Die Perlenkette
Eine Lord Peter Wimsey-Geschichte

Einmal im Jahr, und nur dieses eine Mal, pflegte Sir Septimus Shale seine Autorität geltend zu machen. Er gestattete seiner modernen jungen Frau, das Haus mit geometrischen Möbeln aus Stahlrohr vollzustellen, avantgardistische Künstler und agrammatische Dichter zu sammeln, an Cocktails und die Relativitätstheorie zu glauben und sich so extravagant zu kleiden, wie sie Lust hatte; aber sein altmodisches Weihnachtsfest ließ er sich nicht nehmen. Er war ein Mann von schlichtem Gemüt, der Plumpudding und Knallbonbons aufrichtig liebte und felsenfest überzeugt war, daß auch andere »im tiefsten Grunde ihres Herzens« ihre Freude daran hatten. Zu Weihnachten zog er sich deshalb zu allem entschlossen in sein Haus in Essex zurück, ließ die kubistischen Lampen von den Dienern mit Stechpalmen und Mistelzweigen schmücken, belud die stählerne Anrichte mit Köstlichkeiten von Fortnum & Mason, hängte Strümpfe an die polierten Kopfteile der Nußbaumbetten und ließ zu diesem einen Anlaß sogar die elektrischen Heizkörper aus den modernistischen Kaminöffnungen entfernen und durch ein Holzfeuer und einen Julscheit ersetzen. Dann versammelte er Familie und Freunde um sich, stopfte sie mit Dickensschen Leckerbissen voll, bis sie nicht mehr konnten, und nach dem Weihnachtsmahl mußten sich alle im Salon zu Scharaden und allerlei sonstigen Gesellschaftsspielen einstellen, deren Höhepunkt jedesmal ein Versteckspiel im Dunkeln über das ganze große Haus war. Da Sir Septimus ein sehr reicher Mann war, fügten die Gäste sich diesem unabänderlichen Programm, und wenn sie sich dabei langweilten, ließen sie es sich nicht anmerken.

Zu Sir Septimus’ liebenswerten traditionellen Gewohnheiten gehörte es auch, seiner Tochter Margharita zu jedem Geburtstag – der zufällig auf den Heiligabend fiel – eine Perle zu schenken. Es waren jetzt zwanzig an der Zahl, und die Sammlung erfreute sich inzwischen einer gewissen Berühmtheit und war schon in den Zeitungen der höheren Gesellschaft abgebildet worden. Obschon die Perlen nicht sensationell groß waren – jede hatte ungefähr die Größe einer Markerbse –, stellten sie einen sehr hohen Wert dar. Sie waren von exquisiter Färbung und vollkommener Form und paßten haargenau zueinander. An diesem Heiligabend hatte nun die Überreichung der einundzwanzigsten Perle den Anlaß zu einer ganz besonderen Festlichkeit mit Tanz und Ansprachen geboten, während die eigentliche Weihnachtsfeier im engeren Familienkreis mit Truthahnessen und den erwähnten viktorianischen Lustbarkeiten am darauffolgenden Weihnachtsabend stattfand. Außer Sir Septimus und Lady Shale sowie beider Tochter waren elf Gäste anwesend, fast alle auf irgendeine Weise mit ihnen verwandt oder sonstwie verbunden: John Shale, ein Bruder, mit Frau, Sohn Henry und Tochter Betty; Bettys Verlobter, Oswald Truegood, ein junger Mann mit politischen Ambitionen; George Comphrey, ein Vetter Lady Shales, etwa dreißigjährig und als Lebemann bekannt; Lavinia Prescott, die Georges wegen eingeladen worden war; Joyce Trivett, Henry Shales wegen eingeladen; Richard und Beryl Dennison, entfernte Verwandte von Lady Shale, die in der Stadt ein ebenso flottes wie kostspieliges Leben führten, ohne daß jemand wußte, wovon sie das bezahlten; und schließlich Lord Peter Wimsey, in einem rührenden Anflug unbegründeter Hoffnungen Margharitas wegen eingeladen. Außerdem waren natürlich noch William Norgate, Sir Septimus’ Sekretär, und Miss Tomkins, Lady Shales Sekretärin anwesend, weil sie einfach da sein mußten, denn ohne ihre stille Tüchtigkeit wäre aus den ganzen Weihnachtsvorbereitungen nichts geworden.

Das Abendessen war vorüber – eine scheinbar endlose Folge von Suppe, Fisch, Truthahn, Braten, Plumpudding, Pasteten, kandierten Früchten, Nüssen und fünf Sorten Wein, präsidiert von Sir Septimus Shale mit strahlendem Lächeln, Lady Shale mit spöttischer Verachtung, sowie Margharita, hübsch und gelangweilt, mit einer Kette aus einundzwanzig sanft schimmernden Perlen um den schlanken Hals. Dann waren die Gäste, gesättigt und mit einem Völlegefühl, das nur noch nach horizontaler Lage verlangte, zum Spielen in den Salon geführt worden – »Musikalische Stühle« (am Klavier Miss Tomkins), »Hasch den Pantoffel« (Pantoffel gestellt von Miss Tomkins) und »Scharade« (Kostüme von Miss Tomkins und Mr. William Norgate). Der Hintere Salon (Sir Septimus hielt an diesem altmodischen Namen fest) gab einen ausgezeichneten Umkleideraum ab, da er durch eine Schiebetür vom Großen Salon abgetrennt war, wo das Publikum im grellen Licht elektrischer Lampen, das von der Messingdecke reflektiert wurde, auf Leichtmetallstühlen saß und verlegen mit den Füßen auf dem schwarzgläsernen Fußboden scharrte.

Schließlich gab William Norgate, nachdem er sich der allgemeinen Stimmung vergewissert hatte, Lady Shale den Rat, doch lieber etwas weniger Anstrengendes spielen zu lassen. Lady Shale pflichtete ihm bei und schlug wie üblich Bridge vor. Sir Septimus wischte wie üblich diesen Vorschlag beiseite.

»Bridge? Unsinn, Unsinn! Ihr könnt alle Tage eures Lebens Bridge spielen. Heute ist Weihnachten! Etwas, was wir alle gemeinsam spielen können. Wie wär’s denn mit ›Tier, Pflanze, Mineral‹?«

Dieser intellektuelle Zeitvertreib war eines von Sir Septimus’ Lieblingsspielen, denn er verstand sich recht gut auf Fangfragen. Als allen dann nach kurzer Diskussion klar wurde, daß dieses Ratespiel anscheinend unveränderlicher Bestandteil des Weihnachtsprogramms war, fügte man sich, und Sir Septimus erbot sich, als erster »hinauszugehen« und den Anfang zu machen.

Nach einer Weile hatten sie unter anderem erraten: ein Foto von Miss Tomkins’ Mutter; eine Grammophonplatte von »Ich möchte glücklich sein« (allerdings erst nach ausgiebiger wissenschaftlicher Debatte über die genaue chemische Zusammensetzung von Grammophonplatten, von Mr. Norgate schließlich durch einen Blick in die Encyclopaedia Britannica entschieden); den kleinsten Stichling im Bach am Ende des Gartens; den neuen Planeten Pluto; und den Schal, den Mrs. Dennison trug (sehr irreführend, da er weder aus Seide war, was tierisch gewesen wäre, noch aus Kunstseide, was pflanzlich gewesen wäre, sondern aus gesponnenem Glas und somit mineralisch – eine sehr raffinierte Objektwahl). Nicht geraten hatten sie die Rundfunkansprache des Premierministers – ein Objekt, das als unfair angesehen wurde, da niemand zu entscheiden vermochte, ob es sich dabei seiner Natur nach um etwas Tierisches oder um eine Art Gas handelte. Man beschloß, noch ein Wort zu raten und dann zum Versteckspiel überzugehen. Oswald Truegood hatte sich in den Hinteren Salon zurückgezogen und die Tür geschlossen, während die Gesellschaft über das nächste zu ratende Wort beriet, als Sir Septimus der Diskussion jäh ein Ende machte, indem er seiner Tochter zurief:

»Nanu, Margy! Was hast du denn mit deiner Halskette gemacht?«

»Abgenommen, Papa, damit sie mir bei der Scharade nicht kaputtging. Sie liegt da drüben auf dem Tisch – nein, da liegt sie nicht! Hast du sie an dich genommen, Mama?«

»Nein. Aber das hätte ich sicher getan, wenn ich sie gesehen hätte. Du bist sehr unachtsam, mein Kind.«

»Ich glaube, du hast sie selber, Papa. Du willst mich nur aufziehen.«

Sir Septimus wies den Vorwurf energisch zurück. Alle standen auf und begannen zu suchen. Es gab in dem kahlen, blitzenden Raum ja nicht viele Stellen, wo eine Perlenkette sich hätte verstecken können. Nach zehn Minuten nutzloser Suche begann Richard Dennison, der dem Tisch am nächsten gesessen hatte, auf dem die Halskette deponiert worden war, ziemlich unbehaglich dreinzusehen.

»Peinliche Sache, wie?« raunte er Wimsey zu.

In diesem Moment steckte Oswald Truegood den Kopf durch die Schiebetür und fragte, ob sie sich nicht bald auf ein Wort geeinigt hätten; er werde langsam nervös.

Das lenkte die Aufmerksamkeit der Schatzsucher auf den Hinteren Salon. Margharita mußte sich geirrt haben. Sicher hatte sie die Halskette dorthin mitgenommen, und sie war irgendwie unter die Kostüme geraten. Das Zimmer wurde peinlichst genau durchsucht. Alles wurde hochgehoben und ausgeschüttelt. Die Sache sah allmählich ernst aus. Nach halbstündigen verzweifelten Bemühungen setzte sich schließlich die Erkenntnis durch, daß die Perlen nirgends zu finden waren.

»Sie müssen doch irgendwo in einem dieser beiden Räume sein«, sagte Wimsey. »Der Hintere Salon hat keine Tür, und niemand hätte aus dem Großen Salon hinausgehen können, ohne gesehen zu werden. Höchstens wenn die Fenster –«

Nein. Die Fenster waren alle von außen durch schwere Läden gesichert, die sich nur mit Hilfe zweier Diener abnehmen und wieder einsetzen ließen. Auf diesem Wege hatten die Perlen das Haus bestimmt nicht verlassen. Überhaupt war ja schon die Vorstellung, daß sie auch nur den Salon verlassen haben könnten, höchst unerfreulich, weil – weil –

Es war der stets praktische und tüchtige William Norgate, der den Mut hatte, das Naheliegende auszusprechen:

»Ich glaube, Sir Septimus, es wäre für alle Anwesenden eine große Erleichterung, wenn wir durchsucht würden.«

Sir Septimus war entsetzt, doch die Gäste, froh, einen Sprecher gefunden zu haben, unterstützten Norgates Vorschlag. Die Tür wurde verschlossen, und die Durchsuchung begann – für die Damen im Hinteren, für die Herren im Großen Salon.

Es kam allerdings nichts weiter dabei heraus als der eine oder andere interessante Einblick in den Tascheninhalt durchschnittlicher Männer und Frauen. Daß Lord Peter Wimsey eine Pinzette, eine Taschenlupe und einen kleinen zusammenklappbaren Zollstock bei sich trug, war nur natürlich – denn war er nicht ein Sherlock Holmes der großen Gesellschaft? Aber daß Oswald Truegood zwei in ein Stück Papier gewickelte Lebertabletten bei sich hatte und Henry Shale eine Taschenbuchausgabe der Oden von Horaz, hatte niemand erwartet. Und warum beulte Henry Shale die Taschen seines Abendanzugs mit einem Stück roten Siegellacks, einem häßlichen kleinen Maskottchen und einem Fünfshillingstück aus? George Comphrey hatte nebst einer kleinen Schere drei eingepackte Zuckerwürfel bei sich, wie man sie in Restaurants und Speisewagen bekommt – Hinweis auf eine nicht eben seltene Form der Kleptomanie; doch daß der ordentliche und stets so korrekte Mr. Norgate sich mit einer Rolle weißen Baumwollgarns, dreierlei Schnüren und zwölf auf ein Kärtchen gesteckter Sicherheitsnadeln abschleppte, erschien nun wirklich bemerkenswert, bis jemandem einfiel, daß er schließlich die ganze Weihnachtsdekoration beaufsichtigt hatte. Bei Richard Dennison fand man zur allgemeinen Verwirrung und Belustigung ein Damenstrumpfband, eine Puderdose und eine halbe Kartoffel; letztere, sagte er, sei gut gegen Rheumatismus (mit dem er zu tun habe), während die andern Gegenstände seiner Frau gehörten. Bei den Damen befanden sich unter den Überraschungsfunden: ein Büchlein über Handlesekunst, drei unsichtbare Haarnadeln und ein Babyfoto (Miss Tomkins); ein chinesisches Zigarettenetui mit Geheimfach (Beryl Dennison); ein sehr privater Brief und eine Apparatur zum Reparieren von Laufmaschen (Lavinia Prescott); eine Augenbrauenpinzette und ein kleines Päckchen mit weißem Pulver, angeblich gegen Kopfweh (Betty Shale). Für gelinde Aufregung sorgte der Fund einer kleinen Perlenkette in Joyce Trivetts Handtasche – bis man sich erinnerte, daß sie aus einem Knallbonbon während des Dinners stammte, und die Perlen entpuppten sich in der Tat als synthetisch. Kurz, die Suche ergab nichts, außer einer gewissen allgemeinen Verlegenheit und dem Unbehagen, das eiliges Aus- und wieder Anziehen zur falschen Tageszeit stets mit sich bringt.

Und so kam es dann, daß schließlich jemand – zähneknirschend und mit allen Anzeichen äußersten Widerstrebens – das gräßliche Wort »Polizei« in den Mund nahm. Sir Septimus war natürlich der bloße Gedanken schon entsetzlich. Das war ja grauenhaft! Das werde er nie zulassen. Die Perlen müßten schließlich irgendwo sein. Sie sollten noch einmal die Zimmer durchsuchen. Könnte Lord Peter Wimsey, der doch Erfahrung mit – äh – geheimnisvollen Vorgängen habe, ihnen da nicht irgendwie behilflich sein?

»Wie?« meinte Seine Lordschaft. »Ach so, meine Güte, ja doch, gewiß, selbstverständlich. Ich meine, vorausgesetzt natürlich, daß niemand annimmt – äh, wie? Das heißt, Sie wissen schließlich nicht, ob ich nicht selbst ein höchst verdächtiges Subjekt bin, oder?«

Hier griff nun Lady Shale energisch ein.

»Wir halten niemanden hier für verdächtig«, sagte sie, »doch wenn wir jemanden dafür halten müßten, dann gewiß nicht Sie. Sie verstehen von Verbrechen viel zuviel, um selbst eins begehen zu wollen.«

»Na schön«, sagte Wimsey. »Aber nachdem wir hier alles schon so gründlich abgesucht haben –« Er zuckte mit den Schultern.

»Ja, ich fürchte auch, daß Sie keine Fußabdrücke mehr finden werden«, sagte Margharita. »Aber wir könnten doch etwas übersehen haben.«

Wimsey nickte.

»Ich will’s versuchen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, alle wieder im Großen Salon Platz zu nehmen und dort zu bleiben? Bis auf einen von Ihnen – ich hätte lieber einen Zeugen für alles, was ich tue oder finde. Sir Septimus – Sie wären dafür am geeignetsten, meine ich.«

Er schickte sie alle auf ihre Plätze und begann mit einem langsamen Rundgang durch die beiden Räume, wobei er alle Flächen unter die Lupe nahm, zur polierten Messingdecke hinauf starrte und, nach bewährter Manier, auf allen Vieren über die schwarz glänzende Wüste des Fußbodens kroch. Sir Septimus folgte ihm, starrte, wenn Wimsey starrte, stützte die Hände auf die Knie, wenn Wimsey auf allen Vieren kroch, und schnaufte hin und wieder vor Verwunderung und Kummer. Wie sie so die Runde machten, erinnerten sie an einen Mann mit einem sehr neugierigen jungen Hund beim gemütlichen Gassigehen. Zum Glück erleichterte Lady Shales innenarchitektonischer Geschmack die Suche sehr; es gab kaum irgendwelche Ecken und Winkel, in denen etwas versteckt werden konnte.

Sie kamen in den Hinteren Salon, und hier wurden die Kostüme noch einmal peinlich genau untersucht, doch ohne Erfolg. Schließlich legte Wimsey sich auf den Bauch und spähte unter eine stählerne Anrichte, eines der ganz wenigen Möbelstücke mit kurzen Beinen. Dort schien etwas sein Interesse zu erregen. Er krempelte einen Ärmel hoch und schob den Arm in den Hohlraum, krampfartig zappelnd in dem Bemühen, weiter zu reichen, als menschenmöglich war; dann zog er den Zollstock aus der Tasche und klappte ihn auseinander, um damit unter dem Schränkchen herumzustochern, und fischte den Gegenstand, der ihn so brennend interessierte, schließlich heraus.

Es war etwas sehr Winziges – eine Nadel, genauer gesagt. Keine gewöhnliche Nadel, sondern so eine, wie sie vielleicht von Entomologen zum Aufspießen extrem winziger Motten und dergleichen benutzt wird. Sie war etwa zwei Zentimeter lang, überaus dünn, mit scharfer Spitze und ganz besonders kleinem Kopf.

»Donnerwetter!« sagte Sir Septimus. »Was ist das denn?«

»Sammelt hier zufällig jemand Schmetterlinge oder Käfer oder so etwas?« fragte Wimsey, in der Hocke sitzend, während er die Nadel eingehend begutachtete.

»Nein, da bin ich mir ziemlich sicher«, entgegnete Sir Septimus. »Aber ich werde mal fragen.«

»Lieber nicht.« Wimsey senkte den Kopf und starrte auf den Fußboden, und sein eigenes Gesicht starrte grübelnd von dort zu ihm zurück.

»Aha«, sagte er mit einemmal. »So wurde das also gemacht. Alles klar, Sir Septimus. Ich weiß, wo die Perlen sind; ich weiß nur noch nicht, wer sie genommen hat. Vielleicht wäre es ganz gut – zur Beruhigung aller –, das auch noch herauszufinden. In der Zwischenzeit sind sie bestens aufgehoben. Sagen Sie niemandem, daß wir diese Nadel oder überhaupt etwas gefunden haben. Schicken Sie alle zu Bett. Verschließen Sie die Salontür, und behalten Sie den Schlüssel bei sich, dann werden wir unsern Mann

– oder unsere Frau – beim Frühstück erwischen.«

»Donnerwetter!« sagte Sir Septimus über alle Maßen erstaunt.

Lord Peter Wimsey hielt in dieser Nacht gewissenhaft Wache vor der Salontür. Doch niemand kam in ihre Nähe. Entweder vermutete der Dieb eine Falle, oder er war sich sehr sicher, daß er die Perlen jederzeit wieder an sich nehmen könne. Wimsey hatte indessen keineswegs das Gefühl, seine Zeit zu vertun. Er legte eine Liste der Leute an, die sich im Laufe des Spiels »Tier, Pflanze, Mineral« allein im Hinteren Salon aufgehalten hatten. Die Liste sah folgendermaßen aus:

Sir Septimus Shale

Lavinia Prescott

William Norgate

Joyce Trivett und Henry Shale (gemeinsam, weil sie behauptet hatten, ohne Hilfe nichts raten zu können)

Mrs. Dennison

Betty Shale

George Comphrey

Richard Dennison

Miss Tomkins

Oswald Truegood

Er stellte ferner eine Liste der Leute zusammen, denen Perlen irgendwie nützlich oder begehrenswert erscheinen konnten. Bedauerlicherweise stimmte diese Liste fast in jeder Hinsicht mit der ersten überein (immer mit Ausnahme von Sir Septimus) und war somit wenig hilfreich. Die beiden Sekretäre waren mit besten Empfehlungen in dieses Haus gekommen, aber genau das wäre ja auch der Fall gewesen, wenn sie mit unlauteren Absichten gekommen wären; von den Dennisons war allgemein bekannt, daß sie von der Hand in den Mund lebten; Betty Shale hatte mysteriöse weiße Pülverchen in ihrer Handtasche, und man wußte, daß sie in der Stadt in recht leichtlebigen Kreisen verkehrte; Henry war ein harmloser Dilettant, aber Joyce Trivett wickelte ihn um den kleinen Finger und war »kostspielig und liederlich«, wie Jane Austen es gern auszudrücken pflegte; Comphrey spekulierte; Oswalt Truegood sah man recht häufig beim Pferderennen in Epson und Newmarket – Motive zu finden war geradezu verhängnisvoll einfach.

Als das zweite Hausmädchen und ein Diener mit Haushaltsgegenständen im Flur erschienen, gab Wimsey seine Wache auf, doch er kam zeitig zum Frühstück wieder herunter. Sir Septimus mit Frau und Tochter war schon da. Eine fühlbare Spannung lag in der Luft. Wimsey stand am Kamin und plauderte über das Wetter und die Politik.

Nach und nach fand die Gesellschaft sich ein, aber wie auf Verabredung erwähnte niemand die Perlen, bis Oswald Truegood nach dem Frühstück endlich den Stier bei den Hörnern packte.

»Na«, meinte er, »wie weit ist denn unser Detektiv? Haben Sie schon Ihren Mann, Wimsey?«

»Noch nicht«, antwortete Wimsey gelassen.

Sir Septimus, der Wimsey im Auge behielt, als erwarte er von ihm sein Stichwort, räusperte sich und hob zu einer Rede an.

»Sehr ärgerlich, das Ganze«, sagte er, »ausgesprochen unerfreulich. Hrrrm! Fürchte, jetzt bleibt uns wirklich nur noch die Polizei. Ausgerechnet zu Weihnachten. Hrrrm! Hat das ganze Fest verdorben. Kann das Zeug hier nicht mehr sehen.« Er wies auf die Girlanden und Immergrünzweige und den bunten Papierschmuck an den Wänden.

»Am besten runter damit, wie? Macht keinen Spaß mehr. Hrrrm! Alles verbrennen.«

»Wie schade, wo wir uns doch solche Mühe damit gemacht haben«, sagte Joyce.

»Ach, laß doch, Onkel«, meinte Henry Shale. »Du machst dir zuviel Gedanken um die Perlen. Die kommen bestimmt wieder zum Vorschein.«

»Soll ich nach James läuten?« schlug William Norgate vor.

»Nein«, fiel Comphrey ihm ins Wort, »das machen wir selber. Es beschäftigt uns und lenkt von den Sorgen ab.«

»Richtig«, sagte Sir Septimus. »Fangt gleich an. Kann das Zeug nicht mehr sehen.«

Er riß wütend einen großen Stechpalmenzweig vom Kamin herunter und schleuderte ihn in die hochschießenden Flammen.

»So ist’s recht«, sagte Richard Dennison. »Das gibt ein prima Feuerchen!« Er sprang vom Tisch hoch und riß den Mistelzweig vom Kronleuchter. »Da geht er hin! Noch einen Kuß für irgend jemanden, bevor’s zu spät ist.«

»Bringt es nicht Unglück, die Sachen vor Neujahr abzunehmen?« fragte Miss Tomkins.

»Soll es doch Unglück bringen! Nichts wie weg damit. Auch von den Treppen und aus dem Salon. Soll jemand hingehen und die Sachen da wegholen.«

»Ist der Salon denn nicht abgeschlossen?« fragte Oswald.

»Nein. Lord Peter sagt, die Perlen können sein, wo sie wollen, aber nicht da; also ist der Salon nicht verschlossen. Stimmt doch, Wimsey, oder?«

»Ganz recht. Die Perlen wurden aus diesen Räumen fortgeschafft. Ich weiß noch nicht wie, aber ich bin mir ganz sicher. Ich will sogar meinen Ruf dafür aufs Spiel setzen, daß sie sein mögen, wo sie wollen, aber eben nicht da oben.«

»Na schön«, sagte Comphrey, »wenn das so ist, dann nichts wie ran! Kommen Sie, Lavinia – Sie und Dennison nehmen den Großen Salon und ich den Hinteren. Mal sehen, wer zuerst fertig ist.«

»Aber wenn die Polizei kommt«, wandte Dennison ein, »muß dafür nicht alles so bleiben, wie es ist?«

»Zum Teufel mit der Polizei!« schrie Sir Septimus. »Die braucht kein Immergrün.«

Oswald und Margharita rissen schon unter Lachanfällen die Stechpalmen und das Efeu vom Treppengeländer. Die Gesellschaft verteilte sich übers Haus. Wimsey lief rasch hinauf in den Salon, wo das Zerstörungswerk schon weit fortgeschritten war, da George mit den beiden andern zehn Shilling gegen einen Sixpence gewettet hatte, daß sie mit ihrer Arbeit nicht früher fertig sein würden als er mit der seinen.

»Sie dürfen uns nicht helfen!« rief Lavinia Wimsey lachend zu. »Das wäre nicht fair.«

Wimsey sagte nichts, sondern wartete, bis das Zimmer leer war. Dann folgte er ihnen nach unten in die Diele, wo das Feuer fauchte und knisterte, daß es an den GuyFawkes-Tag erinnerte. Er flüsterte Sir Septimus etwas zu, der vortrat und George Comphrey auf die Schulter tippte.

»Lord Peter möchte dir etwas sagen, mein Junge«, sagte er.

Comphrey schrak zusammen und ging, wie es schien, ein wenig widerstrebend mit. Besonders wohl sah er dabei nicht aus.

»Mr. Comphrey«, sagte Wimsey, »ich glaube, diese Sachen gehören Ihnen.« Damit streckte er die Hand aus, auf der einundzwanzig feine Nadeln mit winzigen Köpfen lagen.

»Genial«, sagte Wimsey, »aber etwas weniger Geniales hätte seinen Zwecken besser gedient. Es war großes Pech für ihn, Sir Septimus, daß Sie die Perlen gerade in dem Moment erwähnten. Er hatte natürlich gehofft, ihr Verschwinden würde erst bemerkt, nachdem wir mit dem Begrifferaten fertig und zum Versteckspiel übergegangen waren. Dann hätten die Perlen überall im Haus sein können; wir hätten den Salon nicht zugeschlossen, und er hätte seine Beute wieder an sich nehmen können, wann immer es ihm beliebte. Diese Möglichkeit hatte er wahrscheinlich im Sinn gehabt, als er hierherkam, darum hatte er auch die Nadeln bei sich, und daß Miss Shale das Collier zur Scharade ablegte, das gab ihm die erhoffte Gelegenheit.

Er war nicht zum erstenmal zur Weihnachtsfeier hier und wußte genau, daß ›Tier, Pflanze, Mineral‹ fest zum Unterhaltungsprogramm gehörte. Er brauchte nur die Perlenkette vom Tisch zu nehmen, als er mit dem Hinausgehen an die Reihe kam, und dann konnte er darauf vertrauen, daß er mindestens fünf Minuten allein sein würde, während wir uns um den Suchbegriff stritten. Mit seiner Taschenschere brauchte er dann nur noch die Perlen von der Schnur zu lösen, diese im Kamin zu verbrennen und die Perlen mit den dünnen Nadeln an den Mistelzweig zu heften. Der Mistelzweig hing am Kronleuchter, also ziemlich hoch – es ist ja ein hohes Zimmer –, aber wenn er sich auf den Glastisch stellte, auf dem keine Fußabdrücke zurückbleiben würden, kam er leicht heran, und es war so gut wie sicher, daß niemand den Mistelzweig untersuchen würde, ob er nicht ein paar Beeren zuviel hatte. Ich wäre ja auch nicht auf die Idee gekommen, wenn ich nicht die Nadel gefunden hätte, die ihm hinuntergefallen war. Das brachte mich auf den Gedanken, die Perlen könnten von der Kette gelöst worden sein, und der Rest war dann ganz einfach. Ich habe die Perlen letzte Nacht vom Mistelzweig gepflückt – der Verschluß war übrigens auch da; den hatte er zwischen die Stechpalmenblätter gesteckt. Hier sind die Perlen. Comphrey muß heute früh einen bösen Schrecken bekommen haben. Daß er unser Mann war, wußte ich in dem Moment, als er den Vorschlag machte, die Gäste sollten den Weihnachtsschmuck eigenhändig abnehmen, erst recht, als er selbst den Hinteren Salon übernehmen wollte

– aber ich hätte zu gern sein Gesicht gesehen, als er an den Mistelzweig kam und die Perlen nicht mehr vorfand.«

»Und das war Ihnen alles klar, als Sie die Nadel fanden?« fragte Sir Septimus.

»Ja. Da wußte ich, wohin die Perlen gekommen waren.«

»Aber Sie haben nicht einmal zu dem Mistelzweig hinaufgeschaut.«

»Er spiegelte sich in dem schwarzen Glasboden, und da fiel mir auf einmal auf, wie sehr die Mistelbeeren doch Perlen glichen.«