Kapitel Sieben

 

Der Tod soll meine Brücke sein.

Sprichwort der Toblakai

 

Ausgebrannte Wagen, die Kadaver von Pferden, Ochsen und Maultieren, die Leichen von Männern, Frauen und Kindern, Möbelstücke, Kleidung und andere Haushaltsgegenstände lagen auf der Ebene im Süden von Hissar verstreut, so weit Duiker sehen konnte. Hier und dort, an Stellen, an denen ein paar Krieger eine letzte gemeinsame Verteidigungs-Stellung bezogen hatten, erhoben sich Hügel aus Leichnamen wie nicht mit Erde bedeckte Hügelgräber. Gefangene waren nicht gemacht worden, es hatte keine Gnade gegeben.

Der Sergeant stand ein paar Schritte von dem Historiker entfernt; er war ebenso still wie seine Männer, als er den Anblick des Vin'til-Beckens auf sich wirken ließ, die Überreste jener Schlacht, die dereinst nach dem nur eine Meile entfernt gelegenen Dorf benannt werden würde: Bat'rol.

Duiker beugte sich im Sattel zur Seite und spuckte aus. »Das verwundete Tier hat Fänge«, sagte er in säuerlichem Tonfall. Gut gemacht, Coltaine. Sie werden nicht so bald wieder versuchen, sich auf euch zu stürzen. Die Leichen waren Hissari – sogar Kinder waren in die Schlacht geworfen worden. Schwarze, verbrannte Narben verliefen kreuz und quer über das Schlachtfeld, als ob die Klauen eines Gottes vom Himmel herabgefahren wären, um sich an dem Gemetzel zu beteiligen. Bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Körper lagen als verkohlte Klumpen in den geschwärzten Streifen; es war unmöglich, festzustellen, ob es sich dabei um Menschen oder Tiere handelte.

Kapmotten flatterten wie ein stummer Schleier aus Wahnsinn über der Szene. Die Luft stank nach Zauberei; das Aufeinanderprallen der Gewirre hatte alles mit einer schmierigen Ascheschicht überzogen. Der Historiker konnte kein Entsetzen mehr empfinden. Sein Herz war bereits so abgehärtet, dass er nur noch Erleichterung verspürte.

Irgendwo im Südwesten waren die Siebte Armee, Reste der loyalen Hissari-Hilfstruppen und die Wickaner. Und Zehntausende von malazanischen Flüchtlingen, ihrer Besitztümer beraubt... aber am Leben. Die Gefahr blieb bestehen. Schon hatte die Armee der Apokalypse begonnen, sich neu zu formieren – versprengte Überlebende zogen sich einzeln und in kleinen Gruppen zur Oase Meila zurück, wo die Verstärkung aus Sialk sowie später eintreffende Wüstenstämme sie bereits erwarteten. Wenn sie die Verfolgung wieder aufnahmen, würden sie Coltaines angeschlagener Armee zahlenmäßig noch immer weit überlegen sein.

Einer der Männer des Sergeanten kehrte von einem Kundschafterritt gen Westen zurück. »Kamist Reloe lebt«, verkündete er. »Ein anderer Hohemagier führt eine neue Armee aus dem Norden heran. Das nächste Mal werden sie keine Fehler machen.«

Einen Tag zuvor hätten diese Worte noch eine weitaus beruhigendere Wirkung auf die anderen gehabt. Der Mund des Sergeanten war zu einer dünnen Linie zusammengepresst, als er nickte. »Dann werden wir bei Meila zu den anderen stoßen.«

»Ich nicht«, knurrte Duiker.

Zu Schlitzen zusammengekniffene Augen wandten sich ihm zu.

»Noch nicht«, fügte der Historiker hinzu und ließ den Blick über das Schlachtfeld gleiten. »Mein Herz sagt mir, dass ich irgendwo da draußen ... die Leiche meines Neffen finden werde.«

»Sieh doch zuerst bei den Überlebenden nach«, sagte einer der Soldaten.

»Nein. In meinem Herzen ist keine Furcht, nur Gewissheit. Zieht weiter. Ich werde wieder bei euch sein, noch ehe die Abenddämmerung hereinbricht.« Er warf dem Sergeanten einen harten, herausfordernden Blick zu. »Und nun geht!«

Der Mann machte eine stumme Geste.

Duiker sah ihnen nach, als sie in Richtung Westen davonzogen. Er wusste, wenn er sie noch einmal sehen würde, würde er sich innerhalb der Reihen der malazanischen Armee befinden. Und irgendwie würden sie dann weniger menschlich sein. Das Spiel, das der Verstand spielen muss, um die Vernichtung zu entfesseln. Er hatte mehr als einmal inmitten einer malazanischen Armee gestanden und gespürt, wie die Soldaten an seiner Seite einen ganz bestimmten Ort in ihrem Geist gesucht – und gefunden – hatten, einen kalten, stillen Ort, einen Ort, an dem Männer, Väter, Frauen und Mütter zu Mördern wurden. Die Übung machte es von Mal zu Mal leichter. Bis man diesen Ort nie wieder verlässt.

Der Historiker ritt auf das Schlachtfeld hinaus, nur beherrscht von dem fast schon verzweifelten Wunsch, endlich die Armee einzuholen. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um allein zu sein, inmitten des Gemetzels, wo jedes Trümmerstück, jeder verbrannte, in Stücke gerissene Leichnam angesichts all dieser Gräuel stumm aufzuschreien schien. Schlachtfelder hielten den Wahnsinn fest, als ob das Blut, das die Erde getränkt hatte, sich an die Schmerzen und das Entsetzen erinnerte und in seinem Innern die Erinnerung an unzählige Todesschreie beherbergte.

Es gab keine Plünderer, nichts als Fliegen, Kapmotten, Rhizan und Wespen – die Myriaden Schemen des Vermummten, die Duiker mit schwirrenden Flügeln umsummten, während er weiterritt. Eine halbe Länge voraus galoppierten zwei Reiter in Richtung Westen über den südlichen Kamm, ihre Telaban flatterten wild hinter ihnen her.

Als Duiker den niedrigen Kamm erreichte, waren die beiden Reiter schon außer Sichtweite. Die staubige Erde vor ihm war aufgewühlt und mit Furchen übersät. Die Kolonne, die das Schlachtfeld verlassen hatte, hatte dies in ordentlicher Aufstellung getan, obwohl die Breite der Spuren daraufhindeutete, dass der Tross sehr groß war. Neun, zehn Wagen nebeneinander. Vieh. Ersatzpferde... Bei der Königin der Träume! Wie kann Coltaine hoffen, das alles zu verteidigen? Vierzigtausend Flüchtlinge, vielleicht sogar noch mehr, die alle einen Wall aus Soldaten fordern, der ihr kostbares Leben schützen soll –   selbst Dassem Ultor wäre vor einer solchen Aufgabe zurückgeschreckt.

Weit im Südwesten zeigte der Himmel einen rötlich braunen, schmierigen Schimmer. Wie Hissar stand auch Sialk in Flammen. Doch in jener Stadt hatte es nur eine kleine malazanische Garnison gegeben, eine Feste und ein Lager unten am Hafen, mit einer eigenen Landungsbrücke und drei Patrouillenbooten. Mit Oponns Glück auf ihrer Seite hatten die dort stationierten Truppen sich zurückziehen können. Obwohl Duiker in Wahrheit wenig Hoffnung hatte. Viel wahrscheinlicher war, dass sie versucht hatten, die malazanischen Bürger zu schützen – und sich zu den Leichenbergen gesellt haben.

Es war leicht, der Spur zu folgen, die Coltaines Armee und die Flüchtlinge hinterlassen hatten. Sie führte nach Südwesten, landeinwärts, in die Sialk-Odhan. Die nächste Stadt, in der sie vielleicht Hilfe finden konnten – Caron Tepasi – war sechzig Längen entfernt, und die Steppen, die sie auf dem Weg dorthin durchqueren mussten, waren von feindseligen Tithansi-Clans bevölkert. Und außerdem ist ihnen Kamist Reloes Apokalypse auf den Fersen. Duiker wusste, dass er die Armee zwar sehr wohl einholen mochte – dann jedoch mit den Soldaten sterben würde.

Nichtsdestotrotz konnte die Rebellion an anderen Orten bereits niedergeschlagen sein. Es gab eine Faust in Caron Tepasi, und eine andere in Guran. Wenn es einer davon – oder gar beiden – gelungen war, den Aufstand in ihrer Stadt zu unterdrücken, dann hatte Coltaine ein Ziel, das zu erreichen durchaus möglich war. Ein Zug quer durch die Odhan würde allerdings Monate dauern. Zwar gab es genug Grasland für das Vieh, doch es gab nur wenige Wasserstellen, und die Trockenzeit hatte gerade begonnen. Nein, selbst eine solche Reise nur in Erwägung zu ziehen hat schon nichts mehr mit Verzweiflung zu tun. Es ist der nackte Wahnsinn.

Damit blieb nur noch... ein Gegenangriff. Ein schneller, tödlicher Schlag, um Hissar wieder einzunehmen. Oder Sialk. Selbst eine zerstörte Stadt bot mehr Möglichkeiten zur Verteidigung als die offene Steppe. Überdies konnte die malazanische Flotte sie dann unterstützen. Pormqual mag ein Narr sein, aber Admiral Nok ist ganz eindeutig keiner. Die Siebte Armee konnte nicht einfach aufgegeben werden, denn ohne sie war jede Hoffnung, die Rebellion vielleicht doch noch schnell niederzuschlagen, dahin.

Im Augenblick allerdings war klar, dass Coltaine den Treck nach Dryj-Quelle führte, und trotz ihres Vorsprungs ging Duiker davon aus, dass er sie noch vorher einholen würde. Das, was die Malazaner jetzt am dringendsten brauchten, war Wasser. Kamist Reloe würde das genauso gut wissen. Er hatte Coltaine in eine Position gebracht, in der jeder Zug vorhersehbar war – und das war etwas, das kein Kommandeur sich wünschte. Je weniger Möglichkeiten der Faust blieben, desto schlimmer war die Situation.

Duiker ritt weiter. Die Sonne wanderte langsam westwärts, während er der schuttübersäten Spur folgte. Bei dem seelenlosen Anblick fühlte Duiker sich unbedeutend; all seine Hoffnungen und Befürchtungen schienen ihm plötzlich sinnlos. Gelegentlich lag die Leiche eines Soldaten oder eines Flüchtlings am Straßenrand – Männer und Frauen, die an ihren Wunden gestorben und ohne große Zeremonie einfach liegen gelassen worden waren. Die Sonne hatte die Leichname anschwellen lassen, und ihre Haut hatte sich tiefrot und schwarz verfärbt. Diese Toten einfach zurückzulassen, ohne sie zu begraben, war ganz sicher nicht leicht gewesen. Duiker spürte etwas von der Verzweiflung, die in dem von Feinden umgebenen Treck herrschen musste.

Eine Stunde vor der Abenddämmerung erschien eine halbe Länge landeinwärts eine Staubwolke. Der Historiker vermutete, dass sie von berittenen Tithan-Kriegern stammte, die unterwegs nach Dryj-Quelle waren. Für Coltaine und seine Leute würde es keine Ruhe geben. Duiker ahnte, was ihnen bevorstand: blitzschnelle Überfälle von berittenen Gruppen, um die Wachposten des Lagers immer aufs Neue aufzuschrecken; plötzliche Treibjagden, um das Vieh davonzutreiben; Brandpfeile, um die Wagen der Flüchtlinge in Brand zu stecken... Es würde eine Nacht des unaufhörlichen Schreckens werden.

Er sah die Tithansi langsam weiterziehen und erwog kurz, sein müdes Reittier zum Galopp anzutreiben. Die Stammeskrieger hatten allerdings ohne Zweifel Ersatzpferde dabei, und der Historiker würde bei dem Versuch, Coltaine vor ihnen zu erreichen, sein Pferd zu Tode schinden müssen. Und dann würde er nichts anderes tun können, als vor dem Unausweichlichen zu warnen. Außerdem müsste Coltaine eigentlich wissen, was geschehen wird. Er weiß es, weil er früher selbst der Anführer eines Trupps von Renegaten gewesen ist und einer sich auf dem Rückzug befindlichen imperialen Armee auf den wickanischen Ebenen Nadelstich um Nadelstich versetzt hat.

Er ritt in gleichmäßigem Trab weiter, dachte über die Herausforderung nach, die diese Nacht bereithalten würde: der Ritt durch die feindlichen Linien, die unangekündigte Annäherung an die höchst nervösen Außenposten der Siebten. Je mehr er darüber nachdachte, desto geringer erschienen ihm seine Chancen, diese Nacht zu überleben und morgen früh die Sonne aufgehen zu sehen.

Der rote Himmel wurde so unvermittelt dunkler, wie es typisch für die Wüste war, übergoss alles mit der Farbe von geronnenem Blut. Wenige Augenblicke, bevor die letzten Lichtstrahlen verblassten, schaute Duiker sich zufällig um. Er sah eine feinkörnige Wolke, die sich sichtlich ausdehnte, während sie gen Süden flog. Sie schien die letzten Lichtstrahlen hunderttausendfach zu reflektieren, als würde der Wind die Bäume am Rande eines gewaltigen Waldes bewegen und die Birken die helle Unterseite ihrer Blätter zeigen. Kapmotten. Es mussten Millionen sein. Sie hatten Hissar hinter sich gelassen, folgten dem Blutgeruch.

Er redete sich ein, dass es ein geistloser Hunger war, der sie antrieb. Er sagte sich, dass die Kleckse und Flecken in der sich blähenden, den Himmel füllenden Wolke nur durch Zufall eine Art Gesicht formten. Schließlich bestand für den Vermummten keine Notwendigkeit, sich hier zu manifestieren. Und der Vermummte war auch nicht als besonders melodramatischer Gott bekannt – wenn überhaupt, galt der Lord des Todes ironischerweise als bescheiden. Was Duiker zu erkennen glaubte, war das Ergebnis seiner Furcht, des nur allzu menschlichen Bedürfnisses, in sinnlosen Ereignissen eine symbolische Bedeutung zu sehen. Und nichts weiter.

Duiker gab seinem Pferd die Fersen und trieb es zum Galopp, die Augen fest auf die sich vertiefende Dunkelheit vor ihm gerichtet.

 

Von der Kuppe des niedrigen Hügels aus betrachtete Felisin den kochenden Boden der Senke. Es war, als wäre der Wahnsinn aus den Städten, aus den Gehirnen von Männern und Frauen herausgeströmt, um die Welt zu beflecken. Kurz vor Einbruch der Abenddämmerung, als sie und ihre beiden Gefährten sich angeschickt hatten, das Lager abzubrechen und sich für den Nachtmarsch bereitzumachen, hatte der Sand in der Senke begonnen, sich zu kräuseln, so wie Regentropfen die Oberfläche eines Sees kräuseln. Käfer waren aufgetaucht, schwarz und so groß wie Baudins Daumen, und in einer glitzernden Woge durcheinander gekrabbelt, die schon bald den gesamten Wüstenstreifen vor ihnen füllte. Zu Tausenden, zu Hunderttausenden, und doch bewegten sie sich wie ein einziger Körper, mit einem einzigen Ziel. Heboric, der auch hier den Gelehrten nicht verleugnen konnte, war losgegangen, um herauszufinden, wohin die Käfer unterwegs waren. Sie hatte ihn beobachtet, wie er am jenseitigen Rand der Insektenarmee entlanggegangen und dann hinter dem nächsten Hügelkamm verschwunden war.

Zwanzig Minuten waren seither vergangen.

Neben ihr kauerte Baudin. Seine Unterarme ruhten auf dem großen Rucksack, während er blinzelte, um das immer düsterer werdende Zwielicht mit seinen Blicken zu durchdringen. Sie spürte sein wachsendes Unbehagen, hatte sich jedoch entschlossen, nicht diejenige zu sein, die ihre gemeinsamen Befürchtungen laut aussprach. Es gab Zeiten, da wunderte sie sich schon über Heborics Ansichten darüber, was wichtig war und was nicht. Und sie fragte sich, ob der alte Mann nicht vielleicht tatsächlich eine Last für sie und Baudin war.

Die Schwellungen waren zurückgegangen, zumindest so weit, dass sie hören und sehen konnte; doch der Schmerz tiefer in ihrem Innern blieb, als ob die Blutfliegen-Larven etwas unter ihrer Haut zurückgelassen hätten – eine Fäulnis, die nicht nur ihr Äußeres verunstaltet, sondern auch ihre Seele befleckt hatte. In ihr war ein Gift. Wenn sie schlief, hatte sie unaufhörlich Visionen von Blut, von einem scharlachroten Fluss, der sie wie Treibgut vom Sonnenaufgang zum Sonnenuntergang trug. Sechs Tage waren vergangen, seit sie aus Schädelmulde geflohen waren, und ein Teil von ihr freute sich darauf, das nächste Mal zu schlafen.

Baudin gab ein Knurren von sich.

Heboric war wieder aufgetaucht. Er rannte in gleichmäßigem Tempo am Rande der Senke entlang auf sie zu. Er wirkte breit und bucklig und erinnerte sie einmal mehr an einen Oger, der einer Gutenacht-Geschichte für Kinder entsprungen war. Wo seine Hände sein sollten, waren nur Stümpfe, die er gleich erheben würde, um zahnstarrende Mäuler zu enthüllen. Geschichten, mit denen man Kinder erschreckt. Ich könnte welche schreiben. Ich brauche noch nicht einmal Fantasie, ich brauche nur das zu verwenden, was ich rund um mich herum sehen kann. Heboric, mein Oger mit der Eber-Tätowierung. Baudin mit einer roten Narbe, wo früher einmal ein Ohr gewesen ist, und mit Haaren, die verfilzt und tierisch aus seiner runzligen Haut wachsen. Diese beiden sind wirklich ein Paar, das Entsetzen verbreiten kann.

Der alte Mann erreichte sie und kniete sich hin, um seine Arme durch die Tragschlaufen seines Rucksacks zu schieben. »Außergewöhnlich«, murmelte er.

Baudin grunzte erneut. »Aber können wir sie umgehen, Heboric? Ich habe keine Lust, durch sie durchzuwaten.«

»Oh, ja, natürlich, das ist ganz einfach. Sie sind nur auf der Wanderschaft zur nächsten Senke.«

Felisin schnaubte. »Und das findest du außergewöhnlich?«

»Genau, das tue ich«, erklärte er, während er wartete, bis Baudin die Tragriemen seines Rucksacks festgezurrt hatte. »In der kommenden Nacht werden sie zum nächsten Flecken mit tiefem Sand marschieren. Verstehst du? Genau wie wir bewegen sie sich in Richtung Westen, und genau wie wir werden sie das Meer erreichen.«

»Und was dann?«, fragte Baudin. »Schwimmen sie dann?«

»Ich habe keine Ahnung. Aber wahrscheinlich drehen sie einfach um und marschieren in Richtung Osten, zur anderen Küste.«

Baudin schulterte seinen eigenen Rucksack und zurrte ihn fest. »Wie ein Käfer, der am Rand eines Bechers entlangkrabbelt«, sagte er dann.

Felisin warf ihm einen schnellen Blick zu. Schlagartig erinnerte sie sich an ihren letzten Abend mit Beneth. Er hatte in Bulas Schänke an seinem Tisch gesessen und Fliegen zugesehen, die am Rand seines Kruges entlanggetrippelt waren. Es war eine der wenigen Erinnerungen, die sie heraufbeschwören konnte. Beneth, mein Geliebter, der Fliegenkönig, der Schädelmulde umkreist. Baudin hat ihn zurückgelassen, damit er verrottet; deshalb kann er mir nicht in die Augen sehen. Schläger sind nie besonders gut im Lügen. Er wird dafür bezahlen ... eines Tages wird er dafür bezahlen ...

»Folgt mir«, sagte Heboric und setzte sich in Bewegung. Seine Füße versanken im Sand, sodass es aussah, als liefe er auf Stümpfen, passend zu denen am Ende seiner Arme. Er begann immer frisch und munter, zeigte eine Energie, die Felisin aufgesetzt vorkam; es schien, als würde er versuchen, die Tatsache zu widerlegen, dass er alt war, dass er der Schwächste von ihnen war. Im letzten Drittel der Nacht pflegte er dann eine Viertelmeile hinter ihnen zu sein, den Kopf gesenkt, schlurfend und unter dem Gewicht des Rucksacks schwankend, gegen den er beinahe wie ein Zwerg wirkte.

Baudin schien eine Landkarte in seinem Kopf zu haben. Bisher waren alle Informationen überaus exakt und zutreffend gewesen. Auch wenn die Wüste auf den ersten Blick bar allen Lebens schien, so konnte man doch Wasser finden. Von Quellen gespeiste Teiche in anstehendem Felsgestein, Schlammpfützen, umgeben von den Spuren von Tieren, die sie niemals zu Gesicht bekamen, wo man eine Armlänge – oder manchmal auch weniger – tief graben musste, um das lebensspendende Wasser zu finden.

Sie hatten genug Nahrungsmittel für zwölf Tage mitgenommen, also für zwei mehr, als die Reise zur Küste dauern sollte. Das gab ihnen nicht besonders viel Spielraum, doch es musste reichen. Trotz allem wurden sie schwächer. Jede Nacht war die Entfernung, die sie zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang zurücklegten, ein bisschen kürzer als in der Nacht zuvor. Die Monate in Schädelmulde, die anstrengende Arbeit in den unbelüfteten Schächten hatten ihre Reserven schon zuvor angegriffen.

Sie wussten es alle, aber niemand sprach es aus. Die Zeit saß ihnen jetzt im Nacken, die geduldigste Dienerin des Vermummten, und jede Nacht blieben sie ein bisschen weiter hinter ihrer Vorgabe zurück, näherten sie sich mehr jenem Ort, an dem der Wille weiterzuleben vor dem vollkommenen Frieden kapitulierte. Es liegt ein süßes Versprechen in der Vorstellung, einfach aufzugeben – aber das zu begreifen, dazu bedarf es einer Reise. Einer Reise des Geistes. Man kann nicht einfach zum Tor des Vermummten gehen – man steht plötzlich vor ihm, wenn der Nebel sich verzieht.

»Woran denkst du, Mädchen?«, fragte Heboric. Sie hatten zwei Reihen hügelähnlicher Erhebungen überquert und waren jetzt am Rand einer ausgedörrten Trockenpfanne angekommen. Die Sterne über ihnen glitzerten wie die Spitzen scharfer Klingen, der Mond war noch nicht aufgegangen.

»Wir leben in einer Wolke«, antwortete sie. »Unser ganzes Leben lang.«

Baudin grunzte. »Das ist das Geschwätz einer Durhang-Süchtigen.«

»Hab gar nicht gewusst, dass du so witzig sein kannst«, sagte Heboric zu dem Hünen.

Baudin schwieg. Felisin grinste in sich hinein. Der Schläger würde für den Rest der Nacht nicht mehr allzu viel sagen. Er konnte nicht gut damit umgehen, wenn man ihn verspottete. Das muss ich mir merken, falls er wieder einmal zurechtgestutzt werden muss.

»Ich entschuldige mich, Baudin«, sagte Heboric wenige Augenblicke später. »Ich war von dem, was Felisin gesagt hat, gereizt, und ich habe es an dir ausgelassen. Mehr noch, ich habe an dem Scherz Gefallen gefunden, auch wenn er nicht beabsichtigt war.«

»Gib's auf«, sagte Felisin seufzend. »Manchmal kann ein Maultier seine schlechte Laune abschütteln, aber man kann es nicht erzwingen.«

»Dann ist also die Schwellung deiner Zunge verschwunden, das Gift jedoch geblieben«, meinte Heboric.

Sie zuckte zusammen. Wenn du wüsstest, wie Recht du damit hast.

Rhizan flatterten über die rissige Oberfläche der Trockenpfanne; die geflügelten Echsen waren jetzt, da sie die hirnlosen Käfer hinter sich gelassen hatten, ihre einzigen Gefährten. Seit der Nacht, als die Dosii rebelliert und sie den Abteufer-See durchschwommen hatten, hatten sie niemanden mehr gesehen. Statt lautem Alarmgeschrei und wilder Verfolgung hatte ihre Flucht überhaupt keine Folgen gehabt. Für Felisin machte es das Drama jener Nacht im Rückblick auf eine gewisse Weise erbärmlich. Bei all ihrer Wichtigtuerei waren sie doch nichts als Sandkörner in einem Sturm, der ihr Begriffsvermögen bei weitem überstieg. Der Gedanke gefiel ihr.

Andererseits gab es allerdings auch Grund zur Sorge. Wenn der Aufstand auf das Festland übergegriffen hatte, war es gut möglich, dass sie zwar die Küste erreichen, dort jedoch sterben würden, während sie auf ein Boot warteten, das niemals kommen würde.

Sie gelangten an einen niedrigen, gezackten Grat aus Felsgestein, der im Licht der Sterne silbrig schimmerte und wie die Rückenwirbel einer gigantischen Schlange aussah. Dahinter erstreckte sich eine wellenförmige Sandfläche. Vielleicht fünfzig Fuß voraus erhob sich etwas aus den Dünen, abgewinkelt wie ein gekippter Baum oder eine Marmorsäule, doch als sie näher herankamen, konnten sie sehen, dass das Ding stumpf und gekrümmt war.

Ein Wind, der aus keiner bestimmten Richtung kam, ließ die Sandkörner rascheln; er wand sich hierhin und dorthin, als befände er sich im Gefolge eines von einer Spinne gebissenen Tänzers. Sandwirbel streichelten ihre Schienbeine, als sie weitergingen. Es zeigte sich, dass die gebeugte Säule – oder was auch immer es sein mochte – weiter weg war, als Felisin zuerst angenommen hatte. Als sie begriff, wie groß sie tatsächlich war, stieß sie zischend die Luft zwischen den zusammengebissenen Zähnen aus.

»Stimmt«, flüsterte Heboric zur Antwort.

Das Ding war keineswegs fünfzig Schritt entfernt. Eher schon fünfhundert. Das vom Wind unscharf gemachte Gelände hatte sie getäuscht. Die Senke war nicht einfach ein flaches Stück Land, sondern ein riesiges, sanft abfallendes Gebiet, wobei das Gelände um das Objekt herum wieder anstieg. Eine Woge der Benommenheit folgte dieser Feststellung.

Als sie den Monolithen schließlich erreichten, war über dem südlichen Horizont bereits die Sichel des Mondes zu sehen. In unausgesprochener Übereinstimmung ließen Baudin und Heboric ihre Rucksäcke fallen. Der Schläger hockte sich hin und lehnte sich gegen den Packen, den er die ganze Nacht getragen hatte; ihn schien das stumme Bauwerk, das sich über ihm auftürmte, nicht weiter zu kümmern.

Heboric holte die Laterne und das Feuerkästchen aus seinem Rucksack. Er blies auf die gehorteten Kohlen, zündete dann eine Wachskerze an, die er wiederum dazu benutzte, den dicken Docht der Laterne in Brand zu setzen. Felisin unternahm keinen Versuch, ihm zu helfen, sondern sah stattdessen fasziniert zu, wie er diese Aufgabe mit einer Gewandtheit erledigte, die die scheinbare Unbeholfenheit der vernarbten Stümpfe an seinen Handgelenken Lügen strafte.

Schließlich schob er einen Unterarm unter den Griff der Laterne, stand auf und trat näher an den dunklen Monolithen heran.

Fünfzig Mann, die sich an den Händen hielten, hätten seine Basis nicht umspannen können. Die Krümmung befand sich sieben, vielleicht auch acht Mannshöhen über ihnen, ungefähr bei drei Fünfteln der Gesamthöhe. Der Stein sah gleichermaßen zerknittert und poliert aus und wirkte im farblosen Mondlicht dunkelgrau.

Als Heboric schließlich direkt vor dem Monolithen stand, erwies sich der Stein im Licht der Laterne als grün. Felisin schaute zu, wie er den Kopf in den Nacken legte, um nach oben zu blicken. Dann trat er vor und presste einen Armstumpf gegen die Oberfläche. Einen Augenblick später trat er wieder einen Schritt zurück.

Neben ihr gluckerte es, als Baudin aus einem Wasserschlauch trank. Sie streckte die Hand aus, und nach kurzem Zögern gab er ihn ihr. Der Sand flüsterte, als Heboric zurückkehrte. Der ehemalige Priester hockte sich hin.

Felisin bot ihm das Wasser an. Er schüttelte den Kopf. Sein Krötengesicht zeigte ein verwirrtes Stirnrunzeln.

»Ist das die größte Säule, die du jemals gesehen hast, Heboric?«, fragte Felisin. »In Aren soll's eine geben ... das habe ich zumindest gehört... die zwanzig Mannshöhen hoch sein soll und die von der Spitze bis zum Fuß wie eine Spirale geformt ist. Beneth hat sie mir mal beschrieben.«

»Hab sie gesehen«, knurrte Baudin. »Die ist vielleicht höher, aber nicht so dick. Woraus ist die hier, Priester?«

»Aus Jade.«

Baudin stieß ein phlegmatisches Brummen aus, doch Felisin sah, wie sich seine Augen für einen kurzen Moment weiteten. »Nun ja, ich hab schon Größere gesehen. Hab auch schon Dickere gesehen ...«

»Sei still, Baudin«, schnappte Heboric und schlang die Arme um seinen Oberkörper. Er starrte den Schläger unter seinen buschigen Brauen hervor an. »Das da drüben ist keine Säule«, sagte er mit krächzender Stimme. »Es ist ein Finger.«

 

Verstohlen kroch das erste Licht der Dämmerung über den Himmel, warf zaghafte Schatten in die Landschaft um sie herum. Langsam wurden die Einzelheiten des Jadefingers dem Zwielicht entrissen. Feine eingravierte Linien, sanfte Wölbungen und angedeutete Falten, die die Struktur der Haut darstellen sollten, wurden sichtbar. Genau wie eine kleine, längliche Erhebung im Sand direkt unter dem Monolithen – ein weiterer Finger.

Finger, die zu einer Hand gehören. Einer Hand, die zu einem Arm gehört. Einem Arm, der zu einem Körper gehört... So logisch diese Reihenfolge auch sein mochte – es war absolut unmöglich, dachte Felisin. So ein Ding konnte einfach nicht hergestellt werden; so ein Ding konnte unmöglich aufrecht dastehen oder in einem Stück bleiben. Vielleicht eine Hand, ja – aber kein Arm, kein Körper.

Heboric sagte nichts. Er saß einfach nur reglos da, die Arme noch immer um den Oberkörper geschlungen, während die Dunkelheit der Nacht verschwand. Das Handgelenk, mit dem er das Bauwerk berührt hatte, hielt er an die Brust gepresst, als ob die Erinnerung an die Berührung Schmerzen auslöste. Felisin, die ihn im heller werdenden Morgenlicht anstarrte, war einmal mehr von seinen Tätowierungen fasziniert. Sie schienen irgendwie intensiver geworden zu sein, schienen schärfer hervorzutreten.

Baudin stand schließlich auf und fing an, dicht an der Basis des Fingers – dort, wo am längsten Schatten herrschen würde – die beiden kleinen Zelte aufzuschlagen. Er ignorierte den sich auftürmenden Monolithen, als wäre er nichts anderes als die Krone eines Baums, und machte sich daran, die langen, dünnen Heringe durch die mit Bronze eingefassten Ecken des ersten Zelts in den Sand zu treiben.

Die Sonne stieg allmählich höher, und der Himmel verfärbte sich zu einem satten Orange. Zwar hatte Felisin einen solchen Himmel auch schon zuvor auf der Insel gesehen, doch noch niemals hatte er so gesättigt gewirkt. Sie konnte ihn beinahe schmecken, bitter wie Eisen.

Als Baudin sich dem zweiten Zelt zuwandte, erhob sich Heboric schließlich; er reckte den Kopf in die Höhe, sog prüfend die Luft ein und blinzelte dann nach oben. »Beim Atem des Vermummten!«, knurrte er. »Reicht das denn alles noch nicht?«

»Was ist?«, wollte Felisin wissen. »Ist irgendwas nicht in Ordnung?«

»Es hat einen Sturm gegeben«, sagte der Ex-Priester. »Das da ist Otataral-Staub.«

Baudin hielt mit seiner Arbeit an den Zelten inne. Er strich sich mit einer Hand über die Schulter, dann starrte er mit gerunzelter Stirn seine Handfläche an. »Er sinkt herab«, sagte er.

»Wir sollten besser irgendwo Schutz suchen ...«

Felisin schnaubte. »Als ob das irgendwas nützen würde. Wir haben das Zeug abgebaut – nur für den Fall, dass ihr das vergessen haben solltet! Was auch immer es für einen Effekt auf uns gehabt haben mag, so ist der schon vor langer Zeit eingetreten.«

»In Schädelmulde konnten wir uns aber am Ende eines Tages waschen«, sagte Heboric, während er einen Arm unter die Verschnürung des Packens mit den Nahrungsmittelvorräten schob und ihn zu den Zelten zog.

Sie sah, dass er den anderen Stumpf – den, mit dem er den Monolithen berührt hatte – noch immer gegen die Magengrube gepresst hielt.

»Und du glaubst, das macht irgendeinen Unterschied?«, fragte sie. »Wenn das stimmt, warum ist dann jeder Magier, der dort gearbeitet hat, gestorben oder wahnsinnig geworden? Du denkst gerade nicht besonders logisch, Heboric ...«

»Setz dich da hin«, schnappte der alte Mann und duckte sich unter der Zeltklappe des ersten Zelts hindurch, wobei er das Paket mit den Nahrungsmitteln mitzog.

Felisin warf einen Blick auf Baudin. Der Schläger zuckte die Schultern und beendete ohne besondere Hast seine Arbeit am zweiten Zelt.

Sie seufzte. Sie war erschöpft, jedoch nicht schläfrig. Wenn sie ins Zelt kroch, würde sie aller Wahrscheinlichkeit nach einfach nur mit offenen Augen daliegen und das Webmuster der Zeltplane vor ihrer Nase studieren.

»Am besten, du gehst rein«, sagte Baudin.

»Ich bin nicht müde.«

Er trat näher an sie heran, seine Bewegungen waren so geschmeidig wie die einer Katze. »Es ist mir verdammt noch mal egal, ob du müde bist oder nicht. Aber wenn du draußen in der Sonne hocken bleibst, wird dich das austrocknen, was bedeutet, dass du mehr Wasser trinken wirst, was bedeutet, dass für uns weniger bleibt, was bedeutet – mach, dass du in das verdammte Zelt kommst, Schätzchen, bevor ich dir den Hintern versohle.«

»Wenn Beneth hier wäre, würdest du nicht...«

»Der verdammte Bastard ist tot!«, knurrte er wütend. »Und der Vermummte soll seine verfaulte Seele in den tiefsten Abgrund mitnehmen!«

Sie grinste höhnisch. »Ah, jetzt bist du tapfer. Aber du hättest es niemals gewagt, dich ihm entgegenzustellen.«

Er musterte sie, wie er eine Blutfliege mustern würde, die in einem Spinnennetz gefangen war. »Vielleicht habe ich es ja getan«, sagte er, und im letzten Augenblick, bevor er sich umdrehte, huschte ein verschlagenes Grinsen über seine Gesichtszüge.

Felisin schaute ihm nach, wie er zu dem anderen Zelt ging, sich hinkauerte und hineinkroch. Ihr war plötzlich kalt. Du kannst mich nicht zum Narren halten, Baudin. Du warst ein Köter, der sich in kleinen Gässchen rumgedrückt hat, und das Einzige, was sich geändert hat, ist, dass du die Gässchen hinter dir gelassen hast. Wenn Beneth hier wäre, würdest du dich zu seinen Füßen im Sand winden. Sie wartete aus Trotz noch eine weitere Minute, ehe sie in ihr eigenes Zelt kroch.

Sie breitete ihre Decken aus und legte sich hin. Ihre Begierde zu schlafen war so groß, dass sie sie am Einschlafen hinderte. Sie starrte nach oben auf die dunklen Webfehler in der Zeltleinwand und wünschte sich, sie hätte ein bisschen Durhang oder einen Krug Wein. Der scharlachrote Fluss ihrer Träume war zu einer Art Umarmung geworden, einer Umarmung, die sich beschützend um sie legte und sie willkommen hieß. Aus ihrer Erinnerung beschwor Felisin ein Echo dieses Bildes und all der Gefühle herauf, die es begleiteten. Der Fluss strömte mit einer ganz bestimmten Absicht dahin, gemessen und unerbittlich; wenn sie sich in den warmen Strömungen befand, fühlte sie sich, als wäre sie kurz davor, diese Absicht zu verstehen. Sie wusste, sie würde sie schon bald entdecken, und mit dem neuen Wissen würde sich ihre Welt verändern – und vor allem auch sie selbst. Dann würde sie endlich mehr sein als einfach nur ein pummeliges Mädchen in schlechter Verfassung, das missbraucht worden und dessen Vision seiner Zukunft auf Tage reduziert war, wo sie doch eigentlich in Dekaden gemessen werden sollte – ein Mädchen, das sich selbst nur mit höhnischer Ironie als jung bezeichnen konnte.

Doch bei all dem, was der Traum versprach, hatte auch die Selbstachtung einen Wert, bildete einen Kontrapunkt zwischen den Stunden, in denen sie wach war, und denen, in denen sie schlief, zwischen dem, was gewesen war, und dem, was vielleicht sein würde. Eine Spannung zwischen Realität und Einbildung – so etwa hätte Heboric es aus der Sicht seines alles durchschauenden kritischen Auges dargestellt. Der Gelehrte in Sachen menschlicher Natur hatte eine schlechte Meinung von eben dieser Natur. Er würde über ihre Vorstellung von Schicksal lachen, und ihre Überzeugung, dass der Traum sehr wohl etwas Greifbares bot, würde ihm nur einen Anlass geben, seine Verachtung zu äußern. Nicht, dass er wirklich einen Anlass brauchen würde. Ich hasse mich, aber er hasst alle anderen. Wer von uns beiden hat wohl mehr verloren?

 

Als sie aufwachte, fühlte sie sich wie zerschlagen, ihr Mund war völlig ausgedörrt, und sie hatte den Geschmack von Rost auf der Zunge. Die Luft war schlierig, und ein düsteres graues Licht sickerte durch die Zeltleinwand. Sie hörte Geräusche von draußen – ein kurzes Murmeln von Heboric, Baudins gegrunzte Antwort, das Rascheln von Stoff. Ihre Gefährten packten zusammen. Felisin schloss die Augen, versuchte, den gleichmäßig dahinfließenden Fluss wieder zurückzuholen, der sie durch den Schlaf getragen hatte, doch er war fort.

Sie setzte sich auf, stöhnte, als jedes Gelenk protestierte. Sie wusste, dass es ihren beiden Begleitern genauso ging. Heboric vermutete irgendeinen Ernährungsmangel als Ursache, aber er konnte nicht sagen, was genau ihnen fehlte. Sie hatten getrocknete Früchte, in Streifen geschnittenes geräuchertes Maultierfleisch und eine Art Dosii-Brot, dunkel und so hart wie Backstein.

Mit schmerzenden Muskeln kroch sie aus dem Zelt in die kühle Abendluft. Die beiden Männer saßen da und aßen, die Packen mit den Rationen lagen um sie herum. Es war nicht mehr viel übrig,mit Ausnahme des Brotes, das salzig war und furchtbar durstig machte. Heboric hatte versucht, darauf zu bestehen, dass sie das Brot als Erstes aßen, während der ersten paar Tage, solange sie noch kräftig und noch nicht ausgetrocknet waren; doch weder sie noch Baudin hatten auf ihn gehört, und aus irgendeinem Grund hatte er die Idee bei der nächsten Mahlzeit aufgegeben. Felisin erinnerte sich, dass sie ihn damit aufgezogen hatte. Du hast wohl keine Lust, deine eigenen Ratschläge zu befolgen, was, alter Mann ? Doch der Rat war gut gewesen. Sollten sie die von Salzwasser umspülte tödliche Küste erreichen, würden sie nichts anderes mehr zu essen haben als womöglich noch salzigeres Brot – und nur noch wenig Wasser, um ihren Durst zu stillen.

Vielleicht haben wir deshalb nicht zugehört, weil keiner von uns beiden daran geglaubt hat, dass wir jemals die Küste erreichen würden. Vielleicht ist Heboric nach der ersten Mahlzeit zu dem gleichen Schluss gekommen. Allerdings – ich habe zugegebenermaßen nicht so weit vorausgedacht. Es war nicht das weise Hinnehmen der Sinnlosigkeit all unserer Bemühungen. Ich habe mich einzig und allein aus Gehässigkeit über den Ratschlag lustig gemacht und ihn ignoriert. Was Baudin anging, nun, Verbrecher mit Verstand waren ungewöhnlich, und er war alles andere als ungewöhnlich.

Sie gesellte sich zu ihren Gefährten, um zu frühstücken, ignorierte ihre Blicke, als sie einen zusätzlichen Schluck von dem lauwarmen Wasser nahm, um das geräucherte Fleisch hinunterzuspülen.

Als sie fertig war, packte Baudin die Nahrungsmittel um.

Heboric seufzte. »Was sind wir nur für ein Trio!«, sagte er.

»Du meinst die Abneigung, die wir einander entgegenbringen?«, fragte Felisin und zog eine Augenbraue in die Höhe. »Das sollte dich eigentlich nicht überraschen, alter Mann«, fuhr sie dann fort. »Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest – wir sind alle drei auf eine gewisse Weise gebrochen. Stimmt's etwa nicht? Die Götter wissen, dass du dich oft genug über die Tatsache, dass ich in Ungnade gefallen bin, ausgelassen hast. Und Baudin ist nichts anderes als ein Mörder – er kommt ohne jeden Gedanken an Brüderlichkeit aus, und außerdem ist er ein Maulheld, was bedeutet, dass er tief in seinem Inneren ein Feigling ist...« Sie warf ihm einen Blick zu; er hockte bei den Rucksäcken und blickte sie ausdruckslos an. Felisin schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln. »Stimmt's nicht, Baudin?«

Er sagte nichts, doch während er sie musterte, glaubte sie die Andeutung eines Stirnrunzelns zu erkennen.

Felisin wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Heboric zu. »Deine Fehler sind offensichtlich genug – so offensichtlich, dass man sie nicht einmal mehr erwähnen muss.«

»Spar dir deinen Atem, Schätzchen«, murmelte der ehemalige Priester. »Ich brauche kein fünfzehnjähriges Mädchen, das mir meine Fehler vorhält.«

»Warum hast du die Priesterschaft verlassen, Heboric ? Ich vermute, du hast Wertgegenstände mitgehen lassen. Deshalb haben sie dir die Hände abgehackt und dich anschließend auf den Abfallhaufen hinter dem Tempel geworfen. Das genügt ganz sicher, um sich danach die Geschichtsschreibung als neuen Beruf auszusuchen.«

»Es ist Zeit zu gehen«, sagte Baudin.

»Aber er hat meine Frage noch nicht beantwortet...«

»Ich würde sagen, er hat, Mädchen. Und jetzt halt die Klappe. Heute wird nicht der alte Mann den zweiten Rucksack tragen, sondern du.«

»Ein vernünftiger Vorschlag, aber nein, danke!«

Baudin schoss das Blut ins Gesicht, und er stand auf.

»Hört schon auf«, sagte Heboric. Er ging zu den Rucksäcken hinüber und schlang sich die Riemen um die Arme. Im herrschenden Zwielicht sah Felisin zum ersten Mal den Stumpf, mit dem er den Jadefinger berührt hatte. Er war geschwollen und rot, die faltige Haut gespannt. Tätowierungen sammelten sich am Rande des Handgelenks, ließen es beinahe schwarz erscheinen. Jetzt erst bemerkte sie, dass sämtliche Zeichnungen auf seinem Körper kräftiger geworden waren, dass sie zügellos wie Weinreben gewachsen waren.

»Was ist denn mit dir passiert?«

Er schaute an sich hinunter. »Ich wollte, ich wüsste es.«

»Du hast dir an dieser Statue das Handgelenk verbrannt.«

»Nicht verbrannt«, sagte der alte Mann. »Obwohl es schmerzt wie der Kuss des Vermummten. Kann vergraben im Otataral-Sand Magie gedeihen? Kann Otataral Magie hervorbringen? Auf keine von diesen Fragen habe ich eine Antwort, Schätzchen.«

»Nun«, murmelte sie, »es war auch eine ziemlich dumme Idee – ich meine, das verdammte Ding zu berühren. Geschieht dir recht.«

Baudin setzte sich ohne jede weitere Bemerkung in Bewegung. Felisin beachtete Heboric nicht weiter, sondern folgte dem Schläger. »Kommen wir heute Nacht an ein Wasserloch?«, fragte sie.

Der große Mann gab ein Grunzen von sich. »Diese Frage hättest du dir stellen sollen, bevor du mehr getrunken hast, als dir zusteht.«

»Nun, ich hab's halt nicht getan. Also, gibt es ein Wasserloch?«

»Wir haben gestern eine halbe Nacht verloren.«

»Und das bedeutet?«

»Das bedeutet, es gibt kein Wasser bis morgen Nacht.« Er drehte sich zu ihr um, während er weiter dahinschritt. »Du wirst dir noch wünschen, du hättest dir den Schluck aufgehoben.«

Sie antwortete nicht. Sie hatte nicht die Absicht, ehrenhaft zu sein, wenn sie das nächste Mal etwas trinken konnte. Ehrenhaft zu sein ist eine Eigenschaft für Narren. Ehrenhaft zu sein ist ein tödlicher Fehler. Ich werde nicht wegen einer Ehrensache sterben, Baudin. Heboric wird wahrscheinlich sowieso draufgehen. Ihm das Wasser zu geben wäre Verschwendung.

Der Priester stapfte mühsam hinter ihnen her, das Geräusch seiner Schritte wurde schwächer, als er weiter und weiter zurückfiel, während Stunde um Stunde verstrich. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass am Ende sie und Baudin – nur sie beide – an der Westküste dieser elenden Insel stehen und hinaus aufs Meer blicken würden. Die Schwachen bleiben immer auf der Strecke. Das war das erste Gesetz von Schädelmulde gewesen; tatsächlich war es die erste Lektion, die sie gelernt hatte – noch in den Straßen von Unta, auf dem Weg zu den Sklavenschiffen.

Damals hatte sie in ihrer Naivität den Mord an Lady Gaesen als eine entsetzliche Tat betrachtet, hatte Baudin dafür im Stillen verflucht. Wenn er heute das Gleiche täte – Heboric aus seinem Elend erlösen –, würde sie noch nicht einmal blinzeln. Dies ist eine ziemlich lange Reise. Wo wird sie wohl enden? Sie dachte an den Fluss aus Blut, und dieser Gedanke wärmte sie.

 

Wie Baudin vorausgesagt hatte, fanden sie bis zum Ende dieses Nachtmarschs keine Wasserstelle. Als Lagerplatz wählte er eine sandige Stelle im Schutz einiger Kalkstein-Vorsprünge, die der Wind zu bizarren Skulpturen geformt hatte. Gebleichte menschliche Knochen lagen an der Stelle herum, doch Baudin warf sie einfach beiseite und begann, die Zelte aufzuschlagen.

Felisin setzte sich hin, den Rücken an einen Felsen gelehnt, und schaute zurück zum fernen Ende der flachen Ebene, die sie gerade durchquert hatten; dort musste Heboric irgendwann auftauchen. Er war noch nie zuvor so weit zurückgeblieben – die Ebene war mehr als eine Meile breit –, und als die Morgendämmerung den Horizont vor ihr mit einem rötlichen Schimmer übergoss, begann sie sich zu fragen, ob nicht irgendwo da draußen sein lebloser Körper lag.

Baudin kauerte sich neben ihr hin. »Ich hab dir doch gesagt, du solltest den Rucksack mit unseren Vorräten nehmen«, sagte er und blinzelte gen Osten.

Dann hatte es also nichts damit zu tun, dass du den alten Mann besonders nett findest. »Du wirst eben losgehen und die Sachen suchen müssen, oder?«

Baudin streckte sich, starrte einen langen Augenblick zum östlichen Horizont. Fliegen schwirrten in der immer noch kühlen Luft um ihn herum.

Sie sah zu, wie er sich in Bewegung setzte, und sie keuchte auf, als er in einen gleichmäßigen Laufschritt verfiel, sowie er die Felsen hinter sich hatte. Zum ersten Mal jagte Baudin ihr richtig Angst ein. Er hat Essen beiseite geschafft – er hat einen versteckten Schlauch voller Wasser –  sonst könnte er unmöglich noch solche Reserven haben. Sie mühte sich auf die Beine und huschte hinüber zum anderen Rucksack.

Die Zelte waren aufgeschlagen, die Decken in ihrem Innern ausgerollt. Der Rucksack selbst lag als leeres Bündel daneben. In ihm befand sich noch ein verschlossener Beutel, von dem sie wusste, dass er ihre Erste-Hilfe-Ausrüstung enthielt; außerdem eine zerschrammte Büchse mit Feuerstein und Zunder, die sie noch nie zuvor gesehen hatte – sie muss Baudin gehören –, und, unter einer Klappe, die an einer Seite am Boden des Rucksacks angenäht war, ein kleines, flaches Päckchen aus Hirschfell.

Kein Schlauch mit Wasser, keine verborgenen Taschen mit Nahrungsmitteln. Unerklärlicherweise ließ das ihre Furcht nur noch größer werden.

Felisin hockte sich neben dem Rucksack in den nachgiebigen Sand. Sie zögerte einen Augenblick, dann griff sie nach dem Hirschfellbündel, löste die Schnüre und wickelte es aus. Es enthielt einen Satz hervorragend gearbeiteter Diebeswerkzeuge – eine Sammlung von Dietrichen, winzigen Sägen und Feilen, und Wachsklumpen, außerdem ein kleines Säckchen mit feinem Staub und zwei auseinander genommene Stilette. Letztere besaßen tief gebläute nadelspitze Klingen, die einen bitteren, beißenden Geruch verströmten, polierte und mit dunklen Flecken übersäte Griffe aus Knochen, aus zwei miteinander verbundenen Stücken bestehende, wie ein X geformte Parierstangen und mit einem Bleikern beschwerte Knäufe aus Eisen. Wurfmesser. Die Waffen eines Assassinen. Der letzte Gegenstand in dem Päckchen war in eine Lederschlinge gewickelt: die Kralle einer großen Raubkatze, bernsteinfarben und glatt. Sie fragte sich, ob sie womöglich vergiftet war, ob unsichtbar auf der Oberfläche ein Gift aufgetragen worden war. Der Gegenstand wirkte gleichermaßen bedrohlich und geheimnisvoll.

Felisin wickelte alles wieder ein und packte es zurück in den Rucksack. Sie hörte schwere Schritte aus östlicher Richtung näher kommen und stand auf.

Baudin tauchte zwischen den Kalkstein-Vorsprüngen auf, den Rucksack auf dem Rücken und Heboric in den Armen.

Der Schläger schien noch nicht einmal außer Atem zu sein.

»Er braucht Wasser«, sagte Baudin, als er den Lagerplatz erreichte und den Bewusstlosen in den weichen Sand gleiten ließ. »Es ist in diesem Packen, Mädchen. Mach schnell...«

Felisin rührte sich nicht. »Warum? Wir brauchen es dringender, Baudin.«

Der Hüne verharrte einen Herzschlag, dann zog er die Arme aus den Tragschlaufen und zerrte den Rucksack herum. »Würdest du wollen, dass er dasselbe sagt, wenn du da liegen würdest? Sobald wir von dieser Insel verschwunden sind, können wir alle unserer Wege gehen. Aber im Augenblick brauchen wir einander, Mädchen.«

»Er stirbt. Gib's doch endlich zu.«

»Wir sterben alle.« Er zog den Stöpsel aus der Blase und schob Heboric die Trinköffnung zwischen die aufgesprungenen Lippen. »Trink, alter Mann. Schluck's runter.«

»Dann sind das deine Rationen, die du ihm da gibst, Baudin«, sagte Felisin. »Nicht meine.«

»Nun«, sagte er mit einem kalten Grinsen, »niemand wird dich für etwas anderes als eine Adlige halten. Erinnere dich nur an Schädelmulde. Für jeden die Beine breit zu machen war wohl Beweis genug, würde ich sagen.«

»Ich habe dafür gesorgt, dass wir alle am Leben geblieben sind, du verdammter Bastard.«

»Du hast dafür gesorgt, dass du rund und faul geblieben bist, wolltest du wohl sagen. Das meiste von dem, was Heboric und ich gegessen haben, haben wir für die Gefälligkeiten bekommen, die ich den Dosii-Wachen erwiesen habe. Beneth hat uns den Bodensatz gegeben, damit du weiter schön nett zu ihm warst. Er hat gewusst, dass wir dir nichts davon sagen würden. Und er hat sich über deine edlen Absichten köstlich amüsiert.«

»Du lügst.«

»Ganz wie du meinst«, erwiderte er, noch immer grinsend.

Heboric hustete, öffnete die Augen. Er blinzelte im Licht der Dämmerung.

»Du solltest dich mal sehen«, sagte Baudin zu ihm. »Aus fünf Fuß Entfernung bist du eine einzige Tätowierung, so dunkel wie ein Magier aus Dal Hon. Aus dieser Nähe kann ich jede einzelne Linie erkennen, jedes Haar vom Pelz des Ebers. Es bedeckt auch deinen Stumpf... nicht den, der geschwollen ist, sondern den anderen. Hier, trink noch was ...«

»Bastard!«, schnappte Felisin. Sie sah zu, wie der letzte Rest ihrer Wasservorräte in den Mund des alten Mannes rann. Er hat Beneth einfach liegen gelassen, damit er stirbt. Und jetzt versucht er auch noch, die Erinnerung an ihn zu vergiften. Es wird nicht klappen. Was ich getan habe, habe ich getan, um die beiden am Leben zu erhalten, und sie hassen diese Tatsache – alle beide. Sie fühlen sich schuldig angesichts des Preises, den ich bezahlt habe. Und diese Schuldgefühle fressen sie auf. Genau das versucht Baudin jetzt zu leugnen. Er befreit sich von seinem Gewissen, damit er nichts spürt, wenn er mich mit einem von diesen Messern durchbohrt. Nur eine weitere tote Adlige. Eine weitere Lady Gaesen.

Sie blickte Heboric in die Augen, als sie wieder sprach. »Ich träume jede Nacht von einem Fluss aus Blut. Ich schwimme darin. Am Anfang seid ihr beide auch da, aber nur am Anfang. Denn ihr werdet beide in dem Fluss ertrinken. Glaubt, was ihr wollt. Ich bin diejenige, die das alles überleben wird. Ich. Ich ganz allein.«

Sie drehte sich um, kehrte den beiden Männern den Rücken zu und ging zu ihrem Zelt.

 

In der nächsten Nacht fanden sie die Quelle eine Stunde, bevor der Mond aufging. Sie verbarg sich am Grund einer felsigen Senke und wurde wohl von unten durch einen unsichtbaren Riss im Felsgestein gespeist. Die Oberfläche bestand aus grauem Schlamm. Baudin kauerte sich an den Rand, machte jedoch keinerlei Anstalten, ein Loch zu graben und das Wasser zu trinken, das sich darin sammeln würde. Um Felisin drehte sich alles vor Schwäche, und nach einem Augenblick ließ sie ihr Bündel fallen und kniete sich neben ihn.

Das Grau leuchtete schwach und kam von einer Schicht ertrunkener Kapmotten; sie hatten die Flügel ausgebreitet, die sich gegenseitig überlappten und so die ganze Oberfläche bedeckten. Felisin streckte einen Arm aus, um den schwimmenden Teppich beiseite zu wischen, doch Baudins Hand zuckte vor, schloss sich um ihr Handgelenk.

»Es ist verseucht«, sagte er. »Voller Kapmotten-Larven, die die Leichen ihrer Eltern fressen.«

Beim Atem des Vermummten, nicht noch mehr Larven! »Dann seihen wir das Wasser durch ein Stück Stoff«, sagte Felisin.

Er schüttelte den Kopf. »Die Larven pissen Gift, reichern das Wasser damit an. Das schaltet die Rivalen aus. Es wird einen Monat dauern, bis sich das Wasser wieder trinken lässt.«

»Wir brauchen es, Baudin.«

»Es wird dich umbringen.«

Sie starrte hinunter auf den grauen Schlamm; der verzweifelte Wunsch zu trinken beherrschte sie, ein schmerzhaftes Brennen in ihrer Kehle, in ihren Gedanken. Das kann einfach nicht sein. Ohne dieses Wasser werden wir sterben.

Baudin wandte sich ab. Heboric war angekommen. Er winkte, während er den felsigen Abhang heruntergestolpert kam. Seine Haut war so schwarz wie die Nacht, schimmerte jedoch silbern, da das eingravierte Eberfell das Licht der Sterne über ihren Köpfen reflektierte. Die Infektion – oder was auch immer es gewesen war – des Stumpfes an seinem rechten Handgelenk war mittlerweile wieder zurückgegangen und hatte ein eiterndes, zerrissenes Geflecht aus tief eingerissener Haut zurückgelassen. Es verströmte einen merkwürdigen Geruch nach pulverisiertem Stein.

Er hatte etwas Gespenstisches an sich, und angesichts seiner albtraumhaften Erscheinung begann Felisin zu lachen. Sie war kurz davor, hysterisch zu werden. »Erinnerst du dich an den Ring, Heboric? In Unta? Der Akolyth des Vermummten, der Priester, der über und über von Fliegen bedeckt war ... der nur aus Fliegen bestanden hat. Er hatte eine Botschaft für dich. Und, was sehe ich jetzt? Wer stolpert in mein Blickfeld? Ein Mann, der aus einem Schwarm besteht. Kein Fliegenschwarm, sondern einer aus Tätowierungen. Es sind verschiedene Götter, aber es ist die gleiche Botschaft, so sehe ich das. Lass Fener durch deine rissigen Lippen sprechen, alter Mann! Wird die Botschaft deines Gottes so klingen wie die des Vermummten? Besteht die Welt tatsächlich aus unzähligen Dingen, die sich im Gleichgewicht befinden? Das unendliche Auf und Ab von Schicksal und Bestimmung. Eber des Sommers, der du den Krieg säst – was sagst du?«

Der alte Mann starrte sie an. Er öffnete den Mund, doch kein Wort drang über seine Lippen.

»Was war das?« Felisin legte eine Hand ans Ohr. »Das Surren von Flügeln? Bestimmt nicht!«

»Närrin«, murmelte Baudin. »Wir sollten uns einen Lagerplatz suchen. Aber nicht hier.«

»Schlechte Vorzeichen, Mörder? Ich hätte nie gedacht, dass dir so was etwas bedeutet.«

»Spar dir deinen Atem, Mädchen«, sagte Baudin, während er den felsigen Abhang musterte.

»Es macht keinen Unterschied«, erwiderte sie. »Nicht jetzt. Wir tanzen noch immer im Augenwinkel eines Gottes, aber es ist nur zur Schau. Wir sind tot, egal, wie viel wir auch herumzucken mögen. Wie sieht das Symbol des Vermummten im Reich der Sieben Städte aus? Na los, sag schon, Baudin, du warst doch in Aren; was für Gravuren gibt es in den Tempeln, die dem Lord des Todes geweiht sind?«

»Ich vermute, du weißt es bereits«, sagte Baudin.

»Kapmotten, die Vorboten, die sich von Aas ernähren. Für sie ist es der Nektar des Verfalls, die Rose, die in der Sonne erblüht. Der Vermummte hat uns auf dem Ring in Unta ein Versprechen gegeben, und es wird sich bald erfüllen.«

Baudin kletterte zum Rand der Senke empor. Ihre Worte folgten ihm. Er drehte sich um und schaute zu ihr hinunter; die aufgehende Sonne hüllte ihn in einen orangefarbenen Schimmer. »So viel zu deinem Fluss aus Blut«, sagte er leise in belustigtem Tonfall.

Ein Schwindelgefühl stieg in ihr auf. Ihre Beine gaben nach, und sie setzte sich abrupt hin, stieß sich den Hüftknochen an einer harten Felskante. Sie schaute sich um und sah Heboric eine Armspanne entfernt zusammengekauert am Boden liegen. Die Sohlen seiner Mokassins waren durchgelaufen und enthüllten wunde, glänzende Fußsohlen. War er schon tot? So gut wie. »Tu irgendwas, Baudin.«

Er gab keine Antwort.

»Wie weit ist es noch bis zur Küste?«, fragte sie.

»Ich bezweifle, dass das noch irgendeine Rolle spielt«, sagte er nach einem kurzen Augenblick. »Das Boot sollte drei Nächte lang oder so ähnlich das Ufer abfahren, nicht länger. Wir sind noch mindestens vier Tage von der Küste entfernt, und wir werden von Minute zu Minute schwächer.«

»Und wo ist die nächste Wasserstelle?«

»Einen Marsch von sieben Stunden entfernt. Aber in unserer jetzigen Verfassung werden wir eher vierzehn Stunden brauchen.«

»Letzte Nacht warst du aber ziemlich lebhaft!«, fuhr sie ihn an. »Bist losgerannt, um Heboric einzusammeln. Außerdem wirkst du längst nicht so ausgedörrt wie wir ...«

»Ich trinke meine Pisse.«

»Du tust was?«

Er grunzte. »Du hast mich schon richtig verstanden.«

»Das war keine besonders gute Antwort«, entschied sie nach kurzem Überlegen. »Und erzähl mir bloß nicht, dass du auch noch deine eigene Scheiße frisst. Es würde immer noch nicht alles erklären. Hast du einen Pakt mit irgendeinem Gott geschlossen, Baudin?«

»Glaubst du etwa, es ist leicht, so etwas zu tun? He, Königin der Träume, rette mich, dann diene ich dir. Sag mir doch, wie viele von deinen Gebeten erhört worden sind. Außerdem vertraue ich auf nichts und niemanden, außer auf mich selbst.«

»Dann hast du also noch nicht aufgegeben?«

Sie dachte, er würde nicht antworten, doch nach einer langen Minute, in der sie sich immer weiter in sich selbst zurückgezogen hatte, riss er sie mit einem barschen Nein! aus ihren Tagträumen.

Er verlagerte das Gewicht seines Rucksacks und kam dann den Hang heruntergeschlittert. Etwas in seinen beherrschten, sparsamen Bewegungen jagte ihr plötzlich Angst ein. Er bezeichnet mich als mollig, schaut mich an wie ein Stück Fleisch – nicht so, wie Beneth mich angeschaut hat, eher wie jemand, der seine nächste Mahlzeit betrachtet. Mit klopfendem Herzen hielt sie nach den ersten Anzeichen Ausschau, nach dem Aufblitzen von Hunger in seinen kleinen brutalen Augen.

Doch er kauerte sich nur neben Heboric auf den Boden und drehte den Bewusstlosen auf den Rücken. Er beugte sich über ihn, um festzustellen, ob der ehemalige Priester noch atmete, und lehnte sich dann seufzend zurück.

»Ist er tot?«, fragte Felisin. »Du musst ihm die Haut abziehen. Egal, wie hungrig ich auch bin – ich werde auf gar keinen Fall tätowiertes Fleisch essen.«

Baudin starrte sie einen Augenblick an, sagte jedoch nichts, sondern wandte sich wieder Heboric zu, um ihn weiter zu untersuchen.

»Sag mir, was du da eigentlich tust«, sagte sie schließlich.

»Er lebt, und das allein kann uns vielleicht retten.« Er machte eine kurze Pause. »Wie tief du fällst, bedeutet mir nichts, Mädchen. Aber tu mir einen Gefallen, und behalte deine Gedanken für dich.«

Sie sah zu, wie er Heboric die verrotteten Kleider auszog und dabei das erstaunliche Geflecht von Tätowierungen darunter enthüllte. Dann setzte er sich auf die andere Seite, damit sein Schatten hinter ihm blieb, ehe er sich vorbeugte und das dunkle Muster auf der Brust des Priesters studierte. Anscheinend suchte er nach etwas Bestimmtem.

»Ein erhobener Nacken«, sagte sie dumpf, »die Enden sind heruntergezogen und berühren sich fast, bilden beinahe einen Kreis. Das Ganze umgibt ein Paar Hauer.«

Er starrte sie aus zusammengekniffenen Augen an.

»Das ist Feners Zeichen, das, das heilig ist«, sagte sie. »Danach suchst du doch, oder nicht? Er ist zwar exkommuniziert, aber Fener ist noch immer in ihm. Das zumindest wird durch diese lebenden Tätowierungen deutlich.«

»Und was ist mit dem Zeichen?«, fragte er kühl. »Wie kommt es, dass du über solche Dinge Bescheid weißt?«

»Ich habe Beneth eine Lügengeschichte erzählt«, erklärte sie, während Baudin sich wieder den Tätowierungen des Priesters zuwandte. »Ich habe Heboric gebraucht, um mir dabei zu helfen. Ich habe Einzelheiten aus dem Kult gebraucht. Er hat mir einiges erzählt. Du hast vor, den Gott anzurufen.«

»Ich hab's gefunden«, sagte er.

»Und was jetzt? Wie erreichst du den Gott eines anderen Mannes, Baudin? Dies Zeichen ist kein Schlüsselloch, kein heiliges Schloss, das du knacken kannst.«

Bei diesen Worten zuckte er zusammen; seine Augen glitzerten, als sein Blick sich in die ihren bohrte.

Sie blinzelte nicht, verriet nichts.

»Was glaubst du, wie er seine Hände verloren hat?«, fragte Felisin unschuldig.

»Er war früher ein Dieb.«

»Stimmt. Aber die Hände hat er durch die Exkommunizierung verloren. Du musst wissen, es hat tatsächlich einen Schlüssel gegeben. Als Hohepriester konnte er ein Gewirr benutzen, das ihm Zugang zu seinem Gott gewährt hat. Es war in die Handfläche seiner rechten Hand tätowiert. Es musste gegen das heilige Zeichen gehalten werden – das heißt ganz einfach, Hand an die Brust, so einfach wie ein Gruß. Es hat Tage gedauert, bis ich mich wieder erholt habe, nachdem Beneth mich verprügelt hatte. Und Heboric hat geredet. Hat mir viele Dinge erzählt. Eigentlich hätte ich sie alle wieder vergessen müssen, musst du wissen. Schließlich habe ich Unmengen Durhang-Tee getrunken. Aber das Gebräu hat nur die Oberfläche zerstört, den Filter, der einem sagt, was Bedeutung hat und was nicht. Seine Worte sind ungehindert hindurchgetröpfelt und geblieben. Du kannst es nicht tun, Baudin.«

Der Schläger hob Heborics rechten Unterarm, musterte den glänzenden, geröteten Stumpf im heller werdenden Licht.

»Er kann niemals zurückkehren«, sagte Felisin. »Dafür hat die Priesterschaft gesorgt. Er ist nicht mehr das, was er einst gewesen ist – und das war's.«

Mit einem leisen Schnauben drehte Baudin Heborics Unterarm um und presste den Stumpf gegen das heilige Zeichen.

Die Luft schrie gellend auf. Das Geräusch schlug auf sie ein, schleuderte sie zu Boden, ließ sie beide scharren, kratzen, versuchen, sich wie irrsinnig in den nackten Fels zu graben – nur weg ... weg von dem Schmerz! Weg! In dem Kreischen lag eine solche Agonie, dass sie wie Feuer herabgestiegen kam, den Himmel über ihnen verdunkelte, feine Risse und Spalten im Felsgestein verursachte, wobei diese Risse von einer Stelle unter Heborics reglosem Körper ausgingen und sich wie blutige Rinnsale ausbreiteten.

Blut strömte Felisin aus den Ohren. Sie versuchte wegzukriechen, den vibrierenden Hang hinaufzukriechen. Die Spalten – Heborics Tätowierungen waren über seinen Körper hinausgewachsen, hatten die unergründliche Distanz zwischen Haut und Stein überwunden – zuckten unter ihr hin und her, verwandelten den Felsen unter ihren Händen in etwas Glattes, Schmieriges.

Alles hatte zu beben begonnen. Selbst der Himmel schien sich zu winden, schien hierhin und dorthin gerissen zu werden, als hätte ein Dutzend unsichtbarer Hände durch unsichtbare Öffnungen gegriffen und mit kalter, zerstörerischer Wut das Gewebe der Welt gepackt.

Der Schrei nahm kein Ende. Wut und unerträglicher Schmerz verschmolzen miteinander wie zwei Stränge in einem Seil, das immer mehr gespannt wird. Das Geräusch legte sich wie eine Schlinge um ihren Hals, blockierte die äußere Welt, die Luft, das Licht.

Irgendetwas prallte auf den Boden. Das Felsgestein unter ihr erzitterte, schleuderte sie in die Höhe. Sie landete hart auf einem Ellbogen. Die Knochen ihres Arms vibrierten wie eine Schwertklinge. Der Glanz der Sonne wurde schwächer, während Felisin verzweifelt nach Luft schnappte. Ihre weit aufgerissenen Augen erhaschten einen kurzen Blick auf etwas jenseits der Senke, das sich in einer wogenden Staubwolke schwerfällig von der Ebene erhob. Ein zweizeiliger, mit verfilztem Fell bedeckter Huf, der viel zu groß war, um ihn wirklich zu erfassen, stieg in die Höhe, wurde himmelwärts in eine mitternächtliche Düsternis gezogen.

Die Tätowierungen waren von den Steinen in die Luft gesprungen, ein blaufleckiges Netz, das in verrückten, zuckenden Klecksen wuchs, sich in alle Richtungen ausbreitete.

Sie konnte nicht atmen. Ihre Lungen brannten. Sie starb, wurde, ohne Luft zu bekommen, in die Leere gesogen, die der Schrei eines Gottes war.

Plötzlich herrschte Stille – draußen, jenseits der klingenden Echos in ihrem Schädel. Luft umfächelte sie, kalt und bitter und doch süßer als alles, was sie bisher gekannt hatte. Hustend und Galle spuckend rappelte Felisin sich auf, stützte sich auf Hände und Knie, hob zitternd den Kopf.

Der Huf war verschwunden. Die Tätowierung hing wie ein Nachbild vor dem Himmel, verblasste langsam, noch während sie zusah. Eine Bewegung erweckte ihre Aufmerksamkeit, und sie senkte den Blick, schaute Baudin an. Er hatte auf den Knien gelegen, die Hände schützend seitlich an den Kopf gepresst. Jetzt richtete er sich langsam auf; blutige Tränen rannen ihm übers Gesicht.

Felisin mühte sich wacklig auf die Beine. Der Boden unter ihren Füßen fühlte sich merkwürdig flüssig an. Sie blickte nach unten, blinzelte stumm das Kalkstein-Mosaik an. Das wirbelnde Muster der Tätowierung zitterte noch immer, ging von ihren Mokassins aus, während sie sich bemühte, das Gleichgewicht zu halten. Die Risse, die Tätowierungen ... sie gehen tiefer und tiefer, ganz tief hinunter. Als ob ich auf einem Bett aus meilenhohen Nägeln stünde, und jeder Nagel wird nur von denen, die ihn umgeben, aufrecht gehalten. Bist du aus dem Abgrund gekommen, Fener? Man sagt, dass dein geheiligtes Gewirr ans Chaos grenzt. Fener? Bist du jetzt unter uns? Sie drehte sich um und sah Baudin in die Augen. Sie waren stumpf – eine Reaktion auf den Schock –, doch sie konnte auch den ersten Schimmer von Furcht in ihnen aufschimmern sehen.

»Wir wollten die Aufmerksamkeit des Gottes«, sagte sie, »nicht den Gott höchstpersönlich!« Ein Zittern durchlief ihren Körper. Sie umschlang ihren Oberkörper mit den Armen, zwang sich dazu, weiterzusprechen. »Und er wollte auch nicht kommen!«

Er zuckte kurz zusammen, dann rollte er die Schultern – es hätte jedoch auch ein Achselzucken sein können. »Aber jetzt ist er wieder weg, oder?«

»Bist du dir da so sicher?«

Er ließ die Frage unbeantwortet, sah stattdessen Heboric an. Nachdem er den vormaligen Priester einen Augenblick gemustert hatte, sagte er: »Er atmet jetzt gleichmäßiger. Und er sieht nicht mehr so verrunzelt und ausgedörrt aus. Irgendetwas ist mit ihm geschehen.«

Sie schnaubte. »Die Belohnung dafür, dass wir um Haaresbreite alle in den Boden gestampft worden wären.«

Baudin grunzte; seine Aufmerksamkeit war plötzlich auf etwas anderes gerichtet.

Sie folgte seinem Blick. Die Wasserpfütze war verschwunden, ausgetrocknet. Nur der Teppich aus Kapmotten-Kadavern war noch übrig. Felisin stieß ein bellendes Lachen aus. »Na, das war ja eine tolle Rettung.«

Heboric rollte sich langsam zu einem Ball zusammen. »Er ist hier«, flüsterte er.

»Wir wissen es«, sagte Baudin.

»Im Reich der Sterblichen ...«, fuhr der Ex-Priester nach einem Augenblick fort, »... ist er verwundbar.«

»Du betrachtest es von der falschen Seite«, mischte Felisin sich ein. »Der Gott, den du nicht länger verehrst, hat dir deine Hände genommen. Und jetzt hast du ihn auf unsere Ebene heruntergezogen. Leg dich nicht mit Sterblichen an.«

Irgendetwas – war es ihr kalter Tonfall oder ihre brutalen Worte ? – drang zu Heboric durch. Er streckte vorsichtig die Glieder, hob den Kopf, setzte sich schließlich auf. Sein Blick heftete sich auf Felisin. »Kindermund tut Wahrheit kund«, sagte er mit einem Grinsen, das bar jeden Humors war.

»Dann ist er also hier«, sagte Baudin und schaute sich um. »Wie kann sich ein Gott verstecken?«

Heboric stand auf. »Ich würde den Rest eines Armes dafür geben, wenn ich jetzt die Drachenkarten studieren könnte. Stellt euch das Durcheinander unter den Aufgestiegenen vor. Das hier ist kein Mückenschiss, kein Zupfen, kein Klimpern auf den Strängen der Macht.« Er hob die Arme, starrte seine Stümpfe an. »Es ist Jahre her, aber jetzt sind die Geister zurückgekehrt.«

Die Verwirrung zu sehen, die sich auf Baudins Gesicht abzeichnete, war schon eine Anstrengung an sich. »Was für Geister?«

»Die Hände, die nicht mehr da sind«, erklärte Heboric. »Echos. Genug, um einen Mann in den Wahnsinn zu treiben.« Er schüttelte sich, blinzelte zur Sonne empor. »Ich fühle mich besser.«

»Du siehst auch so aus«, sagte Baudin.

Es wurde allmählich heißer. In einer Stunde würde es unerträglich sein.

Felisin machte ein finsteres Gesicht. »Von dem Gott geheilt, den er zurückgewiesen hat. Aber es spielt keine Rolle. Wenn wir den ganzen Tag in unseren Zelten bleiben, werden wir heute Abend zu schwach sein, um noch irgendwohin zu gehen. Wir müssen jetzt gehen. Zum nächsten Wasserloch. Wenn wir es nicht tun, sind wir bald tot.« Aber ich werde dich überleben, Baudin. Ich werde lange genug leben, um dir den Dolch in die Brust zu rammen.

Baudin schulterte seinen Rucksack. Grinsend schob Heboric die Arme unter die Tragriemen des Rucksacks, den sie getragen hatte. Er stand mit Leichtigkeit auf, wenn er auch einen Schritt zur Seite machen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, als er aufrecht stand.

Baudin ging voran. Felisin trottete hinter ihm her. Ein Gott wandelt im Reich der Sterblichen, aber er fürchtet sich. Er besitzt unvorstellbare Macht, aber er versteckt sich. Und irgendwie hatte Heboric die Stärke gefunden, all das zu ertragen, was geschehen war. Und die Tatsache, dass er dafür verantwortlich ist. Das hätte ihn eigentlich zerbrechen, seine Seele in Stücke zerfallen lassen müssen. Stattdessen unterwirft er sich. Kann seine Mauer aus Zynismus einer solchen Belagerung lange widerstehen? Was hat er eigentlich wirklich getan, um seine Hände zu verlieren?

Sie musste ihren inneren Aufruhr unter Kontrolle bekommen. Ihre Gedanken plünderten jedes Zimmer in ihrem Kopf. Sie dachte noch immer an Mord, doch gleichzeitig spürte sie eine vage spöttische Welle von kameradschaftlicher Zuneigung für ihre beiden Gefährten. Sie wollte weglaufen, vor ihnen davonlaufen, weil sie spürte, dass ihre Gegenwart ein Mahlstrom war, der sie in den Wahnsinn und den Tod zog, doch sie wusste, dass sie andererseits auch von ihnen abhängig war.

Hinter ihr erklang Heborics Stimme. »Wir werden es bis zur Küste schaffen. Ich rieche Wasser. Ganz nah. Erst zur Küste, und wenn wir dann dort sind, wirst du feststellen, dass sich nichts geändert hat, Felisin. Überhaupt nichts. Verstehst du, was ich meine?«

Sie spürte, dass seine Worte unzählige Bedeutungen hatten, doch sie verstand nicht eine einzige davon.

Ein Stück voraus stieß Baudin einen überraschten Schrei aus.

 

Mappo Trells Gedanken reisten beinahe achthundert Längen nach Westen, zu einer Abenddämmerung, die der jetzt herrschenden nicht unähnlich war, jedoch zweihundert Jahre in der Vergangenheit lag. Er sah sich selbst, wie er eine mit brusthohem Gras bestandene Ebene überquerte, doch das Gras war niedergedrückt, war mit etwas beschmiert, das wie Wollfett aussah, und während er dahinschritt, veränderte und bewegte sich die Erde unter seinen Fellschuhen. Er hatte bereits Jahrhunderte erlebt, in einen Krieg verstrickt, der zu einem sich ständig aufs Neue wiederholenden Kreislauf aus Überfällen, Kämpfen und blutigen Opfern vor dem Gott der Ehre geworden war. Spiele der Jugend, und er war ihrer schon lange müde. Doch er blieb, an einen einzigen Baum festgenagelt, aber nur, weil er sich an die Szenerie darum herum gewöhnt hatte. Es war erstaunlich, was man aushalten konnte, wenn man sich im Griff der Trägheit befand. Er hatte einen Punkt erreicht, an dem alles, was fremd, was unvertraut war, einen Grund zur Furcht darstellte. Doch im Gegensatz zu seinen Brüdern und Schwestern konnte Mappo sich nicht sein ganzes Leben lang von dieser Furcht tragen lassen. Dennoch hatte es jenes Entsetzens bedurft, dem er sich jetzt näherte, um ihn von dem Baum loszureißen.

Er war jung gewesen, als er die Handelsstadt verlassen hatte, die sein Heim gewesen war. Wie so viele in seinem Alter war er damals in einer fieberhaften, rückwärts gewandten Bewegung gefangen gewesen, die die verrottende Unbeweglichkeit der Trell-Städte und der älteren Krieger ablehnte, welche Händler geworden waren und mit Bhederin, Ziegen und Schafen handelten – und nun in den zahllosen Tavernen und Schänken in Gedanken noch einmal auf ihren kriegerischen Pfaden wandelten. Er sehnte sich nach dem Nomadenleben von früher und unterzog sich willentlich dem Aufnahmeritual in einem Hinterland-Clan, der die Bräuche beibehalten hatte.

Die Ketten seiner Überzeugung hatten Hunderte von Jahren gehalten, und als sie schließlich brachen, geschah dies in einer Art und Weise, die er niemals hätte vorhersehen können.

Seine Erinnerungen waren noch immer klar und deutlich, und so schritt er im Geiste einmal mehr über die Ebene. Jetzt kamen die Ruinen der Handelsstadt, in der er geboren worden war, in Sicht. Ein Monat war seit der Zerstörung der Stadt vergangen. Die Aasfresser der Ebene hatten die Leichen der Fünfzehntausend, die hier getötet worden waren – und die nicht in den wütenden Feuern verbrannt waren –, schon längst sauber abgenagt. Er kehrte nach Hause zurück, zu gebleichten Knochen, Kleidungsfetzen und in der Hitze geborstenen Ziegeln.

Die alten Schulterfrauen des Clans, der ihn adoptiert hatte, hatten die Geschichte aus den flachen Knochen geweissagt, die sie verbrannt hatten, genau wie es die Namenlosen bereits Monate zuvor prophezeit hatten. Auch wenn die Trells in den Städten für sie alle zu Fremden geworden waren, so waren sie doch auch Verwandte, waren vom gleichen Blut. Bei dem Auftrag, der erledigt werden musste, ging es allerdings nicht um Rache. Diese Ankündigung ließ die vielen Gefährten verstummen, die wie Mappo in der zerstörten Stadt geboren worden waren. Ganz im Gegenteil, derjenige, der für die vor ihm liegende Aufgabe auserwählt wurde, musste von allen Gedanken an Rache geläutert sein. So lauteten die Worte der Namenlosen, die diesen Augenblick vorhergesehen hatten.

Mappo verstand noch immer nicht, warum ausgerechnet er ausgewählt worden war. Er glaubte, er wäre nicht anders als die anderen Krieger um ihn herum. Rache war Nahrung, mehr als Fleisch und Wasser; tatsächlich war sie der Grund zu essen und zu trinken. Das Ritual, das ihn reinigen würde, würde gleichzeitig alles zerstören, was er war. Du wirst ein unbemaltes Fell sein, Mappo. Die Zukunft wird ihren eigenen Text mit sich bringen, wird deine Geschichte neu schreiben und formen. Was der Stadt deiner Verwandten zugestoßen ist, darf niemals wieder geschehen. Du wirst dafür Sorge tragen. Verstehst du das?

Äußerungen von entsetzlicher Notwendigkeit. Doch wenn die schreckliche Zerstörung seiner Geburtsstadt nicht gewesen wäre, hätte Mappo sich über sie alle hinweggesetzt. Er war die Hauptstraße mit ihrem zügellos wuchernden Teppich aus Unkraut und Wurzeln entlanggegangen und hatte von der Sonne gebleichte Knochen zu seinen Füßen schimmern sehen.

In der Nähe des runden Marktplatzes entdeckte er eine Namenlose, die ihn erwartete; sie stand in der Mitte der freien Fläche, ihre ausgeblichenen grauen Gewänder bauschten sich im Wind, die Kapuze war zurückgeschlagen und enthüllte das strenge Gesicht einer Frau. Helle Augen richteten sich auf ihn, als er näher kam. Der Stab, den sie in einer Hand hielt, schien sich in ihrem Griff zu winden.

»Wir betrachten die Dinge nicht in Jahren«, zischte sie.

»Sondern in Jahrhunderten«, erwiderte Mappo.

»Es ist gut. Und nun, Krieger, musst du lernen, das Gleiche zu tun. Die Ältesten deines Volkes werden es so verfügen.«

Der Trell blickte sich langsam um, blinzelte zu den Ruinen hinüber. »Es sieht mehr nach einer Armee von Räubern aus – man erzählt sich, dass es südlich von Nemil welche geben soll...«

Ihr Schnauben überraschte ihn; es zeugte von unverhohlener Verachtung. »Eines Tages wird er nach Hause zurückkehren, genau wie du es hier und jetzt getan hast. Bis dahin musst du ihn begleiten ...«

»Warum ich, verdammt noch mal?«

Ihre Antwort bestand aus einem kaum merklichen Schulterzucken.

»Und wenn ich mich widersetze?«

»Selbst dazu, Krieger, ist Geduld vonnöten.« Sie hob den Stab, und die Geste zog seinen Blick an. Das sich windende, ausschlagende Holz schien sich hungrig nach dem Trell zu strecken, es wuchs, füllte seine Welt aus, bis er in dem gequälten Labyrinth versank.

»Es ist schon merkwürdig, wie ein Land, das man noch nie bereist hat, so vertraut wirken kann.«

Mappo blinzelte, als die Erinnerungen beim Klang der vertrauten Stimme zerstoben. Er blickte zu Icarium auf. »Und es ist noch merkwürdiger, dass das geistige Auge so weit und so schnell reisen und doch binnen eines Augenblicks zurückkehren kann.«

Der Jhag lächelte. »Mit jenem Auge könnte man die ganze Welt erforschen.«

»Mit jenem Auge könnte man ihr entfliehen.«

Icarium kniff die Lider zusammen, als er den geröllübersäten Wüstenstreifen unter ihnen musterte. Sie waren einen Hügel hinaufgestiegen, um den Weg besser sehen zu können, der vor ihnen lag. »Deine Erinnerungen faszinieren mich jedes Mal aufs Neue, da ich anscheinend so wenig eigene besitze, und umso mehr, da du bisher immer so zögerlich gewesen bist, sie mit mir zu teilen.«

»Ich habe an meinen Clan gedacht«, sagte Mappo achselzuckend. »Es ist erstaunlich, was für einfache Dinge man irgendwann zu vermissen beginnt. Die Zeit, wenn die Herden Junge haben, die Art und Weise, wie wir die Schwachen in einer unausgesprochenen Übereinkunft mit den Wölfen der Ebene losgeworden sind.« Er lächelte. »Der Ruhm, den ich mir erworben habe, als ich in das Lager einer Gruppe von Banditen geschlichen bin und von jeder Messerklinge die Spitze abgebrochen habe und dann wieder hinausgehuscht bin, ohne dass einer wach geworden wäre.« Er seufzte. »Ich habe die Spitzen jahrelang in einem Beutel an meinem Kriegsgürtel getragen.«

»Was ist mit ihnen geschehen?«

»Eine Frau, die noch klüger war als ich, hat sie mir ihrerseits gestohlen.« Mappos Grinsen wurde breiter. »Stell dir nur einmal vor, wie viel Ruhm sie sich dadurch erworben hat.«

»War das alles, was sie gestohlen hat?«

»Ach, lass mir doch ein paar Geheimnisse, mein Freund.« Der Trell stand auf und klopfte sich Sand und Staub von seinen ledernen Hosen. »Wenn überhaupt irgendwas«, sagte er nach einer Pause, »dann ist dieser Sandsturm um ein Drittel größer geworden, seit wir angehalten haben.«

Die Hände in die Hüften gestemmt, musterte Icarium die dunkle Mauer, die die Ebene in zwei Teile teilte. »Ich glaube, er ist auch näher herangekommen«, sagte er. »Er ist aus Zauberei geboren, ist vielleicht der Atem der Göttin selbst, und seine Kraft nimmt immer noch zu. Ich kann spüren, wie er sich nach uns ausstreckt.«

»Stimmt.« Mappo nickte, unterdrückte dabei ein Schaudern. »Das ist überraschend, wenn man davon ausgeht, dass Sha'ik tatsächlich tot ist.«

»Vielleicht war ihr Tod notwendig«, erwiderte Icarium. »Schließlich ist es fraglich, ob sterbliches Fleisch eine solche Macht überhaupt beherrschen kann. Kann ein lebendes Wesen überdauern, wenn es die Verbindung zwischen Dryjhna und dieser Sphäre darstellt?«

»Du glaubst, sie könnte zu einer Aufgestiegenen geworden sein? Und dabei hat sie Fleisch und Blut, hat sie ihren Körper zurückgelassen?«

»Es wäre möglich.«

Mappo verfiel in Schweigen. Die Zahl der Möglichkeiten nahm von Tag zu Tag zu, wenn sie über Sha'ik, den Wirbelwind und die Prophezeiungen diskutierten. Gemeinsam säten er und Icarium ihre eigene Verwirrung. Und wem soll das nützen ? Iskaral Pustls grinsendes Gesicht tauchte vor Mappos innerem Auge auf. Er stieß zischend die Luft aus. »Wir werden manipuliert«, grollte er. »Ich kann es spüren. Und riechen.«

»Ich habe bemerkt, dass sich die Härchen in deinem Nacken aufgestellt haben«, sagte Icarium mit grimmigem Lächeln. »Was mich angeht, so lässt mich dieser Gedanke kalt – ich habe mich mein ganzes Leben lang manipuliert gefühlt.«

Der Trell schüttelte sich, um sein Zusammenzucken zu überspielen. »Und wer«, fragte er sanft, »sollte so etwas tun?«

Der Jhag zuckte die Schultern, starrte mit hochgezogenen Augenbrauen zu Boden. »Ich habe schon vor langer Zeit aufgehört, mich das zu fragen, mein Freund. Wollen wir etwas essen? Die Lektion, die wir jetzt brauchen, heißt: Der Geschmack von Hammelfleisch-Eintopf ist dem der süßen Neugier weit überlegen.«

Mappo starrte Icariums Rücken an, als der Krieger zu ihrem Lagerplatz hinabschritt. Aber was ist mit süßer Rache, mein Freund?

 

Gepeinigt von heulenden, sandgeschwängerten Windböen ritten sie die alte Straße entlang. Selbst der Gral-Wallach stolperte inzwischen vor Erschöpfung, doch Fiedler wusste nicht, was er sonst noch tun sollte. Er hatte keine Antworten mehr, falls irgendetwas passieren würde.

Irgendwo in den wirbelnden, undurchdringlichen Sandmassen zu ihrer Rechten war ein Kampf im Gange. Es war ganz nah – es klang ganz nah, doch sie konnten von den Kämpfern nicht das Geringste sehen, und Fiedler war keineswegs in der Stimmung, hinzureiten und die Angelegenheit genauer zu untersuchen. In seiner Furcht und seiner Erschöpfung war er zu der fiebrigen, panischen Überzeugung gekommen, dass ihre einzige Chance zu überleben darin bestand, auf der Straße zu bleiben. Wenn sie sie verließen, würden sie in Stücke gerissen werden.

Die Kampfgeräusche waren kein Waffengeklirr, und es waren auch nicht die Todesschreie von Männern. Die Laute stammten von Tieren – Gebrüll, Schnappen, Zischen, schrille Schreie voller Entsetzen und Schmerz und wilder Wut. Nichts Menschliches. Möglicherweise waren Wölfe an dem unsichtbaren Kampf beteiligt, doch andere, vollkommen unterschiedliche Kehlen verkündeten ihre Teilnahme mit ihrem eigenen rasenden Gebrüll. Das nasale Brummen von Bären, das Fauchen großer Katzen und andere Geräusche – von Reptilien, Vögeln, Affen. Und Dämonen. Ich darf dieses dämonische Gebell nicht vergessen –  die Albträume des Vermummten höchstpersönlich können nicht schlimmer sein.

Er ritt, ohne die Zügel festzuhalten. Stattdessen umklammerte er mit beiden Händen den sandzerfressenen Schaft seiner Armbrust. Sie war gespannt, ein Sprengbolzen eingelegt, und das schon, seit die Kämpfe begonnen hatten – seit zehn Stunden. Die aus Därmen geflochtene Sehne war jetzt überdehnt, wie er nur zu gut wusste. Das sagte ihm die Tatsache, dass die Stahlrippen weiter als gewöhnlich gespreizt waren. Der Bolzen würde nicht weit fliegen, und er würde langsam fliegen. Doch er brauchte weder Reichweite noch Zielgenauigkeit, um den Bolzen effektiv einsetzen zu können. Er wusste, er und sein Pferd würden von einem wütenden Feuer verzehrt werden, sollte er die Waffe fallen lassen, und dieses Wissen erinnerte ihn immer wieder an die Effektivität der Moranth-Munition, wenn ihm die Waffe ganz leicht durch die schmerzenden, schweißnassen Hände zu rutschen begann.

Er konnte nicht mehr lange so weitermachen. Ein kurzer Blick zurück über die Schulter zeigte ihm, dass Crokus und Apsalar noch immer bei ihm waren. Ihre Pferde waren über den Punkt hinaus, an dem sie sich noch einmal erholen würden; von jetzt an würden sie weiterlaufen, bis sie tot umfielen. Was nicht mehr lange dauern würde.

Der Gral-Wallach schrie auf und schwenkte zur Seite. Von irgendwoher schwappte heiße Flüssigkeit über Fiedler hinweg. Fluchend blinzelte er sie sich aus den Augen. Blut. Eine fenergeborene Fontäne aus Blut, die der Vermummte verdammen soll! Sie war aus dem undurchdringlichen Sandwirbel herausgeschossen. Irgendetwas ist uns sehr nah gekommen. Irgendetwas anderes hat es daran gehindert, uns noch näher zu kommen. Bei der Gnade der Königin, was im tiefsten Abgrund geht da vor?

Crokus stieß einen Schrei aus. Fiedler schaute sich gerade noch rechtzeitig um, um den Jungen von seinem zusammenbrechenden Pferd springen zu sehen. Die Vorderbeine des Tiers knickten unter ihm ein. Er sah zu, wie das Kinn des Pferdes hart auf den Pflastersteinen aufschlug und einen schmierigen Fleck aus Blut und Schaum zurückließ. In einer letzten, verzweifelten Anstrengung weiterzugehen riss das Pferd den Kopf hoch und rollte dann zur Seite. Die Hufe traten noch einige Male ins Leere, ehe sie herabsanken und schließlich still liegen blieben.

Der Sappeur löste eine Hand von der Armbrust, packte die Zügel und ließ seinen Wallach anhalten. Er wendete das stolpernde Tier. »Schmeiß die Zelte weg!«, brüllte er Crokus zu, der mittlerweile wieder auf den Beinen war. »Das ist das frischeste von den Ersatzpferden. Verdammt, mach schnell!«

Apsalar ritt nahe an ihn heran; sie war völlig in ihrem Sattel zusammengesunken. »Es hat keinen Sinn«, sagte sie mit rissigen Lippen. »Wir müssen anhalten.«

Schnaubend starrte Fiedler hinaus in die beißenden Schleier aus Sand. Der Kampf rückte immer näher. Was auch immer die anderen zurückhielt, es verlor an Boden. Kurz sah er eine massige Gestalt auftauchen und genauso schnell wieder verschwinden. Es schien, als hätten Leoparden auf ihren Schultern gekauert. Zu einer Seite erschienen vier ungeschlachte Silhouetten; sie duckten sich dicht über dem Boden und bewegten sich schwarz und schweigend vorwärts.

Fiedler riss die Armbrust herum und feuerte. Der Bolzen traf die Erde ein halbes Dutzend Schritt vor den vier Bestien. Flammenzungen leckten über sie hinweg. Die Kreaturen kreischten schrill.

Er vergeudete keine Zeit damit, zuzusehen, sondern zog blindlings einen weiteren Bolzen aus dem festen Kästchen, das an seinem Sattel festgebunden war. Er hatte nur ein Dutzend Bolzen gehabt, die mit Moranth-Munition präpariert waren. Jetzt waren es noch neun, und davon war nur noch einer ein richtiger Knaller. Er warf einen Blick nach unten, als er den Bolzen in die Nut legte – ein Brandbolzen –, dann machte er sich wieder daran, die Wand aus wirbelndem Sand zu beobachten. Seine Hände wussten aus Erfahrung, was sie tun mussten.

Gestalten zeigten sich, blitzten auf wie verschwommene Geister.

Zwanzig Fuß seitlich von ihnen gerieten vielleicht ein Dutzend hundegroßer Reptilien ins Blickfeld, kamen auf einer Säule aus Luft herangeschwebt. Esanthan'el –  beim Atem des Vermummten, da draußen sind Vielgänger und Wechselwandler! Etwas Großes, das wie ein Käfig geformt war, stülpte sich über die Esanthan'el und verschlang sie.

Crokus suchte in seinem Packen hektisch nach dem Kurzschwert, das er in Ehrlitan gekauft hatte. Apsalar kauerte neben ihm; die Dolche glänzten in ihren Händen, während sie die Straße entlangschaute.

Fiedler wollte ihr gerade zurufen, dass der Feind sich zu ihrer Linken befand, als er sah, was sie gesehen hatte. Drei Gral-Reiter kamen Schulter an Schulter in vollem Galopp herangeprescht, waren nicht einmal mehr ein Dutzend Pferdelängen von ihrer Position entfernt. Sie hatten die Lanzen gesenkt.

Die Entfernung war zu gering für einen sicheren Schuss. Der Sappeur konnte nur zusehen, wie die Krieger immer näher kamen. Die Zeit schien sich zu verlangsamen, während Fiedler den Angreifern entgegenstarrte; er konnte keinen Muskel rühren, um etwas zu tun. Ein gewaltiger Bär tauchte an der Seite der Straße auf, rammte den Gral, der auf der linken Seite ritt. Der Wechselgänger war so groß wie das Pferd, das er zu Fall brachte. Seine Fänge schlossen sich seitlich zwischen Rippen und Hüften um die Mitte des Kriegers, die Reißzähne traten beinahe auf der gegenüberliegenden Seite wieder aus. Es kostete ihn anscheinend keine besondere Anstrengung, fest zuzubeißen. Der Krieger spuckte Galle und Blut.

Apsalar sprang den anderen beiden Männern entgegen, huschte zwischen den Lanzenspitzen hindurch; die Klingen ihrer Messer wiesen nach außen und oben, als sie zwischen die beiden Pferde glitt. Keiner der beiden Gral hatte Zeit zu parieren. Als wäre die eine das Spiegelbild der anderen, verschwanden beide Klingen nach einer Aufwärtsbewegung unter den Rippenbogen. Der linke Dolch traf das Herz, der rechte durchstieß die Lunge.

Dann war sie hinter den beiden Männern, ließ die Messer, wo sie waren. Sie tauchte weg und rollte sich über die Schulter ab, was sie außer Reichweite der Lanze eines vierten Reiters brachte, den Fiedler bisher nicht gesehen hatte. In einer einzigen fließenden Bewegung war Apsalar wieder auf den Beinen und sprang; die Weite des Sprungs zeigte, wie viel Kraft dahinter steckte. Dann hockte sie plötzlich hinter dem Gral, ihr rechter Arm legte sich um seinen Hals, ihr linker glitt über den Schädel des Mannes nach unten, zwei Finger bohrten sich tief in seine Augen und rissen den Kopf des Reiters nach hinten; mit einem kleinen Messer, das plötzlich in ihrer rechten Hand auftauchte, schnitt sie ihm blitzschnell die Kehle durch.

Fiedlers entzückte Aufmerksamkeit wurde jäh von etwas Großem, Schuppigem gestört, das über sein Gesicht fegte und ihn aus dem Sattel warf. Dabei rutschte ihm die Armbrust aus den Händen. Er landete schmerzhaft auf den Pflastersteinen. Rippen brachen, und als er sich auf den Bauch rollte, explodierte der Schmerz förmlich in seinem Brustkorb. Jeder Gedanke an den Versuch, wieder aufzustehen, war schnell dahin, als direkt über ihm ein wilder Kampf ausbrach. Die Hände hinter dem Kopf, rollte Fiedler sich ganz klein zusammen, wünschte sich mit aller Macht, noch kleiner zu werden. Knöcherne Hufe traten auf ihn ein, mit Klauen versehene Füße fetzten an seinem Kettenhemd, rissen lange Wunden in seine Schenkel. Etwas Schweres zertrümmerte plötzlich seinen linken Knöchel, drehte sich auf seinem malträtierten Gelenk, bevor es wieder abhob.

Er hörte sein Pferd wiehern – nicht vor Schmerzen, sondern vor Entsetzen und Wut. Das Geräusch, mit dem die Hufe des Wallachs auf etwas Festes prallten, verschaffte Fiedler einen Moment der Befriedigung, trotz der Schmerzen, die in ihm tobten.

Ein großer Körper plumpste neben dem Sappeur auf den Boden, rollte sich zur Seite und presste eine geschuppte Flanke gegen ihn. Er konnte spüren, wie die Muskeln zuckten, was mitfühlende Schauer durch seinen eigenen zerschlagenen Leib schickte.

Die Kampfgeräusche hatten nachgelassen und schließlich aufgehört. Nur das Heulen des Windes und das Rascheln des Sandes waren noch zu hören. Er versuchte, sich aufzusetzen, und stellte fest, dass er kaum den Kopf heben konnte. Doch es reichte, um das Blutbad um ihn herum sehen zu können. Direkt vor ihm, weniger als eine Armeslänge entfernt, standen die vier zitternden Beine seines Wallachs. Ein Stück daneben lag seine Armbrust; der Brandpfeil war weg. Die Waffe musste losgegangen sein und das tödliche Geschoss in den Sturm hineingefeuert haben, als sie auf dem Boden aufgeschlagen war. Direkt dahinter lag der Gral-Krieger mit dem Stich in der Lunge und hustete Blut. Apsalar stand über ihn gebeugt; sie sah nachdenklich aus und hielt ihren Dolch locker in der Hand. Ein Dutzend Schritt hinter ihr war der ungeschlachte braune Rücken des Wechselgänger-Bären zu sehen; die Muskeln wölbten sich, als er an dem Kadaver des Pferdes riss, das er angefallen hatte. Crokus erschien in Fiedlers Blickfeld – er hatte sein Kurzschwert gefunden, doch es steckte noch immer in der Scheide. In dem Sappeur stieg eine Woge von Mitleid auf, als er den Gesichtsausdruck des jungen Burschen sah.

Fiedler langte mit einem Arm hinter sich, eine Anstrengung, die ihn aufstöhnen ließ. Seine Hand berührte geschuppte Haut. Das Muskelzucken hatte aufgehört.

Unvermittelt stieß der Bär ein lautes Gebrüll aus. Als Fiedler sich umdrehte, konnte er das Tier gerade noch davonschießen sehen. Oh, beim Vermummten, wenn der abhaut...

Die Beine des Wallachs begannen stärker zu zittern, so stark, dass sie fast vor Fiedlers Augen verschwammen. Doch das Tier rannte nicht davon, es machte nur ein paar Schritte, um sich zwischen den Sappeur und das, was auch immer da kam, zu stellen. Die Geste zerriss Fiedler fast das Herz. »Verdammt noch mal, du blödes Biest«, krächzte er, »mach, dass du hier wegkommst!«

Apsalar zog sich langsam zu ihm zurück. Crokus stand einfach nur reglos da, das Schwert fiel ihm unbeachtet aus der Hand.

Endlich konnte Fiedler den Neuankömmling sehen. Die Neuankömmlinge. Wie ein brodelnder, klumpiger Teppich wogte der Vielwandler über die Pflastersteine heran. Ratten, Hunderte von Ratten. Und doch nur ein Wesen. Hunderte? Tausende. Beim Vermummten, von dem hier hab ich gehört! »Apsalar!«

Sie sah zu ihm herüber, ihr Gesicht war ausdruckslos.

»In meiner Satteltasche«, sagte der Sappeur, »ist eine Brandbombe ...«

»Eine reicht nicht«, erwiderte sie kühl. »Und außerdem ist es sowieso zu spät.«

»Nicht für die da. Für uns.«

Ihre einzige Reaktion war ein langsames Blinzeln, dann trat sie zu dem Wallach.

Der wimmernde Wind trug eine Stimme heran – die Stimme eines Fremden. »Gryllen!«

Ja, das ist der Name des Vielwandlers. Gryllen, auch als die Woge des Wahnsinns bekannt. Der von dem Feuer aus Y'ghatan vertrieben wurde. Oh, der Kreis schließt sich.

»Gryllen!«, erklang die Stimme aufs Neue. »Verschwinde von hier, Vielwandler!«

Lederbekleidete Beine traten in Fiedlers Blickfeld. Er blickte auf und sah einen außergewöhnlich großen, schlanken Mann, der eine verblichene Tanno-Telaba trug. Seine Hautfarbe lag irgendwo zwischen Grau und Grün, und in seinen langfingrigen Händen hielt er einen doppelt geschwungenen Bogen, auf dessen Sehne ein mit Runen bemalter Pfeil lag. Sein langes graues Haar zeigte Reste eines schwarzen Färbemittels, sodass seine Mähne fleckig aussah. Der Sappeur sah die zackigen Spitzen gewaltiger Eckzähne, die die dünne Linie seiner Unterlippe aus beulten. Ein Jhag. Hab gar nicht gewusst, dass die so weit nach Osten kommen. Beim Vermummten, warum das irgendeine Rolle spielen sollte, weiß ich selbst nicht.

Der Jhag machte einen weiteren Schritt auf die wogende Masse aus Ratten zu, die mittlerweile das bedeckte, was noch von dem Pferd und dem Reiter übrig war, die der Bär getötet hatte, und legte eine Hand auf die Schulter des Wallachs. Das Zittern hörte auf. Apsalar trat einen Schritt zurück; sie betrachtete den Fremden argwöhnisch.

Gryllen zögerte – Fiedler traute seinen Augen nicht. Er warf erneut einen Blick auf den Jhag. Eine weitere Gestalt hatte sich zu dem großen Bogenschützen gesellt. Kurz gewachsen und breit wie eine Belagerungsmaschine, mit tiefbrauner Hautfarbe, das schwarze Haar zu Zöpfen geflochten und mit Fetischen verziert. Seine Eckzähne waren womöglich noch größer als die seines Gefährten, und sie sahen viel schärfer aus. Ein Trell. Ein Jhag und ein Trell. Das lässt einen ganzen Glockenturm erklingen, wenn ich bloß die verdammten Schmerzen beiseite schieben und zwei Minuten nachdenken könnte.

»Deine Beute ist geflohen«, sagte der Jhag zu Gryllen. »Diese Menschen hier jagen nicht dem Pfad der Hände nach. Und außerdem stehen sie jetzt unter meinem Schutz.«

Die Ratten zischten und quiekten ohrenbetäubend und drängten sich höher auf die Straße. Staubgraue Augen glitzerten in einem brodelnden Sturm.

»Du solltest meine Geduld besser nicht auf die Probe stellen«, sagte der Jhag langsam.

Tausend Körper zuckten zusammen. Dann zogen sie sich langsam zurück, eine Woge aus schmierigem Pelz. Einen Augenblick später waren sie verschwunden.

Der Trell hockte sich neben Fiedler. »Du wirst es überleben, Soldat?«

»Sieht so aus, als müsste ich«, erwiderte der Sappeur. »Und wenn auch nur, um mir auf das, was da gerade passiert ist, einen Reim zu machen. Ich müsste euch beide eigentlich kennen, stimmt's?«

Der Trell zuckte die Schultern. »Kannst du aufstehen?«

»Mal sehen.« Fiedler schob einen Arm unter sich, stemmte sich einen Zoll hoch – und dann erinnerte er sich an nichts mehr.