Die Non an diesem kalten, wiewohl sonnig-klaren Wintertage war weit überschritten und die hohe Herrin entließ mich für diesen Abend, trug mir aber auf, mich um eine gewisse Paulina zu kümmern, ein gefallenes Mädchen, das nach der Verhaftung meines Bruders Rignaldo in Not geraten sei. Sie gab mir ein paar Münzen mit, die ich ihr überbringen sollte. Wie es sich gehörte, ließ ich mir nichts anmerken, aber mein Herz beunruhigte sich, weil ich wiederum feststellen musste, dass ich nicht im Bilde war – nicht einmal über den Lebenswandel meines Bruders. Andererseits konnte ich die freie Zeit nutzen, um zu versuchen, etwas in Erfahrung zu bringen, damit ich Rignaldo vielleicht noch vor dem Henker rettete. Es war also nicht eitel, dass meine Herrin mir den Namen der Dirne nannte, die Rignaldo besucht haben sollte. Vielleicht wusste sie etwas, das ich für meine Zwecke nutzen konnte.
Bevor ich mich aber, meinen geliebten Sohn in einem um die Hüften geschlungenen Tuche mit mir tragend, auf den Weg machen konnte, stellte sich mir der langsame Gisbert in den Weg und tat geheimnisvoll. In einem abgeschiedenen Winkel des Hauses übergab er mir einen Beutel und eine Nachricht des Erzbischofes. Der Beutel enthielt einiges an Goldmünzen, alte ehrliche Goldmünzen aus der Zeit vor der Neuprägung.
Das Pergament sagte: »Dir, unserer zarten Knospe der Klosterschule, lassen wir diese Münzen überbringen, die aus dem Besitze deines unglücklichen Bruders Rignaldo stammen. Es handelt sich um die Münzen, die er erst dem Hufschmiede zurückgezahlt und dann, nach dem Morde, wieder an sich genommen hat. Nicht nur wirst du unseres Erachtens die rechtmäßige Erbin sein, sondern dir und deinem Kinde gebührt auch diese Unterstützung. Konrad, Sohn des Lothar, aus dem Geschlechte derer zu Are. Erzbischof und Fürst von Köln.«
Wenn dies die Münzen waren, die Rignaldo dem Hufschmiede zurückgezahlt hatte, schoss es mir durch den Kopf, dann hatte Rignaldo ihn nicht betrogen, sondern mit gutem Gelde seine Schuld beglichen. Mein Bruder war kein Schuft! Der Hufschmied hatte ihn falsch beschuldigt!
Freudig überrascht umarmte ich den langsamen Gisbert herzlich. Was ich von El Arab nicht erhielt, gab er mir – einen lang ersehnten Beweis für die Ehrenhaftigkeit meines Bruders.
Der langsame Gisbert aber hatte noch weitere gute Neuigkeiten für mich.
»Du hattest mich beauftragt«, sagte er, »bei meinem Vetter Goswin nachzufragen, was er über den Mord am Hufschmiede weiß. Er hält eine Botschaft für dich bereit, besteht aber darauf, sie dir nur persönlich zu übermitteln.«
So lud er mich ein, ihm aus dem Hause zu folgen, und führte mich erstaunlich behänd über die Schildergasse, vorbei am Hofe Merzenich, und dann zum Marsilstein, dem »Grab des Aristoteles«, wie man sagt, weil die künftigen Studenten vor ihrer Aufnahme in die Universität hier Kerzen zu opfern pflegen, bis wir zum Hahnentor gelangten, wo sein Vetter Goswin den Wachdienst versah. Nachdem er mich dorthin gebracht hatte, beeilte er sich dann allerdings unerklärlicherweise, fortzukommen, so dass ich von ihm nur noch den Schatten sah, den die blutrote, tiefstehende Sonne von ihm auf die Mauer warf.
Der Wächter empfing mich mit seinem gemeinen Grinsen, so dass meine Hochstimmung einer schlechten Vorahnung wich. Er sagte, die Worte merkwürdig in die Länge ziehend: »Ich besitze einen Schatz, der dir vielleicht wichtig ist.«
Ich aber entgegnete: »Ihr Vetter versprach mir eine Nachricht über den Tod des Hufschmieds, die meinen unglücklichen Bruder vor dem Henker bewahren kann. Ich bitte Euch, gebt mir um Christi willen diese ersehnte Auskunft!«
Als habe er nicht vernommen, was ich gesagt hatte, fuhr Goswin fort: »Bisher habe ich es verheimlicht, aber nun, da du zu Reichtümern gekommen bist, möchte ich mir doch mein Wissen vergolden lassen.«
»Wovon Ihr sprecht, weiß ich nicht.« Gleichwohl mich nun das ungute Gefühl beschlich, mit einem Abgesandten der Hölle zu sprechen, musste ich mich mit ihm abgeben, weil ich ja hoffte, von ihm etwas zu erfahren, das meinem Bruder helfen könnte.
»Nach der Mordnacht sah ich den Araber hier am Hahnentor. Und dies hier«, er holte ein Buch unter einem Tuche hervor, »glaubt Vetter Gisbert, sei der Schatz, den der Araber suchte, aber nicht fand, weil ich ihn bereits an mich gebracht hatte.«
»Habt Ihr also falsch ausgesagt vor dem Gericht des Erzbischofs? Ist darum mein Bruder verurteilt worden und wartet nun auf den Henker? Ihr habt, wie Ihr sagtet, Euch des Beutels mit dem Siegelring bemächtigt. Also müsst Ihr ihn dem Diebe entrissen haben. Ihr habt ihn gesehen! Ihr kennt seinen Namen! Gebt ihn mir preis, und alle Schätze, über die ich verfüge, sollen Euch gehören!«
Er antwortete nicht, sondern sagte geistesabwesend mit dem stieren Blicke des Narren: »Es muss doch ein Schatz sein, aber mit dem Schatze kann ich nichts anfangen, ich finde den Schatz nicht darinnen. Wenn du das Buch besäßest, könntest du es als Beweismittel gegen den Araber verwenden, der bei euch wohnt und sein falsches Spiel treibt.«
»Sagt mir den Namen des Mörders! Mein Bruder wird sterben, wenn Ihr mir nicht helft!«, flehte ich.
»Wer kann es anderes sein als der Araber, der den Schatz vor dem Hahnentor verteidigt?«, ließ er unklar verlauten. »Ich rate dir, kaufe mir das Buch ab und frage den Araber, den morgenländischen Teufel, der vor den Toren Kölns seine Spießgesellen hat.«
»Ihr redet wirr«, sagte ich matt, während ich allmählich die Vermutung hegte, dass El Arab tatsächlich, wie der Höllenhund sagte, ein falsches Spiel trieb. Hatte ich nicht immer schon Zweifel an El Arabs Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit gehabt? Ließ er nicht eine beklagenswerte Gleichgültigkeit bei der Aufklärung des Mordfalles obwalten? Doch bevor ich urteilen durfte über El Arab, musste ich das Buch an mich bringen, um hinter sein Geheimnis zu kommen. Wie sehr wünschte ich mir, dass es nicht so sein möge, wie es schien! Nur einen Lidschlag überlegte ich und fragte dann: »Wie viel verlangt Ihr?«
»Ich bin kein böser Mensch, sondern ein guter Christ. Weil geschrieben steht, liebe deinen Nächsten wie dich selbst, also sage ich: Ich weiß, welchen Betrag du bekommen hast vom Erzbischofe. Nur die Hälfte davon übergib mir, und das Buch gehört dir.«
Ich zögerte nun nicht mehr, sondern gab ihm, was er verlangte, und nahm das geheimnisvolle und vielleicht gefährliche Buch, eingeschlagen in ein Leinentuch, an mich. Goswin versetzte mich so in Angst, dass ich nichts mehr wollte, außer diesen schrecklichen Ort so schnell wie möglich zu verlassen.
Dann lief ich eine Weile wie benommen, ohne recht zu wissen, wohin mich meine Füße brachten. Unter der großen alten Linde vor dem Butzenhofe setzte ich mich schließlich und schaute das Buch an. Glücklicherweise war der Schnee geschmolzen und die Blätter des Baumes schon fast trocken, so dass kein Nass auf das kostbare Buch tropfte.
»Petrus Abaelardus, Dialogus inter Philosophum, Judaeum et Christianum«, las ich. Der Dialog zwischen einem Philosophen, einem Juden und einem Christen von Peter Abaelard. Sollte das der »Schatz« sein, hinter dem El Arab her war? Kann man für ein Buch morden?
Eine Erinnerung schickte sich an, Gestalt anzunehmen. Sie schrie in meinem Kopfe und forderte unmissverständlich Gehör. Wäre es möglich, dass El Arab der hochgewachsene Unbekannte war, von dem der langsame Gisbert berichtete? Derjenige, der den Grafen von Dampierre misshandelt und dem Pfaffenkönig zum Morde vorgeführt hat? Ist nicht jemandem, der derartige Grässlichkeiten begeht, auch anderes zuzutrauen? Den Hufschmied zu enthaupten? Meinen Bruder an seiner statt verurteilt zu sehen?
Hat mich Gott betrogen? Wie hatte ich nur El Arab trauen können? Er hat den Hufschmied umgebracht! Er ist bereit, meinen Bruder dem Verderben anheim zu geben, um sich zu retten!
Nein, das ergab keinen Sinn. Gott betrügt mich nicht.
Jemand musste El Arab zuvorgekommen und dem Hufschmiede den »Schatz«, den er suchte, bereits entwendet haben. Und warum hätte El Arab den Kopf des Toten vor dem Hause meiner hohen Herrin aufbauen sollen? Warum einen Brief mit seinem Siegel verschlossen? Wie konnte er hoffen, auf diese Weise seines »Schatzes« habhaft zu werden? Gleichviel, wenn es auch nicht die Lösung des Rätsels war, so hatte ich doch einen Hinweis bekommen, der mir sagte, dass ich El Arab gegenüber misstrauisch sein musste.
Nein, ich wollte nicht glauben, dass er mich hintergangen hatte – und die hohe Herrin ebenso.
Um mich abzulenken, blätterte ich in dem Buche, ohne mich zu wundern, dass meine Erinnerung an den Unterricht, den ich in der Klosterschule genossen hatte, trotz all der dazwischenliegenden Tragik gut genug war, um mich die Worte verstehen zu lassen. Ich fand eine Stelle, bei der ich verweilte, wo der Philosoph sagt: »Selbst der Autorität der christlichen Philosophen beugen wir uns nicht, ohne ihre Meinung vorher mit der Vernunft zu überprüfen.« Ich konnte mir vorstellen, dass es Leute gab, die diesen Satz für Ketzerei hielten …
Unschlüssig, was ich nun mit dem Buche anfangen sollte, wickelte ich es wieder in das Tuch ein und versteckte es in einem geschützten hohlen Astloch der Linde, wünschend, dass es niemand finden und entwenden würde. Es schien mir aber sicherer, es nicht mit mir herumzuführen. Ich wollte es wieder an mich nehmen, wenn ich wusste, was zu tun sei, besonders, wie ich mich El Arab gegenüber verhalten sollte.
Dann nährte ich Johannes, meinen hungrigen Sohn, um mich hernach auf den Weg über die Vrisingasse, vorbei an den ehrbaren Häusern der friesischen Tuchhändler in die Schwalbengasse zu machen. Ich hoffte, auch dort Glück bei meinen Nachforschungen zu haben.