Die rote Königin
Eine Lord Peter Wimsey-Geschichte

»Na, du Karo-Bube«, sagte Mark Sambourne mit vorwurfsvollem Kopfschütteln, »dich kenne ich doch schon lange.«

Er kramte unter dem weißen Satin seines Kostüms herum, das mit großen Rechtecken und Punkten verziert war und ein Dominospiel darstellen sollte. »Zum Kuckuck mit dieser Aufmachung! Wo hat der Schneider da bloß die Taschen hingenäht? Du raubst mir die Taschen aus, jawohl, du raubst mir aus meinen Taschen das Silber und Gold. Wieviel macht’s?« Er zückte seinen Füllfederhalter nebst Scheckbuch.

»Fünf Pfund, siebzehn Shilling, sechs Pence«, sagte Lord Peter Wimsey. »Stimmt’s, Partnerin?« Seine weiten blauroten Ärmel raschelten, als er sich an Lady Hermione Creethorpe wandte, die in ihrem Kreuz-Dame-Kostüm ganz wie die gestrenge Jungfrau aussah, die sie in Wirklichkeit auch war.

»Ganz recht«, antwortete die alte Dame, »und ich finde das noch sehr billig.«

»Wir haben ja nicht lange gespielt«, entschuldigte sich Wimsey.

»Es wäre mehr herausgekommen, Tantchen«, bemerkte Mrs. Wrayburn, »wenn du nicht so habgierig gewesen wärst. Du hättest meine vier Pik nicht verdoppeln sollen.«

Lady Hermione schnaubte verächtlich, und Wimsey ging rasch dazwischen:

Lageskizze des Ballsaals

A) Treppe zu Ankleidezimmer und Galerie; B) Treppe zur Galerie; C) Treppe nur zur Musikergalerie; D) Sofa, auf dem Joan Carstairs saß; E) Sofa, auf dem Jim Playfair saß; F) Wo die Weihnachtssänger standen; G) Wo Ephraim Dodd saß; H) Gäste beim »Sir Roger«; I) Dienstboten beim »Sir Roger«; XX = Lampions; oooo = Säulen.

»Es ist richtig schade, daß wir schon aufhören mußten, aber Deverill würde es uns nie verzeihen, wenn wir beim Sir Roger nicht dabei wären. Er legt sehr großen Wert darauf. Wieviel Uhr haben wir? Zwanzig nach eins. Der Sir Roger ist auf Punkt halb zwei angesetzt. Ich glaube, wir trollen uns jetzt besser in den Ballsaal.«

»Das meine ich auch«, pflichtete Mrs. Wrayburn ihm bei. Sie stand auf, und nun sah man auch ihr Kostüm, das mit kühnen roten und schwarzen Spitzen verziert war und ein Backgammon-Brett darstellte. »Es ist riesig nett von Ihnen«, fuhr sie fort, während Lady Hermiones voluminöse Röcke vor ihnen her durch den Gang rauschten, »daß Sie aufs Tanzen verzichten, damit Tantchen zu ihrem Bridge kommt. Sie läßt es sich so ungern entgehen.«

»Aber ich bitte Sie, es war mir ein Vergnügen«, sagte Wimsey. »Jedenfalls war mir die Pause ganz recht. Diese Kostüme machen einem beim Tanzen ganz schön heiß.«

»Sie sind aber ein prachtvoller Karo-Bube. Ich finde Lady Deverills Idee so gut, daß alle sich als Spiele kostümieren sollten. Endlich mal was anderes als immer die langweiligen Pierrots und Kolombinen.« Sie bogen um die Südwestecke des Ballsaals und gelangten in den südlichen Gang, der von einem großen vierfarbigen Lampion erhellt war. Zwischen den Säulen blieben sie stehen und blickten aufs Tanzparkett, wo Sir Charles Deverills Gäste zu den fröhlichen Klängen einer Kapelle, die auf der Musikergalerie am andern Ende des Ballsaals saß, einen Foxtrott tanzten. »Hallo, Giles«, sagte Mrs. Wrayburn, »Sie sehen erhitzt aus.«

»Das bin ich auch«, sagte Giles Pomfret. »Wäre ich doch nur nicht auf dieses infernalische Kostüm verfallen! Es ist ja ein schöner Billardtisch – aber ich kann mich nicht damit hinsetzen!« Er fuhr sich über die erhitzte Stirn, die von einem eleganten grünen Lampenschirm gekrönt war. »Wenn ich mich mal ausruhen will, kann ich nur mein Hinterteil auf einem Heizkörper abstützen, aber die Dinger sind voll in Betrieb, das ist also auch nicht gerade was zur Abkühlung. Gott sei Dank gibt dieser Bretterverhau mir wenigstens immer eine gute Ausrede, mich vor dem Tanzen zu drücken.«

Er lehnte sich an die nächststehende Säule und setzte ein Märtyrergesicht auf.

»Nina Hartford hat’s noch am besten«, fand Mrs. Wrayburn. »Wasserpolo – wie vernünftig – nur ein Badeanzug und ein Ball; wobei ich das bei einer weniger barocken Figur allerdings schöner fände. Euch Spielkarten finde ich am schönsten, und die Schachfiguren stehen euch nicht viel nach. Da hinten tanzt Gerda Bellingham mit ihrem Gatten – ist sie nicht zu süß in dieser roten Perücke? Und die Turnüre und alles. Zum Glück haben sie nicht allzusehr auf Lewis Carroll gemacht. Charmian Grayle ist doch die allerliebste Weiße Königin – wo ist sie denn überhaupt?«

»Ich kann dieses junge Ding nicht ausstehen«, sagte Lady Hermione. »Sie ist flatterhaft.«

»Aber Verehrteste!«

»Sie finden mich sicher altmodisch. Meinetwegen, ich bin es gern. Ich sage, sie ist flatterhaft, und außerdem hat sie kein Herz. Ich habe sie vor dem Abendessen beobachtet, und Tony Lee kann mir nur leid tun. Sie hat mit Harry Vibart geflirtet, was das Zeug hielt – um es nicht härter auszudrücken – und Jim Playfair hat sie auch an der Angel. Nicht einmal Frank Bellingham kann sie in Ruhe lassen, und dabei wohnt sie in seinem Haus.«

»Na, nun sagen Sie mal, Lady Hermione!« protestierte Sambourne, »da sind Sie aber ein bißchen hart gegen Miss Grayle. Ich meine, sie ist nun mal ein ausgesprochen flottes junges Ding und so.«

»Und dieses Wort ›flott‹ kann ich schon gar nicht leiden«, gab Lady Hermione erbost zurück. »Das bedeutet heutzutage doch nur trinkfest und liederlich. Und so ein junges Ding ist sie auch wieder nicht, junger Mann. Wenn sie so weitermacht, ist sie in drei Jahren ein altes Weib.«

»Liebe Lady Hermione«, meinte Wimsey, »wir können nicht alle so unberührt von der Zeit bleiben wie Sie.«

»Das können Sie schon«, versetzte die alte Dame, »wenn Sie auf Ihren Magen achtgeben – und auf Ihre Moral. Da kommt Frank Bellingham – sicher wieder auf der Suche nach etwas Trinkbarem. Die jungen Leute von heute müssen ja geradezu in Gin eingelegt sein.«

Der Foxtrott war zu Ende, und der Rote König bahnte sich seinen Weg durch die applaudierenden Paare zu ihnen.

»Hallo, Bellingham!«, sagte Wimsey. »Ihre Krone ist verrutscht. Gestatten Sie.« Er rückte mit geschickten Fingern Perücke und Kopfputz zurecht. »Das soll kein Vorwurf sein. Wo ist in diesen bolschewistischen Zeiten schon noch eine Krone sicher?«

»Danke«, sagte Bellingham. »Ich muß schon sagen, jetzt brauche ich was zu trinken.«

»Was habe ich Ihnen gesagt?« meinte Lady Hermione.

»Dann machen Sie aber rasch, mein Alter«, sagte Wimsey. »Sie haben noch genau vier Minuten Zeit. Kommen Sie nur ja nicht zu spät zum Sir Roger.«

»Recht haben Sie. Ach, übrigens tanze ich ihn mit Gerda. Wenn Sie ihr begegnen, können Sie ihr sagen, wo sie mich findet.«

»Wird gemacht. Lady Hermione, Sie geben natürlich mir die Ehre?«

»Unsinn! Sie werden doch nicht erwarten, daß ich in meinem Alter tanze! Der alten Frau gebührt die Rolle des Mauerblümchens.«

»Nichts da. Wenn ich doch nur das Glück gehabt hätte, früher zur Welt zu kommen, wären wir beide hier Seite an Seite als Ehepaar erschienen. Natürlich werden Sie den Sir Roger mit mir tanzen – es sei denn, Sie geben mir wegen einem dieser Jünglinge einen Korb.«

»Mit Jünglingen kann ich nichts anfangen«, sagte Lady Hermione. »Kein Mumm in den Knochen. Beine wie Stecken.« Sie ließ ihren Blick rasch an Wimseys scharlachroter Strumpfhose hinabgleiten. »Sie haben wenigstens noch andeutungsweise so etwas wie Waden. Mit Ihnen kann man sich sehen lassen, ohne für Sie zu erröten.«

Wimsey beugte die Lockenperücke mit der blutroten Mütze galant über die knorrige Hand, die ihm geboten wurde.

»Sie machen mich zum Glücklichsten unter den Männern. Wir werden denen mal zeigen, wie’s gemacht wird. Rechte Hand, linke Hand, beide Hände über Kreuz, Rükken an Rücken, rundherum und ab durch die Mitte. Da geht Deverill gerade der Kapelle Bescheid sagen, daß sie anfangen soll. Pünktlich wie die Uhr, der alte Knabe, wie? Nur noch zwei Minuten … Was ist los, Miss Carstairs? Haben Sie Ihren Partner verloren?«

»Ja – haben Sie Tony Lee irgendwo gesehen?«

»Den Weißen König? Keine Spur von ihm. Auch nicht die Weiße Königin. Wahrscheinlich sind sie zusammen irgendwohin gegangen.«

»Anzunehmen. Der arme Jimmie Playfair sitzt geduldig wartend im Nordgang und macht ein Gesicht.«

»Dann sollten Sie vielleicht hingehen und ihn trösten«, meinte Wimsey lachend.

Joan Carstairs schnitt eine Grimasse und machte sich in Richtung Büffet davon, gerade als Sir Charles Deverill, der Hausherr, prächtig anzusehen in seinem chinesischen Kostüm mit roten und grünen Drachen, Bambusrohren, Kreisen und Schriftzeichen und einem ausgestopften Vogel mit riesigem Schweif auf der Schulter, zu Wimsey und seiner Begleiterin geeilt kam.

»Also jetzt«, rief er, »alle mitkommen, mitkommen, mitkommen! Alle antreten zum Sir Roger! Haben Sie Ihre Partnerin, Wimsey? Ah, ja, Lady Hermione – ausgezeichnet. Sie müssen gleich neben Ihrer lieben Mutter und mir stehen, Wimsey. Kommen Sie nicht zu spät, nein? Wir wollen ihn geradewegs durchtanzen. Die Weihnachtssänger fangen um zwei an – hoffentlich kommen sie rechtzeitig. Meine Güte aber auch – warum sind die Dienstboten noch nicht hier? Ich habe doch Watson gesagt – ich muß mal hin und mit ihm reden.«

Er schoß davon, und Wimsey führte seine Partnerin lachend ans obere Ende des Saals, wo seine Mutter, die Herzoginwitwe von Denver, schon in ihrer ganzen Pracht als Pik-Dame wartete.

»Ah, da bist du ja«, sagte die Herzogin sanft. »Der gute Sir Charles – er wurde schon richtig unruhig. So etwas von Pünktlichkeit – er hätte als königliche Hoheit zur Welt kommen sollen. Ein herrliches Fest, nicht wahr, Hermione?

Sir Roger und die Weihnachtssänger – richtig mittelalterlich – und ein Julscheit in der Halle, dazu die Dampfheizung und alles – so drückend!«

»Dumti, dumti, dideldi, dumti, dumti, dideldi«, sagte Lord Peter, als die Kapelle die alte Melodie anstimmte.

»Wie ich diese Musik liebe! Hurtig setzt die Füßchen vor – oh, da ist ja Gerda Bellingham – hallo! Euer königlicher Gemahl erwartet Eurer Roten Majestät Befehle am Büffet. Holen Sie ihn schleunigst her – er hat nur noch eine halbe Minute.«

Die Rote Königin lächelte ihn an; ihr blasses Gesicht mit den dunklen Augen strahlte unter der roten Perücke und Krone in unerwartetem Glanz.

»Ich werde ihn schon pünktlich herbekommen«, sagte sie und ging lachend weiter.

»Und ob sie wird«, sagte die Herzoginwitwe. »Den jungen Mann seht ihr in Kürze im Kabinett. So ein hübsches Paar auf einem öffentlichen Podest, und so gesunde Ansichten über Schweine, höre ich, und das ist doch für unser britisches Frühstück so wichtig.«

Sir Charles Deverill kam ein wenig echauffiert zurückgeeilt und nahm seinen Platz am oberen Ende der Doppelreihe ein, in der die Gäste standen und die mittlerweile über drei Viertel des Ballsaals reichte. Am unteren Ende, unmittelbar vor der Musikergalerie, hatte sich das Personal aufgestellt, um im rechten Winkel zum Hauptkontingent einen zweiten Sir Roger zu bilden. Die Uhr schlug halb. Sir Charles verdrehte besorgt den Hals, um die Tänzer zu zählen.

»Achtzehn Paare. Das sind zwei zuwenig. Wie ärgerlich! Wer fehlt denn da?«

»Die Bellinghams?« meinte Wimsey. »Nein, die sind hier. Es fehlen das weiße Königspaar sowie Badminton und Diabolo.«

»Da ist Badminton!« rief Mrs. Wrayburn und zeigte aufgeregt durch den Saal. »Jim! Jim! Herrgott! Jetzt ist er wieder zurückgegangen. Er wartet auf Charmian Grayle.«

»Also, wir können jetzt nicht mehr länger warten«, erklärte Sir Charles verärgert. »Herzogin, würden Sie den Anfang machen?«

Die Herzoginwitwe warf gehorsam ihre schwarze Samtschleppe über den Arm und tänzelte durch die Mitte davon, wobei sie ein ungewöhnlich hübsches Paar roter Fesseln präsentierte. Die beiden Reihen Tänzer fielen hüpfend in den Schritt des Kontertanzes ein und bewegten sich im gleichen Takt. Unterhalb folgten die Querreihen schwarz und weiß livrierter Diener respektvoll ihrem Beispiel. Sir Charles Deverill, der ernst hinter der Herzogin herhüpfte, reichte die Hände Nina Hartford vom anderen Ende der Reihe. Dumti, dumti, dideldi … Das erste Paar wandte sich nach auswärts und führte die Tänzer hinunter. Wimsey ergriff Lady Hermiones Hand, schlüpfte gebückt mit ihr unter dem Bogen durch und tauchte triumphierend am oberen Ende des Ballsaals wieder auf. »Meine Liebste«, seufzte Wimsey, »trug ein Gewand aus schwarzem Sammet, aus Purpur war das meine.« Die alte Dame gab ihm geschmeichelt mit ihrem vergoldeten Zepter einen Klaps auf die Finger. Es wurde fröhlich in die Hände geklatscht.

»Und noch einmal runter«, sagte Wimsey, und die Kreuz-Dame und der Kaiser der großen Mah-JonggDynastie hüpften und wirbelten in der Mitte. Die PikDame kam angetänzelt, um ihrem Karo-Buben zu begegnen. »Bézigue«, sagte Wimsey. »Bézigue double«, indem er der Herzoginwitwe beide Hände reichte. Dumti, dumti, dideldi. Wieder gab er die Hand der Kreuz-Dame und führte sie hinunter. Dann passierten die andern siebzehn Paare unter ihren erhobenen Armen hindurch. Es folgten Lady Deverill und ihr Partner – dann fünf weitere Paare.

»Wir kommen schön mit der Zeit hin«, sagte Sir Charles mit Blick auf die Uhr. »Ich habe zwei Minuten pro Paar angesetzt. Aha! Da kommt ja eines der vermißten Paare.« Er schwenkte aufgeregt den Arm durch die Luft. »Kommen Sie in die Mitte – hierher – hierher!«

Ein Mann, dessen Kopf mit einem riesengroßen Federball geschmückt war, und Joan Carstairs, als Diabolo verkleidet, waren aus dem Nordgang aufgetaucht. Sir Charles bugsierte sie, wie ein besorgter Hahn zwei verängstigte Hennen, zwischen zwei Paare, die ihr »Hände kreuzen« noch nicht vollzogen hatten, und seufzte erleichtert auf. Es wäre ihm arg gewesen, wenn sie etwas hätten auslassen müssen. Die Uhr schlug Viertel vor zwei.

»Sagen Sie, Playfair, haben Sie Charmian Grayle und Tony Lee irgendwo gesehen?« fragte Giles Pomfret die Badminton-Maske. »Sir Charles ist in heller Aufregung, weil wir nicht komplett sind.«

»Keine Spur von ihnen. Ich hatte ja eigentlich mit Charmian tanzen sollen, aber sie ist nach oben verschwunden und nicht mehr wiedergekommen. Dann kam Joan angeschossen und suchte Tony. Da haben wir uns kurz entschlossen, es gemeinsam hinter uns zu bringen.«

»Da kommen die Weihnachtssänger«, unterbrach Joan Carstairs. »Sind sie nicht einfach süß? So richtig ländlichsittlich.«

Zwischen den Säulen auf der Nordseite des Ballsaals hindurch sah man die Weihnachtssänger unter dem Kommando des Pfarrers Aufstellung im Gang nehmen. Der Sir Roger hüpfte weiter seinen mühevollen Weg. Hände über Kreuz, ab durch die Mitte und wieder zurück. Giles Pomfret, eingeklemmt zwischen seine Billardbretter, kroch ächzend und stöhnend zum fünfzehnten Mal durch das immer länger gewordene Spalier erhobener Arme. Dumti, dumti, dideldi. Das neunzehnte Paar wand sich durch die Aufstellung. Sir Charles und die Herzoginwitwe, beide so frisch wie der junge Morgen, standen wieder einmal am oberen Ende des Saals. Das Klatschen wurde laut wiederholt; die Musik verstummte; die Gäste bildeten Grüppchen; die Dienerschaft stellte sich in ordentlicher Reihe am unteren Ende des Saals auf; die Uhr schlug zwei; der Pfarrer bekam ein Zeichen von Sir Charles, hielt eine Stimmgabel an sein Ohr und ließ ein volltönendes A erklingen. Schrill begannen die Weihnachtssänger das Lied vom guten König Wenzeslaus.

Gerade als die Nacht dunkler zu werden und der Wind stärker zu wehen begann, drängte sich eine Gestalt durch die Reihen der Sänger und strebte auf Sir Charles zu. Es war Tony Lee, und sein Gesicht war so weiß wie sein Kostüm.

»Charmian … im Gobelinzimmer … tot … erwürgt.«

Polizeichef Johnson saß in der Bibliothek und nahm die Aussagen der übernächtigten Gäste auf, die einer nach dem andern zu ihm geführt wurden. Als erster kam Tony Lee, dessen gequälte Augen wie zwei dunkle Löcher in einer Maske aus grauem Papier wirkten.

»Miss Grayle hatte mir den letzten Tanz vor dem Sir Roger versprochen; es war ein Foxtrott. Ich habe auf sie in der Halle unter der Musikergalerie gewartet. Sie ist nicht gekommen. Ich habe nicht nach ihr gesucht. Ich sah sie mit niemand anderem tanzen. Als der Tanz fast vorbei war, bin ich in den Garten hinausgegangen, und zwar durch den Dienstboteneingang unter der Treppe zur Musikergalerie. Ich blieb im Garten, bis der Sir Roger de Coverley vorbei war –«

»War jemand bei Ihnen, Sir?«

»Nein, niemand.«

»Sie waren also allein im Garten von – ja, von zwanzig nach eins bis nach zwei. Ziemlich ungemütlich, nicht wahr, Sir, bei diesem Schnee?« Der Polizeichef blickte scharf von Tonys verschmutzten und durchnäßten weißen Schuhen zu seinem gequälten Gesicht.

»Das ist mir gar nicht aufgefallen. Es war so heiß hier drinnen – ich brauchte frische Luft. Gegen zwanzig vor zwei sah ich die Weihnachtssänger kommen – ich glaube, sie haben mich auch gesehen. Kurz nach zwei bin ich dann wieder reingegangen –«

»Wieder durch den Dienstboteneingang, Sir?« »Nein, durch die Gartentür auf der andern Seite des Hauses, am Ende des Korridors, der am Gobelinzimmer vorbeiführt. Ich hörte, daß im Ballsaal schon gesungen wurde, und zwei Männer saßen in der kleinen Nische am Fuß der Treppe auf der linken Seite des Korridors. Ich glaube, der eine war der Gärtner. Ich bin ins Gobelinzimmer gegangen –«

»Mit einer bestimmten Absicht, Sir?«

»Nein – nur daß mir nicht besonders danach war, mich wieder unters Volk zu mischen. Ich wollte meine Ruhe haben.« Er hielt inne. Der Polizeichef sagte nichts. »Dann bin ich ins Gobelinzimmer gegangen. Das Licht war aus. Als ich es anknipste, sah ich – Miss Grayle. Sie lag direkt neben dem Heizkörper, und ich dachte, sie sei in Ohnmacht gefallen. Als ich zu ihr hinging, sah ich, daß sie – tot war. Ich bin nur so lange dortgeblieben, bis ich mir vollkommen sicher war, dann bin ich in den Ballsaal gegangen und habe Alarm geschlagen.«

»Danke, Sir. Darf ich Sie jetzt fragen, welcher Art Ihre Beziehungen zu Miss Grayle waren?«

»Ich – verehrte sie sehr.«

»Waren Sie mit ihr verlobt, Sir?«

»Nein, nicht direkt.«

»Kein Streit, kein Mißverständnis – nichts dergleichen?« »O nein!«

Polizeichef Johnson sah ihn noch einmal von oben bis unten an. Er schwieg, doch seine Erfahrung sagte ihm: »Der lügt.«

Laut bedankte er sich bei Tony und entließ ihn. Der Weiße König stapfte müde hinaus, und der Rote König nahm seinen Platz ein.

»Miss Grayle«, sagte Frank Bellingham, »war mit meiner Frau und mir befreundet; sie wohnte bei uns im Haus. Mr. Lee ist ebenfalls unser Gast. Wir sind alle zusammen hierhergekommen. Ich glaube, es gab so etwas wie ein Einvernehmen zwischen Miss Grayle und Mr. Lee – keine eigentliche Verlobung. Sie war ein sehr lustiges, lebhaftes Mädchen und sehr beliebt. Ich kenne sie seit etwa sechs Jahren, und meine Frau kennt sie seit unserer Hochzeit. Ich wüßte niemanden, der etwas gegen sie gehabt haben könnte. Ich habe mit ihr den vorletzten Tanz getanzt – einen Walzer. Danach kam ein Foxtrott und danach der Sir Roger. Nach dem Walzer ist sie von mir fortgegangen; ich meine, sie hätte gesagt, sie wolle nach oben gehen und sich frisch machen. Ich glaube, sie ist durch die Tür am oberen Ende des Ballsaals hinausgegangen. Dann habe ich sie nicht mehr wiedergesehen. Das Ankleidezimmer für die Damen ist im ersten Stock, gleich neben der Bildergalerie. Man kommt über die Treppe neben dem Durchgang zum Garten hin. Dazu muß man an der Tür zum Gobelinzimmer vorbei. Sonst kommt man zu diesem Ankleidezimmer nur noch über die Treppe an der Ostseite des Ballsaals, die zur Bildergalerie hinaufführt. Man müßte dann durch die Galerie gehen, um hinzukommen. Ich kenne das Haus gut; meine Frau und ich waren schon oft hier zu Gast.«

Als nächstes kam Lady Hermione, deren sehr ausführliche Aussage auf folgendes hinauslief:

»Charmian Grayle war ein Früchtchen, und es ist nicht schade um sie. Es wundert mich überhaupt nicht, daß jemand sie erwürgt hat. Frauen wie sie gehören erwürgt. Ich hätte es mit Freuden selbst getan. Sie hat Tony Lee die letzten sechs Wochen das Leben zur Hölle gemacht. Heute abend habe ich sie erst mit Mr. Vibart flirten sehen, eigens zu dem Zweck, Mr. Lee eifersüchtig zu machen. Auch Mr. Bellingham und Mr. Playfair mußte sie schöne Augen machen. Sie mußte jedem schöne Augen machen. Ich könnte mir vorstellen, daß mindestens ein halbes Dutzend Leute guten Grund hatte, ihr den Tod zu wünschen.«

Mr. Vibart, der in einem grellbunten Polokostüm hereinkam und lächerlicherweise noch immer sein Steckenpferd mit sich herumtrug, sagte, er habe an diesem Abend mehrere Male mit Miss Grayle getanzt. Sie sei ein sehr flottes Mädchen gewesen, ausgesprochen amüsant. Ja, doch, vielleicht ein bißchen zu lebenslustig, aber zum Kuckuck, das arme Ding sei doch nun tot. Es sei schon möglich, daß er sie ein- oder zweimal auch geküßt habe, aber das sei ganz harmlos gewesen. Na ja, dem armen Lee sei es vielleicht ein wenig gegen den Strich gegangen. Miss Grayle habe ihn gern ein bißchen auf den Arm genommen. Er selbst habe Miss Grayle sehr gern gemocht und sei von dieser scheußlichen Geschichte ganz schön mitgenommen.

Mrs. Bellingham bestätigte die Aussage ihres Gatten. Miss Grayle sei bei ihnen zu Gast gewesen, und sie hätten sich alle prächtig verstanden. Sie sei überzeugt, daß Mr. Lee und Miss Grayle sich sehr gern gehabt hätten. Sie habe Miss Grayle bei den letzten drei Tänzen nicht gesehen, sich aber nichts dabei gedacht. Wenn sie sich etwas gedacht hätte, dann höchstens, daß Miss Grayle wohl mit irgend jemandem draußen sitze. Sie selbst sei ungefähr seit Mitternacht nicht mehr im Ankleidezimmer gewesen und habe Miss Grayle auch nicht nach oben gehen sehen. Sie habe Miss Grayle erst vermißt, als sie alle zum Sir Roger Aufstellung genommen hätten.

Mrs. Wrayburn erwähnte, daß sie Miss Carstairs im Ballsaal nach Mr. Lee habe suchen sehen, gerade als Sir Charles Deverill mit den Musikern gesprochen habe. Miss Carstairs habe da etwas davon gesagt, daß Mr. Playfair im Nordgang sitze und auf Miss Grayle warte. Sie könne ganz genau sagen, daß dies um zwei Minuten vor halb zwei gewesen sei. Mr. Playfair selbst habe sie dann um halb zwei gesehen. Er habe vom Korridor hereingeschaut und sei dann wieder fortgegangen. Die ganze Gesellschaft habe beieinander gestanden, außer Miss Grayle, Miss Carstairs, Mr. Lee und Mr. Playfair. Das wisse sie deshalb so genau, weil Sir Charles die Paare gezählt habe.

Dann kam Jim Playfair, der einen äußerst wertvollen Hinweis geben konnte.

»Miss Grayle war mit mir für den Sir Roger de Coverley verabredet. Sowie der vorige Tanz zu Ende war, habe ich mich auf den Gang begeben, um auf sie zu warten. Das war um ein Uhr fünfundzwanzig. Ich habe mich dort auf ein Sofa gesetzt. Fast unmittelbar darauf sah ich Miss Grayle aus dem Durchgang unter der Musikergalerie kommen und die Treppe am Ende des Korridors hinaufgehen. Ich rief ihr zu: ›Beeilen Sie sich, es fängt gleich an!‹ Ich glaube aber nicht, daß sie mich gehört hat; geantwortet hat sie jedenfalls nicht. Ich bin ganz sicher, daß ich sie gesehen habe. Die Treppe hat ein offenes Geländer. Auf dieser Seite des Gangs hängt als einzige Beleuchtung ein Lampion, aber der ist sehr hell. Das Kostüm kann ich nicht verwechselt haben. Ich habe auf Miss Grayle gewartet, bis der Tanz schon halb zu Ende war; dann habe ich es aufgegeben und mich mit Miss Carstairs zusammengetan, der ihr Partner ebenfalls abhanden gekommen war.«

Das für das Ankleidezimmer zuständige Dienstmädchen wurde als nächstes vernommen. Sie und der Gärtner waren die einzigen von den Dienstboten, die den Sir Roger nicht mitgetanzt hatten. Sie habe seit dem Abendessen das Ankleidezimmer nicht mehr verlassen, höchstens daß sie einmal bis zur Tür gegangen sei. Miss Grayle sei während der letzten Stunde des Balls auf keinen Fall ins Ankleidezimmer gekommen.

Der Pfarrer, den die Sache sehr bekümmerte, sagte, er sei mit seinen Sängern um zwanzig vor zwei an der Gartenpforte gewesen. Er habe einen Mann in einem weißen Kostüm gesehen, der im Garten eine Zigarette rauchte. Die Sänger hätten ihre Mäntel im Durchgang zum Garten ausgezogen und sich dann im Nordgang aufgestellt. Niemand sei an ihnen vorbeigekommen, bis Mr. Lee die traurige Nachricht brachte.

Mr. Ephraim Dodd, der Totengräber, hatte dieser Aussage etwas Wichtiges anzufügen. Dieser betagte Herr war, wie er zugab, kein Sänger, pflegte aber mit den Weihnachtssängern zu ziehen und die Laterne und die Sammelbüchse zu tragen. Er hatte sich in den Gang zum Garten gesetzt, »um meinen armen Füßen etwas Ruhe zu gönnen«. Er habe den Herrn aus dem Garten hereinkommen sehen, »ganz in Weiß und mit ’ner Krone auf dem Kopf«. Der Chor habe gerade gesungen: »Bringt mir Brot und bringt mir Wein.«

Der Herr habe sich ein wenig umgesehen, »ein Gesicht gezogen«, und sei in das Zimmer am Fuß der Treppe gegangen. Er sei aber »kaum ’ne Minute« darin gewesen, da sei er »schneller wieder rausgekommen, als er reingegangen war«, und sofort in den Ballsaal gerannt.

Zu alledem kam natürlich die Aussage Dr. Pattisons. Er war als Gast auf dem Ball gewesen und unverzüglich hingeeilt, um Miss Grayles Leiche zu untersuchen, als die Schreckensnachricht bekannt wurde. Seiner Ansicht nach sei sie von jemandem, der vor ihr gestanden habe, brutal erwürgt worden. Sie sei ein großes, kräftiges Mädchen gewesen, und er glaube, daß es wohl doch der Kraft eines Mannes bedurft habe, sie zu überwältigen. Als er sie um fünf nach zwei gesehen habe, sei er zu dem Schluß gekommen, daß sie innerhalb der letzten Stunde ermordet worden sein müsse, jedoch nicht innerhalb der letzten fünf Minuten. Die Leiche sei noch ziemlich warm gewesen, doch da sie unmittelbar neben dem heißen Heizkörper gelegen habe, könne man diesem Umstand nicht allzuviel Bedeutung beimessen.

Polizeichef Johnson rieb sich nachdenklich das Ohr und wandte sich an Lord Peter Wimsey, der ihm die vorherigen Aussagen weitgehend hatte bestätigen können, vor allem aber die genauen Uhrzeiten, zu denen die verschiedenen Ereignisse stattgefunden hatten. Der Polizeichef kannte Wimsey gut und zog ihn ohne große Umstände gleich ins Vertrauen.

»Sie sehen, wie die Dinge stehen, Mylord. Wenn die arme junge Frau in der Zeit umgebracht wurde, die Dr. Pattison angibt, ist der Kreis ziemlich eingeengt. Sie wurde zuletzt gesehen, als sie mit Mr. Bellingham tanzte, und zwar um – sagen wir ein Uhr zwanzig. Um zwei Uhr war sie tot. Das gibt uns vierzig Minuten. Wenn wir aber Mr. Playfair glauben wollen, wird die Zeit noch kürzer. Er will sie noch lebend gesehen haben, kurz nachdem Sir Charles mit den Musikern sprechen ging, was nach Ihren Angaben um ein Uhr achtundzwanzig war. Das heißt, es gibt nur fünf Menschen, die es überhaupt gewesen sein können, weil alle andern ja danach im Ballsaal waren und Sir Roger tanzten. Da wäre erstens das Dienstmädchen im Ankleidezimmer; unter uns, Mylord, ich glaube, die können wir außer acht lassen. Sie ist so ein halbes Portiönchen, und mir ist auch nicht ersichtlich, was sie für ein Motiv gehabt haben könnte. Außerdem kenne ich sie seit ihrer Kindheit, und sie ist nicht der Typ für so etwas. Dann der Gärtner; ich habe ihn noch nicht gesprochen, aber auch ihn kenne ich sehr gut, und da könnte ich mich ebenso gleich selbst verdächtigen. Ja, und dann kommen eben dieser Mr. Tony Lee, Miss Carstairs und Mr. Playfair selbst. Die Frau kommt schon aus physischen Gründen am wenigsten in Frage; außerdem ist Erwürgen nicht die Mordart einer Frau – im allgemeinen nicht. Aber die Geschichte mit Mr. Lee kann man schon etwas merkwürdig finden. Was hat er die ganze Zeit alleine draußen im Garten gemacht?«

»Für mich hört sich das so an, als ob Miss Grayle ihm den Laufpaß gegeben hätte«, sagte Wimsey, »und dann ist er eben in den Garten gegangen, um mit seinem Kummer allein zu sein.«

»Genau, Mylord; und dieser Kummer wäre zugleich sein Motiv.«

»Schon möglich«, sagte Wimsey. »Aber passen Sie mal auf. Draußen liegen ein paar Zentimeter Schnee. Wenn Sie die Uhrzeit bestätigt finden können, zu der er hinausgegangen sein will, müßte man anhand seiner Spuren feststellen können, ob er noch einmal hereingekommen ist, bevor Ephraim Dodd ihn sah. Auch wohin er in der Zwischenzeit gegangen ist und ob er allein war.«

»Das ist eine gute Idee, Mylord. Ich schicke meinen Sergeanten, sich zu erkundigen.«

»Dann wäre da noch Mr. Bellingham. Angenommen, er hat sie nach dem Walzer, den er mit ihr tanzte, umgebracht. Hat ihn zwischen dem Walzer und dem Foxtrott jemand gesehen?«

»Ganz recht, Mylord, daran habe ich auch gedacht. Aber sehen Sie auch, wohin uns das führt? Das würde nämlich heißen, daß Mr. Playfair mit ihm im Bunde gewesen sein müßte. Und nach allem, was wir gehört haben, ist das nicht sehr wahrscheinlich.«

»Ist es nicht. Zufällig weiß ich sogar, daß Mr. Bellingham und Mr. Playfair nicht gerade auf bestem Fuß miteinander stehen. Das können wir vergessen.«

»Das glaube ich auch. Und damit wären wir bei Mr. Playfair. Auf ihn sind wir im Augenblick ziemlich angewiesen. Bisher haben wir noch niemanden gefunden, der Miss Grayle während des vorherigen Tanzes gesehen hat – das war der Foxtrott. Was hätte ihn hindern können, es da zu tun? Moment. Was sagt er denn selber? Er sagt, er hat den Foxtrott mit der Herzogin von Denver getanzt.« Der Polizeichef machte ein langes Gesicht und ging nochmal seine Notizen durch. »Sie bestätigt das. Sie sagt, daß sie während der Pause mit ihm zusammen war und den ganzen Tanz mit ihm getanzt hat. Nun, Mylord, auf das Wort Ihrer Gnaden können wir uns wohl verlassen.«

»Das denke ich auch«, antwortete Wimsey lächelnd. »Ich kenne meine Mutter sozusagen seit meiner Geburt und habe sie immer sehr verläßlich gefunden.«

»Eben, Mylord. Damit wären wir beim Ende des Foxtrotts. Danach hat Miss Carstairs Mr. Playfair auf dem Nordgang sitzen und warten sehen. Sie sagt, sie habe ihn während der Pause mehrere Male gesehen und mit ihm gesprochen. Und gegen halb zwei oder so hat Mrs. Wrayburn ihn dort auch gesehen. Um Viertel vor zwei sind dann er und Miss Carstairs zu den andern in den Ballsaal gekommen. Gibt es nun jemanden, der diese Punkte alle überprüfen kann? Darum müssen wir uns als nächstes kümmern.«

Schon in den nächsten Minuten strömten die Informationen nur so. Mervyn Bunter, Lord Peters Diener, sagte, er habe geholfen, Erfrischungen ans Büffet zu bringen. In der Pause zwischen Walzer und Foxtrott habe man Mr. Lee am Dienstboteneingang unter der Musikergalerie stehen sehen, und etwa in der Mitte des Foxtrotts war er gesehen worden, wie er durch den Dienstbotenkorridor in den Garten hinausgegangen war. Der Polizeisergeant hatte die Spuren im Schnee verfolgt und festgestellt, daß Mr. Lee nicht mit einer anderen Person zusammengetroffen war, und es gab nur diese eine Spur, die das Haus vom Dienstbotenkorridor her verließ und es durch die Gartentür beim Gobelinzimmer wieder betrat. Es wurden auch mehrere Personen gefunden, die Mr. Bellingham in der Pause zwischen Walzer und Foxtrott gesehen hatten und aussagen konnten, daß er den Foxtrott mit Mrs. Bellingham durchgetanzt hatte. Auch Joan Carstairs war während des Walzers und des Foxtrotts sowie in der Pause und während des ersten Teils des Sir Roger fortwährend gesehen worden. Darüber hinaus waren die Dienstboten, die den Sir Roger am unteren Ende des Ballsaals getanzt hatten, ganz sicher, daß Mr. Playfair zwischen ein Uhr neunundzwanzig und ein Uhr fünfundvierzig unablässig auf dem Sofa im Nordgang gesessen hatte, abgesehen von den paar Sekunden, in denen er mal kurz einen Blick in den Ballsaal geworfen hatte. Sie waren auch sicher, daß niemand in der ganzen Zeit die Treppe am unteren Ende der Halle hinaufgegangen war, dieweil Mr. Dodd ebenso sicher war, daß nach ein Uhr vierzig niemand außer Mr. Lee den Durchgang zum Garten oder das Gobelinzimmer betreten hatte.

Schließlich wurde der Kreis durch William Hoggarty, den Gärtner, geschlossen. Er versicherte mit der offenkundigsten Aufrichtigkeit, daß er zwischen halb und Viertel vor zwei im Gartendurchgang gestanden habe, um die Weihnachtssänger in Empfang zu nehmen und an ihre Plätze zu dirigieren. In dieser Zeit sei niemand die Treppe von der Bildergalerie heruntergekommen oder habe das Gobelinzimmer betreten. Ab zwanzig vor zwei habe er neben Mr. Dodd im Durchgang gesessen, und außer Mr. Lee sei niemand an ihnen vorbeigekommen.

Nachdem diese Punkte geklärt waren, gab es keinen Grund mehr, Jim Playfairs Aussage anzuzweifeln, da seine jeweiligen Partnerinnen über jeden seiner Schritte während des Walzers, des Foxtrotts und der Pause dazwischen Auskunft geben konnten. Um ein Uhr achtundzwanzig oder kurz danach hatte er Charmian Grayle noch lebend gesehen. Um zwei Uhr zwei war sie tot im Gobelinzimmer aufgefunden worden. Dazwischen hatte man niemanden diesen Raum betreten sehen, und über alle in Frage kommenden Personen wußte man Bescheid.

Um sechs Uhr früh erhielten die erschöpften Gäste die Erlaubnis, auf ihre Zimmer zu gehen; für diejenigen, die wie die Bellinghams von weither gekommen waren, wurde im Haus eine Schlafgelegenheit hergerichtet, denn der Polizeichef hatte die Absicht kundgetan, sie im Laufe des Tages noch einmal zu vernehmen.

Auch diese erneuten Vernehmungen führten zu nichts. Lord Peter Wimsey hatte nicht daran teilgenommen. Er und Bunter (der sehr viel von Fotografie verstand) waren damit beschäftigt gewesen, den Ballsaal und die angrenzenden Räume und Korridore aus jedem nur denkbaren Blickwinkel zu fotografieren, denn wie Lord Peter sagte: »Man weiß nie, was sich noch einmal als wichtig erweisen wird.« Am Spätnachmittag zogen sie sich gemeinsam in den Keller zurück, um mit Hilfe von Schüsseln, Chemikalien und Rotlicht – alles rasch aus der örtlichen Apotheke besorgt – die Bilder zu entwickeln.

»Das war’s, Mylord«, sagte Bunter, indem er das letzte Bild durchs Wasser zog und in die Fixierlösung tauchte. »Sie können jetzt das Licht wieder anmachen, Mylord.« Wimsey tat dies und mußte in der plötzlichen strahlenden Helle die Augen zusammenkneifen.

»Eine ganz schöne Arbeit«, sagte er. »Hoppla! Was ist das für ein Teller voll Blut, den Sie da haben?«

»Das ist die rote Deckfarbe, die man auf die Rückseite der Fotoplatten streicht, Mylord, um eine Lichthofbildung zu verhindern. Sie haben vielleicht bemerkt, wie ich sie abgewaschen habe, bevor ich die Platten in den Entwickler tat. Die Lichthofbildung, Mylord, ist ein Phänomen, das – «

Wimsey hörte nicht zu.

»Aber warum ist mir das nicht schon früher aufgefallen?« fragte er. »Ich habe das Zeug die ganze Zeit für klares Wasser gehalten.«

»Natürlich, Mylord, wegen des Rotlichts. Der Eindruck von Weiß, Mylord«, fuhr Bunter in belehrendem Ton fort, »kommt dadurch zustande, daß alles vorhandene Licht reflektiert wird. Wenn alles vorhandene Licht rot ist, sind Rot und Weiß natürlich nicht voneinander zu unterscheiden. Desgleichen ist bei grünem Licht –«

»Großer Gott!« rief Wimsey. »Moment, Bunter, das muß ich mir erst mal durch den Kopf gehen lassen … Menschenskind, lassen Sie die Bilder Bilder sein – ich brauche Sie oben.«

Er trabte voran in den Ballsaal, der jetzt dunkel war, denn an den Südfenstern waren bereits die Vorhänge zugezogen, und nur durch die hohen Obergadenfenster über den Säulen drang noch etwas von dem trüben Dezemberspätnachmittag herein. Zuerst knipste er die drei großen Kronleuchter im Ballsaal an. Dank der schweren Eichentäfelung, die an beiden Enden des Saals und an allen vier Ecken bis zum Dach hinaufreichte, warfen sie überhaupt kein Licht auf die Treppe im unteren Nordgang. Als nächstes knipste er das Licht in dem vierseitigen Lampion an, der im Nordgang über und zwischen den beiden Sofas hing. Sofort übergoß ein heller Strahl grünes Licht die untere Hälfte des Gangs und der Treppe; die obere Hälfte war in ein kräftiges Gelb getaucht, während die restlichen Seiten des Lampions rotes Licht in Richtung Ballsaal und blaues an die Wand des Korridors warfen.

Wimsey schüttelte den Kopf.

»Da ist ein Irrtum kaum möglich. Höchstens – ah, ich weiß! Bunter, laufen Sie mal schnell und bitten Sie Miss Carstairs und Mr. Playfair, für einen Augenblick herzukommen.«

Während Bunter fort war, borgte Wimsey sich eine Trittleiter aus der Küche und untersuchte sorgfältig die Aufhängung des Lampions. Es war nur ein provisorischer Leuchtkörper. Der Lampion hing an einem in einen Balken geschraubten Haken, und den Strom bekam er über ein Kabel aus einer weiter entfernten Steckdose.

»So«, sagte Wimsey, als die beiden Gäste kamen, »ich möchte mit Ihnen ein kleines Experiment machen. Würden Sie sich auf dieses Sofa setzen, Playfair, genau wie gestern abend? Und Sie, Miss Carstairs – ich habe mir Sie ausgesucht, weil Sie ein weißes Kleid tragen. Gehen Sie bitte mal die Treppe am Ende der Halle hinauf, genau wie Miss Grayle gestern abend. Ich möchte wissen, ob das für Playfair genauso aussieht wie letzte Nacht – abgesehen von den vielen Menschen natürlich.«

Er beobachtete die beiden, während sie das geschilderte Manöver vollführten. Jim Playfair machte ein verwundertes Gesicht.

»Es kommt mir irgendwie nicht ganz gleich vor. Ich weiß nicht, worin der Unterschied besteht, aber es ist einer da.«

Joan bestätigte dies, als sie zurückkam.

»Ich habe eine Zeitlang auf diesem andern Sofa gesessen«, sagte sie, »und es kommt mir anders vor. Ich glaube, es ist dunkler.«

»Heller«, sagte Jim.

»Gut!« sagte Wimsey. »Das wollte ich von Ihnen hören. Und nun, Bunter, geben Sie dem Lampion mal eine Vierteldrehung nach links.«

Kaum war dies geschehen, stieß Miss Carstairs einen leisen Überraschungsschrei aus.

»Das ist es! Das ist es! Das blaue Licht! Ich weiß noch, daß ich gedacht habe, wie durchgefroren die Gesichter der armen Weihnachtssänger aussahen, als sie hereinkamen.«

»Und Sie, Playfair?«

»Stimmt«, sagte Jim zufrieden. »Das Licht war gestern abend rot. Ich weiß nämlich noch, daß ich gedacht habe, wie warm und gemütlich das aussieht.«

Wimsey lachte.

»Wir sind auf der richtigen Fährte, Bunter. Wie heißt doch die Schachregel? Regina reget colorem – die Dame steht immer auf einem Feld ihrer Farbe. Treiben Sie das Mädchen auf, das letzte Nacht im Ankleidezimmer Dienst tat, und fragen Sie, ob Mrs. Bellingham zwischen Foxtrott und Sir Roger da war.«

Fünf Minuten später war Bunter mit seinem Bericht zurück.

»Das Mädchen sagt, Mylord, daß Mrs. Bellingham um die fragliche Zeit nicht ins Ankleidezimmer gekommen ist. Aber sie hat sie aus der Bildergalerie kommen und die Treppe hinunter zur Tür des Gobelinzimmers laufen sehen, gerade als die Kapelle mit dem Sir Roger begann.«

»Und das«, sagte Wimsey, »war um ein Uhr neunundzwanzig.«

»Mrs. Bellingham?« fragte Jim. »Aber sagen Sie denn nicht selbst, Sie hätten sie vor halb zwei im Ballsaal gesehen? Sie hätte doch gar keine Zeit gehabt, den Mord zu begehen.«

»Das nicht«, sagte Wimsey. »Aber Charmian Grayle war da auch schon lange tot. Es war die Rote Königin, nicht die Weiße, die Sie die Treppe hinaufgehen gesehen haben. Wir müssen herausfinden, warum Mrs. Bellingham uns angelogen hat, dann werden wir die Wahrheit wissen.«

»Eine sehr traurige Geschichte, Mylord«, sagte Polizeichef Johnson ein paar Stunden später. »Mr. Bellingham hat sich wie ein Gentleman verhalten und sofort gestanden, als wir ihm sagten, daß wir Beweise gegen seine Frau hätten. Offenbar wußte Miss Grayle verschiedene Dinge über ihn, die sehr schädlich für seine politische Karriere gewesen wären. Seit Jahren hatte sie Geld von ihm bekommen. Am Beginn des Abends hatte sie ihn nun mit neuen Forderungen überrascht. Während des letzten Walzers, den sie zusammen tanzten, gingen sie dann ins Gobelinzimmer, wo ein Streit entbrannte. Bellingham verlor die Beherrschung und wurde handgreiflich. Er sagt, er habe ihr nicht ernstlich weh tun wollen, aber sie habe zu schreien angefangen, und er habe nach ihrem Hals gegriffen, um sie zum Schweigen zu bringen, und sie dabei – gewissermaßen versehentlich – erwürgt. Als er sah, was er getan hatte, ließ er sie dort liegen und ging – wie in einem Nebel, sagt er – in den Ballsaal. Den nächsten Tanz tanzte er mit seiner Frau. Er erzählte ihr, was passiert war, und dann merkte er, daß er das kleine Zepter, das er trug, im Gobelinzimmer bei der Leiche liegengelassen hatte. Mrs. Bellingham – eine tapfere Frau – wollte es holen gehen. Sie huschte durch die dunkle Passage unter der Musikergalerie, die leer war, und die Treppe hinauf zur Bildergalerie. Sie hörte nicht, wie Mr. Playfair sie ansprach. Sie lief durch die Galerie und die andere Treppe wieder hinunter, nahm das Zepter an sich und versteckte es unter ihrem Kostüm. Später erfuhr sie von Mr. Playfair, was dieser gesehen hatte, und begriff, daß er sie im roten Licht für die Weiße Königin gehalten hatte. Heute in den frühen Morgenstunden schlich sie sich nach unten und verdrehte den Lampion. Natürlich hat sie sich dadurch der Beihilfe schuldig gemacht, aber so eine Frau würde sich doch eigentlich jeder Mann wünschen. Ich hoffe, sie kommt glimpflich davon.«

»Amen!« sagte Lord Peter Wimsey.