Ein Leben zu dritt
Liebschaften hatten Jean und Niki immer wieder mal nebenher gehabt, doch jetzt ist’s bei Jean was Ernstes.
Wegen der großen Nachfrage kann Niki sich vor Arbeit nicht mehr retten. Sie hat Ausstellungen in Düsseldorf, Zürich, London, Paris, schreibt und inszeniert mit Rainer von Diez das Theaterstück »Moi« (Ich), gestaltet Grafiken für Kunstbücher und eine neue Serie kleiner, bunter Relieffiguren.
Gleichzeitig trägt Rainer an Niki einen Wunsch heran, der sie auf anderem Feld weiterbringt: Auf seinem Grundstück in Südfrankreich hätte er gern drei von Niki gestaltete, real bewohnbare Häuser. Nur zu gern sagt Niki zu – ist doch der Architekt Antoni Gaudí immer noch ihr großes Vorbild – und beginnt gleich mit dem Modellentwurf.
Jean!
Auch Jean rast in der Gegend herum und verfolgt seine Projekte. Da er für seine Plastiken immer mehr Platz braucht, mieten Niki und er in in diesem Jahr bei Soisy noch ein weiteres Haus an, »La Commanderie«.
Liegt es an der vielen Arbeit, dass Jean sich jetzt noch einmal ernsthaft in eine andere Frau verliebt? Oder daran, dass Jean so gern flirtet und Frauen erobert? (Auch er!) Liebschaften hatte er ja eh immer wieder zwischendurch, Niki übrigens auch. Aber das war nie etwas Ernstes, bei beiden nicht.
»Und das jetzt – mit Micheline –, das ist was Ernstes?«, fragt Niki Jean tonlos.
Er nickt. Micheline wohnt jetzt schon in seiner Schweizer Wohnung in Fribourg. Demnächst plant er, ein Haus in Neyruz zu kaufen.
Niki steht auf und geht aus dem Zimmer. Sie muss jetzt allein sein. Damit hat sie nicht gerechnet. Sie hat sich mit Jean immer so tief verbunden gefühlt, schon allein durch die Kunst. Sie hatten noch so viele Pläne. Das soll jetzt urplötzlich alles vorbei sein?
»Jean!«, schreit sie, so laut sie kann. Doch er ist bereits abgefahren.
Unruhig durchstreift sie die Räume, ihr Atelier, die Küche, das Wohnzimmer, nirgends findet sie Ruhe. Seine Abwesenheit tut ihr fast körperlich weh.
»Er ist weg!«, berichtet sie tieftraurig ihrer magischen Box. »Ja, ich spür’s«, antwortet diese. »Ich komm nicht zur Ruhe.« »Versuch vielleicht zu arbeiten.« »Das kann ich nicht, ich hab’s schon probiert.« »Geh spazieren.« Und Niki geht und geht, über Felder, durch Wälder. Die Luft tut ihr gut. Als sie wieder heimkommt, setzt sie sich hin und malt – so, wie sie es früher auch schon immer getan hat, wenn’s ihr schlecht ging.
»Warum liebst du mich nicht?«, malt sie in schönen Buchstaben auf ihr Papier und setzt darunter ein Bild von sich.
»Warum liebst du sie?«
»Weißt du, dass ich dich liebe?«

Für den Lebensretter-Brunnen in Duisburg entwarf Niki dieses majestätische, vogelähnliche Fabelwesen, an das sich eine Frauenfigur klammert. Der Sockel aus Maschinenteilen von Jean Tinguely lässt die Figur hin und her drehen.
Das Leben geht weiter
Doch das Leben geht weiter. Niki reist erst einmal nach Indien, um auf andere Gedanken zu kommen. Dann steht Südfrankreich an. Dort nimmt sie die drei Häuser für Rainer in Angriff und lässt ihrer überbordenden Fantasie so richtig freien Lauf. Es gibt Niki Halt, hier in den südfranzösischen Bergen gemeinsam mit Rico Weber, der ein guter Freund geworden ist, in Ruhe zu arbeiten.
Zu Hause in Soisy zeichnet sie dann weitere Bilder-Briefe an Jean.
»Wir werden nicht mehr in einem Haus zusammen leben«, schreibt und malt sie da traurig.
»Monteverdi werden wir nicht mehr zusammen anhören.«
»Kein gemeinsames Bad mehr nehmen.«
»Keinen Bloody-Mary-Cocktail mehr zusammen trinken.«
»Unsere geplante Afrikareise nicht machen.«
»Keine Blumen mehr von dir.«
Uralt-Niki: Ich liebte ihn so sehr!
Und in Nikis Atelier entstehen nun aus Polyester bunte überlebensgroße Köpfe mit sehr ausdrucksstarken Gesichtern.
Ich denk an dich,Tante Hélène …
Doch Niki hat sich getäuscht. Sie bekommt auch in Zukunft Blumen von Jean. Vorzugsweise dann, wenn er meint, sie wieder versöhnlich stimmen zu müssen – und sie kann ihm schlichtweg nie sehr lange böse sein. Bloody Marys trinken sie auch bald wieder zusammen, und sie werden sogar heiraten im nächsten Jahr, am 13. Juli 1971. Dafür bekommt Micheline 1973 von Jean ein Kind.
So führen sie ein Leben zu dritt – Micheline in der Schweiz, Niki in Frankreich und Jean mal hier, mal da. Manches Mal denkt Niki dabei an ihre Tante Hélène …
Auch Niki arrangiert sich mit der Situation. Sie verbündet sich sogar mit Micheline.
»Er ist eben mit dem Wagen losgefahren. In rund fünf Stunden wird er bei dir sein«, hat Micheline gerade eben wieder aus der Schweiz telefoniert.
»Okay, danke. Ich meld’ mich dann, wenn er hier wieder losfährt.«
Jean taucht nämlich immer ganz gern unangekündigt auf, um sicher zu sein, dass weder Niki noch Micheline einen Liebhaber haben. Dieser Schuft. Aber Niki nimmt’s mit Humor und frohlockt insgeheim darüber, dass Micheline und sie sich von ihm nicht für dumm verkaufen lassen.
Geheimnis im Wald
Und immerhin hat Niki mit Jean noch ihre gemeinsame Kunst. Seit letztem Jahr brütet Jean ein großes Gemeinschaftsprojekt aus, das in der Nähe der »Commanderie« im Wald realisiert werden soll. Still und heimlich beginnt hier der Kopf eines mächtigen einäugigen Riesen-Zyklopen zu entstehen. 20 Meter hoch wird er sein, wenn er fertig ist. Er erhält außerdem ein reiches Innenleben, das von verschiedenen Künstlern gestaltet wird. Beteiligt werden Rico Weber, Bernhard Luginbühl (ein Schweizer Bildhauer, den Jean schon lange kennt), dessen Assistent Paul Wiedmer, Eva Aeppli, Larry Rivers, Daniel Spoerri, Niki natürlich und der professionelle Schweißer Josef (Seppi) Imhof.
Das Zusammentreffen all dieser kreativen und klugen Menschen im Wald zaubert rund um das Projekt eine ganz besondere Stimmung. Niki genießt es sehr, dort an der Baustelle zu sein. Sie wird am Ende das Gesicht gestalten.
Und noch etwas entsteht durch den Zyklopen: ein eingespieltes, technisch sehr versiertes Team von lauter Freunden, das Niki alsbald ihr »All Swiss Star Team« tauft. Es wird ihr bei der Umsetzung kommender Projekte zur Seite stehen.
Verschlingende Mütter
Wenn Jean weg ist, findet Niki die Ruhe, ihre eigene Kunst weiterzuentwickeln. Und wieder wachsen unter ihren Händen ganz neuartige Figuren heran. Diesmal sind es abstoßende, unförmige Frauen.
Upps, die gibt’s also auch?
Niki nennt sie ihre »Verschlingenden Mütter«.
Als teigige Klumpen sitzen sie da, träge, missgünstig und dumpf, fleischgewordenes Resultat zusammenraffenden, besitzgierigen Verschlingens, gepaart mit großerinnerer Leere.
Uralt-Niki: Genau so habe ich die Menschen in Europa und den USA gesehen, als ich aus Indien zurückkam. Ich war schockiert von dem Kontrast zwischen der Armut dort und der Sattheit hier.
Fertig! Niki streckt ihren Rücken durch und legt den Pinsel weg. Zufrieden mustert sie ihre beiden hässlichen Frauen, die sie an einen Tisch zum Teetrinken gesetzt hat.
»Hast du Lust auf einen Tee?«, fragt sie Rico, der zu Besuch da ist, und schaut in den Regen hinaus.
»Gern.«
Gerade geht sie zur Tür, als diese plötzlich aufgestoßen wird – und Jean ist da! Überschwänglich packt er sich Niki und umarmt sie zur Begrüßung, da fällt sein Blick direkt auf jene missmutigen neuen Skulpturendamen. Jähes Entsetzen wandert ihm ins Gesicht, schlägt um in blanke Wut, und umgehend schwenkt er Niki herum und schmeißt sie zur Tür hinaus, Rico hinterher. Draußen regnet’s, und es ist kalt. Drinnen ist Jean.
Was macht er da allein mit den »netten Damen«? Hin und her wandert er, unaufhörlich und in gebührendem Abstand, zwanzig Minuten lang. Dann holt er Niki und Rico zerknirscht wieder herein, mit einer Flasche von seinem Lieblingsschnaps in der Hand.
Ich kippe den Schnaps hinunter und bin erst mal sprachlos. Was für eine Reaktion auf meine Kunst! Sie müssen gut sein, die Skulpturen, stark. Ich muss grinsen. Pikant an der Sache ist nämlich, dass Jean öfter zu mir sagt: »Mit mir hast du deine Mutter geheiratet.« Damit meint er seinen furchtbaren Jähzorn, den auch meine Mutter hat.
1971 heiraten wir tatsächlich. Das versöhnt mein Herz ein wenig mehr mit Micheline. Kurz darauf bekommt Laura – sie ist jetzt 20 Jahre alt und schon verheiratet! – ein Baby. Ich freue mich riesig über meine Enkelin Bloum. Vielleicht kann ich an ihr manches gutmachen von dem, was meine Kinder von mir nicht bekommen konnten?
Im Herbst ist »Tee bei Angélina« in Alexandres Galerie zu sehen. Die meisten Menschen reagieren ähnlich entsetzt wie Jean. Dennoch existiert sie doch auch, diese »Mutterseite«, oder nicht?
Als meine »Mütter« im Frühjahr darauf in New York gezeigt werden, fragt Mama mich leicht pikiert, ob ich damit etwa sie meine. Ich wiegele ab. Aber das ist ein wenig gelogen.
Der Golem
Kinder find ich einfach klasse! Als Teddy Kollek, der Bürgermeister von Jerusalem, sich in Bloums Geburtsjahr von mir ein Kunstwerk wünscht, sage ich ihm zu – unter einer Bedingung: Es soll für Kinder sein. Zum Spielen, Toben, Klettern, sich Verstecken, Träumen, … mir fallen tausend Dinge dazu ein. Zum Glück ist Teddy begeistert!
Bald ist klar: Es wird ein freundlicher Monsterkopf. Man kann hineinklettern und über drei lange Zungen aus dem Mund wieder hinaus rutschen. »Golem« wird er heißen. In der jüdischen Legende ist der Golem ein Wesen, das durch Magie zum Leben erweckt wird. Hier sind die KINDER diese MAGIE. Das passt doch, finde ich!
Ich bin völlig fasziniert von dem genialen »All Swiss Star Team«, das die Figur nach meinem Modell baut: Jean, Rico und Seppi. Erst wird ein stabiles Stahlgerüst erstellt, dieses dann mit Beton übergossen, den ich am Ende bemale. Die roten Zungen-Rutschen sind natürlich aus Polyester, aber mittlerweile kann ich die Polyesterformen herstellen lassen, was mich sehr erleichtert.