Revoluzzer-Hochzeit

Dann aber verliebt Niki sich und brennt durch, mit Harry Mathews.

Funken tut’s zwischen den beiden, als Niki mit dem Zug nach Princeton zu ihren Großeltern Harper unterwegs ist. Wie der Blitz trifft sie die Liebe. Harry meldet sich kurz darauf bei ihr und schreibt ihr wunderschöne Briefe. Denn er ist nicht nur kräftig, stark und schön, wie Niki findet, sondern auch hochgebildet. Er will später Schriftsteller werden. Jetzt beginnt er erst einmal, in Princeton Musik zu studieren.

Ja, die Welt der Künste, das ist Nikis Welt, da will sie hin!

Und ganz sicher wird sie NICHT so wie ihre Eltern leben. Das trifft sich gut, denn Harry will auch nicht so wie seine leben. So werden die beiden zu Verbündeten und lassen sich am 6. Juni 1949 heimlich trauen. Da ist Niki noch nicht einmal 19 Jahre alt.

Niki genießt es, ihren attraktiven Mann an ihrer Seite zu haben und mit ihm auszugehen. Nie versäumen die beiden es, den neuesten Kinofilm anzuschauen. Abends lesen sie im Bett Bücher, hören Edith-Piaf-Chansons oder spielen Rommé. Harry mag Nikis unkonventionelle Einfälle und Ansichten. Und natürlich ihre Schönheit. Niki ist stolz, durchs Modeln die Haushaltskasse auf bessern zu können, denn die ist alles andere als üppig.

Realitäten holen sie ein

Dann wird am 23. April 1951 Laura geboren. Harry und Niki sind inzwischen nach Boston umgezogen, wo Harry zur renommierten Harvard-Universität in Cambridge gewechselt hat. Tja. Und Niki?

 

Uralt-Niki: Ich kam damit überhaupt nicht klar. Harry sollte alle Freiheit und alle Möglichkeiten haben und ich dagegen tagein, tagaus bei unserer Tochter hocken? Ich liebte sie, aber ich hasste die Situation. Die ersten Monate, als Laura noch ganz winzig war, genoss ich sehr. Aber dann fing ich immer stärker an, mein eigenes Leben zu vermissen.

 

Streit ist dabei vorprogrammiert.

»Du kannst ja dableiben, dann gehe ich eben allein!«, verkündet Niki schnippisch und stapft kurzerhand davon, ab ins nächste Kino. So lange hat sie sich jetzt schon keinen Film mehr angeschaut! Ihr reicht’s, und zwar gründlich. Peng, knallt die Wohnungstür zu.

Dass die Nachbarin anbietet, kostenlos auf die Kleine aufzupassen, mildert zwar die Situation, ändert sie aber nicht grundsätzlich. Zu allem Überfluss fängt Harry in dieser Zeit auch noch eine Affäre an, die sich als Auftakt zu einer ganzen Reihe von Abenteuern entpuppen wird.

»Es tut so weh!«, vertraut Niki ihrer magischen Box insgeheim an und legt ihr zum Schutz eine spitze Haarnadel hinein. Die soll den nächsten Stich ins Herz abwehren und es unempfindlich machen gegen den Schmerz.

»Wehr dich!«, fordert die Box Niki auf. »Du musst doch nicht alles erdulden!«

Es ist ja auch gar nicht so, dass Harry ein Unmensch wäre. Er hat nur eben diese eine kleine Schwäche. Ansonsten ist er feministischer eingestellt, als es einer Frau wie Jeanne Jacqueline zum Beispiel recht ist, die ihn absolut unmännlich findet: »Ein Mann, der den Staubsauger schwingt? Unmöglich!«

Niki hingegen findet das herrlich. Sie kocht, er spült ab. Er ist der Ordnungsfanatiker und räumt das meiste auf. Doch immer häufiger setzt sich Niki der Teufel der Vergangenheit ins Ohr und flüstert ihr zu: »Auch du wirst eines Tages die Leintücher zählen, denk daran!« So hat es ihre Mutter ihr einmal prophezeit. »NEIN!« Niki wird es schließlich gänzlich unmöglich, immer und immer wieder dieselbe Wäsche zu waschen. Sie stopft sie einfach unters Bett! So lange, bis Harry nichts mehr zum Anziehen hat.

»Ich KANN es einfach nicht tun, Harry, es LANGWEILT mich zu TODE!«, gesteht sie ihm. Und siehe da, Harry ist gar nicht mal weiter erstaunt und übernimmt die Wäsche daraufhin selbst.

»Ja!« jubelt da die magische Box. »Und jetzt überleg dir nicht nur, was du NICHT willst, sondern finde auch heraus, was DU WILLST!«

»Zweimal in der Woche will ich zum Abendmalkurs gehen!«, sagt Niki.

Und – hoppla! – ohne Weiteres erklärt Harry sich bereit, dafür das Babysitting zu übernehmen.

Der Kurs bietet Niki dann nicht das, was sie sich von ihm versprochen hat. Aber sie macht alleine weiter, kauft sich Staffelei, Leinwand und Ölfarben und malt, während Laura im Laufstall vor sich hin plappert (oder auch nicht).

Enge, die die Luft zum Atmen nimmt

Doch so ganz auf sich allein gestellt kommt man nur schwer voran. Niki ist hungrig nach Austausch, hungrig, die Welt zu entdecken! Noch dazu fühlt sie sich in ihrem Land mittlerweile unbehaglich. Amerika ist intolerant geworden. Die ganze Welt erstarrt seit 1945 im Kalten Krieg. Angespanntes Misstrauen herrscht zwischen dem diktatorisch-kommunistischen Ostblock und dem demokratischkapitalistischen Westblock. Misstrauisch belauern sich die Führungsmächte Sowjetunion und USA, stets bereit, auf den kleinsten Vorfall zu reagieren – wenn nötig, mit Krieg.

Ein gigantisches Wettrüsten hat begonnen. Fieberhaft wird an der Entwicklung neuer Atomwaffen geforscht, intensive Spionage auf beiden Seiten betrieben. So bildet sich auch Misstrauen gegen das eigene Volk: Verdächtig sind von Haus aus die amerikanischen Kommunisten – wenn auch ihre Partei in den USA nicht offiziell verboten ist. Inoffiziell aber müssen sie vor dem »Komitee für unamerikanische Umtriebe« Rede und Antwort stehen. Schnell ist da beim bloßen Verdacht ein Leben zerstört. Denunziantentum greift um sich, Bürgerrechte werden mit Füßen getreten. Besonders hart trifft es die Künstler und die denkenden Köpfe, während die Angepassten überleben. Eine Umgebung, um sich zu entfalten, sieht anders aus.

Paris, wir kommen!

Zum Beispiel so wie Paris.

Und so ziehen die beiden 1952 nach Harrys Harvard-Abschluss mit Laura in die europäische Metropole der Künstler-Avantgarde an die Seine. Es geht auf zu neuen Ufern, endlich!

Babysitter sind leicht zu bekommen, und voller Verlangen stürzt Niki sich ins öffentliche Leben. Herrlich ist es hier in Paris, einfach herrlich! Es ist die Stadt der Künstler und Exilausländer, der modernen Literaten, der Jazz-Liebhaber und Chansoniers, des innovativen Kinos und der Hinterhofbühnen. In den Straßencafés sitzen sie, die Berühmtheiten, und in jeder Gasse atmet man hier die Luft geistiger Freiheit.

Niki tauscht ihren Pinsel gegen die Bühne und nimmt mit Erfolg Schauspielunterricht. Harry studiert Dirigieren.

Dramatische Szenen an der Côte d’Azur

Ein Jahr später lockt es sie ans Mittelmeer. Menton, haben sie gehört, soll ein schönes Städtchen sein. Wie schön die roten Dächer der kleinen Stadt vor dem tiefen Blau des Meeres leuchten! Niki versteht sofort, warum es schon so viele Künstler zum Malen hierher, ins intensive Licht Südfrankreichs, zog.

Und doch verdüstert sich für sie bald schon der Himmel. Freunde meinen ihr einen Gefallen zu tun, indem sie ihr verraten, dass Harry schon wieder eine Affäre hat. Aha!

Sie seufzt und zieht ihre magische Box heraus. Eine weitere Haarnadel wandert hinein.

»Wehr dich doch endlich!«, sagt die Box eindringlich zu ihr.

Ja, aber wie?

Niki beginnt eine Affäre mit dem Ehemann von Harrys Liebschaft. Das ist aber kaum das richtige Rezept gegen Nikis Schmerz.

Ihre magische Box kann all die spitzen Gegenstände bald nicht mehr aufnehmen, die sie braucht. Ab in die Handtasche damit.

Nachts kann sie nicht schlafen.

Ein Messer unter der Matratze gibt ihr Sicherheit.

 

Schon beginnt Harry sich zu wundern.

»Niki, hast du meine Papierschere irgendwo gesehen?«

»Nein, liegt sich nicht auf deinem Schreibtisch?«

»Wo hab ich sie nur hingetan?«, lässt Harry suchend seinen Blick schweifen.

»Ich muss dann los«, sagt Niki nur noch. Sie geht zum Arzt, um Schlaftabletten zu besorgen. Doch die Tabletten will dieser sich teuer bezahlen lassen, denn er beginnt, Niki zu befummeln. »Elender, widerwärtiger Schuft!«

Aufgebracht und gedemütigt verlässt Niki seine Praxis, rennt atemlos nach Hause und – trifft dort ausgerechnet Harrys Geliebte an. Gut so, denn Niki ist grad so richtig in Fahrt. Ein Stoß landet in der Magengrube der gehassten Geliebten, eine Batterie von Schlägen bekommt sie obendrauf.

Nach dem Abendessen versteckt Niki sicherheitshalber noch ein weiteres Messer unter ihrer Matratze. Bestürzt beobachtet Harry sie dabei. Das hat er nicht gewusst! Er nimmt sie zärtlich in seine Arme. Niki willigt ein, noch am selben Abend nach Nizza zum Psychiater zu fahren. Sie nimmt ihre prall gefüllte Handtasche mit und kippt dem Arzt ihr gesamtes Waffenarsenal auf den Tisch.

»Vielen Dank«, sagt dieser ruhig und blickt ihr in die Augen. Er versteht ihren Hilferuf. Kurz darauflässt Niki sich ins psychiatrische Krankenhaus zur stationären Behandlung aufnehmen.

Niki umarmt die Kunst

Doch die Elektroschocks helfen ihr nicht spürbar. Und schon gar nicht der Insulinschock, der ihr ebenfalls verabreicht wird. Der macht sie nur ganz zittrig, unruhig und schwach.

Im Garten Zweige und Blätter zu sammeln, beruhigt sie schließlich. »Schöne Formen«, denkt sie und beginnt unwillkürlich, sie zu Mustern zu legen. »Klebstoff bräuchte ich. Und Farben, unbedingt! Ich muss Harry darum bitten.«

Kaum kann sie es erwarten, bis er das nächste Mal kommt und ihr das Gewünschte bringt. Dann kaum, dass er wieder geht, damit sie endlich anfangen kann.

Schon als sie alles herrichtet – das Papier, die Stifte – durchströmt sie ein Gefühl der Ruhe. Sie nimmt die erste Farbe in die Hand, setzt den Stift aufs Blatt und zieht eine Linie. Weitere folgen. Was entstehen wird, weiß sie noch nicht. Sie beginnt mit einer Idee und setzt ein Detail davon um, ohne zu wissen, wie genau sie das Blatt sonst noch füllen wird.

So malt sie stundenlang.

Tagelang.

Dabei reinigt und heilt sie ihre Seele.

Psst, nicht stören! Niki lüpft gerade den doppelten Boden ihrer magischen Box. Vorsichtig, ganz vorsichtig. Was dort heraus will, fließt aufihr Papier. Und Ruhe kehrt ein. Niki umarmt die KUNST als ihre ERLÖSUNG und lässt sie fortan nicht mehr los.

Es ist das Jahr 1953 und Niki ist – noch – 22 Jahre alt. Bald hat sie Geburtstag. Nach sechs Wochen kann Niki die Klinik wieder verlassen. Doch 14 Tage später findet sie eines Freitags einen Brief von ihrem Vater im Postkasten. Was sie da zu lesen bekommt, ist seine Beichte: »Sicher erinnerst du dich, wie ich dich mit elf Jahren zu meiner Geliebten machen wollte …«

»Nein, Daddy, NEIN!!«

AN NICHTS ERINNERT SIE SICH!

»Erinnerst DU dich an was?«, befragt sie aufgewühlt ihre Box.

Doch bevor diese antworten kann, überfällt Niki schlagartig eine heftige Migräne. Sie kotzt und kotzt, bis nur noch reine Galle kommt.

Auch Harry ist entsetzt.

Der Psychiater aber, dem sie den Brief zeigt, verbrennt ihn einfach. Er glaubt schlichtweg nicht, dass die Bekenntnisse des Vaters wahr sind, so ungeheuerlich erscheinen sie ihm.

Doch ein Gutes hat der Brief immerhin: Niki hat jetzt einen Anhaltspunkt, um ihre Gefühle und ihr Verhalten zu verstehen und zu verarbeiten.

 

Bild 5

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Die Meerjungfrau im Strawinsky-Brunnen in Paris. Die Figur erinnert an die fröhlichen, dicken, bunten Nanas von Niki.