Kapitel 10
Die Torheit ihrer Handlungsweise wurde Madeline sehr schnell bewusst, als ihre panische Angst vor Silberbeins Lakaien plötzlich in ein völlig anderes Gefühl umschlug - das sich zwar glücklicherweise nicht gegen sie selbst richtete, aber dennoch ungemein beunruhigend war. Eine schier unbändige Gier, die derart triebgesteuert war, dass Madelines Haut zu prickeln begann und ihr Magen sich verkrampfte.
Ihr Mund war mit einem Mal wie ausgedörrt, und ihr Herz begann wie wild zu pochen, als sie sich noch näher an Iain MacLean drängte, ihre Arme noch fester um seine breiten Schultern schlang und ihre Finger noch tiefer unter sein schweres dunkles Haar schob.
Nervös befeuchtete sie ihre Lippen und klammerte sich an ihn, als könnten seine Kraft und Wärme sie nicht nur vor dem Sturm beschützen, der draußen vor der Schänke tobte, sondern auch vor dem Aufruhr in ihr selbst.
Aber egal, wie sehr sie sich an Iain klammerte, der Wind hörte nicht auf, an den Fensterläden zu rütteln, und auch der Regen trommelte weiter in dicken, schweren Tropfen auf die steinernen Fenstersimse. Feuchte Kälte drang durch die Ritzen der Fensterläden und sickerte in Madelines müde Knochen.
Und jeder neue Donnerschlag machte es ihr irgendwie noch leichter, das bedrohliche Grollen draußen für die Stimme Gottes zu halten, die sie für ihr schamloses Verhalten tadelte.
Sie dafür tadelte, sich eingebildet zu haben, der Boden schwanke unter ihren Füßen, kaum dass die Lippen ihres Schattenmanns die ihren berührt hatten.
Die Wahrheit war, dass sie in der Tat geglaubt hatte, vor Wonne zu zerfließen, und von einer wundervollen Wärme durchströmt worden war, als er eine Hand um ihren Nacken gelegt und sanfte Küsse auf ihre Stirn, ihre Wangen und ihre Nasenspitze gehaucht hatte.
Und nun streichelte er ihren Nacken und strich ganz sacht mit seinen Lippen über ihre Schläfe. »Wie schön du bist«, murmelte er, und blies mit seinem warmen Atem gegen eine lose Haarsträhne, die ihr in die Stirn gefallen war.
Wundersame Empfindungen durchfluteten Madeline angesichts seiner geflüsterten Worte, aber dessen ungeachtet brauchte sie eine Bestätigung, dass er sie auch Wirklich ausgesprochen hatte, weil der heulende Wind und das laute Stimmengewirr in der Schänke sie davonzutragen schienen, bevor sie wirklich sicher sein konnte, sie gehört zu haben.
Und so lehnte sie sich zurück, um ihn anzusehen, und als er ihren Blick erwiderte, lag eine solch erstaunliche Vertrautheit in seinen braunen Augen, dass sie ihr jetzt beinahe schwarz erschienen. Und irgendwie sahen sie so aus, als forderten sie auch eine körperliche Bindung zwischen ihnen.
Mit einem Mal begann sie eine erschreckend tiefe Verbundenheit mit diesem Mann zu verspüren, deren Macht und Kraft sie bis ins Mark traf.
Selbst ihre Fußsohlen kribbelten und erwärmten sich unter seinem kühnen, eindringlichen Blick.
Doch dann seufzte er, und ein Schatten fiel über sein Gesicht, der ihn für einen Moment seines unerschütterlichen männlichen Selbstvertrauens zu berauben schien und eine so herzerschütternde Verwundbarkeit offen legte, dass eine ganz andere Art von Wärme Madeline durchströmte.
Ein schier überwältigendes Verlangen, ihn zu streicheln und zu trösten, zu verdrängen, was auch immer ihn so nachhaltig bewegen mochte.
Sie räusperte sich und nahm ihren ganzen Mut zusammen. »Ich ... wir...«, begann sie, fest entschlossen, ihm ihr eigenes dunkelstes Geheimnis anzuvertrauen und ihm zu offenbaren, was sie von seinem Herzen wusste ... und insbesondere, woher sie ihr Wissen hatte. Aber er hinderte sie daran, indem er ganz sachte mit der Zunge über ihre Unterlippe strich.
»Sag es nicht«, raunte er an ihrer Wange, und seine sonst so wohl klingende, weiche Stimme klang mit einem Mal ganz rau vor Anspannung.
Mit sanften Fingern massierte er ihre Schultern und lenkte sie geschickt mit seiner Berührung ab. »Uns einzugestehen, was zwischen uns ist, würde nur Unglück bringen«, warnte er, ohne den Blick auch nur sekundenlang von ihren Augen abzuwenden. »Ich will nur so viel sagen, dass deine Süße mich ganz und gar durcheinander bringen könnte, meine Schöne.«
Wieder erschien ein Hauch von Traurigkeit in seinen Augen. »Aye, meine Schöne, du könntest mich mehr vergessen lassen als nur meine ramponierte Ehre.« Er strich mit einem Finger über ihr Kinn. »Sehr viel mehr.«
Ehre, hatte er gesagt.
Der Himmel wusste, dass er sie die ihre längst hatte vergessen lassen.
Der Gedanke ließ Madeline zusammenfahren, und ein Gefühl der Scham durchflutete sie wie ganze Sturzbäche kalten Wassers.
Irgendwo schlug ein Fensterladen gegen die Wand, dessen lautes Krachen fast wie eine willkommene Erholungspause von dem so anklagend klingenden Donnergrollen war.
Silberbeins Gefolgsmänner brachen in ein rüpelhaftes Gelächter aus, das Madeline einen kalten Schauder über den Rücken jagte. Die Verdorbenheit dieser Männer ließ sie sogar noch heftiger frösteln als die kalte, feuchte Luft, die durch den Raum zog.
Aber auch Abscheu vor sich selbst erfasste sie, denn die Schamlosigkeit der Männer verdeutlichte ihr im Grunde nur ihre eigene sinnliche Begierde.
Ein leidenschaftliches Verfangen, das ebenso ungezähmt und heftig in ihr pochte wie die Lasterhaftigkeit, die das Blut dieser johlenden Rohlinge in Wallung brachte. Ein fast schmerzhaftes Bewusstsein seiner Nähe. Ein pochendes Begehren, das sich mit jeder flüchtigen Berührung seiner Zunge an ihren Lippen noch vergrößerte.
Mit seinen intimen Küssen und seiner überraschenden Zärtlichkeit band er ihren Körper genauso unabänderlich an sich, wie er ihr Herz mit seinen nächtlichen Besuchen in ihren Träumen erobert hatte.
Für einen Moment schloss sie die Augen und kämpfte gegen das Bedürfnis an, ihr Gesicht an seiner Schulter zu verbergen und tief durchzuatmen. Sein Duft berauschte sie, sie nahm ihn gierig in sich auf und erfreute sich an der unverkennbar männlichen Note, ein Gemisch aus nassem Gras, altem Gestein und im Lauf der Jahre geschmeidig gewordenem Leder.
Feuchtem Leder, gewürzt mit dem Geruch von Torffeuern und einem schwer zu bestimmenden, aber unwiderstehlichen Hauch von purer, unverfälschter Männlichkeit.
Seufzend strich Madeline mit ihren Fingern durch Iains Haar und ließ die langen, schwarzen Strähnen über ihre Hände gleiten.
Aye, es bestand nicht mehr der geringste Zweifel, dass er sie ganz und gar entflammte.
Sie betörte und verzauberte.
Madeline begann zu zittern. Seine hinreißenden Küsse, die angenehme Wärme seines Atems - seine bloße Nähe - überwältigten schier ihre Sinne.
Ein paar heimliehe, in einem riskanten Augenblick gesuchte Küsse, und schon hatte sie ganz und gar den Kopf verloren.
Und sich selbst.
Und ihre Skrupel.
Hatte ihre Bedenken so unwiderruflich aufgegeben, dass sie sich selbst jetzt noch an ihn klammerte und sich an die beruhigende Wärme seines breiten Brustkorbs schmiegte. Fest hielt sie die Arme um seinen Nacken geschlungen und schob ihre Finger unter sein seidig kühles Haar, obwohl ihr Instinkt ihr sagte, dass Silberbeins Söldlinge mittlerweile von ihrer ursprünglichen Absicht abgekommen waren.
Aber ihre neu entdeckte Leidenschaft verdrängte jeglichen zusammenhängenden Gedanken und ließ keinen Raum mehr für vernünftige Überlegungen. Sie spürte ein exquisites Pulsieren irgendwo tief in ihrem Inneren, und sie öffnete die Lippen, in einer stummen Aufforderung, den Kuss noch zu vertiefen.
Er brauchte sie - oder zumindest doch in diesem Augenblick, daran bestand für sie nicht der geringste Zweifel.
Und deshalb ließ sie jede Vorsicht außer Acht, genoss die erstaunlich intensiven Sehnsüchte, die sie durchfluteten, und überließ sich ganz ihren Empfindungen.
Was sie anging, hätte der Himmel einen Blitzstrahl schicken können, um sie direkt zu den Toren der Hölle zu befördern - doch was immer auch geschehen mochte, sie wollte nicht, dass dieser Mann aufhörte, sie zu küssen.
Weil sie es nicht ertrüge, wenn er damit aufhören würde.
Zu süß, zu ungewohnt, zu kostbar waren diese sinnlichen Empfindungen, die er mit jeder sanften Liebkosung seiner Lippen, mit jeder samtenen Berührung seiner Zunge in ihr weckte.
Gott, nie hätte sie sich träumen lassen, dass ein Mann so zärtlich küssen könnte! Oder dass allein das Spüren seiner Lippen an ihrem Mund eine solch wundervolle, süße Schwere in ihr bewirken könnte.
Eine berauschende, pulsierende Hitze, von der sie das Gefühl hatte, dass keine wahre Dame sie verspüren, geschweige denn genießen dürfe.
Doch was kümmerte sie in diesem Augenblick schon ihre Herkunft!
Das Einzige, was sie kümmerte, war die Tatsache, dass Iain MacLean nicht mehr frei war.
Diese unwiderlegbare Wahrheit legte sich plötzlich auf ihre Seele und bewirkte, dass ihre gerade erst aufgekeimte Leidenschaft sich ebenso prompt verflüchtigte, als ob ihr jemand einen Eimer kaltes Wasser über den verliebten Kopf geschüttet hätte.
Entsetzt riss sie die Augen auf und erinnerte sich plötzlich wieder an den Grund, warum sie sich so schamlos auf Iain gestürzt hatte. Abrupt entzog sie sich seinen Armen und beendete den Kuss, während sie aus den Augenwinkeln zu den beiden Mistkerlen hinüberblickte, deren gierige Blicke ihr fast Übelkeit verursachten.
Sie folgte ihren lüsternen Blicken und strengte ihre Augen an, um durch den Dunst des bläulichen Torffeuerrauchs, der tief über den dicht besetzten Tafeln hing, etwas zu erkennen.
Und dann stockte ihr der Atem, und ihr Puls begann zu rasen, als ihr Blick auf den Gegenstand der Gier der Männer fiel. Und ganz gleich, für wie aufgeklärt oder welterfahren sie sich halten mochte, was sie sah, verschlug ihr fast den Atem.
Im dämmrigen Eingang zu dem verdunkelten Gemeinschaftsschlafsaal lehnte ein dralles Freudenmädchen - mit halb geschlossenen Augen, die auf schamloseste Weise direkt über ihrem Schoß an ihrem Rock herumspielte, eine eindeutigen Einladung an jeden Mann, sich ihrer so freigiebig dargebotenen Reize zu bedienen.
Sie war ziemlich grobknochig und derb, hatte aber außergewöhnlich volles, glänzendes, rötliches Haar, das ihr bis zur Taille reichte, und üppige Brüste, die geradezu hervorquollen aus dem freizügigsten Dekolletee, das Madeline je gesehen hatte.
Über dem Rand dieses großzügig ausgeschnittenen Mieders waren die oberen Hälften der zinnoberrot gefärbten Brustspitzen der Prostituierten zu erkennen. Madeline schluckte, als sie sie sah, und wurde sich der harten Spitzen ihrer eigenen, ebenso vollen Brüste mit einem Mal nur zu deutlich bewusst.
Und wie viel deutlicher sie noch zu sehen wären ohne das geborgte Plaid um ihre Schultern.
Sich ihres Publikums gewiss, bog die Hure in einer wohl überlegten, sinnlichen Bewegung ihren Rücken durch, sodass ihre Brustspitzen nun vollends aus dem Mieder rutschten und sich die kleinen, zinnoberrot gefärbten Knospen den Blicken aller offenbarten, die sie sehen wollten.
Und das wollten viele.
Johlende Zurufe, deftige Männerscherze und einige unverhohlene Anspielungen wurden über das allgemeine Stimmengewirr laut.
Eine jähe Hitze stieg in Madelines Nacken, und sie umklammerte Iains Schultern noch fester, während sie einen raschen Blick auf ihn riskierte.
Auch er blickte zu der Frau hinüber, doch anders als die animalische Gier, die Silberbeins gaffende Lakaien ausstrahlten, ließen die unbewegten Züge ihres Schattenmannes nichts als kalte Indifferenz erkennen.
Deine Brüste sind unvergleichlich viel bezaubernder, glaubte sie ihn murmeln zu hören, doch die Worte gingen in einem Ausbruch geschmacklosester Zotigkeiten unter, als jeder Mann im Raum, der noch nicht zu tief ins Glas geschaut hatte, lautstark die so freizügig dargebotenen Reize des Freudenmädchens pries.
Ein ziemlich großer Mann am Nebentisch, dem fast die Augen aus seinem vom Alkohol geröteten' Gesicht quollen, beugte sich grinsend vor. »Bei Gott, ich wette, diese Titten würden sogar die Lanze eines Toten wieder hart machen!«
»Meine ist schon hart«, johlte ein anderer, worauf sich ein Chor brüllenden Gelächters in der Schankstube erhob.
»Und ich werd meine Lanze in all diese schönen langen
Locken wickeln«, schrie einer von Silberbeins Männern und begann schon auf das Freudenmädchen zuzusteuern.
Madeline beobachtete die Vorgänge mit einer Mischung aus Entsetzen und Faszination. Sie vergaß beinahe zu atmen und merkte kaum, dass Iain MacLean sie noch etwas fester an sich zog. In einer beschützenden Geste drückte er ihren Kopf an seine Schulter, hielt sie dort fest und legte seine flache Hand über ihr Ohr.
Sie fühlte sein Herz schnell und hart pochen, und sie benötigte nicht einmal ihre Gabe, um die in ihm aufsteigende Verärgerung zu spüren ... die immer stärker werdende Wut in ihm.
Den schwelenden Zorn, den zu beherrschen er sich solche Mühe gab.
Eine Wut, die, obwohl sie verdammt wild war, Madelines Herz erwärmte, da ihr weiblicher Instinkt ihr sagte, dass der Grund für seinen Zorn der Umstand war, sie einer derartigen Zurschaustellung von Unsittlichkeit ausgesetzt zu sehen.
Doch unsittlich oder nicht, sie konnte ihren Blick nicht abwenden.
Wie erstarrt beobachtete sie, wie der zweite von Silberbeins Männern, der ältere, seine eng anliegende Hose hochzog, was die große Ausbuchtung unter dem Stoff für jedermann deutlich sichtbar machte.
»Das Haar kannst du haben«, rief er seinem Freund hinterher, während er ihm folgte. »Es ist das andere, was ich sehen will. Das, was sie da unten hat.«
»O ja, das würden wir alle gerne sehen!«, pflichtete ihm eine schon etwas undeutliche Stimme aus einer anderen Ecke der Wirtsstube zu.
Die geschminkten Lippen der Hure verzogen sich zu einem obszönen Lächeln.
Mit einem kehligen Lachen ergriff sie mit beiden Händen ihre Röcke und zog langsam einen bislang verborgenen Schlitz im Stoff auseinander, um den Männern einen Blick auf die üppigen dunkelroten Locken zwischen ihren fleischigen Schenkeln zu gönnen.
Madeline sog scharf den Atem ein.
Iain MacLean fluchte, sprang auf und zog Madeline mit sich hoch. »Ich habe es doch gleich geahnt, dass dies ein solcher Ort ist! «, schäumte er und verkniff sich eine noch viel anschaulichere Beschreibung, weil er sein unschuldiges Mädchen nicht noch mehr schockieren wollte.
Angespannt bis aufs Äußerste und kaum noch in der Lage, seinen Ärger zu beherrschen, warf er einen Blick zur Küchentür. »Wo treibt sich dieser Bierzapfer bloß mm?«, rief er, mit lauter Stimme den Radau übertönend.
Und ohne auch nur eine Sekunde lang die beiden Männer aus den Augen zu lassen, die die Brüste der Prostituierten befummelten.
Erbärmliche Halunken, über die er bei der ersten sich bietenden Gelegenheit mit Madeline Drummond sprechen wollte.
Seine Verdrossenheit war wie ein selbstständiges, fühlbares, lebendiges Wesen in ihm, als er die anderen Zecher mit wutblitzenden Augen maß, was ihm jedoch nicht mehr einbrachte als ein oder zwei teilnahmslose Blicke.
Denn all die anderen Schwachköpfe an den langen Tafeln ignorierten ihn und hingen mit ihren gierigen Blicken an der Hure, da diese mittlerweile mit geschickten Fingern die Bändchen ihres Mieders gelöst hatte, um ihre schweren weißen Brüste nun voll und ganz zu entblößen.
»In was für einer schmierigen Kaschemme sind wir hier gelandet.. .«, murmelte Iain und wandte sich angewidert ab.
Und hoffte nur, dass dies schnell genug passiert war, sodass sie den schamlosen Auftritt dieses Freudenmädchens nicht mit ansehen musste.
Mit zusammengebissenen Zähnen schlang er seinen Arm noch fester um Madelines Schultern und schaute sich in der verrauchten Dunkelheit wieder nach dem Wirt des Gasthofs um.
Impulsiv ergriff sie seine Hand und drückte sie. »Ich werde schon nicht gleich in Ohnmacht fallen, Sir. Ich habe gehört, alle Wirtshäuser würden von der einen oder anderen dieser Frauen ... frequentiert«, erklärte sie mit einem Blick auf ihn. »Selbst anständige Gasthäuser.«
Er zog spöttisch eine Augenbraue hoch. »Wenn du das sagst.«
Sie nickte, und ihr Blick glitt wieder zu der Hure.
Die Frau hatte sich inzwischen bei ihren neu gewonnenen Kunden untergehakt und zog sie in den dunkleren Bereich des Gemeinschaftsschlafraums, wo sie im Austausch gegen einen gut gefüllten Strohsack in einer stillen, dunklen Ecke vermutlich gern auf einen Teil ihres Verdiensts verzichten würde.
»Egal, ob solche Frauen in einem Gasthaus geduldet werden oder nicht - eine Dame sollte jedenfalls nicht mit ihnen konfrontiert werden ... oder auch nur durch die Kenntnis ihrer Existenz belastet werden.«
»Es gibt so manches, was mir auf der Seele liegt, Sir«, gab Madeline zu und verdrängte ihre eigenen Sorgen, bevor diese wieder Macht über sie gewinnen und sie entmutigen konnten. »Beunruhigendere Dinge als ein leichtes Mädchen und sein nächtliches Gewerbe.«
Sie seufzte.
Und wünschte zum hunderttausendsten Mal, sie wüsste nichts von all dem, was sie wusste.
Iain MacLean musterte sie prüfend, und seine dunklen Augen standen voller unausgesprochener Fragen. An seinem Kinn zuckte ein Muskel, und Madeline legte rasch zwei Finger an die Stelle und drückte sanft darauf, bis das nervöse Zucken nachließ.
»So wie ich gerade das Zucken an deinem Kinn gelindert habe, erfüllt auch eine Dirne ihren Zweck«, erklärte sie in ruhigem, gefasstem Ton ... und dachte an ihre Freundin Nella.
Unwillkürlich zog sie das Plaid noch etwas fester um die Schultern und bemühte sich, ihren Gedanken im Keim zu ersticken. Nicht, dass ihre bürgerliche Freundin je einen solch trostlosen Weg wie diese Schänkendirne eingeschlagen hätte.
Aber auch Nella hatte sehr viel Schlimmes durchgemacht, seit sie als blutjunges Mädchen von zu Hause fortgeholt worden war, um einem Großgrundbesitzer, dessen unfruchtbare Ehefrau ihm keine Erben schenken konnte, Söhne zu gebären.
Ein schwaches Echo des längst vergangenen Kummers ihrer Freundin durchflutete Madeline. Erschaudernd schlang sie ihre Arme um die Taille und war froh, dass Nellas Schmerz sich mit den jähren in stille Resignation verwandelt hatte.
Madelines eigene Entrüstung über die Vergangenheit ihrer Freundin aber hatte niemals nachgelassen.
Makellose Zähne, helle Augen und eine robuste Konstitution hatten Nellas Schicksal bestimmt und sie in ein Leben katapultiert, das sie mit der Zeit zu akzeptieren und sogar zu schätzen gelernt hatte... bis sie den gravierenden Irrtum begangen hatte, den kleinen Jungen, die nie erfahren durften, dass sie ihre Mutter war, zu viel Zuneigung entgegenzubringen.
Und sich in die hoch gestellte Persönlichkeit zu verlieben, deren Namen preiszugeben sie sich bis heute weigerte.
Von ihrer Bewunderung für Nella ein wenig ermutigt, riskierte Madeline noch einen weiteren Blick auf den Gemeinschaftsschlafraum. Sein niedriger, bogenförmiger Eingang stand jetzt leer, doch aus der dahinter liegenden Dunkelheit drangen grunzende Laute und das Rasseln schwerer Atemzüge.
Madeline wandte sieh wieder Iain zu. »Wenn überhaupt«, sagte sie, »sollte man solchen Frauen Mitgefühl entgegenbringen.«
Großes Mitgefühl sogar, aber auf keinen Fall Verachtung.
Und sie konnte auch nicht eine einzige dieser Frauen verurteilen.
Hatte sie sich nicht selbst noch vor wenigen Augenblicken an Iain MacLeans Brust geschmiegt? Voller Staunen über die festen Linien seiner ausgeprägten Muskeln, die sogar unter seinem ledernen Brustpanzer und den Falten seines Plaids nur allzu deutlich spürbar waren?
O ja, sie hatte sich an seiner Wärme, an seiner maskulinen Kraft erfreut, seinen Geruch ganz tief eingeatmet - und sich nach noch viel mehr gesehnt.
Sie hatte sich in seinen Küssen verloren und ihn förmlich angefleht, sie zu vertiefen. Und sich nichts sehnlicher gewünscht, als dass er noch viel öfter, als er es bisher getan hatte, mit seiner Zunge zwischen ihre Lippen gleiten und sie mit der ihren vereinen würde!
Tatsächlich war sie sogar nahe daran, ihn aufzufordern, sie erneut zu küssen.
Und zwar augenblicklich.
Unverzüglich.
Und ohne auch nur im Geringsten den nervös aussehenden Schankwirt zu beachten, der in diesem Augenblick in ihre Richtung eilte.
Sein halb besorgter, halb selbstgefälliger Gesichtsausdruck verriet ihr, dass ihr Nachtquartier nun endlich vorbereitet war.
Madelines Magen verkrampfte sich, ihr Mut geriet ins Schwanken. »Ach, du liebe Güte«, brachte sie gerade noch heraus, da sie plötzlich von großer Panik erfasst wurde.
Verlegen löste sie sich aus den Armen ihres Schattenmannes, senkte ihren Blick und begann dann mit viel Getue ihre Röcke glatt zu streichen... ein Ablenkungsmanöver, damit er ihr heftiges Erröten nicht sah.
Oder gar bemerkte, wie aufgewühlt sie innerlich noch immer war.
Und was sie wirklich für ihn fühlte.
»Aye, sehr lieb«, stimmte er ihr zu, ohne auch nur eine Spur seines früheren Zorns in seiner Stimme. Dann legte er einen Finger unter ihr Kinn und hob behutsam ihr Gesicht zu sich empor. »Sehr, sehr lieb und viel zu süß.«
»Zu süß?«
Er nickte. »Zu lieb und süß für jemanden wie mich, mein schönes Kind«, sagte er, und sein heiserer Ton ließ ihre Knie ganz weich werden. »Und viel zu begehrenswert, um ein Leben der Abstinenz und des Fastens hinter hohen Klostermauern zu fristen ... egal, wie viele stümperhafte Angsthasen hinter dir her sein mögen.«
Madeline zog überrascht die Luft ein. »Du weißt es?«
»Mein ärgster Fehler ist meine Unfähigkeit, mich zu beherrschen, meine Schöne. Mit meinem Verstand dagegen ist und war bisher immer alles in Ordnung, kann ich dir versichern.« Er schenkte ihr eins seiner schiefen, sichtlich ungeübten Lächeln, dessen Unvollkommenheit ihr schier das Herz zerriss.
Dann senkte er den Kopf und drückte einen Kuss auf ihre Wange. »Oder darf ich hoffen, dass du mich so unwiderstehlich findest, dass du gar nicht anders könntest, als mir in die Arme zu sinken?«
»I-ich...«, stammelte Madeline, da ein merkwürdiger Schwindel sie erfasst hatte, der sie um jeden klaren Gedanken brachte.
»Verzeihung«, sprach der Wirt sie von hinten an und räusperte sich umständlich.
Iain MacLean fuhr zu ihm herum. »Unser Zimmer ist bereit ?«
»Und keineswegs zu früh, scheint mir.« Der Mann warf einen beredten Blick auf Madeline, die ob seiner Worte und seines
Blicks zusammenfuhr, als hätte er sie mitten ins Gesicht geschlagen.
Iains Finger schlössen sich um ihr Handgelenk, als spürte er, dass sie kurz davor war aufzuspringen. »Ist das Zimmer auch sauber? Ich möchte nicht in meinen Kleidern schlafen müssen.«
Der Wirt ignorierte die Anspielung und tupfte sich mit seinem Geschirrtuch den Schweiß von der Stirn. »Wir sind bis unter die Dachbalken ausgebucht, werter Herr, aber ich hab das Zimmer persönlich hergerichtet tfnd versichere Euch, dass Ihr es gut ausgestattet finden werdet und« - er hielt inne und warf einen weiteren Blick auf Madeline - »für Eure Zwecke auch ungestört genug.«
Madelines Herz pochte noch heftiger als der Regen gegen die Fensterläden draußen, und rasch wandte sie sich ab und ließ die feuchte Luft, die durch die hölzernen Schlitze drang, ihre erhitzten Wangen kühlen.
Ein schrilles, weibliches Lachen erklang aus dem Gemeinschaftsschlafraum, und Madeline überlief es heiß und kalt zugleich.
Iains Augenbrauen fuhren in die Höhe, sein gut aussehendes Gesicht verdüsterte sich vor Missfallen. Dann richtete er einen scharfen Blick auf den Inhaber der Herberge. »Das Zimmer wird doch wohl nicht für...« Den Rest des Satzes Heß er unbeendet.
Nicht im Mindesten verblüfft über die Frage, nahm der Wirt eine Laterne von einem Regal und entzündete mit geschickten Händen ihren Docht. Dann deutete er auf eine schmale, dunkle Treppe im Hintergrund des Raums.
»Ich versichere Euch, dass nur Leute von Rang diese Treppe benutzen«, erklärte er und warf sich noch mehr in seine breite Brust. »Alle anderen vergnügen sich hier unten. Ihr, Mylord, werdet die Nacht in einem vorzüglichen Quartier verbringen.«
»Dann führ uns dort bitte endlich hin«, forderte Iain ihn auf.
Der Schankwirt nickte erfreut. »Wenn Ihr mir bitte folgen würdet«, sagte er und hob seine Laterne.
Mit für einen so beleibten Mann erstaunlicher Behändigkeit fuhr er herum, bahnte sich geschickt einen Weg durch die Menge und steuerte auf die hintere Wand und die tief in ihrem massiven Mauerwerk verborgene Wendeltreppe zu.
Iain eilte ihm nach, und sein unnachgiebiger Griff um Madelines Handgelenk ließ ihr gar keine andere Wahl, als sich seinen großen Schritten anzupassen, obwohl ihr Blick immer wieder voller Unbehagen zu dem sich vor ihnen öffnenden dunklen Eingang glitt.
Zugig, kalt und nur schwach von einigen wenigen flackernden Wandfackeln erhellt, wand sich die Treppe hoch ins dunkle Unbekannte - obwohl Madeline, wenn sie ehrlich war, im Grunde sehr genau wusste, was sie hinter diesen ausgetretenen Steinstufen erwartete.
Sollte sie ihren sinnlichen Begierden unterliegen.
Aber sie hatte nicht die Absicht, sich ihren Gelüsten hinzugeben.
Egal, wie sehr ihre Lippen auch prickeln und sich nach weiteren heißen Küssen ihres Schattenmanns verzehren mochten.
Und egal, wie sich ihr Herz zusammenzog, wenn sie auch nur daran dachte, noch sehr viel persönlichere und intimere Erfahrungen mit ihm zu erleben ... so wie sie sie in ihren geheimsten Träumen schon unzählige Male mit ihm erfahren hatte.
Unwillkürlich ballte sie die Fäuste und versuchte, ihr inneres Auge vor diesen beunruhigenden Bildern zu schließen. Aber sie ließen sich nicht aus ihrem Kopf verbannen und drohten alles zu zerstören, was sie für richtig und für achtbar hielt.
In der sicheren Überzeugung, dass er sie ganz und gar verzaubert hatte, stieg sie hinter ihm die Turmtreppe hinauf, wäh rend das Chaos der widersprüchlichen Emotionen, die in ihr kämpften, sich mit jedem Schritt vergrößerte.
»Vorsicht, Madeline, die letzten Stufen sind ein bisschen glatt«, sagte Iain warnend über seine Schulter und ließ ihr Handgelenk los, um seine starken, warmen Finger mit den ihren zu verschränken.
Seine Berührung und der Druck seines festen, aber sanften Griffs sandten ein heißes Prickeln ihren Arm hinauf.
Vorsicht, hatte er gesagt.
Die Worte brachten Madeline fast zum Lachen.
Zum Lachen, weil er nicht einmal den Schimmer einer Ahnung hatte, welch große Vorsicht sie bereits walten ließ. Allein schon seine simple Warnung und der Klang seiner tiefen, wunderbaren Stimme raubten ihren Beinen alle Kraft.
Lösten eine derartige Schwäche in ihnen aus, dass sie selbst auf den wenigen Stufen, die nicht glitschig waren, auszurutschen drohte.
Mit dem Gefühl, in der Falle zu sitzen, gleichzeitig ängstlich und aufgeregt, folgte sie ihm zum Treppenabsatz, und kaum hatte sie einen Fuß auf die etwas schrägen Holzdielen gesetzt, verlor sie die letzten Reste ihres Muts.
Und sie begann am ganzen Leib zu zittern.
Ihre Schwäche beschränkte sich nun nicht mehr nur auf ihre Beine; ihr gesamter Körper fühlte sich so an, als habe er sich in Wackelpudding verwandelt.
Komme, was da wolle, sie wusste, sie war kurz davor, die Nacht mit ihrem Schattenmann zu verbringen.
Eine ganze Nacht des Alleinseins mit dem Mann, der vom ersten Augenblick an, als sie ihn so warm in ihrem Herzen hatte spüren können, ihre Seele in Besitz genommen hatte.
»Das ist Euer Zimmer«, erklärte der Inhaber des Gasthofs stolz, seine Stimme überlaut in dem stillen Korridor.
Er zeigte auf das Ende des kurzen, nur schwach beleuchteten
Gangs, wo unter einer erstaunlieh solide aussehenden Tür der sehwache Schein eines weichen, goldenen Lichts hervordrang.
Dann trat er vor, und seine erhobene Laterne warf unheimliche Schatten auf die Wände ... die alle wie lange, anklagende Finger auf Madeline zu deuten schienen.
Iain MacLean drückte ihre Hand, aber die zweifellos beruhigend gemeinte Geste verunsicherte Madeline noch stärker. Allein schon dieser simple körperliche Kontakt mit ihm genügte, um sie auf prickelnde Weise zu erregen.
Als sei ihm dies durchaus bewusst, warf er einen raschen Blick über seine Schulter und hob fragend die Augenbrauen.
War sie bereit ?
Ebenso wortlos nickte sie ihm zu und ersparte sich die Schande, eine Lüge auszusprechen.
Vor ihnen hatte der Wirt inzwischen das Ende des düsteren Gangs erreicht und öffnete bereits die Tür zu ihrem Zimmer. Ein freundlicher gelber Lichtstrahl fiel aus dem Raum, dessen einladende Helligkeit die unheimlichen Schatten bannte.
In Madelines Hals bildete sich ein dicker Kloß, und sie schluckte heftig.
Aber dann presste sie die Lippen zusammen und beschloss, das Beste aus einer Situation zu machen, an der sie ohnehin nichts ändern konnte.
Denn ein Rückzug war jetzt nicht mehr möglich.
Und erst bei Sonnenaufgang des nächsten Tages würde sich erweisen, ob die langen Stunden der Zweisamkeit mit Iain MacLean sie mit bitterer Reue oder freudiger Erleichterung darüber erfüllen würden, auf die - wie sie wusste - wonnevollste Erfahrung ihres ganzen Lebens verzichtet zu haben.
In der gleichen nassen, windgepeitschten Nacht, aber in einer sehr viel weniger bequemen Unterkunft tief in den Verliesen
Abercairn Castles, atmete Sir John Drummond, der wahre Herr der Burg und all der zu ihr gehörenden Ländereien, mit einem pfeifenden Geräusch die kühle, muffig riechende Luft in seiner Zelle ein. Sie war das Beste, was er in dieser furchtbaren Umgebung hatte finden können.
Im Stillen dankte er dem Himmel dafür, dass er als junger Mann, gleich nach seiner Ernennung zum Oberhaupt des Clans, die Benutzung dieses Höllenlochs ein für alle Mal verboten hatte.
Es war kaum mehr als eine enge, feuchte Nische, nicht größer als ein Schrank in der unbedeutendsten aller Burgen und absolut übel riechend.
Ein Ort, den man auch als menschenunwürdig bezeichnen konnte.
Und Sir John war immer stolz darauf gewesen, ein gerechter, großzügiger und gutmütiger Mensch zu sein.
Und es war gerade diese Weichherzigkeit, dieser Mangel an Härte und Feuer in seinem Herzen, was ihn bei seinen Leuten zwar zu einem beliebten Gutsherrn, aber nicht unbedingt auch zu einem angesehenen Clanchef machte.
Oder eigentlich sogar zu einem schlechten, wäre irgendjemand so herzlos oder freimütig genug gewesen, ihm die Wahrheit ins Gesicht zu sagen.
Eine Wahrheit, die ihn in seine derzeitige Zwangslage gebracht hatte und ihn zweifellos das Leben kosten würde.
Aber nicht das seiner geliebten Tochter.
Und ihr zuliebe - um sicherzustellen, dass sie weiterlebte und ihr nichts Böses zustieß - würde er aus der Kraft entschlossenerer Drummond-Clanchefs schöpfen, die schon vor ihm diese Welt verlassen hatten, und zum ersten Mal in seinem Leben unnachgiebig bleiben.
Fest und unbeugsam.
Durch und durch entschieden.
Er würde es für sie tun, für Madeline, selbst wenn sie es nie erfahren würde. Es würde sein letztes Geschenk an sie sein, an die Tochter, die er mehr liebte als sein eigenes Leben.
»Wo sind die Juwelen, Drummond? Die englische Beute. Jeder weiß, dass Euer Vater nach der Niederlage der Engländer in Bannockburn ein Vermögen angehäuft hat. Es heißt, er habe Tage damit verbracht, englische Schwerter und Rüstungen einzusammeln, und nur, um die Juwelen daraus zu entfernen ... und das sogar mit Billigung des Königs!« Sir Bernhard Logie bestürmte ihn mit den gleichen Fragen, mit denen er ihn Tag für Tag belästigte. »Eure Schatzkammer, Eure Gold-und Silbermünzen habe ich gefunden, aber nicht die gestohlenen englischen Kostbarkeiten. Wo sind sie, Drummond?«
Mit strenger Miene musterte er die Fingernägel seiner einen Hand. »Ihr würdet es sehr viel leichter haben, wenn Ihr redet.«
Aber auch sein wiederholtes Bombardement von Fragen und versteckten Drohungen brachte ihm wieder nur den gleichen ausdrucklosen Blick wie immer ein, wenn er versuchte, Sir John zu verhören.
Der alte Herr presste die Lippen zusammen, in einer furchtlosen Zurschaustellung aufsässigen Schweigens, das im Grunde allerdings kaum Kraft von ihm erforderte. Denn wie seine Glieder, die von Tag zu Tag an Kraft verloren und zu dünn und schwach wurden, um seinem Willen zu gehorchen, so lag auch seine aufgesprungene, ausgedörrte Zunge tot wie ein getrocknetes Blatt Laub in seinem Mund.
Zu nichts anderem mehr zu gebrauchen, als mühsam ein paar Worte hervorzustoßen - was er im Moment jedoch nicht mal bereit war, zu versuchen.
»Wo ist Eure Tochter, John? Wo könnte sie Unterschlupf gefunden haben?«, begann Silberbein wieder in ihn einzudringen. »Wer würde sie bei sich aufnehmen?«
John Drummond nahm seine letzte Kraft zusammen und wandte den Kopf zur Seite. Dann richtete er seinen Blick auf den schmalen Schlitz in der gegenüber liegenden Wand und hoffte, dass Logie nicht bemerken würde, dass der Wind, wenn er den schräg fallenden Regen im richtigen Winkel erfasste, einen feinen Strahl feuchten Sprühnebels in die Zelle treiben konnte.
Denn die auf diese Art eindringende Feuchtigkeit trug sehr viel dazu bei, Sir John am Leben zu erhalten.
Und so elend er sich im Moment auch fühlen mochte, so war er doch noch lange nicht bereit zu sterben. Denn im Gegensatz zu den meisten anderen Drummond-Männern fehlte ihm der Mut, dem Tod ins Auge zu blicken und ihn nicht zu fürchten.
»Glaubt Ihr, Ihr könnt mich ignorieren?« Silberbein trat näher und stieß mit der Stiefelspitze gegen seinen Oberschenkel. »Wie ich sehe, hat die Magd Euch ein Plaid gebracht«, bemerkte er und beugte sich vor, um an dem wollenen Tuch zu ziehen, das Morven so fürsorglich unter Sir Johns angeketteten Beinen festgesteckt hatte.
»Sie machte sich Sorgen, Ihr würdet an der Kälte sterben. Ich sagte ihr, sie könne Euch Euer eigenes Plaid bringen, das von Eurem Bett, auf dem jetzt meine Windhunde schlafen - aber sie lehnte es mit der Begründung ab, Hundehaare würden Euch zum Niesen bringen.«
Und genau das tat Sir John in diesem Augenblick.
Der bloße Gedanke an das Fell eines Windhundes genügte, um seine Nase zum Zucken zu bringen und ihm die Tränen in die Augen zu treiben.
»So schlimm?« Silberbein schüttelte in gespieltem Mitgefühl den Kopf. »Was für eine Schande, aus diesem Leben zu scheiden, ohne die Freundschaft und Treue eines großherzigen Hunds erlebt zu haben«, fügte er hinzu, seine Stimme etwas sanfter nun, da er von seinen Haustieren sprach.
Sir John verzog keine Miene und bemühte sich nach Kräften, sich vor seinem Peiniger nicht anmerken zu lassen, dass dieser, ohne es zu wissen, einen weiteren wunden Punkt in seinem Herzen berührt hatte. Denn obschon John nie Hunde hatte um sich haben können, mochte er diese Tiere sehr.
»Ich habe der Magd gesagt, Ihr würdet eher verhungern, bevor Ihr erfriert.« Sir Bernhards Stimme war nun wieder kalt. Er schnippte mit den Fingern, und ein blassgesichtiger Küchenjunge betrat die Zelle mit einer Platte capercailzie, der großen, truthahnähnlichen Vögel, von denen es so viele auf den Ländereien der Drummonds gab.
Sie waren ein echter, in den Highlands überall sehr geschätzter Leckerbissen, und ihr zartes, wohlschmeckendes Fleisch war immer eins von Sir Johns Lieblingsgerichten gewesen. Und so wurde er fast ohnmächtig vor Hunger, als ihr köstliches Aroma die winzige Zelle zu erfüllen begann.
Sein leerer Magen verkrampfte sich, und das Wasser wäre ihm im Mund zusammengelaufen, wenn er noch genügend Flüssigkeit in seinem Körper gehabt hätte.
Silberbein brach einen knusprig gebratenen Schenkel ab und schwenkte ihn vor Johns Gesicht. »Es wäre sehr zu Eurem Vorteil, wenn Ihr reden würdet«, erklärte er ihm und hielt den Schenkel Sir John so nah vors Gesicht, dass er beinahe dessen Nase streifte.
Doch genauso schnell zog er ihn auch wieder zurück. »Denkt nach, wenn ich gegangen bin, dann werdet Ihr vielleicht einsehen, dass es vernünftiger wäre, Euch nicht so kampflustig zu zeigen.«
Als Sir John erkannte, dass Silberbeins Quälereien damit für heute ein Ende hatten, überließ er sich seiner Erschöpfung und ließ den Kopf an die mit Schlick bedeckte Steinmauer hinter ihm zurücksinken.
Die Anstrengung, ihn hochzuhalten, so lange Logie ihm gegenüber gestanden hatte, hatte seine Kräfte über alle Maßen strapaziert.
Zu müde, um auch nur zu seufzen, schloss er die Augen und wünschte, sein Geruchssinn wäre den gleichen Weg gegangen wie seine zu nichts mehr zu gebrauchende Zunge.
Doch dann glitt der Anflug eines Lächelns über John Drummonds ausgemergeltes Gesicht.
Die Schwäche seiner Zunge kümmerte ihn nicht. Und er war ungemein erleichtert, dass er auch weiterhin die Fähigkeit besaß, Silberbeins Versuchen zu Widerstehen, seinen Widerstand zu brechen, denn er war durchaus noch in der Lage, sich verständlich zu machen, wenn er sprechen wollte.
Aber er wollte es eben nicht. Eher würde er sich die Zunge herausreißen.
Denn die Fragen dieses Schurken zu beantworten würde bedeuten, seine Tochter zu einem sicheren Tod zu verurteilen.
Abercairn Castle verfügte in der Tat über ein ansehnliches geheimes Lager voller englischer Juwelen. Und es stimmte auch, dass sie mit Billigung des verstorbenen Königs Robert in den Besitz der Drammonds gelangt waren.
Aber als Kriegsbeute.
Zur Anerkennung und Belohnung für die Waffenhilfe und die Loyalität der Drammonds bei der Schlacht von Bannockburn, aus der der heldenhafte König Robert Bruce seinen triumphalsten Sieg über die Engländer davongetragen hatte.
Und würde Silberbein das Versteck eines derartigen Schatzes kennen, gäbe es für ihn keinen Grand mehr, Madeline am Leben zu lassen.
Wieder atmete John Drummond pfeifend ein und strich mit der Zunge über seine ausgedörrten Lippen.
Außer ihm kannte nur seine Tochter Abercairns Geheimnisse.
Und deshalb schwieg John Drummond.
Und betete zu allen Heiligen im Himmel, ihm zumindest so lange das Leben zu erhalten, bis seine Tochter sich von Abercairn ganz weit entfernt hatte, so weit ihre Füße sie nur tragen konnten.