21
Mac sah Connie mit Warp-Geschwindigkeit aus dem Waschraum stürmen, so dass Gläser und Blumen von den Tischen flogen, an denen sie auf dem Weg zur Tür vorbeirannte. »Vampirangriff!«, schrie jemand. »Ruft einen Notarzt!«
Ach du Scheiße! Connie rannte um ihr Leben. Sie hatte die Kontrolle verloren.
Und er hatte sein Versprechen gebrochen. Er hatte ihr geschworen, dass er sie vor Schwierigkeiten bewahren würde.
Aber es schien doch alles okay mit ihr.
Mac setzte ihr sofort nach, sprang über die halbe Wand, die ihren Tisch vom Weg zum Eingang trennte. Noch ein paar andere rannten ihr nach, unter anderem einer der Werwolf-Gäste. Mit wild gewordenen Vampiren wurde stets kurzer Prozess gemacht. Das durfte Mac nicht zulassen.
Zeit zu schummeln! Er wurde zu Staub und tauchte vor Connie wieder auf. Sie raste geradewegs auf ihn zu und sie beide um, so dass sie auf dem Straßenpflaster landeten. Der dünne Stoff seines Anzugs fing nichts von dem rauhen Asphalt ab.
»Lass mich los!«, fauchte sie, ihr blutverschmiertes Gesicht entstellt vor Schmerz. »Ich muss fort!«
Sie versuchte aufzustehen, fiel jedoch gleich wieder auf Hände und Knie und rollte sich zusammen, so dass ihre Stirn ihr ruiniertes Kleid unten berührte.
Mac fasste ihre Schulter und fühlte, dass sie heftig zitterte. Er wusste nicht, ob ihr schlecht war oder sie unter Schock stand, und es war keine Zeit, das herauszufinden. Einer der Werwölfe hatte sich gewandelt und rannte allen anderen voraus. Um seinen Hals wehte noch seine Krawatte, und er heulte nach Blut.
Mist! Mac packte Connie und wurde zu Staub.
Es war eine Sache, jemanden aus der Burg herauszubringen. Eine ganz andere war es, einen Passagier über eine weitere Entfernung mitzuschleppen. Er hielt es so lange durch, wie er irgend konnte, ehe sie auf einem Friedhof etwa acht Blocks entfernt landeten und auf einer der schmiedeeisernen Parkbänke wieder Gestalt annahmen. Das kalte Metall fühlte sich gut an, wie eine kühlende Eispackung. Denn Mac tat alles weh. Als wäre er gerade einen Marathon gelaufen.
Connie war bleischwer, vollkommen entkräftet und kippte zur Seite. Ihr Kopf auf seinem Knie war kalt und klamm. Vampire hatten eine niedrige Körpertemperatur, aber Constance war wie tiefgekühlt. Mac zog sein Jackett aus und hängte es ihr über. Ob sie die Kälte in ihrer gegenwärtigen Verfassung überhaupt spürte? Ihre Lider öffneten sich zögernd. Selbst in der Dunkelheit konnte er sehen, dass ihre Augen zu umwölkt waren.
»Connie?«, sprach er sie an und beugte sich zu ihrem Ohr. Ihr altmodisches Parfüm stieg ihm entgegen und mischte sich mit dem Geruch von Blut und Shampoo. Sie antwortete nicht, blinzelte nicht einmal.
Macs Bauch wurde zu einem eisigen harten Klumpen. Gleichzeitig flammte ohnmächtiger Zorn in ihm auf. Er wollte sie schütteln. Er wollte sich selbst ohrfeigen, dass er nicht durchgängig auf sie aufgepasst hatte.
Eine Notaufnahme für Vampire existierte nicht. Er brauchte einen anderen Vampir, einen, dem er vertrauen konnte. Mac klappte sein Handy auf und wählte Hollys Nummer zu Hause. Dabei betete er, dass Caravelli dort war.
Immerhin eines an diesem Abend ging gut. Zehn Minuten später bremste der T-Bird quietschend vor der Kirche. Mac hörte, wie die Tür zugeschlagen wurde, und dann war auch schon Caravelli zu sehen, der auf sie zugerannt kam. Der Vampir murmelte etwas auf Italienisch – ein Gebet oder einen Fluch, das konnte Mac nicht sagen.
Alessandro hielt lange genug inne, um Macs veränderte Gestalt anzusehen, dann beugte er sich über Connie. Vorsichtig drehte er ihr Gesicht zu sich.
»Sie ist bewusstlos«, sagte Mac.
Caravelli befühlte ihre Haut, hob eines ihrer Lider und sah sich ihre Zähne an. »Sie ist kaum verwandelt. Wer immer das gemacht hat, hatte keine Ahnung.«
»Was braucht sie?«, wollte Mac wissen, der ihren Kopf in einer Hand wiegte. »Was es auch ist, ich beschaffe es ihr!«
Caravelli betrachtete ihn eine halbe Ewigkeit schweigend. »Dir ist klar, dass sie eine Unschuldige verwundet hat.«
Wag es nicht! Doch Caravelli wagte es. Es war sein Job, die Monster unter Kontrolle zu halten.
Mac fluchte. »Es war meine Schuld. Sie hat versucht, es mir zu sagen. Ich habe nicht zugehört und sie aus der Burg gebracht.«
»Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht?«
»Weiß ich nicht! Ich hab’s gar nicht geblickt. Ich dachte, ich hätte alles im Griff, was passieren könnte.«
Caravelli fluchte wieder und benutzte Worte, die Mac nicht einmal kannte. Sein Tonfall hingegen sagte alles.
Mac strich Connie das Haar zurück. Es war aus den Nadeln und Spangen gerutscht und lag nun auf seinem Schoß wie Fetzen schwarzer Seide. Seine Haut wurde zusehends heißer, denn der Dämon in ihm litt nicht minder als der Mann. »Tu etwas, um Gottes willen!«
Nichts. Dann wurde Caravellis Haltung kaum merklich weicher. »Na schön. Sie braucht starkes Blut. Vampirblut. Ihr erster Schöpfer war nicht alt genug.«
»Was heißt das?«
»Er hatte nicht genug Kraft, um sie erfolgreich zu wandeln.« Caravelli zog sich die Lederjacke aus. Darunter trug er ein Grateful-Dead-T-Shirt. »Einen Vampir zu schaffen ist nicht leicht. Aber es gibt immer wieder Idioten, die denken, sie könnten es.«
»Und wenn ein Amateur einen Patzer begeht?«
»Wenn beide Glück haben, stirbt das Opfer.« Er nickte zu Connie. »Soweit ich von Holly weiß, haben die Wachen sie direkt in die Burg gebracht, als sie auferstand. Das war es, was sie all die Jahre am Leben erhielt. Die Magie der Burg wirkt lebenserhaltend.«
»Und ich habe sie in Gefahr gebracht«, folgerte Mac verbittert.
Caravelli stieß einen unschönen Laut aus. »Sie hätte es besser wissen müssen, als mit einem Dämon auszugehen. Setz sie auf!«
Mac tat es. Als der Vampir ein Messer aus seinem Stiefel zog, versteifte Mac sich.
»Entspann dich! Das ist für mich.« Caravelli schenkte ihm die Andeutung eines Lächelns. »Ich kriege den spaßigen Teil ab.«
Mit einer Grimasse fügte er sich einen ungefähr fünfzehn Zentimeter langen Schnitt am linken Unterarm zu. Träges Blut wallte auf, dicker als menschliches. Er hielt die Wunde unter Connies Nase, und sie erweckte sie so schnell wie altmodisches Riechsalz.
Caravelli neigte sich vor ihr auf ein Knie und führte ihren Kopf zu der offenen Ader. »Trink!«, forderte er sie auf, was verdächtig nach den allseits bekannten Schurken in schlechten Filmen klang.
Constance griff nach Macs Knie, so dass ihre langen Nägel sich in seine Haut bohrten. Er sah, wie ihre Halsmuskeln arbeiteten, denn der Druck zu trinken war offenbar genauso stark wie der, nicht zu trinken.
»Vampire schmecken nicht wie Menschen«, erklärte Caravelli. »Wir sind normalerweise keine Nahrung füreinander.«
Mac nahm ihre Hand und löste sie von seinem Bein. »Mach schon, tu es! Es ist okay.«
Sie gab einen angewiderten Laut von sich, gehorchte ihm aber. Nach einem Moment zog sie ihre Hand von Macs Knie, um Caravellis Arm zu umfassen und an ihre Lippen zu ziehen. Der Vampir zuckte vor Schmerz, als sie zubiss.
Mac fühlte sich erleichtert und auch denkbar unwohl. Es war schon schlimm genug, dass er sie in diesen Schlamassel hineingeritten hatte. Die Tatsache, dass er ihr im entscheidenden Augenblick nicht helfen konnte, war noch schlimmer. Nicht einmal sein Blut konnte er ihr geben!
»Auf dem Weg hierher habe ich im Krankenhaus angerufen«, sagte Caravelli leise. »Das Opfer war mehr erschrocken als verletzt. Ich bezweifle, dass wir größere Beschwerden von den Menschen zu erwarten haben.«
»Gift?«, fragte Mac automatisch.
»Nein.«
Das war das Erste, was jeder Polizist fragte, der mit Übernatürlichenverbrechen zu tun hatte. Nachgewiesenes Gift im Blutkreislauf eines Opfers war ein rechtsgültiger Beweis für einen Vampirangriff. Ohne diesen gab es wenig, was ein Opfer tun konnte.
»Constance hat Glück«, stellte der Vampir finster fest.
»Das wird ihr nicht viel nützen, wenn sie …« Mac verstummte, denn Wut und Enttäuschung schnürten ihm die Kehle zu.
»Sie wird wieder, aber du musst verschwinden«, erklärte Caravelli, der das Gesicht verzog, als sie an seiner Wunde leckte und zerrte.
Das war wahrlich kein Bild, das Mac sich für ein erstes Date ausgemalt hatte. »Aber …«
»Ich bringe sie nach Hause.« Caravelli fixierte ihn mit diesem Bernsteinblick, der unter den Scheinwerfern eines entfernten Wagens aufglitzerte, und prompt standen Mac die Nackenhaare zu Berge. »Sie ist im Moment nicht sie selbst, was sie auch nicht wieder sein wird, ehe sie sich ausgeschlafen und wieder genährt hat. Es ist sinnlos für dich, sie so zu erleben, und sie wäre dir nicht zwingend dankbar dafür.«
»Aber mein Platz ist an ihrer Seite!«
»Vertrau mir, ich sorge dafür, dass sie bekommt, was sie braucht.«
Mac wusste, was er meinte. Mehr Blut. Menschliches Blut – und diesmal von einem willigen Spender.
»Komm morgen Abend zu uns. Dann wird sie bereit sein, dich zu sehen.«
Mac nickte, obwohl er sich komisch vorkam. Jede Faser seines Seins wollte sie sein eigen machen, Caravelli beiseitedrängen und sie fortschleppen. Ja, das wäre ja echt sinnvoll! Werd endlich erwachsen, Dämonenpimpf!
Als Caravelli über Constances Kopf strich, hatte das etwas eindeutig Väterliches. Mac musste ein böses Knurren unterdrücken.
»Es ist gut, Macmillan. Sie ist sicher bei mir.«
Mac seufzte innerlich. Du führst ein Mädchen aus, und am Ende trinkt sie das Blut von einem anderen Kerl. Wichtig war nur, dass sie die Hilfe bekam, die sie nötig hatte. Hier ging es nicht um seine Bedürfnisse.
Trotzdem wollte Mac vor Wut toben. Er hatte Constance ein Kleid geschenkt. Caravelli schenkte ihr Leben.
Wahres Leben schafft mehr Leben, hatte Atreus gesagt. Meine Schöpfungen weisen bloß die begrenzte Kraft meiner Zauberkunst auf.
Und dann, wie ein Blitz aus einer wirren Wolkenansammlung, traf ihn die Erinnerung an das, was Connie gesagt hatte: Atreus schuf eine Frau aus dem Avatar der Burg und raubte ihr so die Magie.
Mac hatte gehört, wie Atreus behauptete, sie getötet zu haben. Der Zauberer hatte außerdem gesagt, dass die Burg seit sechzehn Jännern zerfiel. Atreus hatte vor sechzehn Jahren ein Findelkind aufgenommen.
Heiliger Flederjunge! Sylvius war das Kind des Avatars. Atreus hatte sie nicht getötet, nein, sie war im Kindbett gestorben! Meine Schöpfungen weisen bloß die begrenzte Kraft meiner Zauberkunst auf. Nachdem das Baby geboren worden war, blieb kein Leben mehr für die Mutter übrig.
Die Burg zerfiel, weil Sylvius lebte.
Was heißt das?
Es hieß, dass Mac endlich dieses ganze bekloppte Burgrätsel durchblickte. Es hatte Caravelli gebraucht, der ihm die Vampirschöpfungsnummer vorführte – der etwas von seinem Leben an Connie gab, um sie zu retten –, und schon war die Verbindung da gewesen. Ob es ihm gefiel oder nicht: Mac hatte Arbeit zu erledigen.
Widerwillig stand er auf und berührte Connies Schulter. »Wir sehen uns morgen.«
Caravelli nickte, antwortete aber nicht. Und Connie reagierte überhaupt nicht.
Nachdem Mac kein Dutzend Schritte gegangen war, drehte er sich zu den beiden Vampiren um, die eng umschlungen auf dem kleinen Stadtfriedhof saßen. Im Licht der Straßenlaternen bildeten die Grabsteine ein Wirrwarr aus Grautönen, auf denen sich Graffitis wie Spinnweben rankten.
Als Mac sich wieder abwandte und weiterging, kam er an einem Granitblock mit der Aufschrift LIEBE IST BOCKMIST vorbei.
Wie recht du hast!