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101.5 FM
Baba Yagas Restaurant bietet exquisite Küche nach alter Tradition im Herzen der Altstadt von Fairview. Unsere reichhaltige Speisekarte garantiert Ihnen ein unvergessliches Dinner-Erlebnis. Unsere Spezialität ist Geflügel, aber auch alle anderen Speisenwünsche werden diskret erfüllt. Wegen des starken Andrangs bitten wir um Tischreservierungen.«
Constance klammerte sich an Macs Arm, denn auf ihren wunderschönen, verflucht gefährlichen Schuhen bewegte sie sich höchst unsicher. In den Sachen, die er ihr geschenkt hatte, kam sie sich vollständig entblößt vor, und das von den Knöcheln bis zum Hals. Ihr hochgestecktes Haar ließ ihren Nacken frei, so dass sie jedes Mal erschauderte, wenn eine Luftbrise über ihre Haut strich – nicht vor Kälte, sondern weil die Luft sich so sinnlich schwer anfühlte.
Ebenso gut hätte sie in ihrem Hemdchen herumspazieren können, nur dass es nicht seidig und sündhaft schwarz war. Dies hier war ein Frauenkleid, kein Mädchenkleid. So viel verriet ihr allein Macs Blick.
Er hatte ihr Blumen mitgebracht. Rote und weiße Rosen. Seit Jahrhunderten hatte Constance nicht mehr die samtigen Blütenblätter echter Blumen gesehen, sie gerochen oder sie berührt. Und immer noch schienen ihre Sinne von ihnen erfüllt, ihr Duft an ihren Händen zu haften.
Mac selbst sah sehr elegant aus, wie einer der Männer in den Zeitschriften, nur schöner, denn er war Conall Macmillan, der sich wie ein Prinz kleidete und dazu das Funkeln eines Teufels in den Augen hatte.
Er hatte Constance in einer Staubwolke aus der Burg gezaubert. Das Erste, was sie wahrnahm, als sie wieder zu ihrer richtigen Gestalt wurde, war der regengewaschene offene Raum um sie herum. Als Nächstes hatte Mac ihre Hand über seinen Unterarm gelegt. Ja, er behandelte sie mit formvollendeter Höflichkeit, wie eine vornehme Aristokratin. Und für diesen einen Abend würde sie sich ausmalen, sie wäre tatsächlich eine solch feine Dame. Mac hatte versprochen, auf sie achtzugeben. Dieser Abend sollte ganz allein ihr gehören.
Die Erinnerung an sein Versprechen bändigte die Schmetterlinge in ihrem Bauch ein wenig. Sie fühlte sich überwältigt, verlegen und schwindelerregend glücklich. Von monströsem Hunger jedoch war keine Spur.
Ach, wie herrlich alles war! Überall leuchteten Lichter, als sie um die Ecke in eine Straße einbogen, und ein oder zwei Straßen weiter erreichten sie ein Gebäude, über dessen Eingangstür BABA YAGA’S in hellen rosa schimmernden Buchstaben prangte. Constance hatte alle Mühe, nicht mit offenem Mund auf das Schild zu starren, das so seltsam und hübsch war, genauso, wie sie sich anstrengte, weder die Autos anzugaffen noch die hohen Gebäude noch die anderen Menschen, die so selbstgewiss an ihnen vorbeischritten. Schließlich wollte sie nicht wie ein gieriges Vogelküken aussehen, das mit weit aufgesperrtem Schnabel nach Würmern verlangte. Nein, sie wollte aussehen, als gehörte sie hierher, an Macs Arm. Ach, was für eine Wonne!
Als sie unter dem rosa Leuchtschild hindurch in das Restaurant traten, kam ein Mann ganz in Schwarz und Weiß gekleidet auf sie zu. Er war keinen Deut weniger fein und vornehm angezogen als Mac und begrüßte sie mit »Hier entlang, bitte«. Dann führte er sie durch ein Gewirr aus Tischen mit weißen langen Decken. Constance schaute sich um, ermahnte sich allerdings, nicht zu starren.
»Was denkst du?«, flüsterte Mac ihr zu.
Der Raum mit seinen hohen Decken war voller Menschen in eleganter Garderobe, und überall standen Kerzen und Blumen. Bedienstete achteten darauf, dass es den Gästen an nichts fehlte, genau wie es das Personal in den reichen Häusern zu Constances Zeit getan hatte. Zumindest hatte man es ihr so erzählt. Was wusste sie denn schon? Sie hatte ihr Leben bei den Kühen im Stall verbracht. »Es ist wundervoll.«
Er lächelte ihr zu und drückte ihre Hand behutsam. Constance wäre gewiss vor Freude gestorben, wäre sie nicht schon längst tot gewesen. Sie setzten sich an einen Tisch hinten an der Wand, und der Diener verschwand. Constance blickte sich abermals um. Einige der anderen Gäste waren menschlich, andere nicht. Sie konnte Werwölfe riechen.
Sie wandte sich wieder Mac zu. Sein Haar war frisch geschnitten. Alle anderen weiblichen Gäste drehten sich zu ihm um, und das sollten sie auch. Er war schön anzusehen, doch vor allem hatte er eine dunkle, elektrisierende Ausstrahlung, die jede Frau in seinen Bann zog.
Und sein Blick galt einzig Constance, die er sanft und begehrend zugleich ansah. Dieser Ausdruck versprach, nun ja, alles. Constance konnte es nicht erwarten zu sehen, wohin diese leichte Krümmung seiner Lippen führen mochte.
Ein anderer Diener erschien und fragte, welchen Wein sie wünschten. Mac bestellte und schaute erneut zu Constance, die seinen Blick fast wie ein Gewicht auf ihrem Leib fühlte.
Sie hatten kaum ein Wort gesprochen, als wären sie beide sprachlos vor Staunen. Ihr Austausch beschränkte sich auf Blicke und einen gelegentlichen Händedruck. In keiner der Zeitschriften, nicht einmal in den neuen, modernen, hatte gestanden, dass ein Date so wundervoll sein konnte. Andererseits war auch keine dieser albernen Frauen, die dort schrieben, je mit Mac ausgegangen. Und ansonsten hatten sie sehr wohl einige hilfreiche Empfehlungen für Constance gehabt, zum Beispiel, wie sie sich die Beine rasieren sollte. Es war ein Glück, dass ihr Untotenleib so rasch heilte!
Der Mann mit dem Wein kam wieder. Nach dem Ritual des Etikettbegutachtens, Entkorkens und Kostens schenkte er Constance etwas ins Glas und ging. Sie beäugte die strohfarbene Flüssigkeit skeptisch.
»Kann ich das trinken?«, flüsterte sie.
»Vampire scheinen ganz gern Wein zu trinken«, antwortete Mac. »Ich würde aber nicht zu viel auf einmal nehmen.«
Sie probierte. Der Wein schmeckte komisch, was wenig verwunderte, hatte sie bislang doch nur Ale getrunken. Und nach Jahrhunderten, in denen sie weder getrunken noch gegessen hatte, dürfte ihre Erinnerung nicht mehr allzu verlässlich sein.
»Hier essen Menschliche mit Nichtmenschlichen«, bemerkte sie leise. »Ist das üblich?«
Mac nahm ein Brotstäbchen aus einem Korb mit Serviette. »Hier schon. Manche Menschen mögen die Nähe von Übernatürlichen, andere nicht. Einige halten es für, äh, schick, eben abenteuerlich.«
»Abenteuerlich? Was denken sie denn, das geschieht?«
»Wer weiß? Die meisten Übernatürlichen hier wollen einfach nur einen ruhigen Abend genießen.«
Constance schaute sich nochmals um, erstaunt ob der vielen Nichtmenschlichen, die sich unbeschwert mit ihren Begleitungen unterhielten. Vielleicht könnte sie ganz aus der Burg fliehen, sich eine Arbeit suchen und ein fast normales Leben führen.
Die Möglichkeiten, und wohl auch der Wein, machten sie ganz kribbelig. Sie leckte sich die Lippen, so dass sie den parfümierten Lippenstift schmeckte. Er war leuchtend rot und auch ein Geschenk von Mac. Blutrot. Noch etwas, das dafür sorgte, dass sie sich verwegen und ein kleines bisschen gefährlich fühlte. War das Macs Absicht gewesen?
Sie lächelte ihm zu, während er von dem Brot aß. »Erzähl mir von deiner Freundin, die dir half, die Sachen auszusuchen.«
»Holly ist eine gute Freundin. Sie hat deine neuen Kleider mit einem Zauber versehen, damit sie dir auch passen, und meine Sachen hat sie so verzaubert, dass ich sie nach wie vor anziehen kann. Eine sehr praktisch veranlagte Frau.«
»Sie ist eine Magierin?«
»Eine Hexe«, erwiderte Mac lächelnd. »Und sie ist sehr in einen Vampir verliebt.«
»Oh.« Prompt fühlte Constance sich sehr viel wohler – weil Holly vergeben war und weil es möglich schien, dass Vampire geliebt wurden.
»Also«, begann Mac und strich mit seinem Daumen über Constances Handrücken, so dass ein Wonneschauer sie durchströmte, »wir müssen noch einen Film aussuchen. Was für einen möchtest du sehen?«
Constance war verwirrt. Sie hatte über Filme gelesen und wusste folglich, dass sie sehr unterhaltsam waren, aber ihre Vorstellung, was genau Filme waren, konnte bestenfalls vage genannt werden. In ihrer Unsicherheit fiel ihr nur ein einziger Titel ein. »Ich möchte Vom Winde verweht sehen.«
Mac strengte sich merklich an, keine Miene zu verziehen. »Ich fürchte, der läuft nicht mehr in den hiesigen Kinos. Wir können ihn irgendwann mal ausleihen, aber heute sollten wir uns für einen anderen entscheiden.«
»Dann sehen wir uns am besten einen Film an, der dir gefällt«, schlug Constance vor und hoffte, dass es nett wirkte und nicht erbärmlich ahnungslos.
»Hmm, tja, es gibt sogenannte Mädchenfilme und Jungenfilme. Wenn wir in einen Film gehen, den ich aussuche, wird er dir wahrscheinlich nicht gefallen.«
Constance ließ sich von einem der Diener ablenken, der einen Teller mit Essen in Brand setzte. »Aber warum verbrennen sie ihr Essen? War das Fleisch nicht lang genug auf dem Bratspieß?« Sie sah zu Mac, der aussah, als könnte er sich nur schwer das Lachen verkneifen, was Constance verwunderte. »Was meinst du damit, mir würde deine Wahl nicht gefallen? Weshalb sollte ich nicht mögen, was du gern ansiehst?«
»Ich könnte mich täuschen. Jedenfalls freue ich mich, einen langen entspannten Abend mit dir zu verbringen und es herauszufinden. Heute versuchen wir es am besten mit einer romantischen Komödie.«
»Und was ist das?«
»Eine witzige Geschichte, die glücklich endet.«
Constance war erleichtert. »Ja, ich glaube, das würde mir gefallen.«
»Siehst du? Ein bisschen verstehe ich von diesen Dingen.«
»Wie kommst du darauf, dass ich nichts Schweres und Ernstes mag?«
»Du schon, aber ich würde dabei einschlafen. Das tue ich bei solchen Problemfilmen immer.«
»Obgleich ernste Geschichten einen guten Einfluss auf deine Seele haben können?«
»Meine Seele ist so verkorkst, dass sie kein Film mehr retten kann.«
»Was ich dir sogar glaube. In dem letzten Buch, das du mir mitgebracht hast, standen Dinge, die meine Mutter niemals gutgeheißen hätte.«
»Und wie steht es mit dir?«
Constance schmunzelte verhalten. »Ich weiß nicht. Ich müsste sie ausprobieren, ehe ich mich entscheide. Du verdirbst mich, Conall Macmillan.«
»Ich bin ein Dämon.«
»Das ist keine Entschuldigung für einen unrechten Lebenswandel.«
Der Diener kam, nahm Macs Essensbestellung auf und schenkte ihnen Wein nach. Es war eine gute Gelegenheit, das Thema zu wechseln. Constance stellte Fragen über die Gerichte, die an den anderen Tischen serviert wurden, über die Kleidung der anderen Gäste, die Gebäude draußen in der Straße und alles andere, was ihr aufgefallen war. Mac beantwortete sie sämtlichst mit solch einer Geduld, dass Constance schon Mitleid mit ihm bekam. Deshalb lenkte sie das Gespräch in eine Richtung, die für ihn interessanter sein mochte.
»Konntest du etwas von Atreus erfahren?« Sie hatte gehört, dass Mac die Frau namens Ashe gerettet hatte, auch wenn er es nicht weiter ausführte.
Er schüttelte den Kopf, legte eine Hand auf ihre und streichelte sie sanft mit dem Daumen. Eine leichte Gänsehaut bildete sich auf ihrem beschämend nackten Arm. »Ich bin nicht sicher, was davon real war.«
»Was hat er gesagt?«
Constance neigte sich weiter über den Tisch, streckte aber die Schultern nach hinten, denn bei solch spärlichem Stoff, der ihre Brüste bedeckte, war sie lieber vorsichtig. Macs Augen wanderten sogleich zu ihrem Dekolleté, als wollte er die schwarze Seide mit reiner Willenskraft zur Seite schieben. Und Constance bemerkte das rote Glitzern in seinen Pupillen, das anscheinend immer auftauchte, wenn er erregt war. Der Dämon in ihm regte sich und machte seine Hand auf ihrer glühend heiß.
Ein herrliches Kitzeln fuhr ihr durch den Bauch, als sie sich ausmalte, was diese Nacht noch bereithielt.
»Was weißt du über den Avatar?«, fragte er.
»Ah«, sagte sie, »ich kenne Teile der Geschichte.«
»Erzähl!«
Macs Essen wurde serviert, so dass er seine Hand von ihrer nehmen musste. Bei dem reichen Aromengemisch, das von seinem Teller aufstieg, wurde Constance ein bisschen mulmig. Während sie sich zurücklehnte, wählte er Messer und Gabel aus einer Vielzahl von Besteck rechts und links neben seinem Teller aus. Constance war froh, dass sie nicht mit dieser Auswahl kämpfen musste, denn dabei hätte sie sich fraglos als die niedere Magd zu erkennen gegeben, die sie war.
Sie widmete sich lieber Macs Frage. »Es könnte sein, dass sich in der Legende Wahrheit mit Erfundenem vermengt.«
»Erzähl mir einfach, was du weißt.« Der Blick, mit dem er sie ansah, kam von einer anderen Seite an ihm. Er war geradeheraus, streng und unnachgiebig – und er hatte nichts mit Kleidung oder Dates zu tun.
Sie räusperte sich. »Der Avatar gehörte der Burg. Sie war ein Geist und machte den Wind, die Sonne und die Wälder.«
»Nicht das Gefängnis für Monster, das die Burg heute ist?«
»Ja und nein. Die Geschichte, die ich kenne, geht so: Einst beschlossen neun Hexenmeister, sie sollten die Einzigen sein, die magische Kräfte besitzen, und schufen mit einem mächtigen Zauber einen Kerker für alle anderen Übernatürlichen, den sie die Burg tauften. Dann begannen Sterbliche, den Zauberern zu misstrauen, und wollten nicht mehr, dass sie über ihre Ländereien herrschten. Nach einer langen Schlacht zogen die Zauberer sich in die Burg zurück. Weil diese nun ihr neues Zuhause war, schufen sie einen Avatar. Er bescherte ihnen Sonne, Wind und Wälder und machte die Burg zu einem wunderschönen Rückzugsort.«
Mac schnitt einen Streifen von seinem Steak ab, worauf sich rosa Saft unter der Schnittstelle sammelte. »Also war sie ursprünglich ganz nett?«
Constance blickte auf den Fleischsaft, und die Knochen über ihren Eckzähnen fingen zu schmerzen an, sehnten sich danach zu beißen. Hastig nippte sie an ihrem Wein und weigerte sich, Angst zu bekommen. Bald wird er sein Fleisch aufgegessen haben, und dann ist alles wieder gut. »Ja, aber die Avatarmagie verebbte vor langer Zeit, und die Burg wurde zu dem, was man heute sieht.«
»Wie konnte sie verebben?«
»Atreus nutzte seine Zauberkünste, um den Avatar in eine lebendige Frau zu verwandeln. Es dauerte Hunderte und Aberhunderte von Jahren, und dabei schwand ihre Macht über die Burg. All ihre Magie wurde aufgebraucht, um ihr Fleisch und Blut zu verleihen, und die Burg wurde zu dem finsteren Kerker, der sie jetzt ist.«
Mac fiel die Gabel aus der Hand. »Dann wusstest du es die ganze Zeit? Wieso hast du nichts gesagt?«
Für einen winzigen Moment war Constance verärgert. »Du hast nie gefragt. Ich ahnte nicht, dass es dich interessiert.«
Doch er war schon beim nächsten Punkt. »Atreus sagte, dass er den Avatar getötet hat. Und dass sie die Mutter seines Kindes war.«
Constance hielt erschrocken den Atem an. »Ein Kind? Ich habe nie von einem Kind gehört. Was die Tötung angeht: Alle wissen, dass sie ganz einfach starb! Der Legende nach hatte Atreus sie im Sommerzimmer eingesperrt. Deshalb ist der Raum so besonders.«
»Sie wohnte im Sommerzimmer? Denkst du, das ist wahr?«
»Weiß ich nicht. Ich fand den Raum selbst erst vor kurzem. Er geriet in Vergessenheit.«
Mac nahm noch einen Bissen Fleisch und kaute. »Ich frage mich, warum er sie tötete – falls er es getan hat. Und wann.«
Constance wurde ein wenig übel. »Wer weiß? Keiner entsinnt sich, sie jemals gesehen zu haben. Vielleicht hat er sie sich bloß eingebildet. Immerhin ist sein Geist recht wirr.«
Die Gabel halb zum Mund erhoben, hielt Mac inne. »Entschuldige! Das ist ein lausiges Thema für eine Unterhaltung beim Abendessen.«
Constance drehte den Salzstreuer in ihrer Hand und bemühte sich, nicht das blutige Steak anzusehen. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du löst gern Rätsel. Ich auch.«
Er legte seine Gabel ab, streckte die Hand über den Tisch und drückte die ihre. Seine Berührung war heiß, und Constances Leib erwärmte sich freudig. »Danke.«
Das brachte sie zum Lächeln. »Ich denke, der Grund, weshalb Männer und Frauen ausgehen, ist allein der, die Vorfreude auszukosten.«
Sein Lächeln war überaus maskulin. »Ich werde die Nachspeise überspringen.«
»Möchtest du die Vorfreude denn nicht verlängern?«
»Ich bin auch bloß ein Mensch.« Ein Ausdruck von Verwirrung huschte über seine Züge. »Na ja, oder auch nicht.«
Constance grinste. »Ach was, die Liebe ist wie eine Ballade. Sie hat sehr viele Strophen.«
»O nein, hör bloß auf! Ich kenne diese alten keltischen Lieder. Am Ende sterben alle ganz scheußlich, normalerweise bei der Hochzeitsfeier. Da möchte ich wahrlich keine Hauptrolle spielen.«
Connie schmollte. »Das sind doch bloß die ersten Lieder. Danach spielen sie die Tänze.«
»Kelten! Ein Haufen Manisch-Depressiver mit Dudelsäcken.«
»Das ist nicht nett.«
Er zog eine Braue hoch. »Sie sind meine Verwandten. Ich stamme von Schafdieben ab, die dem falschen König Treue schworen.«
Constance neigte den Kopf. »Meine Familie, nun, wir waren nur wir. Wir besaßen nie eigenes Land.«
»Das tut heutzutage kaum noch jemand.«
Erstaunt blickte sie zu ihm auf und bemerkte, dass er sie ein wenig amüsiert betrachtete. »Warum nicht?«
»Es ist anders. Heute gibt es viele Möglichkeiten, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, nicht nur die Landwirtschaft. Jeder kann zur Schule gehen, Jungen wie Mädchen. Das heißt, auch du könntest es, wenn du willst.«
»Aber Atreus lehrte mich Lesen und Schreiben.«
»Das öffnet dir lediglich eine Tür. Hinter dieser wartet eine ganze Welt.«
Das hätte Constance entzücken sollen, doch sie hörte ihm kaum zu. Vor lauter Verwunderung und von dem Wein – oder etwas anderem – war sie wie benommen. Ihre Kiefer schmerzten, und sie fühlte ein Stechen dort, wo sich angeblich ihr Gift befand. Das ist irgendwie falsch. Ihre Vernunft sagte ihr, dass sie umgehend in die Burg zurückkehren musste, doch sie wäre verdammt, sollte sie diesen Abend so vorzeitig beenden. Er hatte doch eben erst begonnen. Sie sah Mac in die Augen, der sie neugierig anschaute.
In ihrer Hilflosigkeit zitierte sie einen Satz, den sie in ihren Heften gelesen hatte. »Entschuldige mich. Ich muss mir die Nase pudern.«
Sie nahm ihre winzige schwarze Handtasche und ging zur Damentoilette, wobei sie sehr vorsichtig auf ihren hohen Absätzen stakste.
Sich zu bewegen half. Abstand zu Macs Essen zu gewinnen ebenfalls. Auf seinem Teller befand sich genügend Fleisch, um eine ganze Familie eine Woche lang satt zu bekommen. Nie hätte Constance sich gedacht, dass ein Dämon derart viel essen konnte!
Mac war so anders. Er war nicht der Sohn eines Lords oder eines Farmers. Er war auch gar nicht wie der Vampir, der Constance hatte verwandeln wollen. Der war ein englischer Soldat gewesen oder zumindest jemand in einer englischen Soldatenuniform. Lieutenant Clarendon. Er hatte ihr hübsche Geschenke gemacht – einen silbernen Fingerhut, ein Holzkästchen für ihre Nadeln –, bis sie einwilligte, ihn eines Abends bei Mondschein am Bach zu treffen.
Constance erreichte die Tür mit den Umrissen einer Frau darauf und stieß sie auf.
Im Nachhinein fragte sie sich manchmal, wie lange Clarendon selbst ein Vampir gewesen war. Er war charmant gewesen, aber nicht so wie die älteren Vampire, denen sie in der Burg begegnet war. Die Vorstellung, dass sie von einem Neuling eingefangen worden war, beschämte sie ziemlich.
Constance stellte ihre Handtasche seitlich auf den Waschtisch und starrte auf das Waschbecken. Sie wollte sich mit Wasser kühlen, nur wie? Es gab Spuren von Wasser in dem Becken, aber leider keinerlei Hinweis, woher es gekommen war.
Auf einmal war sie wütend. Sie ballte die Fäuste, so dass die scharfen Nägel sich in ihre Handflächen bohrten. Der Schmerz tat gut, als würde man an einer juckenden Stelle kratzen.
Wasserhähne. Mischbatterien. Constance hatte Bilder gesehen. Sie griff nach dem Hahn und drehte ihn auf. Sofort sprühte ein kräftiger Wasserstrahl hervor, der ihr auf das Kleid spritzte.
»Verdammt!« Rasch drehte sie den Hahn wieder zu. Dann fiel ihr Blick auf den Spiegel. Sie war unwirklich bleich, die Augen zu dunkel, die Lippen zu rot. Tot.
Die Tür hinter ihr schwang auf, und eine Frau kam herein. Sie war blond und trug ein Kostüm aus heller Seide. Und sie duftete nach Iris und reichhaltigem menschlichen Blut. Macs Duft war für Constance schon reizvoll gewesen, aber dieses Aroma war unerträglich köstlich.
Constance fing an zu zittern und war plötzlich sehr, sehr hungrig. O nein!
»Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte die Frau. »Oh, sehen Sie nur, Sie sind ganz nass!«
Sie griff ein flauschiges Handtuch aus einem Korb auf dem Waschtisch und reichte es Constance. Diese nahm es zaghaft und achtete darauf, nur ja nicht die Finger der anderen zu berühren. »Vielen Dank. Ich hatte ein Missgeschick mit dem Wasserhahn«, sagte sie leise.
»Das trocknet wieder«, entgegnete die Frau munter, holte einen Lippenstift aus ihrer Tasche hervor und neigte sich weit zum Spiegel. Sie hatte getrunken, daher fiel es ihr nicht leicht, sich die Lippen nachzuziehen.
Constance schaute an sich herab. In ihrer seltsamen Taubheit übersah sie die Wasserflecken auf ihrem Kleid. Alle Kraft wich aus ihren Gliedern, die von einem merkwürdig gummiartigen Gefühl erfüllt wurden. Ihr glitt das Handtuch aus den Fingern und fiel auf ihre Füße. Zugleich legte sich ein weißer Nebel über ihr Denken, löschte es aus. Sie vergaß ihren Namen, ihren Willen, alles bis auf den Drang zu überleben.
»Ach du liebe Güte! Lassen Sie mich das machen.« Die Frau bückte sich, um das Handtuch aufzuheben.
Constance packte zu, drehte den Kopf der Frau zur Seite, als diese sich gerade wieder mit dem Handtuch in der Hand aufrichtete. Es ging so schnell, dass nicht einmal Constance selbst ihren Bewegungen folgen konnte. Die Frau wollte sich ihr entwinden, doch das erregte nur die Jägerin in Constance. Flink wie ein Greifvogel riss sie die Fremde an sich.
Irgendwo tief in dem weißen Dunst empfand Constance blankes Entsetzen, konnte jedoch nichts gegen das tun, was ihr Körper machte.
Sie leckte über die Haut unterhalb des Ohrs der Frau, malte einen Bogen mit der Zunge über den Kiefer und den Hals hinab bis zu der Vertiefung, in der ihr Puls flatterte wie ein ängstlicher Vogel. Die parfümierte Creme schmeckte eklig, aber darunter lag warmer, salziger, köstlicher Mensch. Der Geschmack neckte Constances Zunge wie sonst noch nie etwas. Wie viel besser das war als Wein! Besser noch als kühles Wasser an einem heißen, staubigen Tag. Es war das Leben selbst, dunkel und erdig.
Ein seltsamer, fast schmerzhafter Druck in ihren Kiefernhöhlen verriet Constance, dass ihre Reißzähne dringend ihr Gift freigeben wollten – aber da kam nichts. Es wartete kein Gift, das Ekstase hätte schenken können, denn Constance war ja keine vollständige Vampirin. Noch nicht.
Die Frau wimmerte, starr und gefügig zugleich vor Angst. Sie hob eine Hand zu Constances Haar, doch ihr Kampf um Freiheit war nichts weiter als eine flehende Umarmung.
Der Totentanz.
Constance fühlte, wie der Puls ihrer Mahlzeit unter ihren Lippen schneller und fester wurde, was die klaffende Finsternis in ihr umso begieriger machte. Diese eine Frau konnte die Leere nicht füllen. Es müssten andere folgen.
Die Frau weinte. »Bitte, bitte, bitte!«, flehte sie ein ums andere Mal mit der Stimme eines verängstigten Kindes.
Heilige Mutter Gottes, was tue ich?
Irgendwann waren sie auf den kalten Boden gesunken, dessen sechseckige Fliesen ein schwindelerregendes Schwarz-Weiß-Muster bildeten. Constance schloss die Augen. Sie wollte sich übergeben, würgen, sich wegreißen, doch sie hielt sich an ihrem Opfer fest. Der Überlebensinstinkt hatte die Macht, und ihr Körper tat, was er musste, egal, wie laut ihr Geist widersprach.
Ihre Zähne pressten sich in den Hals der Frau, drückten sich in deren Haut, doch Constance wagte nicht, sie zu durchbohren. Sie wollte der Fremden keine Schmerzen bereiten. Oder die helle Haut einreißen. Auf eine absonderliche Weise war es ihr wichtig, es sauber anzustellen, als würde es dadurch richtiger.
Die Frau weinte, ihre Hand kraftlos auf den grellen Fliesen, geradezu elegant in ihrer Niederlage.
Constance begann ebenfalls zu weinen, hatte sie doch kein bisschen weniger Angst als ihr Opfer.
Ich kann es nicht aufhalten. Ich schaffe es nicht!
Die Frau wand sich und stemmte sich unerwartet gegen Constances Umschlingung. Da biss sie zu wie ein Raubtier, das die Zähne in seine zappelnde Beute rammte. Blut spritzte grellrot auf die hellen Bodenfliesen.
Heilige Maria! Das Blut schoss ihr in einem überraschend heißen Schwall in den Mund.
Constance erschauderte, und ihr Körper stand kurz vor der Ohnmacht, als Jahrhunderte der Enthaltsamkeit endeten. Sie war am Verhungern gewesen und hatte es gar nicht gewusst.
Sie hörte, dass die Tür geöffnet wurde, fühlte den Schrecken der Eindringenden fast körperlich. Der Schrei schnitt buchstäblich durch sie hindurch und brachte sie dazu, ihren Kopf zu heben. Knurrend bleckte sie die Zähne, ihre Beute neidisch verteidigend.
»Vampir!«, kreischte die Frau, kurz bevor sie wegstolperte.
Ich habe es getan. Jetzt bin ich ein richtiger Vampir.
Eisige Furcht – vor sich selbst, vor den Menschen, die sie jagen würden – trieb Constance an aufzustehen.