, sagte der Wickaner. Seine Augen waren rot und tränten. Der alte Veteran war abgemagert, und sein Gesicht wirkte grau vor Erschöpfung.
»Um unserer guten Lungen willen – hört auf damit«, sagte Lull. »Was hält die Faust denn so lange auf? Ich kann es kaum erwarten, zu hören, was für einen wahnsinnigen Plan Coltaine diesmal ausgeheckt hat, um uns hier rauszubringen.«
»Er hat es bis hierher geschafft«, sagte Duiker.
»Stimmt, mit einer Armee im Nacken«, entgegnete Lull, »aber jetzt stehen uns zwei gegenüber ...«
Der Historiker hob den Kopf. »Zwei?«
»Die Befreier von Guran«, mischte sich der Hauptmann ein, den Duiker kannte. »Ich kann mich leider nicht erinnern, ob wir einander jemals vorgestellt wurden. Ich bin Chenned. Das da ist Hauptmann Sulmar.«
»Und Ihr seid die einzigen ranghöheren Offiziere, die noch von der Siebten übrig geblieben sind?«
Chenned grinste. »Ich fürchte, so ist es.«
Sulmar gab ein Grunzen von sich. »Nicht ganz, da wäre noch der Mann, der den Befehl über die Sappeure der Siebten hat.«
»Der, der nie an diesen Besprechungen teilnimmt.«
»Stimmt.« Sulmar wirkte mürrisch, doch Duiker hatte den Verdacht, dass dies einfach der bevorzugte Gesichtsausdruck des Hauptmanns war. Er war klein und dunkel und machte den Eindruck, als hätte er sowohl kanesisches als auch dal–honesisches Blut in den Adern. Seine Schultern hingen herab, als hätte er sein Leben lang eine schwere Bürde getragen. »Ich weiß auch nicht, warum der Bastard glaubt, dass er was Besonderes ist. Dabei haben die verdammten Sappeure die ganze Zeit nur Wagen repariert, große Steinbrocken gesammelt und sind den Feldschern im Weg rumgelaufen.«
»Bult kommandiert uns im Feld«, sagte Hauptmann Chenned.
»Ich bin der Wille der Faust«, knurrte der wickanische Veteran.
Von draußen erklangen Geräusche: Pferde wurden gezügelt, Waffen und Rüstungen klirrten, dann dröhnte es einmal an der Tür, und einen Augenblick später schwang sie auf.
In Duikers Augen schien Coltaine völlig unverändert; er hielt sich noch immer gerade wie ein Speer, und sein schmales, von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht sah aus wie Leder. Sein schwarzer Federumhang blähte sich, als er in die Mitte des großen Raums marschierte. In seinem Gefolge kamen Sormo E'nath und ein halbes Dutzend wickanischer Jugendlicher herein, die sich im Raum verteilten und sich willkürlich an Wände und Möbelstücke lehnten. Sie erinnerten den Historiker an eine Meute Dockratten in Malaz – Herren über jedes noch so kleine Fleckchen, das ihnen gehörte.
Sormo trat auf Duiker zu, streckte beide Arme aus und packte den Historiker an den Handgelenken. »Unsere Geduld ist belohnt worden. Gut gemacht, Duiker!«
Der Junge wirkte unendlich viel älter; um seine verschleierten Augen herum zeigten sich Spuren, die von mehr als einem Leben zu künden schienen.
»Ihr könnt Euch später ausruhen, Historiker«, sagte Coltaine, während er jede Person im Zimmer mit einem langen, abwägenden Blick musterte. »Ich habe eindeutige Befehle erteilt«, wandte er sich schließlich an Bult. »Wo ist also dieser Hauptmann der Pioniere?«
Bult zuckte die Schultern. »Er wurde benachrichtigt. Aber er ist ein Mann, der nicht leicht zu finden ist.«
Coltaine machte ein finsteres Gesicht. »Hauptmann Chenned, Euer Bericht.«
»Die Dritte und die Fünfte Kompanie sind auf der anderen Seite der Furt und graben sich ein. Der Fluss ist ungefähr vierhundertzwanzig Schritt breit, ohne die seichten Stellen auf beiden Seiten, die auch noch einmal etwa zwanzig Schritt ergeben. Die mittlere Wassertiefe beträgt eineinhalb Armspannen. Auf dem größten Teil des Weges misst die Furt zwischen vier und fünf Armspannen, an ein paar Stellen ist sie etwas schmaler, an ein paar anderen etwas breiter. Der Boden besteht aus einer knapp zwei Fingerlängen tiefen Schlammschicht, und darunter ist Felsgestein.«
»Der Tollhund-Clan wird Eure Kompanien auf der anderen Seite verstärken«, sagte Coltaine. »Wenn die Truppen aus Guran versuchen sollten, das jenseitige Ufer einzunehmen, während wir noch dabei sind, den Fluss zu überqueren, werdet Ihr sie aufhalten.« Die Faust wirbelte herum und starrte Lull an. »Ihr und der Wiesel-Clan werdet diese Seite bewachen, während die Verwundeten und die Flüchtlinge den Fluss überqueren. Ich werde im Süden Position beziehen, um die Straße zum Dorf zu blockieren, und sie haken, bis der Weg frei ist.«
Hauptmann Sulmar räusperte sich. »Da wäre noch etwas, Faust... Es betrifft die Reihenfolge, in der wir den Fluss überqueren. Der Rat der Adligen wird aufschreien ...«
»Das ist mir egal. Als Erstes überqueren die Wagen mit den Verwundeten den Fluss. Dann das Vieh, und dann die Flüchtlinge.«
»Vielleicht könnten wir die Reihenfolge ja ein bisschen auflockern«, versuchte Sulmar es noch einmal. Schweiß glänzte auf seiner niedrigen Stirn. »Hundert Stück Vieh, und dann hundert Adlige ...«
»Adlige?«, fragte Bult. »Ihr habt doch sicher Flüchtlinge gemeint ...«
»Natürlich.«
Hauptmann Lull grinste Sulmar höhnisch an. »Ihr versucht, auf beiden Schultern zu tragen, nicht wahr? Und ich habe immer gedacht, Ihr wärt ein Soldat der Siebten.«
Sulmars Gesicht verdüsterte sich.
»Es wäre Selbstmord, die Überquerung in zu kleinen Gruppen durchzuführen«, sagte Chenned.
»Stimmt«, meinte Bult. Er betrachtete Sulmar, als wäre der Hauptmann ein Stück verdorbenes Fleisch.
»Wir tragen Verantwortung ...«, schnappte Hauptmann Sulmar, doch Coltaine brachte ihn mit einem gezischten Fluch sofort zum Schweigen.
Das reichte. Stille senkte sich auf den Raum herab. Von draußen erklang das Quietschen von Wagenrädern.
Bult seufzte. »Das Sprachrohr allein reicht anscheinend nicht.«
Einen Augenblick später öffnete sich die Tür, und zwei Männer betraten den Raum. Der, der voranging, trug einen fleckenlosen Umhang aus hellblauem Brokat. Was für Muskeln er auch immer in seiner Jugend gehabt haben mochte, sie hatten sich in Fett verwandelt, und dieses Fett war in drei Monaten verzweifelter Flucht dahingewelkt. Sein Gesicht erinnerte an eine zerknautschte Ledertasche; nichtsdestotrotz strahlte er eine fast spürbare Kühle aus, in die sich zusätzlich noch ein Hauch empörter Entrüstung mischte. Der Mann, der ihm folgte, trug ebenfalls feine Gewänder, die allerdings von Staub und Schweiß in mehr oder weniger formlose Säcke verwandelt worden waren und um seine dürre Gestalt schlotterten. Er war kahl, und seine fleckige Kopfhaut zeugte von mehr als einem Sonnenbrand. Er schaute die Anwesenden aus tränenden Augen an, die fast unaufhörlich blinzelten.
Der erste Adlige ergriff das Wort. »Der Rat hat erst verspätet von dieser Versammlung erfahren ...«
»Und außerdem inoffiziell«, murmelte Bult trocken.
Der Adlige fuhr nach einer winzigen, kaum merklichen Pause fort. »Bei solchen Besprechungen geht es zum größten Teil um militärische Fragen, und der Rat hat keineswegs die Absicht, sich in derartige Angelegenheiten einzumischen – die Himmel mögen uns behüten! Andererseits sind wir die Repräsentanten der beinahe dreißigtausend Flüchtlinge, die mittlerweile hier versammelt sind, und wir haben eine Liste von ... Anliegen zusammengestellt, die wir Euch gerne übergeben würden.«
»Ihr repräsentiert ein paar Tausend Adlige«, sagte Hauptmann Lull, »und somit vor allem Eure eigenen Interessen – die der Vermummte holen soll! Die anderen sind Euch doch völlig gleichgültig, Nethpara. Spart Euch also Euer frommes Gebaren für die Latrinen.«
Nethpara ließ sich nicht dazu herab, auf den Kommentar des Hauptmanns zu reagieren. Er hielt den Blick fest auf Coltaine gerichtet, wartete auf eine Antwort.
Die Faust ließ nicht das geringste Anzeichen erkennen, dass sie vorhatte, eine zu geben. »Such die Sappeure, Onkel«, sagte er zu Bult. »Die Wagen werden in einer Stunde mit der Überquerung beginnen.«
Der wickanische Veteran nickte bedächtig.
»Wir haben erwartet, uns in dieser Nacht ausruhen zu können«, sagte Sulmar stirnrunzelnd. »Wir sind alle völlig am Ende ...«
»In einer Stunde«, knurrte Coltaine. »Als Erstes die Wagen mit den Verwundeten. Ich will, dass mindestens vierhundert drüben sind, wenn der Morgen anbricht.«
Noch einmal meldete sich Nethpara zu Wort. »Bitte, Faust, überdenkt die Reihenfolge bei der Überquerung noch einmal. Wenn auch der Gedanke an die verwundeten Soldaten mir beinahe das Herz bricht, ist es doch Eure Pflicht, die Flüchtlinge zu schützen. Mehr noch, es wird von vielen im Rat als Affront angesehen werden, dass das Vieh den Fluss noch vor den unbewaffneten Zivilisten aus dem Imperium überqueren wird.«
»Und was ist, wenn wir das Vieh verlieren?«, fragte Lull den Adligen. »Ich nehme an, ihr würdet dann die Kinder, die ihre Eltern verloren haben, am Spieß rösten.«
Nethpara lächelte resignierend. »Ah, ja, die Sache mit den verringerten Rationen ist ebenfalls ein Punkt auf unserer Liste. Wir wissen aus sicherer Quelle, dass die Rationen für die Soldaten der Siebten keinen derartigen Einschränkungen unterliegen. Vielleicht könnte man über eine etwas ausgewogenere Verteilungsmethode nachdenken? Es ist sehr schwierig, zuzusehen, wie die Kinder darben.«
»Sie haben alle etwas weniger Fleisch auf den Knochen, was?« Lulls Gesicht war rot vor kaum noch gezügelter Wut. »Ohne vernünftig genährte Soldaten zwischen Euch und den Tithansi werden Euch Eure Mägen in kürzester Zeit um die Knie baumeln.«
»Schafft sie hier raus«, sagte Coltaine.
Der zweite Adlige räusperte sich. »Wenn Nethpara auch für die Mehrheit des Rates spricht, so wird seine Sicht der Dinge doch nicht von allen mitgetragen.« Der alte Mann ignorierte den düsteren Blick, den sein Begleiter ihm zuwarf, und fuhr fort: »Ich bin nur aus Neugier hier. Da sind zum Beispiel die Wagen mit den Verwundeten – mir scheint, es sind viel mehr Verwundete, als ich bisher geglaubt hatte: Die Wagen sind wirklich überfüllt, und es sind insgesamt fast dreihundertfünfzig. Vor zwei Tagen hatten wir noch siebenhundert verwundete Soldaten, und dafür haben wir etwa hundertfünfundsiebzig Wagen gebraucht. Seither hat es zwei kleinere Scharmützel gegeben, doch wir benötigen jetzt doppelt so viele Wagen, um die Verwundeten zu transportieren. Außerdem sind auf sämtlichen Wagen die Sappeure herumgekrochen, haben alle anderen fern gehalten – das ist so weit gegangen, dass selbst die Feldscher ihre Arbeit nicht mehr ungehindert verrichten konnten. Was genau wird hier eigentlich gespielt?«
Schweigen herrschte im Raum. Duiker sah, dass die beiden Hauptmänner der Siebten verdutzte Blicke wechselten. Sulmars verwirrter Gesichtsausdruck war fast schon komisch, während er in Gedanken noch einmal die Einzelheiten durchging, die der alte Mann aufgezählt hatte. Nur die Wickaner schienen ungerührt.
»Wir haben die Verwundeten besser verteilt«, sagte Bult. »Und die Seitenwände verstärkt...«
»Ah, ja«, sagte der Adlige und machte eine Pause, um seine wässrigen Augen mit einem grauen Taschentuch abzutupfen. »Das habe ich zuerst auch gedacht. Aber warum sinken die Wagen jetzt auf einmal so tief im Schlamm ein?«
»Ist das wirklich nötig, Tumlit?«, fragte Nethpara wütend. »Ihr mögt von solchen technischen Feinheiten fasziniert sein, aber der Vermummte weiß, dass Ihr mit dieser Neigung allein dasteht. Wir haben die Position des Rates in einigen lebenswichtigen Fragen diskutiert. Solche Abschweifungen kann ich nun wirklich nicht dulden ...«
»Onkel«, sagte Coltaine.
Grinsend packte Bult beide Adligen an den Armen und führte sie mit festem Griff zur Tür. »Wir müssen die Überquerung eines Flusses planen«, sagte er. »Da sind solche Abschweifungen nicht willkommen.«
»Aber was ist mit den Steinmetzen und ...«, versuchte Tumlit es ein letztes Mal.
»Raus mit euch, alle beide!« Bult stieß sie vorwärts. Nethpara war klug genug, die Tür gerade noch rechtzeitig zu öffnen, als der Kommandeur ihnen einen letzten Stoß gab. Die beiden Adligen stolperten hinaus.
Auf ein Nicken von Bult hin zog der Wachposten die Tür von außen wieder zu.
Lull rollte die Schultern unter dem Gewicht seines Kettenhemds. »Gibt es irgendetwas, das wir wissen sollten, Faust?«
»Ich mache mir Sorgen über die Tiefe dieser Furt«, sagte Chenned, nachdem klar war, dass Coltaine nicht auf Lulls Frage antworten würde. »Die Überquerung wird sich ziemlich lang hinziehen; es gibt zwar keine starke Strömung, aber mit Schlamm unter den Füßen und bei viereinhalb Fuß Wassertiefe wird sich niemand besonders schnell bewegen können. Nicht einmal auf einem Pferd.« Er warf Lull einen Blick zu. »Es wird nicht besonders angenehm werden, während des Rückzugs kämpfen zu müssen.«
»Ihr kennt eure Positionen und eure Aufgaben«, sagte Coltaine.
Er drehte sich zu Sormo um, musterte zunächst den Waerloga und dann die Kinder, die hinter ihm aufgereiht waren, aus zusammengekniffenen Augen. »Jeder von euch wird einen Waerloga haben«, sagte er zu seinen Offizieren. »Alle Nachrichten werden durch sie übermittelt. Das war's. Die Besprechung ist beendet.«
Duiker schaute zu, wie die Offiziere und die Kinder hinausgingen, bis nur noch Bult, Sormo und Coltaine übrig waren.
Der Waerloga zauberte anscheinend aus dem Nichts einen Krug herbei, den er der Faust reichte. Coltaine nahm einen Schluck und reichte den Krug dann an Duiker weiter. Die Augen der Faust glitzerten. »Historiker, Ihr habt uns allerhand zu erzählen. Ihr wart mit Kulp, dem Magier der Siebten, unterwegs. Ihr seid nur wenige Stunden, bevor der Aufstand losgebrochen ist, mit ihm davongeritten. Sormo kann den Mann jedoch nicht finden – nirgends. Ist er tot?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Duiker wahrheitsgetreu. »Wir wurden getrennt.« Er nahm ebenfalls einen Schluck aus dem Krug, dann starrte er überrascht in das Gefäß. Gekühltes Bier — wo hat Sormo das herbekommen? Er warf dem Waerloga einen Blick zu. »Habt Ihr mit Hilfe Eures Gewirrs nach Kulp gesucht?«
Der junge Mann verschränkte die Arme. »Ein paar Mal«, antwortete er. »In letzter Zeit allerdings nicht mehr. Die Gewirre sind ... schwierig geworden.«
»Welch ein Glück für uns«, sagte Bult.
»Ich verstehe nicht recht.«
Sormo seufzte. »Erinnert Ihr Euch an das Ritual, das wir abgehalten haben, Historiker ? Die Heimsuchung durch die Vielwandler und Wechselgänger? Sie machen mittlerweile jedes Gewirr unsicher – zumindest auf diesem Kontinent. Sie alle suchen den sagenhaften Pfad der Hände. Ich war gezwungen, mich bei meinen Bemühungen den Wegen der Ahnen zuzuwenden und auf den Zauber des Landes, auf Lebensgeister und Totemtiere zurückzugreifen. Unser Feind, der Hohemagier Kamist Reloe, verfügt nicht über das Wissen der Alten. Daher wagt er es nicht, seine Magie gegen uns einzusetzen. Schon seit Wochen nicht mehr.«
»Und ohne seine Magie«, fügte Coltaine hinzu, »ist Reloe nichts weiter als ein guter Kommandeur. Kein Genius. Seine Strategien sind einfach. Er sieht nur seine gewaltige Armee, und sein Selbstvertrauen sorgt dafür, dass er die Kraft und den Willen seiner Gegner unterschätzt.«
»Und er lernt auch nicht aus seinen Niederlagen«, ergänzte Bult.
Duiker wandte den Blick nicht von Coltaine. »Wohin führt Ihr diesen Treck, Faust?«
»Nach Ubaryd.«
Der Historiker blinzelte. Das dauert mindestens zwei Monate. »Dann halten wir die Stadt also noch?«
Es wurde still im Raum.
»Ihr wisst es nicht«, sagte Duiker.
»Nein«, erwiderte Bult; er nahm dem Historiker den Krug aus der Hand und genehmigte sich einen großen Schluck.
»Und jetzt, Duiker«, sagte Coltaine, »erzählt uns von Eurer Reise.«
Der Historiker hatte nicht die Absicht, seine Anstrengungen in Bezug auf Heboric Leichte Hand zu erklären. Also skizzierte er eine Geschichte, die nahe genug an der Wahrheit blieb, um überzeugend zu klingen. Er und Kulp waren zu einer Küstenstadt geritten, um ein paar alte Freunde in einem Posten des Küstentrupps zu treffen. Es war Pech, dass dies ausgerechnet in der Nacht des Aufstands geschehen war. Als Duiker eine Chance gesehen hatte, sich in seiner Verkleidung durch die Reihen der Feinde zu schleichen und bei dieser Gelegenheit auch noch Informationen zu sammeln, hatte er sie genutzt. Kulp hatte sich den Seesoldaten angeschlossen, in der Absicht, mit ihnen zum Hafen von Hissar zu segeln. Während er seine Geschichte erzählte, konnte man von draußen die gedämpften Geräusche von Wagen hören, die sich auf der Insel in Bewegung setzten.
Sie waren laut genug, dass Kamist Reloes Soldaten sie hören und zu dem richtigen Schluss kommen konnten. Duiker fragte sich, wie der Kommandeur des Wirbelwindes wohl darauf reagieren würde, dass die Überquerung begonnen hatte.
Als der Historiker ausführlich zu schildern begann, was er bei den Feinden beobachtet hatte, schnitt Coltaine ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Wenn alle Eure Erzählungen so langweilig sind, ist es ein Wunder, dass überhaupt irgendjemand sie liest«, brummte er.
Lächelnd lehnte Duiker sich zurück und schloss die Augen. »Ach, Faust, es ist der Fluch der Geschichtsschreibung, dass diejenigen, die sie lesen sollten, es niemals tun. Und außerdem bin ich müde.«
»Onkel, such für diesen Mann ein Zelt und eine Schlafdecke«, sagte Coltaine. »Lass ihn zwei Stunden schlafen. Ich möchte, dass er dann aufsteht, um so viel wie möglich von der Überquerung mitzubekommen. Die Ereignisse des kommenden Tages sollen niedergeschrieben werden, damit jene, die nach uns kommen, ihre Lehren daraus ziehen können.«
»Zwei Stunden?«, murmelte Duiker. »Ich kann nicht garantieren, dass ich nach so kurzer Zeit über ein brillantes Erinnerungsvermögen verfügen werde – vorausgesetzt, ich werde überhaupt überleben, um die Geschichte erzählen zu können.«
Eine Hand rüttelte ihn an der Schulter. Der Historiker öffnete die Augen. Er war auf dem Stuhl eingeschlafen. Jemand hatte ihn mit einer Decke zugedeckt. Die wickanische Wolle roch widerlich und war mit zweifelhaften Flecken übersät. Ein junger Korporal beugte sich über ihn.
»Herr? Ihr müsst jetzt aufstehen.«
Duiker machte ein finsteres Gesicht. Jeder Knochen seines Körpers schmerzte. »Wie heißt du, Korporal?«
»List, Herr. Von der Fünften Kompanie.«
Oh! Das war doch der, der in diesen Scheingefechten andauernd gestorben ist.
Erst jetzt nahm der Historiker das vielstimmige Geschrei wahr, das von draußen hereindrang. Er setzte sich aufrecht hin. »Beim Atem des Vermummten! Wird da draußen schon gekämpft?«
Korporal List zuckte die Schultern. »Noch nicht. Das sind nur die Treiber und das Vieh. Sie überqueren den Fluss. Auf der anderen Seite hat es ein paar Zusammenstöße gegeben – die Armee aus Guran ist angekommen. Aber wir halten die Stellung.«
Duiker schlug die Decke beiseite und stand auf. List reichte ihm einen verbeulten Zinnbecher.
»Vorsichtig, Herr, es ist heiß.«
Der Historiker starrte die dunkelbraune Flüssigkeit an. »Was ist das?«
»Ich weiß es nicht, Herr. Irgendwas Wickanisches.«
Duiker nahm einen Schluck und zuckte zusammen. Das Gebräu war kochend heiß und schmeckte bitter. »Wo ist Coltaine? Ich muss ihm noch etwas erzählen, das ich vorhin vergessen habe.«
»Er reitet mit den Kriegern seines Krähen-Clans.«
»Wie spät ist es?«
»Die Morgendämmerung wird gleich anbrechen.«
Es ist schon fast Morgen, und das Vieh fängt gerade erst an, den Fluss zu überqueren? Er spürte, wie er allmählich munter wurde, warf einen weiteren Blick in den Becher und trank noch einen Schluck. »Ist das hier eins von Sormos Gebräuen? Es lässt meine Nerven vibrieren.«
»Eine alte Frau hat es mir gegeben, Herr. Seid Ihr fertig?«
»Bist du mir zugeteilt worden, List?«
»Ja, Herr.«
»Dann wird es deine erste Aufgabe sein, mich zur Latrine zu geleiten, Korporal.«
Sie traten nach draußen und mitten hinein ins Chaos. Auf der Insel in dem toten Flussarm wimmelte es von Vieh; eine ungeheure Masse von buckligen Rücken, die sich unter den Schreien der Treiber langsam voranbewegte. Das andere Ufer des Sekala lag hinter Staubwolken verborgen, die begonnen hatten, auf den Fluss hinauszutreiben.
»Hier entlang, Herr.« List deutete auf einen Graben hinter dem Bauernhaus.
»Lass das mit dem dauernden ›Herr‹«, sagte Duiker, während sie auf die Latrine zumarschierten. »Besorg mir einen Meldereiter. Die Soldaten am anderen Ufer werden demnächst ernste Schwierigkeiten bekommen.«
»Herr?«
Duiker stand am Rand des Grabens. Er schlug seine Telaba zurück, zögerte dann. »In diesem Graben ist Blut.«
»Ja, Herr. Was habt Ihr gerade mit dem anderen Ufer des Flusses gemeint, Herr?«
»Hab etwas von ein paar Tithansi-Vorreitern gehört«, sagte der Historiker, während er sich erleichterte. »Die Semk sind nach Süden gekommen. Ich vermute, dass sie auf der Guran-Seite sein werden. Die Semk verfügen über Zauberer, und die Tithansi fürchten ihre Krieger, daher ist zu erwarten, dass sie ein ziemlich übler Haufen sind. Ich wollte es vorhin in der Besprechung eigentlich noch erwähnen, hab es dann aber vergessen.«
In diesem Augenblick ritt ein Reitertrupp vor dem Bauernhaus vorbei. Korporal List rannte los, um sie abzufangen.
Duiker beendete sein Geschäft und ging zu seinem Adjutanten zurück. Er verlangsamte seine Schritte. Die Standarte der Gruppe war unverkennbar. List überbrachte dem Befehlshaber atemlos die Neuigkeit. Der Historiker holte tief Luft und trat zu den Männern.
»Baria Setral.«
Der Kommandeur der Roten Klingen warf Duiker einen raschen Blick zu. Seine Augen waren kalt. Neben ihm brummte sein Bruder Mesker wortlos vor sich hin.
»Es scheint, als wäre Euch das Glück treu geblieben«, sagte der Historiker.
»Genau wie Euch«, erwiderte Baria polternd. »Was den weißhaarigen Magier angeht... bei ihm scheint es nicht so gut gelaufen zu sein. Zu schade. Ich hatte mich schon darauf gefreut, seine Haut an mein Banner zu heften. Was die Sache mit den Semk betrifft – stammt die Nachricht von Euch?«
»Von den Tithansi.«
Mesker stieß ein bellendes Lachen aus und grinste dann. »Ihr habt unterwegs mit ihnen das Zelt geteilt, nicht wahr?« Er wandte sich an seinen Bruder. »Es ist eine Lüge.«
Duiker seufzte. »Und was hätte diese Lüge für einen Sinn?«
»Wir sind unterwegs, um den Vorposten der Siebten zu verstärken«, sagte Baria. »Wir werden Eure Warnung weitergeben.«
»Es ist eine Falle ...«
»Halt's Maul, Bruder«, sagte Baria, den Blick noch immer auf Duiker gerichtet. »Eine Warnung ist zunächst einmal genau das – eine Warnung. Keine Lüge, keine Falle. Wenn die Semk kommen, werden wir bereit sein. Wenn nicht, dann war die Geschichte eben falsch. Aber sonst ist nichts Schlimmes passiert.«
»Ich danke Euch, Kommandant«, sagte Duiker. »Schließlich stehen wir auf der gleichen Seite.«
»Lieber spät als nie«, knurrte Baria. Die Andeutung eines Lächelns verzog seinen eingeölten Bart. »Historiker!« Er hob eine behandschuhte Faust, öffnete sie. Die Geste ließ den Trupp der Roten Klingen ihren leichten Galopp zur Furt wieder aufnehmen. Mesker war der Einzige, der Duiker einen düsteren Blick zuwarf, als er an ihm vorbeiritt.
Das blasse Licht der Morgendämmerung sickerte allmählich in das Tal. Über dem Sekala wallte eine undurchdringliche Staubwolke sachte quer zur sanften Morgenbrise, sank schließlich auf die Furt herab und blieb dort hängen. Der Blick auf das, was in der Furt gerade geschah, war versperrt. Duiker grunzte. »Das ist 'ne nette Idee.«
»Dafür ist Sormo verantwortlich«, sagte Korporal List. »Man erzählt sich, dass er die Geister des Landes und der Luft aufgeweckt hat. Aus einem Jahrhunderte währenden Schlaf, denn auch die Stämme kümmern sich schon lange nicht mehr um sie. Manchmal kann man sie ... riechen.«
Der Historiker warf dem jungen Mann einen Blick zu. »Man kann sie riechen?«
»Es riecht, als ob man einen Stein umdreht. Irgendwie kühl, modrig.« Er zuckte die Schultern. »Ungefähr so riecht es.«
Vor Duikers geistigem Auge entstand plötzlich das Bild von List als Knabe. Wie er Steine umdrehte. Eine Welt eroberte, in einem Kokon aus Frieden. Der Historiker lächelte. »Ich kenne den Geruch, List. Sag mir, diese Geister – wie stark sind sie?«
»Sormo sagt, sie freuen sich. Und sie wären wild darauf, zu spielen.«
»Das Spiel eines Geistes ist der Albtraum eines Menschen. Nun, wollen wir hoffen, dass sie das Spielen ernst nehmen.«
Die überwiegende Anzahl der Flüchtlinge war von der Insel im Altwasser heruntergetrieben worden – wie Duiker sehen konnte, als er sein Augenmerk wieder auf die weitere Umgebung richtete –, und dann über die Straße zur Furt, zum südlichen Hang und zum schlammigen Bett des alten Altwasser-Kanals gedrängt worden. Es waren zu viele für den zur Verfügung stehenden Platz, und er sah den weit entfernten Rand der Menge auf die Hügel dahinter krabbeln. Ein paar waren zum Fluss gegangen, südlich der Furt, und wateten jetzt langsam in die Strömung hinein.
»Wer ist für die Flüchtlinge verantwortlich?«
»Teile des Krähen-Clans. Coltaine lässt sie von seinen Wickanern beaufsichtigen – die Flüchtlinge fürchten sich vor ihnen ebenso sehr wie vor der Apokalypse.«
Und außerdem kann man die Wickaner nicht kaufen.
»Da, Herr!« List deutete nach Osten.
Die feindlichen Truppen, durch die Duiker vergangene Nacht hindurchgeritten war, hatten begonnen, sich in Bewegung zu setzen. Die Infanterie aus Sialk und Hissar war auf der rechten Seite, auf der linken waren Hissari-Lanzenreiter, und die berittenen Tithansi-Krieger bildeten das Zentrum. Die zwei Kavallerie-Streitkräfte jagten auf die Verteidigungsstellungen des Wiesel-Clans zu. Berittene wickanische Bogenschützen, die von Lanzenreitern begleitet wurden, ritten ihnen entgegen. Doch die Attacke war eine Finte, die Hissari und Tithansi drehten nach Westen ab, ehe sie die Verteidiger erreicht hatten. Ihre Kommandeure hatten es allerdings zu gut gemeint, denn die wickanischen Bogenschützen waren auf Schussweite herangekommen. Pferde und Reiter stürzten.
Dann waren die wickanischen Lanzenreiter an der Reihe, in einem plötzlichen Sturmangriff nach vorn zu preschen, woraufhin die Feinde sich blitzschnell in die ursprünglichen Positionen zurückzogen. Duiker beobachtete überrascht, wie die Lanzenreiter ihre Pferde zügelten und etliche von ihnen absaßen, während die Bogenschützen ihnen Deckung gaben. Verwundete Feinde wurden samt und sonders getötet, sie wurden skalpiert und ihrer Ausrüstung beraubt. Seile kamen zum Einsatz. Minuten später ritten die Wickaner zurück zu ihren Verteidigungsstellungen und zogen dabei die Kadaver der getöteten Pferde hinter sich her, genauso wie die Hand voll verwundeter Reittiere, die sie hatten einfangen können.
»Die Wickaner versorgen sich selbst«, sagte List. »Sie verwenden auch die Häute. Und die Knochen, die Schweife und Mähnen, die Zähne, die ...«
»Ich hab's verstanden«, schnitt Duiker ihm das Wort ab.
Die Infanterie des Feindes setzte ihren langsamen Vormarsch fort. Die berittenen Hissari und Tithansi hatten sich wieder neu formiert und näherten sich erneut, diesmal jedoch langsamer und vorsichtiger.
»Auf der Insel gibt es eine alte Mauer«, sagte List. »Wir könnten hinaufklettern; von dort hätten wir einen besseren Überblick nach allen Seiten hin. Das heißt, wenn es Euch nichts ausmacht, über die Rücken des Viehs zu laufen, um dort hinzukommen. Es ist nicht so schwierig, wie es sich anhört – Ihr müsst einfach immer in Bewegung bleiben.«
Duiker zog eine Augenbraue hoch.
»Wirklich, Herr.«
»In Ordnung, Korporal. Dann zeig mir den Weg.«
Sie nahmen die von Seilen abgetrennte Straße westwärts in Richtung der Furt. Der alte Kanal des Altwassers wurde von hölzernen Planken überbrückt, die von neuen Stützpfosten verstärkt wurden, welche die Sappeure der Siebten gesetzt hatten. Dieser Weg wurde freigehalten, damit die berittenen Boten hin und her reiten konnten, doch wie überall sonst regierte auch hier das Chaos. Duiker blieb dicht hinter List, der sich gestikulierend und hin und her tänzelnd einen Weg zur Brücke suchte. Dahinter erhoben sich der Buckel der Insel und Tausende Stück Vieh.
»Woher kommt diese Herde?«, frage der Historiker, als sie den hölzernen Übergang erreichten.
»Sie ist zum größten Teil gekauft«, erwiderte List. »Coltaine und seine Clans haben außerhalb von Hissar Land in Beschlag genommen, und dann haben sie angefangen, Vieh zu kaufen, und Pferde, Ochsen, Maultiere, Ziegen – so ziemlich alles, was vier Beine hat.«
»Wann ist das alles geschehen?«
»Praktisch am gleichen Tag, als sie angekommen sind«, entgegnete der Korporal. »Als der Aufstand angefangen hat, waren die meisten Mitglieder des Tollhund-Clans bei den Herden. Die Tithansi haben versucht, das Vieh zu stehlen, und sich dabei blutige Nasen geholt.«
Als sie sich dem dahinziehenden Ende der Herde näherten, wurde der Lärm allmählich ohrenbetäubend: das Geschrei der Treiber, das Gebell der Hirtenhunde – kräftige, halb wilde Tiere von den wickanischen Ebenen –, das Muhen des Viehs und das unaufhörliche Donnern ihrer Hufe. Die Staubwolke, die den Fluss einhüllte, war undurchdringlich.
Duiker starrte die wimmelnde Menge vor ihnen an. »Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob deine Idee wirklich so gut ist, Korporal – diese Tiere wirken ziemlich nervös. Wir werden wahrscheinlich binnen weniger Sekunden zertrampelt.«
Hinter ihnen erklang ein Ruf. Ein junges wickanisches Mädchen kam auf sie zugeritten.
»Das ist Neder«, sagte List.
Etwas in seinem Tonfall brachte Duiker dazu, sich umzudrehen. Das Gesicht des jungen Burschen war bleich.
Das Mädchen, das nicht älter als neun oder zehn sein konnte, hielt ihr Pferd bei ihnen an. Ihre Haut war dunkel, ihre Augen wirkten wie eine schwarze Flüssigkeit, ihr Haar war struppig und kurz geschnitten.
Der Historiker erinnerte sich daran, sie in der Nacht zuvor unter Sormos Schützlingen gesehen zu haben. »Ihr wollt zur Mauer, um einen guten Aussichtspunkt zu haben«, sagte sie. »Ich werde euch einen Weg bahnen.«
List nickte.
»Am anderen Ufer ist Magie am Werk«, fuhr sie, die Augen auf Duiker gerichtet, fort. »Das Gewirr eines einsamen Gottes. Kein Vielwandler oder Wechselgänger. Der Gott eines Stammes.«
»Die Semk«, sagte der Historiker. »Die Roten Klingen werden die Nachricht weitergeben.« Er verstummte, als ihm die Tragweite von Neders Worten bewusst wurde, die Bedeutung ihrer Anwesenheit bei der Besprechung letzte Nacht. Sie ist eine der wieder geborenen Waerlogas. Sormo führt einen Clan von Kindern an, die über die Fähigkeiten uralter Magier verfügen.
»Ich werde mich ihnen entgegenstellen. Der Geist dieses Landes ist älter als jeder Gott.« Sie lenkte ihr Pferd um die beiden Männer herum, stieß dann einen durchdringenden Schrei aus. Eine Gasse bildete sich; Tiere drängten sich ängstlich muhend nach beiden Seiten.
Neder ritt durch den Durchgang. Nach einem Augenblick folgten ihr List und Duiker. Sie mussten rennen, um zu ihr aufzuschließen. Sobald sie den Pfad betreten hatten, konnten sie spüren, wie die Erde unter ihren Füßen zitterte. Doch es war nicht der dumpfe Nachhall zahlloser Hufe, sondern etwas Intensiveres, Stärkeres. Als würden wir die Wirbelsäule einer gigantischen Schlange entlangwandern ... das Land ist erwacht, das Land ist begierig darauf seine Macht zu zeigen.
Fünfzig Schritt voraus erschien die Krone einer verwitterten, mit Weinreben bewachsenen Mauer. Sie war gedrungen und breit, ganz offensichtlich das Überbleibsel einer alten Befestigungsanlage; doch da sie etwas mehr als mannshoch war, ragte sie aus der Viehherde heraus. Der Pfad, den Neder geschaffen hatte, streifte eine Ecke der Mauer und führte dann weiter zum Fluss hinunter.
Das Mädchen ritt weiter, ohne sich noch einmal umzudrehen. Wenige Augenblicke später erreichten List und Duiker das steinerne Bauwerk und kletterten auf die zerklüftete, breite Krone.
»Seht nach Süden«, sagte List und deutete in die entsprechende Richtung.
Ein goldener Staubschleier stieg von den Hügeln hinter der wogenden Masse der Flüchtlinge auf.
»Coltaine und seine Krähen sind in einen Kampf verwickelt«, sagte List.
Duiker nickte. »Jenseits dieser Hügel liegt ein Dorf, stimmt's ?«
»Ja, Herr. Es heißt L'enbarl. Sieht so aus, als würde die Auseinandersetzung auf der Straße stattfinden, die vom Dorf zur Furt führt. Wir haben bis jetzt noch keine Kavallerie aus Sialk gesehen – daher ist es ziemlich wahrscheinlich, dass Reloe ihnen befohlen hat, einen großen Bogen zu schlagen und uns von der Flanke her anzugreifen. Wie Coltaine immer sagt, der Mann ist berechenbar.«
Duiker blickte nach Norden. Die andere Seite der Insel bestand aus Marschgräsern, die den alten Altwasser-Kanal überwucherten. Am weiter entfernt liegenden Ufer erhob sich eine eng beieinander stehende Gruppe von abgestorbenen Bleiholz-Bäumen, von denen ein breiter Hang zu einem steilen Hügel führte. Die Regelmäßigkeit dieses Hügels legte die Vermutung nahe, dass es sich bei ihm um einen künstlich aufgeschütteten Tel handelte. Auf seinem flachen Plateau lagerte eine Armee, deren Waffen und Rüstungen in der Morgensonne glänzten. Schwere Infanterie. Dunkle Flaggen wehten hinter zwei Reihen Tithansi-Bogenschützen zwischen großen Zelten. Die Bogenschützen hatten begonnen, den Hang herunterzumarschieren.
»Das sind Kamist Reloe und seine handverlesenen Elitetrupps«, sagte List. »Er hat sie bisher noch nie eingesetzt.«
Im Osten waren die Krieger des Wiesel-Clans und ihre Tithansi – und Hissari-Gegner immer noch mit Scheinangriffen und Täuschungsmanövern beschäftigt, während die Infanterie aus Hissar und Sialk beständig näher an die wickanischen Verteidigungslinien heranrückte. Hinter diesen Legionen wogte die Armee der Bauern ruhelos hin und her.
»Wenn diese Horde sich zum Angriff entschließen sollte«, sagte Duiker, »werden unsere Linien nicht halten.«
»Sie werden angreifen«, erklärte List mit grimmiger Miene. »Wenn wir Glück haben, warten sie zu lange, und wir haben die Möglichkeit, uns zurückzuziehen.«
»Das ist genau die Art von Risiko, die der Vermummte liebt«, murmelte der Historiker.
»Der Boden unter ihren Füßen raunt ihnen Furcht erregende Dinge zu. Sie werden sich noch ein bisschen Zeit lassen.«
»Sieht es tatsächlich so aus, als ob wir das Geschehen an allen Seiten kontrollieren – oder ist das nur eine Illusion?«
List verzog das Gesicht. »Manchmal ist da kaum ein Unterschied. Das heißt, im Hinblick auf die Auswirkungen. Coltaine sagt, der einzige Unterschied besteht darin, dass die Wirklichkeit den Schaden absorbiert, wenn denn tatsächlich welcher entsteht, während die Illusion zusammenbricht.«
Duiker schüttelte den Kopf. »Wer hätte gedacht, dass ein wickanischer Kriegshäuptling in solch ... alchemistischen Begriffen über den Krieg denkt? Und du, Korporal, hat er dich zu seinem Schützling erkoren?«
Der junge Mann machte ein mürrisches Gesicht. »Ich bin in den Kriegsspielen wieder und wieder gestorben. Dadurch habe ich viel Zeit in seiner Nähe verbracht und so manches gehört...«
Das Vieh bewegte sich jetzt etwas schneller, tauchte in die noch immer unbeweglich über der Furt schwebenden Staubwolken ein. Für Duiker ging das alles jetzt ein bisschen zu schnell. »Viereinhalb Fuß Wassertiefe, über vierhundert Schritt weit... die Tiere müssten die Furt im Schneckentempo durchqueren. Außerdem, wie sorgt man dafür, dass sie den seichten Streifen nicht verlassen? Die Hunde werden schwimmen müssen, die Treiber werden in die tieferen Bereiche abgedrängt werden – und wer kann bei dem verdammten Staub da unten überhaupt noch irgendwas erkennen?«
List sagte nichts.
Donner grollte auf der anderen Seite der Furt, gefolgt von schnellen, knatternden Geräuschen. Rauchsäulen stiegen in die Höhe, und die Luft schien plötzlich merkwürdig zu prickeln. Zauberei. Die Zauberpriester der Semk. Und auf unserer Seite stellt sich ihnen nur ein Kind entgegen – ganz allein. »Das alles dauert viel zu lange«, schnappte Duiker. »Warum im Namen des Vermummten hat es die ganze Nacht gedauert, nur die Wagen rüberzubringen? Es wird dunkel sein, bevor die Flüchtlinge auch nur mit der Überquerung anfangen können.«
»Sie kommen näher«, sagte List. Sein Gesicht war mit Staub und Schweiß verschmiert.
Im Osten waren die Infanterie-Einheiten aus Hissar und Sialk bei den äußeren Verteidigungsstellungen angekommen. Pfeile schwirrten durch die Luft. Die Reiter des Wiesel-Clans kämpften an zwei Fronten; direkt vor ihnen waren die Tithansi-Lanzenreiter, während Piken schwingende Infanteristen gegen ihre rechte Flanke drängten. Sie versuchten, sich vom Gegner zu lösen und ein Stück zurückzuweichen. Die aus Erde aufgeschütteten Verteidigungswälle wurden von Hauptmann Lulls Seesoldaten gehalten, bei denen sich zudem wickanische Bogenschützen und ein paar Hilfstrupps befanden. Die ersten Barrikaden hatten sie der kampferprobten Infanterie überlassen. Auf den Hängen weiter hinten hatte es in der Bauern-Horde angefangen zu brodeln.
Im Norden stürmten die beiden Legionen Tithansi-Bogenschützen vor, um sich in die Deckung der Bleiholzbäume zu begeben. Von dort aus würden sie anfangen, auf das Vieh zu schießen. Und es gab niemanden, der sie daran hindern konnte.
»Und so bricht alles zusammen«, sagte Duiker.
»Ihr seid genauso schlimm wie Reloe, Herr.«
»Was meinst du damit?«
»Zu schnell damit bei der Hand, uns auszuzählen. Dies ist nicht unser erstes Gefecht.«
Schwache Schreie drangen von den Bleiholzbäumen herüber. Duiker versuchte, durch die Staubschwaden hindurch etwas zu erkennen. Die Tithansi-Bogenschützen schrien, schlugen um sich und verschwanden schließlich in den hohen Marschgräsern jenseits der Bäume. »Im Namen des Vermummten, was ist den Männern zugestoßen?«
»Sie sind einem Geist begegnet, Herr, einem alten, durstigen Geist. Sormo hat ihm einen Tag mit viel warmem Blut versprochen. Einen letzten Tag. Bevor er stirbt oder aufhört zu sein, oder was auch immer Geister tun, wenn sie gehen.«
Ihre panikerfüllte, wilde Flucht hatte die Bogenschützen mittlerweile zurück zum Hang unterhalb des Tels geführt.
»Da verschwinden die Letzten«, sagte List.
Einen Moment lang dachte Duiker, Lists Äußerung hätte den Tithansi-Bogenschützen gegolten, doch dann stellte er erschrocken fest, dass das Vieh verschwunden war. Er wirbelte herum, um einen Blick auf die Furt zu werfen, und fluchte angesichts der immer noch über dem Wasser hängenden Staubwolken. »Das ist viel zu schnell gegangen«, murmelte er.
Die Flüchtlinge hatten sich in Bewegung gesetzt, Menschenströme ergossen sich über den alten Altwasser-Kanal und auf die Insel. Das Ganze hatte noch nicht einmal den Anschein, als würde es geordnet ablaufen; es gab keine Möglichkeit, beinahe dreißigtausend erschöpfte, entsetzte Menschen wirklich unter Kontrolle zu halten. Und sie waren kurz davor, über die Mauer hinwegzuwogen, auf der Duiker und der Korporal standen.
»Wir sollten von hier verschwinden«, sagte List.
Der Historiker nickte. »Wohin?«
»Äh ... nach Osten?«
Dorthin, wo der Wiesel-Clan jetzt den Seesoldaten und anderen Fußsoldaten Deckung gab, während sie einen Erdwall nach dem anderen preisgaben; die Soldaten wichen so schnell zurück, dass sie schon in wenigen Minuten die Holzplankenbrücke erreicht haben würden. Und was dann? Mitten hinein in diesen Mob aus schreienden Flüchtlingen? Beim Vermummten, was jetzt?
List schien seine Gedanken zu erraten. »Sie werden an der Brücke Stellung beziehen und sie halten«, versicherte er seinem Gegenüber. »Sie müssen. Und nun kommt!«
Ihre Flucht führte sie kurz vor der vordersten Reihe der Flüchtlinge vorbei. Unter ihren Füßen erzitterte das erwachende Land, Dampfsäulen stiegen auf, die einen Geruch wie nach schmutzigem Schweiß verströmten. Hier und da wölbte sich am östlichen Rand der Insel die Erde nach oben und barst auf. Duikers ungestümer Spurt kam zu einem jähen Ende. Gestalten kletterten aus der aufgebrochenen Erde, Skelette in geheimnisvollen, löchrigen, verkrusteten Bronze-Rüstungen, zerbeulte Helme mit Geweihsprossen auf den Köpfen und mit langem, rotfleckigem Haar, das in stumpfen Strähnen über ihre Schultern hing. Das Geräusch, das sie von sich gaben, ließ Duikers Seele frösteln. Lachen. Freudiges Lachen. Windest du dich gerade jetzt in beleidigter Wut, Vermummter?
»Da ist Nil«, keuchte List. »Neders Zwillingsbruder – der Junge da drüben. Sormo hat gesagt, dass dieser Ort schon einmal als Schlachtfeld gedient hat – dass diese Insel in der Flussschleife nicht natürlichen Ursprungs ist... oh, Königin der Träume, schon wieder so ein wickanischer Albtraum!«
Die uralten Krieger, die auf eine Weise frohlockten, die einem das Blut in den Adern stocken ließ, brachen nun überall an der Ostseite der Insel aus der Erde. Rechts von Duiker und hinter ihm schrien Flüchtlinge entsetzt auf; ihre unbesonnene Flucht kam zum Stillstand, als die schrecklichen Kreaturen sich zwischen ihnen erhoben.
Der Wiesel-Clan und die Fußsoldaten hatten sich auf dieser Seite der Brücke und des Kanals zu einer kompakten Linie zusammengezogen. Die Linie zuckte hin und her, als sich die auferstandenen Krieger durch ihre Reihen schoben; sie hoben einschneidige Schwerter – mineralische Ablagerungen hatten die Waffen beinahe formlos werden lassen – und marschierten auf die wogende Menge der Infanterie aus Hissar und Sialk zu. Aus dem Lachen war mittlerweile Gesang geworden, ein kehliges Schlachtlied.
Duiker und List befanden sich auf einer freien Fläche, die mit dampfenden, aufgebrochenen Erdhügeln übersät war; hinter ihnen waren die Flüchtlinge, die sich zurückzogen und sich zur Furt drängten, während die Nachhut vor ihnen endlich in der Lage war durchzuatmen, als die untoten Krieger auf ihre Feinde losgingen.
Nil, Neders Zwillingsbrüder, ritt einen großen Rotschimmel; er hetzte entlang der Linie hin und her, in einer Hand irgendeinen federverzierten knorrigen Knüppel, den er über dem Kopf schwenkte. Die untoten Krieger, die nah an ihm vorbeizogen, brüllten laut und schüttelten ihre Waffen zum Gruß – oder aus Dankbarkeit. Sie lachten, und der Junge stimmte in ihr Lachen ein.
Reloes aus Veteranen bestehende Infanterie brach unter dem heftigen Ansturm zusammen und wich zurück, wodurch sie mit der Horde zusammenstieß, die jetzt ihren Vormarsch verlangsamte.
»Wie kann das sein?«, fragte Duiker. »Beim Gewirr des Vermummten – das ist Nekromantie, und ...«
»Vielleicht sind sie nicht wirklich untot«, schlug List vor. »Vielleicht werden sie einfach nur vom Geist der Insel benutzt.«
Der Historiker schüttelte den Kopf. »Nein, zumindest nicht ausschließlich. Hör dir das Lachen an – und dieses Lied –, hörst du die Sprache? Die Seelen dieser Krieger sind erweckt worden. Diese Seelen müssen einst hier zurückgeblieben sein. Der Geist muss sie festgehalten haben, und er hat sie niemals freigelassen, dass sie zum Vermummten hätten gehen können. Wir werden für das hier bezahlen, Korporal. Jeder Einzelne von uns.«
Weitere Gestalten erhoben sich auf allen Seiten aus der Erde: Frauen, Kinder, Hunde. Viele Hunde trugen noch immer lederne Geschirre, zogen noch immer die Reste primitiver Schlitten hinter sich her. Die Frauen hielten die Kinder an die Brust gepresst, umklammerten die knöchernen Griffe breitklingiger Bronzemesser, die sie in die Kinder gestoßen hatten. Was hier wieder ans Licht kam, war das erstarrte Bild einer alten, unwiderruflichen Tragödie, als ein ganzer Stamm von den Händen unbekannter Feinde niedergemetzelt worden war – vor wie vielen Tausend Jahren ist das passiert, wie lange sind diese gefangenen Seelen in diesem entsetzlichen, herzzerreißenden Augenblick festgehalten worden? Und was jetzt? Sind sie dazu verdammt, diese ewige Qual noch einmal aufs Neue zu durchleben? »Der Vermummte möge ihnen Gnade schenken«, flüsterte Duiker tonlos. »Bitte, nimm sie zu dir. Nimm sie jetzt zu dir!«
Die Frauen waren in dem tödlichen Muster gefangen. Er sah, wie sie mit den Dolchen zustießen, sah die Kinder zucken und sich winden, hörte ihr kurzes Weinen. Er sah, wie danach die Frauen fielen, die Schädel von unsichtbaren Waffen zertrümmert – von Erinnerungen, die nur sie sehen ... und fühlen konnten. Die unbarmherzigen Hinrichtungen gingen weiter und immer weiter.
Nil hatte aufgehört, wie wild auf und ab zu reiten; er lenkte seinen Rotschimmel jetzt im Schritt auf die entsetzliche Szene zu. Unter seiner gebräunten Haut war der Junge krankhaft blass. Eine Stimme in Duikers Hinterkopf flüsterte ihm zu, dass der junge Waerloga mehr sehen konnte als alle anderen – oder genauer, als alle anderen, die noch am Leben waren. Der Kopf des Jungen wandte sich einmal in diese, dann in jene Richtung. Er verfolgte geisterhafte Mörder mit den Blicken und zuckte unter jedem tödlichen Hieb zusammen.
Der Historiker stolperte zu dem Jungen hinüber. Seine Beine fühlten sich so unbeholfen an wie hölzerne Krücken. Er griff nach oben und nahm dem Waerloga die Zügel aus den reglosen Händen. »Nil«, sagte er leise, »was siehst du?«
Der Junge blinzelte; dann senkte er langsam den Kopf und schaute Duiker in die Augen. »Was ist?«
»Du kannst es sehen. Wer tötet sie?«
»Wer?« Der Junge strich sich mit einer zitternden Hand über die Stirn. »Mitglieder ihres eigenen Volkes. Der Clan hatte sich gespalten, es gab zwei Rivalen um den Geweih-Thron. Es waren Verwandte, Historiker. Vettern, Brüder, Onkel...«
Duiker hatte das Gefühl, dass bei Nils Worten etwas in seinem Innern zerbrach. Aus einem verzweifelten Bedürfnis heraus hatte er gehofft, nein, hatte er sich gewünscht, dass die Mörder andere wären ... Jaghut, Forkrul Assail, K'Chain Che'Malle ... irgendwelche anderen. »Nein«, sagte er tonlos.
Nils Augen waren jung und doch alt, und ihr Blick ließ den Historiker nicht los, als der Waerloga nickte. »Verwandte. So etwas ist auch anderswo geschehen. Auch bei den Wickanern. Vor einer Generation. Es hat sich alles wiederholt.«
»Aber jetzt geschieht es nicht mehr.« Oh, bitte!
»Nein, jetzt nicht mehr.« Nil brachte ein gequältes Lächeln zu Stande. »Der Imperator hat uns geeint. Als unser gemeinsamer Feind. Indem er über unsere kleinen Kriege, unsere sinnlosen Fehden gelacht hat. Gelacht, und, mehr noch, indem er uns verhöhnt hat. Er hat uns seine Verachtung spüren lassen, und das hat uns beschämt, Historiker. Als er Coltaine entgegengetreten ist, hatte unser Bündnis bereits begonnen, auseinander zu brechen. Kellanved hat sich über uns lustig gemacht. Er hat gesagt, er bräuchte sich nur zurückzulehnen und zu warten, um das Ende unserer Rebellion zu erleben. Mit diesen Worten hat er unsere Seelen gebrandmarkt. Mit diesen Worten und seinem Angebot von Einigkeit hat er uns Weisheit geschenkt. Auf Grund dieser Worte haben wir in ehrlicher Dankbarkeit vor ihm gekniet, haben akzeptiert, was er uns angeboten hat, und ihm unsere Loyalität geschenkt. Ihr habt Euch einst gefragt, wie der Imperator unsere Herzen gewonnen hat. Jetzt wisst Ihr es.«
Die Entschlossenheit der Angreifer kehrte wieder zurück, als die verrosteten Waffen der alten Krieger an modernem Eisen zerbrachen. Auch die zu Skeletten gewordenen ausgetrockneten Körper erwiesen sich als ungeeignet für die Aufgabe, noch einmal zu kämpfen. Einzelne Teile fielen von ihnen ab, Gestalten stolperten, stürzten zu Boden und blieben liegen. Sie waren zu sehr zerbrochen, um sich noch einmal zu erheben.
»Müssen sie ihre Niederlage wirklich noch ein zweites Mal durchleben?«, fragte Duiker.
Nil zuckte die Schultern. »Sie haben uns etwas Zeit zum Atemholen verschafft, damit wir unsere Kräfte sammeln können. Und bedenkt, Historiker: Wenn diese Krieger beim ersten Mal gewonnen hätten, hätten sie ihren Opfern das Gleiche angetan, was ihren eigenen Familien angetan wurde.« Der Waerloga, der eigentlich noch ein Kind war, schüttelte den Kopf. »Es gibt nur wenig Gutes in den Menschen. Nur wenig Gutes.«
Es schmerzte, diese Worte aus dem Mund eines so jungen Menschen zu hören. Erinnere dich daran, dass aus diesem Jungen die Stimme eines alten Mannes spricht. »Aber man kann es dennoch finden«, konterte Duiker. »Und es ist umso kostbarer, da es so selten ist.«
Nil griff wieder nach seinen Zügeln. »Hier werdet Ihr nichts davon finden, Historiker«, sagte er, und seine Stimme klang so hart wie seine Worte. »Wir sind für unseren Wahnsinn bekannt, das zeigt uns der Geist dieser Insel. Die Erinnerungen, die wirklich übrig bleiben, sind allesamt entsetzlich, und unsere Taten sind so finster, als wollten wir das Land selbst versengen. Haltet die Augen offen«, fügte er hinzu, während er sein Pferd herumzog, um einen Blick auf die Schlacht zu werfen, die an der hölzernen Brücke wieder aufgeflammt war. »Es ist noch nicht zu Ende.«
Duiker sagte nichts; er blickte dem kindlichen Waerloga nach, der auf die Reihen der Soldaten zuritt.
So unmöglich es dem Historiker auch schien, plötzlich wurde der Pfad vor den Flüchtlingen frei, und sie begannen den Fluss zu überqueren. Duiker schaute zum Himmel hinauf. Die Sonne strebte dem Zenit entgegen. Irgendwie hatte er das Gefühl gehabt, es wäre schon viel später. Er warf einen Blick zu der von Staubwolken verhüllten Furt hinüber. Die Überquerung würde schrecklich werden; zu beiden Seiten des schmalen Übergangs drohte tiefes Wasser, und er stellte sich die Schreie der Kinder vor, der alten Männer und Frauen, die zu schwach waren, um es zu schaffen – die von der Strömung mitgerissen wurden und unter der Wasseroberfläche verschwanden. Doch so, wie der Staub den Blick versperrte, verschluckte das wirbelnde Wasser jedes andere Geräusch.
Am Rand der wogenden, ängstlichen Menge patrouillierten Krieger des Krähen-Clans, als hüteten sie eine Herde geistloser Tiere. Mit langen stumpfen Stangen sorgten sie dafür, dass die Menschenmenge sich nicht zu sehr auseinander zog oder zu den Seiten hin ausfranste; sie schlugen auf Schienbeine und Knie ein, stießen in Gesichter. Die Flüchtlinge zuckten zurück, wo immer die Reiter auftauchten.
»Historiker«, sagte List neben ihm. »Wir sollten uns Pferde besorgen.«
Duiker schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Das Zentrum der Schlacht ist jetzt hier, bei der Verteidigungsstellung der Nachhut. Ich kann noch nicht gehen. Ich muss zusehen ...«
»Das verstehe ich, Herr. Aber wenn sie sich zurückziehen, werden die Wickaner sie einsammeln; jeder Reiter wird einen Soldaten mitnehmen. Coltaine und der Rest seines Clans sollten bald zu ihnen stoßen. Sie werden diese Seite der Furt halten, um der Nachhut die Möglichkeit zu geben, den Fluss zu überqueren. Wenn wir nicht wollen, dass unsere Köpfe auf Speeren enden, Herr, dann sollten wir uns lieber Pferde besorgen.«
Nach einem Augenblick nickte Duiker. »Dann kümmere dich darum.«
»Ja, Herr.« Der junge Soldat eilte davon.
Die Verteidigungslinie entlang des alten Kanals wand sich wie eine Schlange. Die reguläre Infanterie des Feindes, die inzwischen die letzten Skelett-Krieger vernichtet hatte, übte mächtig Druck aus. Doch die Hilfstrupps nahmen sich ein Beispiel an der Ruhe und der unglaublichen Kampfkraft der Seesoldaten an ihrer Seite und schafften es immer wieder, die erfahrenen, besser ausgerüsteten Angreifer zurückzudrängen. Die Reiter des Wiesel-Clans hatten sich in kleine, gemischte Einheiten aus Bogenschützen und Lanzenreitern aufgeteilt. Wo immer die Verteidigungslinie nachzugeben drohte, waren sie blitzschnell zur Stelle, um die Bedrängten zu unterstützen.
Nil, der Waerloga, befehligte sie, und seine mit lauter Stimme erteilten Befehle waren selbst mitten im Schlachtgetümmel klar und deutlich zu verstehen. Er schien in der Lage zu sein, Schwachstellen zu spüren, noch ehe sie sichtbar wurden und sich auswirken konnten. Dieses magisch gesteigerte Gespür für den richtigen Zeitpunkt war der Hauptgrund dafür, dass die Verteidigungslinie noch immer standhielt.
Nördlich des eigentlichen Schlachtfelds hatte Kamist Reloe schließlich seine Elitetrupps in Bewegung gesetzt. Hinter einer Vorausabteilung aus Bogenschützen marschierte die schwere Infanterie in Reihen heran, geschützt von den sie umschwirrenden Tithansi. Sie hatten anscheinend nicht vor, den Geist herauszufordern, der die Bleibäume und die Marschgräser beherrschte, sondern schlugen einen leichten Bogen in östlicher Richtung, um das tödliche Gelände zu umgehen.
Hinter der Infanterie aus Hissar und Sialk drängte sich die Armee der Bauern, und der Druck von Zehntausenden baute sich allmählich zu einer unaufhaltsamen Flutwelle auf.
Duiker schaute ängstlich nach Süden. Wo blieb Coltaine? Staub – inzwischen auch mit Rauch vermischt – stieg von den Hügeln auf. Das Dorf L'enbarl brannte, und noch immer tobte die Schlacht. Wenn es Coltaine und dem Großteil seiner Krähen-Krieger nicht bald gelang, sich abzusetzen, würden sie auf dieser Seite des Flusses in der Falle sitzen. Der Historiker stellte fest, dass nicht nur er sich Sorgen machte. Nils Kopf wandte sich wieder und wieder in die gleiche Richtung. Es dauerte einige Zeit, bis Duiker klar wurde, dass der junge Magier mit den anderen Waerlogas in Verbindung stand – mit denen, die mit Coltaine unterwegs waren. Kontrolle... und die Illusion von Kontrolle.
List kam herangeritten; er führte Duikers Stute am Zügel. Der Korporal stieg nicht ab, als er Duiker die Zügel reichte. Der Historiker schwang sich in den vertrauten, abgenutzten Sattel und dankte im Stillen den alten Wickanern, die sich so liebevoll um sein Pferd gekümmert hatten. Das Tier war frisch und sprühte vor Leben. Wenn sie jetzt noch das Gleiche mit mir tun könnten...
Die Nachhut begann wieder ein Stück Gelände preiszugeben, gab den alten Kanal auf, als die Feinde unbarmherzig vordrängten. Kamist Reloes schwere Infanterie würde in höchstens fünf Minuten die nördliche Flanke angreifen.
»Das sieht nicht gut aus«, sagte Duiker.
Korporal List zog den Riemen seines Helms fest; er sagte kein Wort, doch der Historiker sah, dass die Hand des jungen Burschen zitterte.
Reiter des Wiesel-Clans lösten sich jetzt aus der Verteidigungslinie, beladen mit verwundeten Soldaten. Sie ritten an Duikers Standort vorbei – blutverschmierte, staubbedeckte Gespenster, denen ihre tätowierten Gesichter und Körper etwas Dämonisches verliehen. Der Blick des Historikers folgte ihnen, während sie auf die durcheinander wimmelnden Flüchtlinge zuhielten. Seit er das letzte Mal hingesehen hatte, hatte sich die Menge der Zivilisten auf dieser Seite des Flusses merklich verringert. Das geht viel zu schnell. Sie müssen an der Furt in Panik geraten sein und sind vermutlich zu Tausenden im tiefen Wasser ertrunken. Das Ganze ist eine einzige Katastrophe.
»Wir sollten uns jetzt zurückziehen, Herr«, sagte List.
Die Nachhut würde jeden Augenblick zusammenbrechen, der Strom der Verwundeten wuchs, die Pferde, die vorbeidonnerten, trugen jeweils zwei, manchmal sogar drei Kämpfer. Die Linie zog sich zusammen, die Flanken wichen in Richtung des Zentrums zurück. In wenigen Minuten würden die letzten Verteidiger umzingelt sein. Und dann werden sie abgeschlachtet. Duiker konnte Hauptmann Lull erkennen, der Befehle brüllte, um ein Karree zu formieren. Es waren nur noch erschreckend wenige Soldaten auf den Beinen.
Und dann trat eines dieser wundersamen Ereignisse ein, die in Schlachten – warum auch immer – gelegentlich vorzukommen pflegten: Praktisch an der Schwelle zum endgültigen Sieg stoppte die Infanterie aus Sialk und Hissar ihren Vormarsch und verharrte, wo sie war. An der Flanke tauchte jetzt Kamist Reloes schwere Infanterie auf, zwei rechteckige Blöcke, jeweils fünfzig Soldaten breit und zwanzig tief. Zwischen den beiden Blöcken und an ihren Seiten befanden sich kleine Gruppen von Bogenschützen. Einen Augenblick lang schien alles wie erstarrt, und Stille senkte sich herab, bildete gleichsam eine Art Barriere auf der freien Fläche zwischen den beiden Streitmächten.
Der Wiesel-Clan war noch immer damit beschäftigt, Fußsoldaten aufzulesen. Lulls Karree wurde von der Rückseite her aufgelöst, wurde zu einem dreiseitigen, im Innern hohlen Ring.
»Die letzten Flüchtlinge sind im Wasser«, sagte List; sein Atem ging schneller als zuvor, seine Hände zuckten, als sie die Zügel fester fassten. »Wir müssen reiten ...«
»Wo im Namen des Vermummten bleibt Coltaine?«, wollte Duiker wissen.
Ein Dutzend Schritte entfernt zügelte Nil sein Pferd in einer wirbelnden Staubwolke. »Wir warten nicht länger! So lautet der Befehl der Faust! Reitet, Historiker!«
Reiter sammelten die letzten Mitglieder von Lulls Truppen im gleichen Augenblick ein, als die Reihen der Feinde mit einem Gebrüll, das die Luft erzittern ließ, vorwärts stürmten. Gassen öffneten sich in den Infanterie-Abteilungen, die nun schließlich der Raserei der Bauern-Horde freien Lauf ließen.
»Herr!« Lists Schrei war eine verzweifelte Bitte.
Fluchend riss Duiker sein Reittier herum und gab der Stute die Fersen. Sie rasten hinter den wickanischen Reitern her.
Förmlich entfesselt strömte die Horde in wilder Verfolgung heran, begierig darauf, diese Seite der Furt zu besetzen. Die Infanterie aus Sialk und Hissar sowie Kamist Reloes schwere Infanterie schlossen sich den vorwärts stürmenden Bauern nicht an, sondern behielten ihre disziplinierte Aufstellung bei.
Wickanische Reiter tauchten in vollem Galopp in die vor ihnen wogenden Staubwolken. Bei dieser Geschwindigkeit würden sie mit den letzten Reihen der Flüchtlinge zusammenstoßen, die sich noch immer mitten in der Furt befinden mussten. Dann würde die Bauern-Armee zuschlagen, und der Fluss würde sich rot färben. Duiker zügelte sein Pferd, schrie List hinterher. Der Korporal schaute zurück; sein Gesichtsausdruck verriet sein Entsetzen. Er riss an den Zügeln, und sein Pferd rutschte und schlitterte über den schlammigen Hang.
»Historiker!«
»Wir reiten nach Süden, am Ufer entlang!«, schrie Duiker gellend. »Wir schwimmen mit den Pferden rüber! Da vorne erwartet uns nichts als Chaos und Tod!«
List schien gänzlich anderer Meinung und schüttelte heftig den Kopf.
Ohne eine Antwort abzuwarten, lenkte der Historiker sein Pferd nach links. Wenn sie schnell genug ritten, würden sie genügend Abstand von der Insel gewinnen, bevor die Horde das Ufer der Furt erreichte. Er trieb seinem Pferd die Hacken in die Flanken. Das Tier preschte vorwärts.
»Historiker!«
»Reite oder stirb, verdammt noch mal!«
Hundert Schritt weiter am Ufer befand sich die etwas tiefer gelegene Mündung des alten Flussarms, ein dichtes grünes Gebüsch aus Rohrkolben, das wunderbarerweise von den Ereignissen des Tages unberührt geblieben war. Dahinter erhoben sich die Hügel, die L'enbarl schützten. Wenn Coltaine sich aus dem Kampf lösen kann, wird er das einzig Sinnvolle tun – geradewegs rein in den Fluss. Selbst wenn die Strömung sie zur Furt hinuntertreibt, werden sie dort eine bessere Ausgangsposition haben. Es ist immer noch besser, auf diese Weise ein paar Hundert Ertrunkene in Kauf zu nehmen, als bei dem Versuch, diese Seite der Furt zurückzuerobern, dreitausend Mann zu verlieren.
Als würden sie sich all seinen Wünschen widersetzen, erschienen wickanische Reiter, kamen den ein Stück vor ihnen liegenden Hang heruntergeprescht. Coltaine ritt an der Spitze, sein schwarzer Feder-Umhang wehte wie ein einzelner ausgebreiteter Flügel hinter ihm her. Lanzen senkten sich, die an den Flanken reitenden Bogenschützen legten Pfeile an die Sehnen, ohne auch nur ein bisschen langsamer zu werden. Der Angriff kam genau auf Duiker zu.
Der Historiker, der noch immer nicht recht glauben konnte, was er da sah, riss sein Pferd in einer so heftigen Kehrtwendung herum, dass es beinah ins Stolpern gekommen wäre. »Beim Vermummten, da kann ich mich diesem zum Untergang verurteilten Angriff auch gleich anschließen!« Er sah, dass List das Gleiche tat; das Gesicht des jungen Burschen war unter dem Helm totenbleich.
Sie würden in die Flanke der Bauern-Armee stoßen wie eine Messerklinge in die Seite eines Wals. Und ungefähr genauso wirkungsvoll. Das ist Selbstmord! Selbst wenn wir es bis zur Furt schaffen sollten, werden wir gewaltige Probleme bekommen. Pferde werden stürzen, Männer werden ertrinken, und die Bauern werden über uns herfallen und alles niedermetzeln. Es wird ein Blutbad geben. Sie ritte immer noch weiter. Kurz bevor sie den Feind erreichten, sah Duiker Krieger des Wiesel-Clans wieder aus der Staubwolke über der Furt auftauchen. Ein Gegenangriff. Noch mehr Wahnsinn!
Reiter des Krähen-Clans schossen links und rechts an dem Historiker vorbei, der Schwung ihres Sturmangriffs hatte seinen Höhepunkt erreicht. Bei Coltaines wildem, freudigem Schrei drehte der Historiker den Kopf.
Pfeile schwirrten vorbei. Die Flanke der Bauern-Armee zog sich zusammen, wich zurück. Der Sturmangriff würde die Wickaner in eine dicht gedrängte Masse aus Menschenleibern tragen. Doch im letzten Moment drehten die Krähen-Krieger in Richtung auf den Fluss ab und ritten an der Flanke entlang. Kein Messerstoß. Ein Säbelhieb.
Bauern starben. Andere versuchten verzweifelt zurückzuweichen, stürzten dabei und wurden von den rasenden Pferden totgetrampelt. Unter der Attacke der Wickaner fielen die Bauern wie reifes Korn unter einem Sensenhieb, und entlang der gesamten Flanke der Bauern-Armee erblühten unzählige blutrote Blumen des Todes.
Die Bauern, die den Ausgangspunkt der Furt gehalten hatten, waren vom Gegenangriff des Wiesel-Clans in alle Richtungen zerstreut worden. Jene, die nach Süden flohen, wurden von den vordersten Reitern des Krähen-Clans niedergetrampelt.
Die Reihe der Bauern schien vor Duikers Augen dahinzuschmelzen. Er ritt jetzt inmitten des Krähen-Clans, Pferdeschultern krachten von beiden Seiten gegen seine Beine. Blut tropfte von hoch erhobenen Waffen, bespritzte sein Gesicht und seine Hände. Ein Stück voraus öffneten die Reiter des Wiesel-Clans eine Gasse, deckten den Sturmlauf ihrer Verwandten, die geradewegs in die Staubwolken hineinpreschten.
Und jetzt geht das Chaos erst richtig los. Bei all der Herrlichkeit von Coltaines Sturmangriff – vor ihnen lag der Fluss. Und der ist voller verwundeter Soldaten, Flüchtlinge und was-weiß-ich-sonst-noch, beim Vermummten!
Der Historiker nahm einen tiefen Atemzug – er hatte das Gefühl, es wäre sein letzter –, bevor er in den von der Sonne angestrahlten Staub tauchte.
Unter den Hufen seiner Stute spritzte das Wasser auf, doch sie wurde kaum langsamer. Vor ihm erstreckte sich der Weg – er war frei, eine wirbelnde, merkwürdig kabbelige Strecke aus schlammigem Wasser. Weit voraus und kaum noch zu sehen waren ein paar andere Reiter, die in vollem Galopp dahinjagten. Während sie weiterritten, konnte Duiker spüren, dass die Hufe seiner Stute auf festen, unnachgiebigen Boden trafen. Das Wasser war keine viereinhalb Fuß tief, sondern gerade mal die Hälfte. Und die Hufe trafen auf Stein, nicht auf Schlamm. Er verstand überhaupt nichts mehr.
Korporal List tauchte an der Seite des Historikers auf, genauso wie ein versprengter Trupp aus Kriegern des Krähen-Clans. Einer der Wickaner grinste. »Coltaines Straße – seine Krieger fliegen wie Geister über den Fluss!«
Plötzlich erinnerte Duiker sich an einige Bemerkungen, die letzte Nacht gefallen waren. Die Beobachtungen dieses alten Adligen, Tumlit. Verstärkte Wagen, die anscheinend mit Verwundeten überfüllt waren. Steinmetze und Pioniere. Die Wagen mussten den Fluss unbedingt zuerst überqueren – und haben dazu den größten Feil der Nacht gebraucht. Kein Wunder, denn sie waren nicht nur voller Verwundeter, sondern vor allem voller Steine. Die verdammten Pioniere haben eine Straße gebaut!
Es erschien ihm immer noch unmöglich, doch der Beweis war da, unter den Hufen seines Pferdes. Zu beiden Seiten der Furt waren Stangen in das Flussbett gerammt und mit Seilen, die aus den Haaren der Tithansi gemacht worden waren, miteinander verbunden worden, um die Ränder zu markieren. Etwas mehr als zehn Fuß breit- was an Breite fehlte, wurde dadurch wettgemacht, dass die gut vierhundert Schritt bis zum anderen Ufer relativ schnell überbrückt werden konnten. Die Wassertiefe betrug nur noch zweieindrittel Fuß und hatte sich für das Vieh und die Flüchtlinge als problemlos erwiesen.
Vor ihm wurde die Staubwolke dünner, und der Historiker bemerkte, dass sie sich der Westseite der Furt näherten. Donner drang an sein Ohr – weiter vorn waren magische Energien im Einsatz. Diese Schlacht ist noch lange nicht vorbei. Wir sind – zumindest für eine gewisse Zeit – einer Armee entkommen und dabei blindlings auf die nächste zugerannt. Sollten wir all das überstanden haben, nur um zwischen zwei Felsen zerrieben zu werden?
Sie erreichten das Flussufer, und einen Augenblick später befanden sie sich bereits gut zwanzig Schritt hangauf, tauchten aus den letzten dahintreibenden Staubschleiern auf.
Duiker schrie erschrocken auf, und er und sein Begleiter rissen wie wild an den Zügeln. Genau vor ihnen war ein Trupp Soldaten -Pioniere, die, so schnell sie konnten, dem Ende der Furt entgegenrannten. Die Sappeure teilten sich jetzt wild fluchend auf, duckten und wanden sich um die stolpernden, schlitternden Pferde herum. Einer von ihnen, ein kräftiger, riesiger Mann mit einem sonnenverbrannten, glatt rasierten Gesicht, nahm seinen zerbeulten Helm ab – was eine Glatze zum Vorschein brachte – und warf die eiserne Kappe nach dem nächsten wickanischen Reiter. Sie verfehlte den Kopf des Kriegers nur um wenige Zoll. »Macht Platz, ihr fliegendreckübersäter Haufen Schweinemägen! Wir haben hier zu tun!«
»Ja!«, knurrte ein anderer, der im Kreis herumhüpfte, nachdem ein Huf auf seinem Fuß gelandet war. »Zieht los und kämpft oder so was! Wir müssen den Stöpsel rausziehen!«
Duiker ignorierte ihre Aufforderungen und wendete sein Pferd, um einen Blick auf die Furt zu werfen. Welche Zauberei auch immer die Staubwolken über dem Wasser gehalten hatte, sie war nun dahin. Die Wolken waren bereits fünfzig Schritt flussabwärts getrieben. Und auf Coltaines Straße tobte eine Meute aus bewaffneten, schreienden Bauern heran.
Der zweite Sappeur, der vorhin gesprochen hatte, kroch nun zu einer schmalen Grube ein Stück oberhalb der schlammigen Stelle, wo die Furt ans Ufer stieß.
»Warte noch ein bisschen, Krake!«, kommandierte der große Mann, dessen Blick unverwandt auf die heranstürmenden Massen gerichtet war – die Vordersten hatten jetzt ungefähr die Mitte der Furt erreicht. Der Mann stemmte die riesigen Hände in die Hüften; er blickte finster drein und schien die gespannte Aufmerksamkeit überhaupt nicht zu bemerken, mit der die Männer seines Trupps, aber auch Duiker, List und ein halbes Dutzend wickanische Reiter ihn beobachteten. »Wir wollen die größtmögliche Wirkung erzielen«, sagte er mit grollender Stimme. »Diese wickanischen Bastarde sind nicht die Einzigen, die wissen, wie wichtig es ist, den richtigen Zeitpunkt zu wählen.«
Die Vorhut der Horde, die mit ihren glänzenden Waffen wie das mit eisernen Fängen versehene Maul einer riesigen Schlange wirkte, hatte jetzt drei Viertel der Strecke zurückgelegt. Der Historiker konnte bereits einzelne Gesichter ausmachen, konnte die Mischung aus Furcht und Mordlust in ihnen erkennen – eine typische Mischung für die Gesichter des Krieges. Ein kurzer Blick über die Schulter nach hinten zeigte ihm aufsteigende Rauchsäulen und magische Blitze, die sich auf die rechte Flanke der Verteidigungsstellung der Siebten konzentrierten. Schwach drangen die kreischenden Kriegsschreie der Semk von jener Flanke her an sein Ohr, ein Geräusch, als würden Klauen straff gespannte Haut zerreißen. An den äußersten Erdwällen war ein wilder Kampf im Gange.
»In Ordnung, Krake«, sagte der große Mann schleppend, »zieh das Haar raus!«
Duiker drehte sich wieder um und sah, dass der Sappeur in der Grube beide Hände hob und ein langes, schwarzes Seil packte, das hinunter ins Wasser führte. Krakes dreckverschmiertes Gesicht verzog sich zu einer wilden Grimasse, seine Augen waren fest zusammengekniffen. Dann zog er. Das Seil wurde schlaff.
Nichts geschah.
Der Historiker warf einen schnellen Blick auf den großen Mann. Der hatte sich jeweils einen Finger ins Ohr gesteckt, doch seine Augen waren geöffnet und fest auf den Fluss gerichtet. List brüllte in voller Lautstärke: » Vorsicht, Herr!«, – und im gleichen Augenblick begriff Duiker.
Die Erde schien einen Zoll unter ihnen wegzusacken. Das Wasser in der Furt stieg in die Höhe, bildete einen Buckel, verschwamm; der Buckel schien schnell wie der Blitz die ganze Länge der unter Wasser liegenden Straße entlangzulaufen. Die Bauern im Fluss verschwanden einfach. Und tauchten einen Herzschlag später – zum gleichen Zeitpunkt, da alle am Ufer sich unter der Erschütterung und der ihr folgenden Druckwelle duckten, die wie die Faust eines Gottes über sie hinwegfegte – als Flecken von Rot und Rosa und Gelb, als Fleischfetzen und Knochensplitter, Gliedmaßen, Haarbüschel und Kleiderfetzen wieder auf, die sich höher und höher hoben, als das Wasser explodierte und sich in eine Fontäne aus schlammigem, schrecklichem Nebel verwandelte.
Duikers Pferd machte ein paar Schritte rückwärts, warf den Kopf zurück. Das Geräusch war ohrenbetäubend gewesen. Die Welt erzitterte ringsumher. Ein wickanischer Reiter war aus dem Sattel gestürzt und wand sich nun am Boden, die Hände auf die Ohren gepresst.
Der Fluss begann sich wieder zu senken, er schäumte entsetzlich vor Leichen und Leichenteilen; Dampf wurde von plötzlichen Windböen davongewirbelt. Der Kopf der riesigen Schlange war verschwunden. Ausgelöscht. Genau wie ein Drittel ihrer gesamten Länge – alle, die im Wasser gewesen waren, waren tot.
Obwohl der große Mann nun ganz nah bei Duiker stand, klangen seine Worte in Duikers dröhnenden Ohren dünn und wie aus weiter Ferne, als er sagte: »Fünfundfünfzig Sprengladungen – die hat die Siebte über Jahre hinweg gehortet. Diese Furt ist jetzt ein Graben. Ha!« Dann verflüchtigte sich sein zufriedener Gesichtsausdruck. »Bei den Zehen des Vermummten, jetzt müssen wir wieder mit Schaufeln graben.«
Eine Hand packte den Historiker am Ärmel. List beugte sich nahe zu ihm heran und flüsterte: »Und wohin jetzt, Herr?«
Der Historiker warf einen Blick flussabwärts, auf die wirbelnden Strudel, rot gefärbt und voller menschlichem Treibgut. Einen Augenblick lang konnte er die Frage des Korporals nicht verstehen. Wohin? Nirgendwohin, wo es schön ist, wo eine Unterbrechung dieses Gemetzels sofort das Gefühl von Verzweiflung in einem aufsteigen lässt.
»Herr?«
»So nah wie möglich ans Gewühl, Korporal. Wir müssen jetzt bis zum Ende durchhalten.«
Durch die schnelle Ankunft von Coltaine und seinen Krähen-Kriegern, die unverzüglich die westliche Flanke der Tithansi-Lanzenreiter auf dieser Seite des Flusses angegriffen hatten, hatte sich das Kriegsglück gewendet. Während sie auf den Kampf zuritten, der um die Erdwälle tobte, konnten Duiker und List sehen, wie die Reihen der Tithansi einbrachen und damit den berittenen wickanischen Bogenschützen den Weg zu den Fußsoldaten der Semk freimachten. Pfeilsalven beharkten die zerzausten Semk-Kämpfer.
Im Zentrum des Kampfes stand der größte Teil der Infanterie der Siebten, die die rasenden Angriffe der Semk abwehrte, während hundert Schritt weiter im Norden die schwere Infanterie aus Guran noch immer darauf wartete, endlich mit den verhassten Malazanern ins Handgemenge zu kommen. Ihr Kommandant hatte anscheinend diesbezüglich seine Zweifel. Kamist Reloe und seine Armee saßen – zumindest für die Dauer dieser Schlacht – auf der anderen Seite des Flusses fest. Einmal abgesehen von den schwer mitgenommenen Seesoldaten, die die Nachhut gebildet hatten, und dem Wiesel-Clan, war Coltaines Streitmacht hingegen größtenteils noch intakt.
Fünfhundert Schritt weiter westlich, auf einer weiten, steinigen Ebene, verfolgte der Wiesel-Clan ein paar versprengte Überreste der Kavallerie aus Guran.
Duiker entdeckte einen rotgoldenen Farbklecks inmitten der Siebten – Baria Setral und seine Roten Klingen, die sich dort befanden, wo der Kampf am heftigsten tobte. Die Semk schienen ganz wild darauf zu sein, sich mit den malazanischen Schoßhunden zu schlagen, und sie zahlten einen hohen Blutzoll für ihren Wunsch. Nichtsdestotrotz war Setrals Trupp nur noch halb so stark wie zuvor – weniger als zwanzig Mann.
»Ich will noch etwas näher ran«, verkündete Duiker.
»Ja, Herr«, erwiderte List. Er deutete nach vorn. »Dort, die Anhöhe – wir werden dann aber in Bogenschussweite der Feinde sein, Herr.«
»Das Risiko gehe ich ein.«
Sie ritten auf die Siebte zu. Die Standarte der Kompanie stand allein und staubbedeckt auf einem niedrigen Hügel direkt hinter der Frontlinie. Drei grauhaarige Veteranen bewachten sie. Der Hang war mit den Leichen von Semk-Kriegern übersät – ein Beweis dafür, dass der Hügel früher am Tag heiß umkämpft gewesen sein musste. Die Veteranen hatten mitgekämpft, und alle drei hatten leichte Verwundungen davongetragen.
Als der Historiker und Korporal List sich den Männern näherten, sah Duiker, dass die drei um einen gefallenen Kameraden herumhockten. Auf ihren staubigen Wangen konnte man Tränenspuren erkennen. Der Historiker ritt zu den Männern und stieg langsam vom Pferd.
»Ihr habt eine Geschichte zu erzählen, Soldaten«, sagte er mit fester, kräftiger Stimme; er versuchte, das Waffengeklirr und die Rufe zu übertönen, die von dem Kampf herrührten, der nur dreißig Schritt nördlich von ihnen tobte.
Einer der Veteranen blickte auf, kniff die Augen zusammen. »Der Historiker des alten Imperators, beim Grinsen des Vermummten! Ich hab Euch in Falar gesehen, oder vielleicht war's auch auf den wickanischen Ebenen ...«
»Ich war an beiden Orten. Die Standarte ist bedroht worden, wie ich sehe. Und ihr habt einen Freund verloren, als ihr sie verteidigt habt.«
Der Mann blinzelte. Dann ließ er den Blick schweifen, bis er schließlich an der Standarte hängen blieb. Der Pikenschaft stand ein wenig zu einer Seite geneigt, die Farben des zerfetzten Banners waren von der Sonne geisterhaft ausgebleicht. »Beim Atem des Vermummten«, grollte der Mann. »Denkt Ihr etwa, wir hätten gekämpft, um ein Stück Stoff an einer Stange zu retten?« Er deutete auf den Leichnam, neben dem seine Kameraden knieten. »Nordo hatte zwei Pfeile abbekommen. Wir haben einen Trupp Semk aufgehalten, damit er in Ruhe sterben konnte. Diese elenden Bastarde greifen sich verwundete Feinde und päppeln sie wieder auf, damit sie sie anschließend foltern können. Das wollten wir Nordo ersparen.«
Duiker schwieg geraume Zeit. »Soll die Geschichte so erzählt werden, Soldat?«, fragte er schließlich.
Der Mann kniff erneut die Augen zusammen, dann nickte er. »Genau so, Historiker. Wir sind nicht mehr einfach nur eine malazanische Armee. Wir sind Coltaines Männer.«
»Aber er ist eine Faust.«
»Er ist eine kaltblütige Eidechse.« Der Mann grinste. »Aber er ist einer von uns.«
Lächelnd drehte Duiker sich um und musterte den Verlauf der Kampflinie. Eine Schwelle war überschritten worden. Die Semk waren gebrochen. Sie waren zu Dutzenden gestorben, während drei Legionen vorgeblicher Verbündeter reglos auf den Hängen hinter ihnen gehockt hatten; kein Wunder, dass ihnen der allerletzte Eifer für die heilige Sache abhanden gekommen war – zumindest, was dieses Gefecht anbelangte. In der kommenden Nacht würde es im Lager der Feinde eine Menge Flüche und hitzige Anklagen geben, das wusste Duiker. Gut. Soll ihr Bündnis doch aus eigenem Antrieb zerbrechen.
Einmal mehr war es nicht der Tag des Wirbelwindes gewesen.
Coltaine gewährte seiner siegreichen Armee keine Zeit zum Ausruhen. Im Licht des Nachmittags wurden neue Befestigungen erstellt, andere wurden ausgebessert. Gräben wurden ausgehoben und Vorposten eingerichtet. Die Flüchtlinge wurden auf die steinige Ebene im Westen der Furt geführt, wo blockweise ihre Zelte aufgeschlagen wurden, mit breiten Gassen dazwischen. Wagen voller verwundeter Soldaten wurden in diese Gassen gebracht, und die Feldscher und Heiler begannen mit ihrer Arbeit.
Das Vieh wurde in Richtung Süden getrieben, zu den grasbewachsenen Hängen der Bari-Hügel, einem verwitterten, buckligen Höhenzug aus bleichen Felsen, der mit krummen, verkrüppelten Strauchkiefern bewachsen war. Viehtreiber, unterstützt von Reitern des Tollhund-Clans, bewachten die Herden.
Während die Sonne hinter dem Horizont versank, versammelte Coltaine seine Offiziere in seinem Kommandozelt zu einer kurzen Abschlussbesprechung.
Duiker saß müde in einem Feldstuhl, schräg hinter ihm stand der jetzt immer gegenwärtige Korporal List. Der Historiker fühlte sich von den Ereignissen des Tages noch immer wie betäubt und hörte zu, wie die einzelnen Kommandeure Bericht erstatteten. Lull hatte die Hälfte seiner Seesoldaten verloren, und den Hilfstrupps, die ihn unterstützt hatten, war es noch schlechter ergangen. Der Wiesel-Clan war während des Rückzugs übel zugerichtet worden, doch ihre größte Sorge galt mittlerweile dem Mangel an Pferden. Was die Siebte anging, so leierten die Hauptleute Chenned und Sulmar eine anscheinend endlose Litanei von Namen herunter – die Verwundeten und die Gefallenen. Es schien, dass vor allem ihre Offiziere und Trupp-Sergeanten schwere Verluste erlitten hatten. Der Druck gegen die Verteidigungslinien war gewaltig gewesen, vor allem früh am Morgen, bevor die Roten Klingen und die Reiter des Tollhund-Clans eingetroffen waren, um sie zu unterstützen. Immer und immer wieder wurde die Geschichte von Baria Setral und seiner Kompanie erzählt – die Geschichte ihres Untergangs. Sie hatten mit dämonischer Wildheit in vorderster Front gekämpft, und als der Kampf auf Messers Schneide gestanden hatte, hatten sie ihr Leben in die Waagschale geworfen und so der Infanterie Zeit verschafft, sich neu zu formieren. Die Roten Klingen hatten genug Heldenmut bewiesen, dass selbst Coltaine eine Bemerkung dazu machte.
Sormo hatte zwei seiner Kinder-Waerlogas in dem Kampf gegen die Zauberpriester der Semk verloren; Nil und Neder hatten jedoch beide überlebt. »Wir hatten Glück«, sagte er, nachdem er in kühlem, leidenschaftslosem Tonfall von den Gefallenen berichtet hatte. »Der Gott der Semk ist ein bösartiger Aufgestiegener. Er benutzt die Magier, um seinen Zorn zu kanalisieren, ohne Rücksicht auf ihre sterblichen Leiber. Jene, die nicht in der Lage sind, die Macht ihres Gottes auszuhalten, lösen sich einfach in Nichts auf.«
»Das wird ihre Zahl verringern«, brummte Lull.
»Der Gott wird einfach mehr erwählen«, entgegnete Sormo. Mehr und mehr wirkte er wie ein alter Mann, selbst seine Gesten hatten etwas davon. Duiker beobachtete, wie der Junge die Augen schloss und die Knöchel dagegen presste. »Es müssen außergewöhnliche Maßnahmen ergriffen werden.«
Die anderen schwiegen, bis schließlich Chenned die Unsicherheit, die einige der Anwesenden verspürten, in Worte fasste. »Und was bedeutet das, Waerloga?«
»Worte, die laut ausgesprochen werden, können gehört werden... vor allem von einem rachsüchtigen, paranoiden Gott«, sagte Bult. »Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, Sormo, setze deine Arbeit fort.«
Der Waerloga nickte langsam.
Nach einem Augenblick seufzte Bult laut, genehmigte sich dann noch einen großen Schluck aus einem Trinkschlauch, ehe er weitersprach. »Kamist Reloe ist unterwegs nach Norden. Er wird den Fluss an der Mündung überqueren. In der Stadt Sekala gibt es eine Steinbrücke. Aber wie auch immer, er wird zehn, vielleicht auch elf Tage verlieren.«
»Die Infanterie aus Guran wird in der Nähe bleiben«, sagte Sulmar. »Genau wie die Semk. Sie brauchen nicht einmal nahe an uns heranzukommen, um uns Schaden zuzufügen. Die Erschöpfung wird uns auch so schon bald fertig machen.«
Bults breiter Mund wurde zu einem schmalen Strich. »Coltaine hat verkündet, dass morgen ein Ruhetag eingelegt wird. Wir werden Vieh schlachten, und die toten Pferde der Feinde werden zerteilt und gebraten. Und die Waffen und die Rüstungen werden repariert.«
Duiker hob den Kopf. »Marschieren wir immer noch nach Ubaryd?«
Niemand antwortete ihm.
Der Historiker musterte die Kommandeure. Er sah keine Hoffnung in ihren Gesichtern. »Die Stadt ist gefallen.«
»Zumindest hat das ein Kriegshäuptling der Tithansi behauptet«, sagte Lull. »Er hatte nichts mehr zu verlieren, als er es uns gesagt hat, weil er sowieso schon im Sterben lag. Was nicht heißen muss, dass er die Wahrheit gesagt hat. Die malazanische Flotte ist aus Ubaryd geflohen. In eben diesem Augenblick werden Zehntausende von Flüchtlingen nordostwärts getrieben.«
»Noch mehr kreischende Adlige, die sich auf Coltaines Schoß setzen werden«, sagte Chenned höhnisch grinsend.
»Es ist unmöglich«, sagte Duiker. »Wenn wir nicht nach Ubaryd gehen können, welche andere Stadt steht uns dann überhaupt noch offen?«
»Es gibt nur eine einzige«, erwiderte Bult. »Aren.«
Duiker setzte sich kerzengerade auf. »Wahnsinn! Das sind zweihundert Längen!«
»Genau gesagt, zweihundertundeine«, sagte Lull und bleckte grinsend die Zähne.
»Führt Pormqual einen Gegenangriff? Marschiert er nach Norden, um uns auf halbem Weg entgegenzukommen? Weiß er überhaupt, dass es uns gibt?«
Bult wandte den Blick nicht von dem Historiker ab. »Ob er es weiß? Ich möchte es doch annehmen, Historiker. Wird er aus Aren herausmarschieren? Einen Gegenangriff beginnen?« Der Veteran zuckte die Achseln.
»Auf dem Weg hierher habe ich eine Kompanie Pioniere gesehen«, sagte Lull. »Sie haben geweint, alle miteinander.«
»Warum?«, fragte Chenned. »Liegt ihr unsichtbarer Kommandant auf dem Grund des Sekala, den Mund voller Schlamm?«
Lull schüttelte den Kopf. »Sie haben jetzt keine Sprengkörper mehr. Nur noch ein oder zwei Kisten Splitter- und Brandbomben. Man hätte meinen können, alle ihre Mütter wären gerade abgekratzt.«
Endlich meldete sich Coltaine zu Wort. »Sie haben ihre Sache gut gemacht.«
Bult nickte. »Stimmt. Ich wünschte, ich hätte dabei sein und zusehen können, als die Straße hochgegangen ist.«
»Wir waren da«, sagte Duiker. »Der Sieg schmeckt umso süßer, je weniger grässliche Erinnerungen mit ihm verbunden sind, Bult. Genieße ihn also.«
Duiker erwachte in seinem Zelt, als ihn eine weiche kleine Hand an der Schulter rüttelte. Er öffnete die Augen; um ihn herum war es dunkel.
»Historiker«, erklang eine Stimme.
»Neder? Wie spät ist es? Wie lange habe ich geschlafen?«
»Es ist etwa zwei«, antwortete sie. »Coltaine befiehlt Euch, mit mir zu kommen. Jetzt gleich.«
Duiker setzte sich auf. Er war viel zu müde gewesen, um etwas anderes zu tun, als einfach nur seine Decken auf dem Boden auszubreiten. Jetzt waren sie von Schweiß und Kondenswasser durchnässt. Er erschauerte angesichts der Kühle. »Was ist passiert?«, fragte er.
»Bis jetzt noch nichts. Ihr sollt Zeuge werden. Schnell jetzt, Historiker. Wir haben nicht viel Zeit.«
Er trat hinaus in ein Lager, das in der Stunde der tiefsten Finsternis, kurz vor dem Beginn der falschen Morgendämmerung, leise stöhnte. Es war ein schreckliches Geräusch aus Tausenden von Kehlen, das dem Historiker einen kalten Schauer über den Rücken jagte, eine Mischung aus dem Gemurmel der Verwundeten, die trotz ihrer Erschöpfung nur unruhig schliefen, den leisen Schreien der Soldaten, die von Feldschern und Heilern behandelt wurden, und dem Muhen des Viehs, das alles noch mit dem Getrappel seiner unruhigen Hufe unterlegte. Von irgendwo auf der Ebene nördlich von ihnen erklang schwaches Wehklagen – Witwen und Mütter, die die Toten betrauerten.
Während er der lebhaften, in einen Wollumhang gehüllten Gestalt der kindlichen Waerloga durch die gewundenen Gassen des wickanischen Lagers folgte, stiegen sorgenvolle Gedanken in dem Historiker auf. Die Toten waren durch das Tor des Vermummten gegangen. Die Lebenden waren mit ihrem Schmerz zurückgeblieben. Als Historiker hatte Duiker viele Völker kennen gelernt, und alle ohne Ausnahme hatten über ein Ritual der Trauer verfügt. Wir mögen noch so viele eigene Götter anbeten – letztendlich umarmt uns alle doch allein der Vermummte, in tausend verschiedenen Gestalten. Wenn der Atem seines Tores nah an uns heranweht, erheben wir unsere Stimmen, um das ewige Schweigen zurückzudrängen. Heute Nacht hören wir die Semk. Und die Tithansi. Gute, geordnete Rituale. Wer braucht schon Tempel und Priester, um die Gefühle von Verlust und Entsetzen zum Ausdruck zu bringen und zu ordnen — wenn doch alles heilig ist?
»Neder, warum trauern die Wickaner heute Nacht nicht?«
Sie drehte sich halb zu ihm um, ging dabei aber weiter. »Coltaine verbietet es.«
»Warum?«
»Ihr müsst ihn schon selbst fragen. Seit diese Reise begonnen hat, haben wir unsere Toten noch kein einziges Mal betrauert.«
Duiker schwieg eine Weile, dann sagte er: »Und wie fühlst du dich dabei, Neder? Und die anderen Mitglieder der drei Clans?«
»Coltaine befiehlt, wir gehorchen.«
Sie erreichten den Rand des wickanischen Lagers. Hinter dem letzten Zelt erstreckte sich ein eingeebneter Todesstreifen von vielleicht zwanzig Schritt Breite, dahinter erhoben sich die neu errichteten Barrikaden aus Weidengeflecht der Außenposten, durch die lange Bambusstangen gestoßen worden waren, deren Spitzen in der Höhe einer Pferdebrust nach außen wiesen. Berittene Krieger des Wiesel-Clans patrouillierten an ihnen entlang, die Augen auf die dunkle, von Steinen übersäte Ebene jenseits der Barrikaden gerichtet.
Auf dem Todesstreifen standen zwei Gestalten, die eine groß, die andere klein, beide so dürr wie Geister. Neder führte Duiker zu den beiden in Umhänge gehüllten Figuren.
Sormo. Und Nil. »Seid ihr drei die Einzigen, die noch übrig sind?«, fragte der Historiker den großen Waerloga. »Bei der Besprechung mit Coltaine habt Ihr gesagt, Ihr hättet nur zwei verloren.«
Sormo E'nath nickte. »Die anderen gönnen ihren jungen Körpern ein bisschen Ruhe. Ein Dutzend Pferdefrauen sorgt für die Pferde, und eine Hand voll Heiler kümmert sich um die verwundeten Soldaten. Wir drei sind die Stärksten, und darum sind wir hier.« Der Waerloga trat einen Schritt vor. Er wirkte irgendwie fiebrig, und in seinem Tonfall schwang eine unausgesprochene Frage mit, die der Historiker ihm nicht beantworten konnte. »Duiker, dessen Blick sich mit meinem gekreuzt hat, als der Geist des Wirbelwindes im Lager der Händler beschworen wurde, hört meine Worte! Ihr werdet die Furcht hören – jeden einzelnen ihrer düsteren Glockentöne. Dieser dunkle Chor ist Euch nicht fremd. So wisset denn, dass ich in dieser Nacht Zweifel hatte.«
»Waerloga«, sagte Duiker leise, als Neder vortrat, um sich zu Sormos Rechter aufzustellen – und sich dabei umdrehte, sodass jetzt alle drei Magier den Historiker ansahen –, »was geschieht hier?«
Als Antwort hob Sormo E'nath die Hände.
Um sie herum veränderte sich die Welt. Hinter den drei Waerlogas konnte Duiker Moränen und Geröllhalden ausmachen, und der dunkle Himmel schien in seiner Schwärze über ihren Köpfen zu pochen. Der Boden unter Duikers Mokassins fühlte sich nass und kalt an. Der Historiker schaute hinunter und sah glitzernde Streifen aus bröckeligem Eis auf schlammigen Teichen. Die wahnsinnigen Muster in dem Eis reflektierten in Myriaden von Farben ein Licht, das keine Quelle zu haben schien.
Eine kalte Windböe veranlasste ihn, sich umzudrehen – und ihm entschlüpfte ein kehliger Laut der Überraschung. Entsetzt und bis ins Mark erschüttert trat der Historiker unwillkürlich einen Schritt zurück. Direkt vor ihm ragte eine zerklüftete Klippe aus verrottetem, blutverschmiertem Eis in die Höhe, die umgestürzten, zerborstenen Brocken an ihrem Fuß waren kaum zehn Schritt von ihm entfernt. Seine Blicke wanderten entlang der leicht zurückweichenden Klippe nach oben, bis ihre gemaserte Oberfläche im Nebel verschwand.
In dem Eis befanden sich Leichen, unzählige menschlich erscheinende Gestalten, grotesk verrenkt und in Stücke gerissen. Organe und Eingeweide lagen am Fuß der Klippe, als wäre sie ein riesiges Schlachthaus. Langsam schmelzende, mit Blut vollgesogene Eisbrocken hatten einen See geschaffen, aus dem einzelne Körperteile herausragten oder glitschige kleine Inseln bildeten.
Das Fleisch, das der Luft ausgesetzt war, hatte längst zu verwesen begonnen und sich in missgestaltete gelatinöse Haufen verwandelt, durch die man schwach die Knochen hindurchschimmern sehen konnte.
Hinter Duiker ertönte Sormos Stimme. »Er ist da drin, aber sehr nah.«
»Wer?«
»Der Gott der Semk. Ein Aufgestiegener aus einer längst vergangenen Zeit. Unfähig, der Zauberei zu trotzen, wurde er verschlungen wie die anderen. Aber er ist nicht gestorben. Könnt Ihr seinen Zorn spüren, Historiker?«
»Ich glaube, ich kann überhaupt nichts mehr spüren. Welche Art von Zauberei hat das getan?«
»Die der Jaghut. Um sich den Flutwellen der Menschen entgegenzustellen, haben sie das Eis erschaffen. Manchmal kam es schnell, manchmal langsam, gerade so, wie es ihre Strategie erfordert hat. An einigen Orten hat es ganze Kontinente verschlungen und alles ausgelöscht, was es dort einst gegeben hatte. Die Zivilisationen der Forkrul Assail, die gewaltigen Mechanismen und Bauwerke der K'Chain Che'Malle und natürlich auch die verwahrlosten Hütten derjenigen, die eines Tages die Welt erben sollten. Diese Rituale gehören zu den höchsten von Omtose Phellack, und sie versiegen nie, Historiker. Sie erheben sich, versinken und erheben sich wieder. Gerade jetzt wird eines in einem fernen Land neu geboren, und die Flüsse aus Eis erfüllen meine Träume, denn sie sind dazu bestimmt, eine gewaltige Umwälzung herbeizuführen – und damit einhergehen wird eine unvorstellbar große Zahl von Toten.«
In Sormos Worten schwang der Klang einer Vorzeit mit, die unbarmherzige Kälte verschiedener Zeitalter, die sich übereinander falteten, wieder und wieder, bis es Duiker so erschien, als ob jeder Felsen, jede Klippe, jeder Berg, als ob sie alle sich in ewiger Bewegung befänden, wie geistlose Leviathane. Schauer rasten durch das Blut in seinen Adern, bis er unkontrolliert zu zittern begann.
»Denkt an all das, was sich in solchem Eis verbirgt«, fuhr Sormo fort. »Grabräuber finden Reichtümer, aber kluge Jäger auf der Jagd nach Macht suchen ... Eis.«
Neder meldete sich zu Wort. »Sie haben angefangen, sich zu versammeln.«
Duiker wandte sich endlich von dem verwüsteten, von Fleisch besudelten Eis ab. Formlose, pulsierende Wirbel aus Energie umgaben jetzt die drei Waerlogas. Einige wurden immer heller und energischer, während andere nur schwach in einem unsteten Rhythmus pulsierten.
»Die Geister des Landes«, sagte Sormo.
Nil zappelte unter seinem Umhang, als hätte er den Wunsch zu tanzen und könnte ihm kaum noch widerstehen. Ein finsteres Lächeln erschien auf seinem Kindergesicht. »Das Fleisch eines Aufgestiegenen birgt viel Macht. Sie alle hungern nach einem Stückchen davon. Mit diesem Geschenk, das wir ihnen bringen, sind sie uns auch weiterhin verpflichtet.«
»Historiker!« Sormo trat näher an Duiker heran, streckte eine schmale Hand aus und legte sie ihm schließlich auf die Schulter. »Wie dünn ist dies Stück Barmherzigkeit? All dieser Wut ... endlich ein Ende gemacht. In Stücke gerissen, und jedes kleine Stückchen verzehrt. Es ist nicht der Tod, aber eine Art von ... Zerstreuung.«
»Und was ist mit den Zauberpriestern der Semk?«
Der Waerloga zuckte zusammen. »Sie werden es wissen, und großer Schmerz wird damit verbunden sein. Wir müssen dem Semk das Herz herausschneiden. Es benutzt Sterbliche auf eine Art und Weise ...« Er schüttelte den Kopf. »Coltaine befiehlt.«
»Und Ihr gehorcht.«
Sormo nickte.
Ein Dutzend Herzschläge lang sagte Duiker nichts, dann seufzte er. »Ich habe Eure Zweifel gehört, Waerloga.«
Sormos Gesichtsausdruck zeigte eine beinahe grimmige Erleichterung. »Und nun bedeckt Eure Augen, Historiker. Was jetzt kommt, wird ziemlich ... ekelhaft werden.«
Hinter Duiker zerbarst das Eis mit donnerndem Getöse. Kalter roter Regen rollte wie eine Woge über den Historiker hinweg, brachte ihn ins Wanken.
Ein wilder Schrei erklang hinter ihm.
Die Geister des Landes schossen vorwärts, wirbelten, hüpften und tanzten an Duiker vorbei. Er fuhr herum und sah eine Gestalt – das Fleisch schwärzlich verfault, die Arme so lang wie die eines Affen – sich einen Weg aus dem schmutzigen, dampfenden Matsch bahnen.
Die Geister erreichten die Gestalt, schwärmten über sie hinweg. Sie konnte noch einen einzigen, durchdringenden Schrei ausstoßen, dann wurde sie in Stücke gerissen.
Am östlichen Horizont zeigte sich ein erster rötlicher Schimmer, als sie auf den Todesstreifen zurückkehrten. Das Lager erwachte bereits, die Anforderungen des Daseins lasteten schon wieder schwer auf geschundenen, müden Seelen. Auf den Wagen errichtete Schmiedefeuer wurden geschürt, frische Felle geschabt, Leder aufgespannt und ausgestanzt oder in großen geschwärzten Töpfen gekocht. Die Malazaner hatten ihr ganzes bisheriges Leben in Städten verbracht – jetzt mussten sie lernen, ihre Stadt mitzunehmen; oder zumindest die mageren Überreste, die lebensnotwendig waren.
Duiker und die drei Waerlogas waren von altem Blut und klebrigen Fleischfetzen durchnässt. Ihr Erscheinen auf der Ebene war Beweis genug, dass sie Erfolg gehabt hatten, und die Wickaner stimmten ein Geheul an, das durch die Lager aller drei Clans lief; es klang gleichermaßen triumphierend wie klagend, die passende Totenklage, um den Sturz eines Gottes zu verkünden.
Die Trauergesänge, die von den im Norden gelegenen Lagerplätzen der Semk herübergeklungen waren, waren verstummt, hatten einer unheilvollen Stille Platz gemacht.
Tautropfen verdampften auf der Erde, und als der Historiker den Todesstreifen überquerte und zum Lager der Wickaner zurückkehrte, konnte er einen dunklen Nachhall zur Macht der Geister des Landes spüren. Am Rand des Lagers trennten sich die drei Waerlogas von ihm.
Nur wenige Augenblicke später fand die nachhallende Macht eine Stimme, denn sämtliche Hunde in dem großen Lager fingen an zu heulen. Das Geheul war merkwürdig leblos und so kalt wie Eis, und es erfüllte die Luft wie ein Versprechen.
Duiker verlangsamte seinen Schritt. Ein Versprechen. Ein Zeitalter des alles verschlingenden Eises...
»Historiker!«
Er schaute auf und sah drei Männer näher kommen. Zwei von ihnen kannte er: Nethpara und Tumlit. Der dritte Adlige, der sie begleitete, war klein und rund und versank beinahe in einem Umhang aus Goldbrokat; wäre der Mann doppelt so groß und halb so dick gewesen, hätte er in diesem Aufzug zweifellos imposant gewirkt. Unter den gegebenen Voraussetzungen war der Eindruck jedoch eher Mitleid erregend.
Nethpara war völlig außer Atem; seine schlaffen Speckschichten wabbelten und waren schlammverschmiert. »Duiker, Historiker des Imperiums, wir wünschen mit Euch zu sprechen.«
Der Schlafmangel – und eine ganze Menge anderer Dinge – hatten nicht mehr sehr viel von Duikers Duldsamkeit übrig gelassen, doch er schaffte es, in ruhigem Ton zu antworten. »Ich schlage vor, dass Ihr zu einem anderen Zeitpunkt...«
»Das ist völlig unmöglich!«, schnappte der dritte Adlige. »Der Rat wird sich nicht noch einmal abweisen lassen. Coltaine schwingt das Schwert und mag so versuchen, uns mit seiner barbarischen Gleichgültigkeit auf Distanz zu halten – doch wir werden einen Weg finden, unsere Petition vorzutragen.«
Duiker sah den Mann blinzelnd an.
Tumlit räusperte sich entschuldigend und rieb sich die tränenden Augen. »Historiker, erlaubt mir, Euch den Hochgeborenen Lenestro vorzustellen, unlängst noch Resident von Sialk ...«
»Nicht nur einfacher Resident!«, zeterte Lenestro. »Alleiniger Repräsentant der kanesischen Familie dieses Namens im gesamten Reich der Sieben Städte. Kommissionär des größten Handelsunternehmens, das die besten gegerbten Kamelhäute exportiert. Ich bin das Oberhaupt der Gilde, mir wurde der Ehrentitel des Ersten Potentaten von Sialk verliehen. Mehr als eine Faust hat vor mir das Knie gebeugt, und doch stehe ich hier und muss einen mit stinkendem Auswurf besudelten Gelehrten auffordern, mir eine Audienz zu gewähren ...«
»Lenestro, bitte!«, sagte Tumlit wütend. »Ihr tut Eurer Sache damit wenig Gutes!«
»Geohrfeigt von einem mit Schweinefett beschmierten Wilden, den die Imperatrix schon Vorjahren an eine Mauer hätte nageln lassen sollen! Sie wird ihre Barmherzigkeit bedauern, mein Wort darauf, wenn ihr die Neuigkeiten von diesen entsetzlichen Vorkommnissen zu Ohren kommen!«
»Welche entsetzlichen Vorkommnisse sollten das denn sein, Lenestro?«, fragte Duiker leise.
Diese Frage ließ Lenestro mit weit aufgerissenen Augen ins Stottern geraten. Sein Gesicht rötete sich.
Nethpara entschloss sich zu antworten. »Historiker, Coltaine hat unsere Bediensteten eingezogen. Es war noch nicht einmal eine Bitte. Seine wickanischen Hunde haben sie einfach mitgenommen – tatsächlich sind unsere ehrenwerten Kollegen sogar gestoßen und zu Boden geschlagen worden, wenn sie protestiert haben. Sind unsere Bediensteten an uns zurückgegeben worden? Nein, das sind sie nicht. Sind sie überhaupt noch am Leben? Welche schreckliche, selbstmörderische Aufgabe hat man ihnen übertragen? Wir haben keine Antworten auf unsere Fragen erhalten, Historiker.«
»Eure Sorge gilt also dem Wohlergehen Eurer Bediensteten?«, fragte Duiker.
»Wer soll unser Essen zubereiten?«, wollte Lenestro wissen. »Wer unsere Kleider ausbessern, unsere Zelte errichten und das Wasser heiß machen, wenn wir ein Bad nehmen wollen? Das alles ist ungeheuerlich!«
»Für mich steht das Wohlergehen der Bediensteten an erster Stelle«, sagte Tumlit. Ein trauriges Lächeln huschte bei diesen Worten über sein Gesicht.
Duiker glaubte ihm. »Dann werde ich mich in Eurem Namen erkundigen.«
»Natürlich werdet Ihr das!«, schnappte Lenestro. »Und zwar unverzüglich!«
»Wenn es Euch möglich ist«, sagte Tumlit.
Duiker nickte und drehte sich um.
»Wir sind noch nicht fertig mit Euch!«, schrie Lenestro.
»Doch, das sind wir«, hörte Duiker Tumlit sagen.
»Irgendjemand soll diese Hunde zum Schweigen bringen! Ihr Geheul nimmt ja überhaupt kein Ende!«
Es ist immer noch besser, wenn sie heulen, als wenn sie nach uns schnappen. Er ging weiter, von dem verzweifelten Wunsch beherrscht, sich endlich waschen zu können. Die Blutspritzer und Fleischreste auf seiner Haut und seiner Kleidung begannen bereits zu trocknen. Er erregte Aufsehen, als er die Gänge zwischen den Zelten entlangschlurfte. Abwehrende Gesten begleiteten ihn, wo immer er vorbeikam. Duiker fürchtete, dass er unabsichtlich zum Vorboten geworden war und ein Schicksal versprach, das ein ebenso großes Frösteln hervorrief wie das seelenlose Geheul der Hunde.
Vor ihm färbte das Licht des frühen Morgens den Himmel blutig rot.