Die tödlichen Schüsse drüben auf dem Kap von Helen Scofield

Sam Cotton schien tief in Gedanken zu sein. Und ihm schien unangenehm warm zu sein in seinem korrekten blauen Anzug und den blankpolierten schwarzen Schuhen, denen der Sand gar nicht gut tat. Es war an diesem Septembernachmittag draußen in Flat Point Bar ungewöhnlich warm, und in St. Hilaire, diesem kleinen Küstendorf in Maine, ungefähr hundert Kilometer nördlich von Bar Harbor, war man sich einig, daß die Temperatur noch vor dem Abend auf dreißig Grad ansteigen würde.

Cotton schob einen Finger unter seinen Kragen, tupfte sich dann den kahlen Scheitel mit einem Taschentuch. Er war auf dem Weg zum Ende der Landzunge, auch »das Kap« genannt, um sich das grün-weiße Hummerboot, das im Kanal vor Anker lag, genauer ansehen zu können. Als er seine Musterung abgeschlossen hatte, kehrte er zum anderen Ende dieser kleinen Halbinsel zurück, die spitz in den Atlantik vorstößt. Dort machte er neben seinem Wagen unterhalb eines bescheidenen weißen Häuschens halt, das auf die Landzunge und das Wasser hinunterblickt. Ab und zu winkte er einem Fischer zu, der in seinem Boot an Land zurückkehrte, aber er sprach mit niemandem. Der ganze Rundgang, die Zeit, die er mit der Betrachtung des Bootes und des Hauses verbrachte, eingeschlossen, nahm vielleicht zwanzig Minuten in Anspruch.

Strafverteidiger Sam Cotton, siebenundfünfzig Jahre alt, ist seit nahezu dreißig Jahren in Ost-Maine als Anwalt für Strafsachen tätig. Aber sein derzeitiger Fall, der am Landgericht in Machias anhängig ist, wird vielleicht sein schwierigster werden. Er ist zweifellos der berühmteste.

Wenn die Leute hier von ihm sprechen, sagen sie »diese furchtbare Geschichte drüben in Julias Haus«, oder »diese schreckliche Geschichte mit Mary Amesbury«, oder »die Schießerei drüben auf dem Kap«. Sam Cotton muß beweisen, daß seine Mandantin, eine sechsundzwanzigjährige Frau, die angeklagt ist, im vergangenen Januar in dem kleinen weißen Haus, das Cotton sich so eingehend angesehen hat, ihren Mann ermordet zu haben, unschuldig ist. Und ihm bleibt nicht viel Zeit. Schon in der nächsten Woche, bei Beendigung des zweiten Prozesses gegen eine Frau, die unter den Namen Maureen English und Mary Amesbury bekannt ist, wird das Urteil des Richters Joseph Geary erwartet.

Nach Cottons Darstellung sind die nackten Tatsachen des Falls folgende:

Nach zwei Jahren der Mißhandlung durch ihren unberechenbaren, alkoholabhängigen Ehemann – darunter wiederholte Vergewaltigung und Gewaltanwendung selbst während ihrer Schwangerschaft – floh Maureen English zusammen mit ihrer knapp sieben Monate alten Tochter Caroline am 3. Dezember vergangenen Jahres aus ihrer Wohnung in New York und fuhr mit dem Auto mehr als achthundert Kilometer weit nach Norden, um in dem kleinen Fischerdorf St. Hilaire Zuflucht zu suchen. Dort mietete sie unter dem Namen Mary Amesbury das kleine weiße Haus in Flat Point Bar, um dort in aller Zurückgezogenheit für ihre kleine Tochter zu sorgen und sich von ihren körperlichen und seelischen Verletzungen zu erholen.

In den frühen Morgenstunden des 15. Januar, nachdem sie sechs Wochen lang in Verborgenheit gelebt hatte, wurde Mary Amesbury vom plötzlichen Erscheinen ihres Mannes in ihrem Schlafzimmer überrascht und erschreckt. Harrold English, einunddreißig Jahre alt, angesehener Journalist bei dieser Zeitschrift, war nach Maine gekommen, um seine Frau zur Rede zu stellen. Den Hinweis auf ihren Aufenthaltsort hatte er von einem Arzt bekommen, den Mary Amesbury aufgesucht hatte.

Irgendwann in diesen frühen Morgenstunden griff English seine Frau mit einem scharfen Gegenstand an, vergewaltigte sie und versetzte ihr einen so brutalen Schlag auf den Kopf, daß sie das Bewußtsein verlor.

Mary Amesbury, die ihr Leben in Gefahr sah, wartete, bis ihr Mann, der stetig trank, völlig berauscht eingeschlafen war, und machte sich dann auf den Weg zum Ende des Kaps. Von dort ruderte sie zu einem grün-weißen Hummerkutter hinaus, der im Kanal vor Anker lag, und nahm die Pistole an sich, die, wie sie wußte, auf dem Boot verwahrt wurde. Danach kehrte sie zum Haus zurück und tötete ihren Mann in ihrer Angst, daß er sie umbringen würde, sobald er zu sich käme, mit zwei Schüssen, von denen einer die Schulter traf, der andere die Brust.

Cotton behauptet, sie habe in Notwehr gehandelt. Mary Amesbury behauptet das gleiche. »Ich mußte es tun«, sagt sie. »Ich hatte keine Wahl.«

Beim ersten Prozeß im vergangenen Juni hatten sich die Geschworenen nicht auf einen Spruch einigen können. Sieben von ihnen sprachen sich für einen Freispruch aus, fünf für einen Schuldspruch. Cotton beantragte sofort die Einstellung des Verfahrens. D. W. Pickering jedoch, der Staatsanwalt, forderte einen neuen Prozeßtermin im September. Völlig überraschend gab Cotton Anfang Juli bekannt, daß seine Mandantin auf ihr Recht auf einen Geschworenenprozeß verzichte. Cotton hat keinen Kommentar zu dieser Strategie gegeben, aus gutunterrichteten Kreisen wird jedoch angedeutet, der Grund sei Richter Gearys Ruf, weiblichen Angeklagten gegenüber Milde walten zu lassen.

Im Verlauf der beiden Prozesse präsentierte Cotton seine Mandantin als eine moderne Hester Prynne, die uns als Heldin des Romans von Nathaniel Hawthorne »Der scharlachrote Buchstabe« bekannt ist. Beide, sagte Cotton, seien Frauen, denen Unrecht getan worden ist, romantische Gestalten, die in stiller Zurückgezogenheit am Meer lebten und denen das Wohl ihrer Töchter über alles ging. Beide Frauen seien von der Gesellschaft ausgestoßen und durch ihre Liebe dazu verurteilt worden, auf der Brust den scharlachroten Buchstaben ›A‹ zu tragen, das Stigma ihrer Schande. Nun stehe im Fall Amesbury dieses Stigma nicht für Ehebruch, sondern für »geschlagene Frau«.

Aus Mary Amesburys eigenen Berichten allerdings gewinnt man den Eindruck, daß sie denn doch eine etwas komplexere Persönlichkeit ist, als einzig eine Frau, der Unrecht getan worden ist. Und ihre Geschichte wirft manche Frage auf, auf die sie eine befriedigende Antwort schuldig bleibt.

Um von ihrem Mann nicht gefunden zu werden, nahm Maureen English bei ihrer Ankunft in St. Hilaire den Namen Mary Amesbury an. In beiden Verhandlungen lehnte sie es ab, Fragen zu beantworten, wenn sie als Maureen English angesprochen wurde. Der Staatsanwalt löste das Problem, indem er sie »Mrs. English beziehungsweise Mary Amesbury« nannte. Cotton vermied es geschickt, überhaupt einen Namen zu nennen, wenn er das Wort an sie richtete.

Ich habe diesen Sommer im Verlauf von sieben Wochen eine Reihe von Exklusivinterviews mit Mrs. English geführt, während sie auf ihren zweiten Prozeß wartete. Trotz aller Spannung und Ängste, die sie unverkennbar plagten, war Mrs. English häufig durchaus gesprächig. Sie war manchmal traurig und gelegentlich zornig, aber sie war immer freimütig, schien manchmal sogar den Aussagen, die sie vor Gericht abgegeben hatte, zu widersprechen. Eines dieser Interviews wurde persönlich geführt, die übrigen schriftlich.

Da in Machias eine angemessene Unterbringung weiblicher Strafgefangener über längere Zeit nicht möglich ist, wurde Mrs. English ins Staatsgefängnis in South Windham überstellt. Als sie mir dort im Besuchsraum gegenübersaß, wirkte sie älter als sechsundzwanzig. Sie war sehr blaß, mit Falten um die Augen und auf der Stirn. Das rote Haar, mit das Auffallendste an ihr, hatte man ihr kurz geschnitten, und oberhalb des linken Auges war es von einer dünnen grauen Strähne durchzogen. Ihr Körper unter dem grauen Anstaltsanzug war angespannt und verkrampft. Beim Sprechen zwirbelte sie oft nervös eine Haarsträhne zwischen ihren Fingern. Leute, die Maureen English noch vor weniger als einem Jahr gesehen haben, meinen, sie sei kaum wiederzuerkennen.

Ich war Mrs. English vor unserem Gespräch im Gefängnis nur einmal begegnet – bei einem Fest in den Redaktionsräumen dieser Zeitschrift in Manhattan. Sie war früher einmal bei der Zeitschrift tätig gewesen, hatte aber vor Beginn meiner Mitarbeit aufgehört. Auf dem Fest trug sie ein schwarzes Samtkleid und machte ihre ehemaligen Kollegen strahlend mit ihrem kleinen Töchterchen Caroline bekannt. Auf mich wirkte sie an diesem Abend wie eine glückliche Frau, gut situiert und glücklich verheiratet und durchaus zufrieden damit, die Arbeit ein paar Jahre ruhen zu lassen, um sich ganz der Familie zu widmen. Harrold, ihr Mann, wich kaum einen Moment von ihrer Seite, und immer lag sein Arm um ihre Schultern, liebevoll und schützend, wie es schien. Niemand wäre auf die Idee gekommen, daß er seine Frau zu Hause mißhandelte.

Im Verlauf ihres Berichts erzählte Mrs. English ausführlich von ihrer Kindheit und Jugend. Sie war die außereheliche Tochter eines Soldaten und einer Sekretärin, deren aus Irland eingewanderte Eltern in einem Arbeiterviertel in Chicago lebten. Den größten Teil ihrer Kindheit kümmerten sich fremde Leute um sie, während ihre Mutter arbeitete, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Mutter und Tochter wohnten in einem kleinen Bungalow in einem Vorort namens New Athens, etwas mehr als dreißig Kilometer von Chicago entfernt. Mrs. English scheint zu ihrer Mutter eine enge Beziehung gehabt und sie sehr geachtet zu haben. »Meine Mutter hat oft zu mir gesagt, daß jedem Menschen gewisse Dinge zustoßen, und daß man lernen sollte, diese Dinge zu akzeptieren«, sagte Mrs. English, »aber ich habe auch schon sehr früh begriffen, daß weder meine Mutter noch ich glücklich werden würden, wenn ich nicht das täte, was ich tun mußte. Wenn ich mir nicht vom Leben nähme, was ihr verwehrt worden war – Mann und Kinder, eine intakte Familie.«

1962 wurde Mrs. English, eine begabte Schülerin, an der Universität von Chicago angenommen. Sie studierte Literaturwissenschaft und arbeitete schon bald in der Redaktion der Studentenzeitung mit. Nach Abschluß ihres Studiums schaffte Mrs. English, eine bildschöne junge Frau mit rotem Haar und großen hellbraunen Augen, den Sprung nach New York und wurde im Juni 1967 bei dieser Zeitschrift als Reporterin angestellt. Harrold English lernte sie an ihrem ersten Arbeitstag kennen.

Kollegen und Kolleginnen haben Maureen English als eine Mitarbeiterin in Erinnerung, die äußerst gewissenhaft war und ihr Handwerk schnell erlernte. Obwohl sie allgemein beliebt war, blieb sie eine Einzelgängerin. Mit Ausnahme ihrer Beziehung zu Harrold English, schloß sie bei der Zeitschrift keine festen Freundschaften von Dauer. Dennoch wurde sie beinahe in Rekordzeit befördert und in die Abteilung Inlandsnachrichten versetzt.

»Sie war schnell«, berichtet ein ehemaliger Redakteur, der eng mit ihr zusammengearbeitet hat. »Man brauchte Maureen English nur einen Auftrag zu geben und hatte bis zum Abend garantiert eine Story auf dem Tisch, die Hand und Fuß hatte.«

Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft fühlten sich Maureen und Harrold offenbar auf den ersten Blick zueinander hingezogen. Harrold stammte aus einer wohlhabenden Textil-Dynastie in Rhode Island und hatte in Yale studiert. Er war ein großgewachsener, gutgebauter, dunkeläugiger junger Mann, der dank seinem guten Aussehen und seinem Erfolg als Journalist bei seinen Kolleginnen sehr begehrt war. Bevor er nach New York kam, war er beim Boston Globe gewesen. Er zeichnete sich als Inlandsund Auslandsreporter aus und erhielt 1966 die Page One Award für seine Reportage über die Rassenunruhen in Watts. »Er hat einige großartige Reportagen für uns gemacht«, sagt Jeffrey Kaplan, zeitweise Chefredakteur des Magazins. »Er war ein hervorragender Reporter und sehr aggressiv. Sein Schreibstil war sauber und geradlinig. Er war ein hochintelligenter Mann.«

Die beiden kamen einander sehr schnell näher und galten als das »ideale Paar«, zwei junge aufstrebende Journalisten, heftig ineinander verliebt. Maureen zufolge hat Harrold ihr Geschenke gemacht, ihr bei Reportagen hilfreiche Tips gegeben und sie beträchtlich in ihrer Karriere gefördert.

»Ich habe ihn geliebt«, sagte sie. »Auch an dem Tag noch, an dem ich ging.«

Die Leute, die mit den beiden zusammengearbeitet haben, erklären, es hätte niemals auch nur das kleinste Anzeichen von Spannungen zwischen Maureen und Harrold gegeben, die praktisch von Anfang an in Harrolds Wohnung auf der Upper West Side zusammenlebten. »Diese Berichte von Spannungen zwischen Maureen und Harrold sind unglaublich«, sagt Jeffrey Kaplan. »Selbst jetzt noch fällt es mir schwer, das alles zu glauben. Man hört ja ab und zu mal von solchen Geschichten, aber da geht es doch immer um irgendeine arme Seele mit sechs Kindern und einem trunksüchtigen Ehemann. Nie, wirklich niemals, hört man Derartiges von Leuten wie Maureen und Harrold.«

Und doch waren Alkohol und Prügel, wie Mrs. English versichert, der Stoff, aus dem ihre Ehe gemacht war. Gewalt gab es schon vor der Ehe, sagte sie. Zur ersten gewalttätigen Szene kam es eines Abends, als sie es ablehnte, mit Harrold zu schlafen und er daraufhin wütend wurde. Er hatte ihrer Aussage nach sehr viel getrunken. Das entwikkelte sich mit der Zeit zu einem Muster: Exzessiver Alkoholgenuß löste bei ihrem Mann häufig heftige Stimmungsumschwünge aus. An diesem Abend fiel er in der Küche über sie her und »vergewaltigte« sie, wie sie berichtete.

Später, berichtete sie weiter, zwang Harrold sie häufig gegen ihren Willen zum Geschlechtsverkehr und schlug sie – immer an solchen Stellen, wo die Flecken später nicht zu sehen sein würden.

»Ich glaube, er meinte, wenn man die blauen Flecken nicht sähe, wäre auch nichts passiert«, sagte Mrs. English.

Sie berichtete ferner, daß ihr Mann sie auch während ihrer Schwangerschaft vergewaltigt und geprügelt habe. »Ich weiß nicht, was ihn an dieser Schwangerschaft so in Wut gebracht hat«, sagte sie. »Vielleicht hatte es damit zu tun, daß hier etwas mit mir vorging, das seiner Kontrolle entzogen war. Er schien mir immer am glücklichsten zu sein, wenn er mich ganz unter Kontrolle hatte.«

Seltsamerweise jedoch bezeichnete Mrs. English sich selbst manchmal als »Komplizin« und ließ etwas von sadomasochistischen Sexspielen zwischen ihr und ihrem Mann durchblicken, die möglicherweise ernster wurden, als sie vorausgesehen hatte. »Ich habe mitgemacht«, sagte sie und sprach von »seidenen Fesseln«, mit denen sie bei ihrem ersten Zusammensein ans Bett gebunden wurde. Irgendwann nach einer besonders brutalen Szene, die Mrs. English später als »Vergewaltigung« sah, ertappte sie sich bei der Frage, ob denn das, was an diesem Abend geschehen war, wirklich so anders war als alles vorangegangene.

An anderen Stellen ihres Berichts meinte sie, sie sei bei dem nicht endenden Drama heimlicher Gewalt, das ihre Ehe im wesentlichen gewesen sei, »passive Mitspielerin« gewesen.

Aus ihren Berichten trat Mrs. English mir als ausgesprochen leidenschaftliche Frau entgegen. Hinter der Fassade von Zurückhaltung, Zufriedenheit und Arbeitseifer, die sie ihren Arbeitskollegen präsentierte, verbirgt sich eine Frau, die, um sich selbst in Beziehung zu ihrem Mann zu beschreiben, Ausdrücke wie »ausgehungert«, »verloren« und »brennend vor Verlangen« verwendet. »Ich war wie ein Kreisel, den jemand heftig angetrieben und dann unbeachtet zurückgelassen hatte«, sagte sie in bezug auf ihr erstes Zusammensein mit ihrem Mann. Sie sprach davon, von einem »erotischen Fieber« gepackt gewesen zu sein, völlig »verstrickt« in die Beziehung zu ihrem Mann, einen »geheimen Pakt« mit ihm geschlossen zu haben. Beispielsweise schilderte sie im Detail eine Nacht unkonventioneller sexueller Praktiken, ohne auch nur anzudeuten, daß ihr das irgendwie unangenehm gewesen sei. Im Gegenteil, sie ließ durchblicken, sie habe es genossen. Diesen Enthüllungen ist zu entnehmen, daß vielleicht ihre eigene leidenschaftliche Natur zu der ungewöhnlichen Beziehung beigetragen hat.

Diese Ambivalenz in bezug auf Gewalt, wie sie im Haus der Englishs praktiziert wurde, ist für ein moralisches und juristisches Urteil über den Mord von entscheidender Bedeutung.

Einer der Prozeßzeugen, Willis Beale, ein Hummerfischer und trotz seines jugendlichen Alters von siebenundzwanzig Jahren ein »alter Hase«, sieht die Frage, wo denn nun häusliche Gewalt anfängt, aus einem anderen Blickwinkel. »Ich will ja nicht behaupten, daß sie lügt, aber wir hatten schließlich immer nur ihr Wort«, sagt Beale, der sich offenbar sehr um Mrs. English bemüht hat, solange sie in St. Hilaire lebte. Täglich ließ er seine Arbeit im sogenannten Fischhaus, wo er seine Hummerkörbe flickte, eine Zeitlang im Stich, um sie in ihrem Haus aufzusuchen und sich zu vergewissern, daß es ihr gut ging. »Bei den meisten Ehepaaren kommt’s irgendwann mal zu Handgreiflichkeiten. Das braucht nichts Ernstes zu sein. Nur eine Ohrfeige oder so was. Es gehören immer zwei dazu, stimmt’s? Ich will damit nur sagen, woher wollen wir wissen, wie es wirklich war?«

Das Ausmaß der häuslichen Kämpfe zwischen Harrold und Maureen English wirft beunruhigende ethische Fragen auf – zumal an dem von ihr vorgebrachten Tatmotiv doch gewisse leise Zweifel aufkommen müssen. Ein noch schwerwiegenderes juristisches Problem jedoch ergibt sich aus Mrs. Englishs Behauptung, in ihrer Ehe seien Alkoholmißbrauch und körperliche Gewalt an der Tagesordnung gewesen: Bisher nämlich gibt es nicht den geringsten Beweis für die Wahrheit dieser Behauptung.

Niemand kann Mrs. Englishs Aussagen bei beiden Prozessen, daß ihr Mann wiederholt gewalttätig geworden ist, bestätigen. Mrs. English behauptet heute zwar, ihr Mann habe sie mindestens dreimal brutal verprügelt und sie im Lauf ihrer Ehe immer wieder geschlagen, aber sie scheint zum Zeitpunkt der Taten niemandem davon berichtet zu haben. Es gibt keine Zeugen.

Bei der Redaktionsfeier, die das Paar gemeinsam besuchte, fiel keinem der Anwesenden auch nur die geringste Unstimmigkeit zwischen den Partnern auf. Zweifellos ist es möglich, daß Mrs. English die Spuren körperlicher Mißhandlung trug, anzusehen war ihr jedenfalls nichts. Sie verließ das Fest zeitig mit der Entschuldigung, daß sie ihr kleines Kind zu Bett bringen müsse. Heute behauptet sie, ihr Mann habe sie gezwungen zu gehen, weil er sie im Gespräch mit einem anderen Mann gesehen habe. Er habe sie nach seiner Rückkehr von dem Fest brutal verprügelt. Das, sagt sie, habe sie zur Flucht getrieben. »Ich habe um den Tod meines Mannes gebetet«, sagte sie.

Aber wenn die Situation wirklich so schlimm war, wie Mrs. English heute vorgibt, warum hat sie sich dann nicht an die Polizei gewendet? Staatsanwalt Pickering sprach bei beiden Verhandlungen eine ähnliche Frage an. »Wenn diese Behauptungen, ständig körperlicher Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein, zutreffen, warum hat Maureen English dann ihren Mann nicht schon viel früher verlassen, als die Mißhandlungen begannen?«

Bei ihrer Ankunft in St. Hilaire erklärte Mrs. English den Leuten im Dorf, ihre Verletzungen seien Folgen eines Autounfalls. Sie gab ferner vor, aus Syracuse zu kommen, obwohl das nicht stimmte. Und selbst nachdem sie schließlich über die Gewalttätigkeit ihres Mann berichtet hatte, lehnte sie es ab, sich an die Polizei zu wenden.

Auch Mrs. Englishs Behauptung, ihr Mann habe während der Ehe schwer getrunken, wurde in Zweifel gezogen. Chefredakteur Kaplan sagte: »Harrold war kein Alkoholiker. Er hat nicht mehr und nicht weniger getrunken als wir alle. Einen Martini zum Lunch, vielleicht zwei bei einem besonderen Anlaß. Aber das war auch alles.«

Ganz gleich, was sich tatsächlich zwischen Harrold English und seiner Frau abspielte, es gibt gewisse Beweise dafür, daß sich nicht lange nach der Heirat Spannungen entwickelten. Jede Reise, die sie aufgrund ihrer Tätigkeit unternehmen mußte, sei ihrem Mann Anlaß zu krankhafter Eifersucht gewesen, erklärte Mrs. English. Wie die meisten Inlandsreporter war sie häufig mit anderen Reportern und Fotografen unterwegs. Zwar hatte sie stets ein eigenes Zimmer, sie räumt aber ein, daß man im Team sehr locker miteinander umging, und auch die männlichen Kollegen sie oft in ihrem Hotelzimmer aufsuchten. Harrold English fand dieses vertraute Miteinander unerträglich und schlug sie, ihrer Aussage zufolge, einmal brutal zusammen, als sie von so einer Reise zurückkam. Danach mußte sie ihren Vorgesetzten vormachen, sie wäre leicht reisekrank und könne deshalb in Zukunft nicht mehr mit dem Flugzeug oder Auto reisen. Sie mußte ihre Tätigkeit als Reporterin aufgeben und wurde als Bearbeiterin von Artikeln eingesetzt, die andere Leute geschrieben hatten. Das war praktisch das Ende einer vielversprechenden Karriere.

Mrs. English sagte, sie habe in dieser Zeit eine Psychiaterin aufgesucht und sogar an Selbstmord gedacht. Es ist möglich, daß ihre Hoffnungslosigkeit durch die Schwangerschaft einen Tiefpunkt erreichte. Sie gab ihre Arbeit bei der Zeitschrift ungewöhnlich früh in ihrer Schwangerschaft auf und verließ danach nur noch selten ihre Wohnung. Einmal floh sie zu ihrer Mutter.

Es mag sein, daß auch der Alkohol dazu beitrug, daß sie immer mehr den Boden unter den Füßen verlor. Sie und ihr Mann hätten beide in dieser Zeit exzessiv getrunken, sagte Mrs. English. »Wir tranken zum Ertrinken«, erklärte sie. Sie tranken in Bars und dann weiter Zuhause. Auffällig ist, daß Mrs. English auch während ihres Aufenthalts in Maine trank. Sie gibt selbst zu, daß in ihrem Kühlschrank in dem Haus in Flat Point Bar immer Bier stand, und sie bot Willis Beale fast jedesmal zu trinken an, wenn er sie besuchte. Auch nach ihrer Ankunft in St. Hilaire scheint Mrs. Englishs seelische Verfassung sehr labil gewesen zu sein. Einmal, lang bevor ihr Mann sie tatsächlich fand, hatte sie ihrem Bericht zufolge Halluzinationen und glaubte, ihren Mann im Haus zu hören. Bei einem Gemeindefest – einem großen Weihnachtsfeuer, das am Heiligen Abend im Gemeindepark angezündet worden war – wurde sie, offenbar von Angst überwältigt, ohnmächtig.

Zweifellos stand Mrs. English während ihres Aufenthalts in St. Hilaire unter starker seelischer Belastung. Sie war mit ihrem kleinen Kind mehr als achthundert Kilometer mit dem Auto gefahren, in eine Gegend, die ihr völlig fremd war. Bei ihrer Ankunft herrschte dort klirrende Kälte. Sie selbst und ihr Kind waren bei schwacher Gesundheit. Sie lebte von dem Geld, das sie ihrem Mann in der Nacht ihrer Flucht aus der Brieftasche genommen hatte. Sie war seit nahezu einem Jahr nicht mehr beruflich tätig und hatte in Maine kaum Aussichten auf eine adäquate Beschäftigung. Sie reiste unter falschem Namen, sie gab falsche Auskünfte über ihre Herkunft, sie erzählte den Leuten, mit denen sie zu tun hatte, unterschiedliche Geschichten. Sie versuchte, ein neues Leben anzufangen – als Mary Amesbury.

Everett Shedds Gemischtwarenladen in St. Hilaire war immer schon der allgemeine Treffpunkt. Dieser Tage jedoch herrscht dort Hochbetrieb. Jeden Tag nach dem »Gezerre drüben in Machias« kommen die Dorfbewohner in dem kleinen Laden zusammen, der vollgestopft ist mit Lebensmitteln, Gegenständen des täglichen Gebrauchs, Fischereizubehör und gekühltem Bier, um über den Prozeßverlauf zu diskutieren. Sie stellen Mutmaßungen darüber an, wer an diesem Tag den Gerichtssaal als Sieger verlassen hat, und geben ihre Kommentare darüber ab, wie Mary Amesbury im Zeugenstand gewirkt hat.

Auf den ersten Blick ist St. Hilaire ein typisches Fischerdorf Neu-Englands – malerisch und verschlafen. Es gibt den charakteristischen weißen Kirchturm, den Gemeindepark, die alten Kolonialhäuser, den kleinen Hafen, in dem Flut und Ebbe kommen und gehen. Aber wenn man genauer hinsieht, entdeckt man, daß das Leben in St. Hilaire nicht so simpel ist, wie es zu sein scheint. Shedd, der ein Glasauge hat, einen derben Dialekt spricht und neben seinem Laden das Amt des Dorfpolizisten versieht, weiß zu erzählen, daß der kleine Ort schon einmal bessere Zeiten gesehen hat.

»Vor hundertfünfzig Jahren hat hier der Schiffbau geblüht, aber jetzt ist das Dorf wirtschaftlich auf dem Hund«, sagt er. »Die meisten Häuser stehen leer, und die jungen Leute gehen weg, sobald sie aus der High-School kommen, weil sie hier keine Chance sehen.«

Das Hauptgeschäft dieser und anderer Orte an diesem Küstenstrich bildet der Verkauf von Hummern und Muscheln, die die Männer hier aus dem Meer holen. Ein Stück landeinwärts verdienen sich einige Familien mit dem Betrieb von Heidelbeerplantagen einen mageren Lebensunterhalt, aber überall spürt man, daß die Menschen hier mit harten Zeiten zu kämpfen haben. Die Häuser sind zwar reizvoll, aber der Anschein von Wohlhabenheit fehlt ihnen. Kleine pinkfarbene und hellblaue Wohnwagen, viele alt und rostig, verunstalten die Landschaft. In diesem Ort, sagt Shedd, leiden die Frauen in den Wintermonaten häufig an Schwermut, ist Inzucht infolge der isolierten Lage keine Seltenheit (Shedd zufolge gibt es im Dorf eine Frau mit drei Brüsten, und immer wieder fällt dem Besucher ein offenbar allgegenwärtiges Familienmerkmal bei den Dorfbewohnern auf – eine Lücke zwischen den vorderen Schneidezähnen), kommt es gelegentlich vor, daß ein Hummerfischer über Bord gerissen wird und ertrinkt, herrschen Arbeitslosigkeit und Alkoholismus. Es ist ein Ort vergeblichen Bemühens und gescheiterter Hoffnungen.

»Sie brauchen bloß die Touristenprospekte zu lesen«, sagt Shedd. »Über St. Hilaire steht fast nichts drin. Hier gibt’s nichts, was der Erwähnung wert wäre.«

In diesem kalten und unwirtlichen Dorf am Meer traf Mrs. English am Abend des 3. Dezember ein. Sie blieb eine Nacht im Gateway Motel, gleich nördlich vom Ort, und mietete dann von Julia Strout, einer Witwe, die im Dorf großes Ansehen genießt, ein kleines Ferienhaus in Flat Point Bar. Dort führte sie ihren eigenen Worten zufolge ein ruhiges, zurückgezogenes Leben im Stil einer Hester Prynne, begann sogar, ganz wie Hawthornes Heldin, sich mit Handarbeiten zu beschäftigen. »Ich habe das Haus und mein Leben dort geliebt«, sagte sie. »Ich habe gelesen, gestrickt, lange Spaziergänge gemacht und mich um mein Kind gekümmert. Es war ein einfaches und gutes Leben.«

Dieses Vorbringen stiller Häuslichkeit hätte ihr vielleicht bei ihren beiden Prozessen mehr geholfen, gäbe es da nicht ein kritisches Detail, das in den Augen mancher in scharfem Gegensatz zu ihrer Behauptung steht.

Kaum einen Monat nach ihrer Ankunft in St. Hilaire begann Mrs. English eine Liebesbeziehung zu einem Fischer aus dem Dorf, einem verheirateten Mann mit zwei Kindern. Dieser Mann, Jack Strout, dreiundvierzig Jahre alt (ein Vetter von Julia Strouts verstorbenem Ehemann), war an dem Morgen bei ihr, als sie Harrold English erschoß.

»Ich hab schon am Heiligen Abend gemerkt, daß zwischen Jack Strout und Mary was war«, sagt Beale. »Und eines kann ich Ihnen sagen: Jack ist bestimmt nicht derjenige, der den ersten Schritt gemacht hat. Er war seiner Frau vorher, bevor er Mary kennengelernt hat, immer treu. Ich hab Mary immer gemocht, aber im Nachhinein muß ich schon sagen – die hat nichts anbrennen lassen.«

Strout ist ein hochgewachsener, schlanker Mann mit hellbraunem lockigen Haar. Seine Tochter Emily, fünfzehn, lebt noch Zuhause, sein Sohn John, neunzehn, studiert an der Northeastern Universität. Strout selbst studierte eine Zeitlang an der Universität von Maine und wollte eine Dozentenlaufbahn einschlagen. Doch nach seinem zweiten Jahr erlitt sein Vater einen schweren Unfall, der den jungen Jack zwang, nach Hause zurückzukehren und das Geschäft des Vaters zu übernehmen. Strout war zu einem Interview für diesen Bericht nicht bereit, er scheint jedoch in St. Hilaire gutangesehen zu sein. Sein grün-weißes Hummerboot liegt seit Jahren in dem Kanal von Flat Point Bar.

Mrs. English begegnete ihrer Darstellung zufolge Strout eines Abends, als sie auf der Landzunge einen Spaziergang machte. Wenig später wurde sie seine Geliebte. Sie hat die Beziehung in ihrer schriftlichen Darlegung recht anschaulich geschildert. Strout pflegte morgens vor Tagesanbruch zu ihr zu kommen und zu bleiben, bis er mit seinem Boot hinausfuhr. Sie sagte, ihre Beziehung sei etwas ganz »Natürliches« gewesen, sie hätten einander gebraucht.

Anfangs waren die beiden anscheinend diskret, aber Beale, der häufig draußen auf dem Kap war, um seine Reusen zu flicken, erinnert sich, sie zusammen gesehen zu haben.

»Ich hab sie an einem Sonntag mit Jacks Boot zurückkommen sehen«, berichtet er, »und ich hab sie zusammen vor ihrer Haustür gesehen. Da sind sie sehr vertraut miteinander umgegangen.«

Diskretion war wichtig wegen Strouts Frau, Rebecca. Sie litt an schweren Depressionen, die offenbar kurz nach der Geburt ihres ersten Kindes das erstemal auftraten. Strout hatte Angst davor, wie seine Frau reagieren würde, wenn ihr etwas von der Affäre zu Ohren käme.

Dennoch begleitete Strout am Montag vor der Schießerei Mrs. English zu einer Klinik in Machias, als ihre kleine Tochter plötzlich hohes Fieber bekam. Nach diesem Besuch telefonierte der Arzt mit dem Kinderarzt des Kindes, der seinerseits Harrold English über den Aufenthaltsort seiner Frau unterrichtete. An eben diesem Montag beobachtete Beale Strout an Mrs. Englishs Haustür in »vertrautem Umgang« mit seiner Geliebten.

Mrs. English zufolge war ihr und Strout klar, daß ihre allmorgendlichen Schäferstündchen gezählt waren. Strout wollte schon bald sein Boot an Land bringen, und dann würde er keinen Grund mehr haben, sein Zuhause vor Tagesanbruch zu verlassen. Beiden war diese Aussicht eine Qual. In ihren Berichten an mich erklärte Mrs. English, sie habe gewußt, daß Strout das letztemal am Freitag, den 15. Januar zu ihr kommen können würde – an dem Morgen, an dem sie ihren Mann erschoß.

Nicht nur wirft diese Liebesaffäre ein zweifelhaftes Licht auf Mrs. Englishs Charakter, sie ist von entscheidender Bedeutung, da Staatsanwalt Pickering behauptet, nicht Notwehr, sondern Mrs. Englishs Beziehung zu Jack Strout sei das wahre Motiv für den Mord an ihrem Ehemann gewesen.

D. W. Pickering, zweiunddreißig Jahre alt, der nach einem Jurastudium an der Columbia Universität vor zwei Jahren nach Washington County hoch oben im Norden kam, um sich dort als Anwalt niederzulassen, bietet vor Gericht einen beeindruckenden Kontrast zu seinem wesentlich älteren Gegenspieler, Sam Cotton. Pickering, der sich mit seiner imposanten Größe, seiner Donnerstimme und seinem Hang zur Theatralik zumindest einen darstellerischen Vorteil bei den Verhandlungen verschafft hat, wirkt jetzt vor Richter Geary genauso lässig und als sei er durch nichts zu erschüttern, wie zuvor im Angesicht der Geschworenen. Im Gegensatz zu Cotton, der manchmal ins Schwitzen und gelegentlich ins Stottern gerät, scheint Pickering diese ganze Vorstellung gründlich zu genießen. Und nichts hat ihn vielleicht so sehr amüsiert wie die Geschichte mit der Gabel.

Mrs. English sagte aus, in den frühen Morgenstunden des Freitags, 15. Januar, habe ihr Mann sie mit einem spitzen Gegenstand angegriffen. Beim Kreuzverhör während der ersten Verhandlung stellte sich heraus, daß es sich bei diesem Gegenstand um eine Gabel gehandelt hatte, mit der Harrold English einen Auflauf essen wollte, den er aus dem Kühlschrank geholt hatte.

»Sie wollen allen Ernstes behaupten, Sie hätten Angst gehabt, Ihr Mann würde Sie mit einer Gabel umbringen?« fragte Pickering Mrs. English, die unter Eid stand, mit offenkundiger Ungläubigkeit.

»Ja«, antwortete Mrs. English ihrer Art entsprechend ruhig und direkt.

»Mit derselben Gabel, mit der er gerade den Makkaroniauflauf gegessen hatte?« fragte Pickering und legte noch eine Spur mehr Ungläubigkeit in seinen Ton.

»Er hatte noch nicht angefangen zu essen«, entgegnete sie.

Eine Welle des Gelächters ging durch den Saal.

Beide Seiten riefen danach »Gutachter« in den Zeugenstand, um von ihnen bestätigen zu lassen, daß es möglich, beziehungsweise unmöglich sei, mit einer Gabel einen Menschen zu töten. Mit seiner spöttischen Ungläubigkeit hatte Pickering jedoch erreicht, daß das Hin und Her um die Gabel eher lächerlich wirkte und an Harrold Englishs Absicht zu töten, erhebliche Zweifel aufkamen.

Nicht weniger ungläubig gab Pickering sich, als die Schießerei selbst zur Sprache kam. Wenn Mrs. English in der Tat um ihr Leben gefürchtet habe, erklärte er bei beiden Verhandlungen, hätte sie doch, nachdem ihr Mann eingeschlafen war, zu dem knapp zweihundert Meter entfernten Nachbarhaus an der Straße hinauflaufen können, um entweder Everett Shedd oder die Polizei in Machias anzurufen, Zeit genug habe sie ohne Zweifel gehabt.

Statt dessen aber habe sie den bei Dunkelheit durchaus gefährlichen und schwierigen Weg zur Spitze der Landzunge gewählt und sei von dort aus in einem Ruderboot zu Strouts Hummerkutter hinausgefahren, auf dem sie einmal eine Schußwaffe gesehen hatte. Unterwegs hatte sie tatsächlich einmal ernstliche Schwierigkeiten, als sie in der Schlammzone in eines jener tückischen Schlammlöcher geriet, die von den Einheimischen als »Honigpötte« bezeichnet werden.

Bei ihrer Rückkehr ins Haus hat Harrold English der Aussage von Mrs. English zufolge immer noch geschlafen. Er erwachte erst unmittelbar bevor die Kugel ihn in die Schulter traf. Danach schoß sie noch einmal. Strout, erklärte sie bei Gericht, habe das Haus erst nach den zwei Schüssen betreten.

In seinem Plädoyer im ersten Prozeß gab Pickering zu bedenken: »Mit der ersten Kugel hatte Maureen English ihren Mann offensichtlich verletzt, wenn nicht völlig aktionsunfähig gemacht. Wenn es ihr wirklich um Notwehr gegangen wäre, hätte sie es dabei bewenden lassen können. Aber sie schoß ein zweitesmal. Sie hatte die Absicht, ihren Mann zu töten.«

Nicht um Notwehr habe es sich gehandelt, behauptet Pickering, sondern um vorsätzlichen Mord. Mrs. English liebte jetzt Jack Strout – es war unwahrscheinlich, daß ihr Mann, der achthundert Kilometer gefahren war, um sie zurückzuholen, ohne weiteres einer Trennung oder Scheidung zustimmen würde. Sie glaubte keine Alternative zu haben, als sich ihres Mannes endgültig zu entledigen. Daher der schwierige Marsch durch Nacht und Nebel zu dem Hummerboot. Daher die, wie Pickering es ausdrückte, »kaltblütigen« Schüsse, die zum Tod ihres Mannes führten.

Mrs. English und Jack Strout bestätigten unter Eid, sie seien »befreundet« gewesen, und Strout gab zu, daß er am Morgen des 15. Januars zum Haus hinausgefahren sei, um Mrs. English zu »besuchen«. Auf Pickerings Frage, ob Teil der »Freundschaft« eine sexuelle Beziehung gewesen sei, antwortete die Angeklagte lediglich, zwischen ihr und Strout habe eine Beziehung bestanden.

Beide sagten aus, Strout habe das Haus Sekunden nach den Schüssen betreten.

In ihrem an mich gerichteten schriftlichen Bericht war Mrs. English etwas offener. Sie schreibt, Strout betrat das Haus Sekunden bevor sie zwei Schüsse auf ihren Mann abgab. Selbst wenn man die Verwirrung des Augenblicks berücksichtigt, scheint klar – vorausgesetzt, wir glauben Mrs. Englishs Ausführungen in ihrem schriftlichen Bericht –, daß Strout sich im Haus befand, als sie ihren Mann erschoß. »Ich hob den Arm und zielte«, schreibt sie. »Ich hörte ein Geräusch. Es war Jack. Er kam durch das Zimmer. Ich richtete die Pistole auf Harrolds Herz. Ich drückte ab.«

Shedd, der wenig später im Haus eintraf, ist der Meinung, sie hätten Strouts Anwesenheit im Haus zum Zeitpunkt der Tat vor der Öffentlichkeit bestritten, um sich gegenseitig zu schützen. »Wenn Jack gesagt hätte, er sei im Haus gewesen, als Mary ihren Mann erschoß, hätte von Notwehr keine Rede mehr sein können. Und Mary hat den Zeitpunkt von Jacks Erscheinen verlegt, weil sie ihn nicht in die Sache hineinziehen will.«

Wenn jedoch Strout das Haus tatsächlich betreten hat, bevor Mrs. English schoß, warum hat sie dann überhaupt geschossen? War denn nicht Strouts Anwesenheit Schutz genug? Oder ging es in Wirklichkeit gar nicht um Notwehr, sondern hatte sie, wie Pickering behauptet, einen ganz anderen Grund, den Tod ihres Mannes zu wünschen?

Mrs. English beharrt darauf, aus Notwehr geschossen zu haben. »Wenn Harrold lebte, hätte ich kein eigenes Leben.«

Obwohl Pickering in seinem einleitenden Vortrag behauptete, das Tatmotiv sei in der Liebesbeziehung zu suchen, behandelte er Strout im Zeugenstand weit rücksichtsvoller als Beobachter erwartet hatten. So stellte er beispielsweise Strout in keinem der beiden Verfahren die Frage, ob er sexuelle Beziehungen zu Mrs. English unterhalten habe. In Shedds Laden hat Pickerings Zurückhaltung Strout gegenüber Anlaß zu allerhand Spekulationen gegeben. Die einen meinten, der Staatsanwalt habe Strout nicht härter in die Zange nehmen wollen, weil Mrs. Englishs Aussage, es habe eine »Beziehung« bestanden, aufschlußreich genug sei. Die anderen behaupteten, Pickering habe sich zurückgehalten, weil es nicht nur bei der Öffentlichkeit, sondern auch bei Geschworenen und Richtern schlecht angekommen wäre, wenn er einem bereits schwer von Schuldgefühlen und Kummer gepeinigten Mann hart zugesetzt hätte. Der vielleicht traurigste Aspekt nämlich dieser Geschichte ist der Tod von Strouts Frau Rebecca keine zwölf Stunden nach der Schießerei.

Bei seiner Heimkehr am Morgen des 15. Januar hat Strout seiner Frau offenbar von dem Vorfall in Flat Point Bar erzählt. Ob er ihr auch seine Beziehung zu Mrs. English gestanden hat, ist ungewiß. Aber später am selben Tag, als Everett Shedd Strout nach Machias zur Polizeidienststelle brachte, wo er seine Aussage zu Protokoll geben sollte, fuhr Rebecca mit dem schwarzen Chevrolet Pick-up ihres Mannes zum Kap hinaus.

Mrs. Strout war eine große, magere Frau von dreiundvierzig Jahren. In der High-School war sie einmal zur Schönheitskönigin gewählt worden, in den letzten Jahren jedoch zeigte sie sich, von chronischen Depressionen geplagt, kaum noch in der Öffentlichkeit.

An dem Tag, als sie nach Flat Point Bar hinausfuhr, trug sie einen langen marineblauen Mantel, ein blaues Halstuch und schwarze Gummistiefel. Sie scheint mit dem Ruderboot ihres Mannes zu seinem Kutter hinausgefahren zu sein, der ihren Namen trug. Von dem Kutter aus stürzte sie sich ins Meer.

Ihre Taschen und Stiefel waren mit Kieseln vom Strand gefüllt. Dem Autopsiebefund zufolge ist sie auf der Stelle ertrunken.

Das ganze Dorf suchte die Nacht durch nach ihr. Man fand die Leiche am folgenden Morgen in der Schlammzone von Flat Point Bar – ironischerweise beinahe direkt unterhalb des kleinen weißen Hauses, in dem die Geliebte ihres Mannes am Tag zuvor einen Mord begangen hatte.

»Ich kann es kaum ertragen, an Rebecca zu denken«, sagt Julia Strout. Mrs. Strout hat auf ihren Antrag hin das vorübergehende Sorgerecht für Caroline, die kleine Tochter des Ehepaars English erhalten.

»Ich bin traurig, vor allem der Kinder wegen«, fügt sie hinzu. »John und Emily, Rebeccas Kinder, und jetzt dieses Kleine … Es ist wirklich tragisch.«

Cotton hat während beider Prozesse nicht einen Moment die milde Freundlichkeit verloren, die sein Auftreten kennzeichnet. Cottons Vater war Fischer auf Beals Island – einer Insel südlich von St. Hilaire, die durch einen Damm mit Jonesport verbunden ist. Dort lebt der Anwalt auch heute noch mit seiner Frau und seinen drei Kindern. Er ist in dieser Gegend ein bekannter Mann, hat er doch schon des öfteren einheimische Fischer verteidigt, die Wilderer mit mehr oder weniger gutgezielten Schreckschüssen in die Flucht geschlagen hatten. Es wird gemunkelt, daß er möglicherweise dieses Jahr noch ins Richteramt berufen wird – da ist dieser Prozeß natürlich besonders wichtig für ihn.

Cotton hat zwei Vorteile auf seiner Seite. Einmal ist da die Tatsache, daß die Geschworenen sich nach Mrs. Englishs erstem Prozeß zwar nicht auf einen Spruch einigen konnten, daß aber die Mehrzahl von ihnen auf ihrer Seite standen. Eine der Geschworenen, eine Frau aus Petit Manan, schien für alle die zu sprechen, die für einen Freispruch gewesen waren, als sie am 23. Juni erklärte: »Man mußte dieser Frau einfach glauben.« Obwohl Mrs. English sich im Zeugenstand gelegentlich selbst im Weg stand, hat sie doch immer wieder auch Sympathie erweckt.

Der zweite Vorteil, den Cotton für sich buchen kann, ist die bereits erwähnte Neigung des Richters, Joseph Geary, Frauen gegenüber besondere Milde walten zu lassen. Zwar hat Geary bisher Mrs. English in keiner Weise begünstigt, doch in Shedds Gemischtwarenladen ist man sich allgemein darüber einig, daß Mary Amesbury bei Richter Geary »in guten Händen ist.«

Dennoch machen mehrere entscheidende Aspekte des Falls Cotton schwer zu schaffen, und der bedeutsamste unter ihnen betrifft das Fundament, auf dem die ganze Verteidigung aufbaut. Harrold English schlief, als Mrs. English ihn erschoß, sie kann daher nicht behaupten, ihr Leben sei in unmittelbarer Gefahr gewesen. Vielmehr hat sie ausgesagt, sie sei überzeugt gewesen, ihr Mann würde sie »früher oder später« an diesem Tag töten. Heikel ist auch die Tatsache, daß Mrs. English selbst bestätigt, ihr Mann habe sie zwar an diesem Morgen körperlich mißhandelt, jedoch mit keinem Wort gedroht, sie zu töten. Sie glaubte nur, er würde sie noch an diesem Tag mindestens schwer verletzen, wenn nicht gar töten.

Cotton hat aber noch ein weiteres Problem: Es ist ihm, wie schon erwähnt, bisher nicht gelungen, auch nur einen einzigen Zeugen beizubringen, der bestätigen kann, daß Harrold English seine Frau geschlagen hat. Immerhin jedoch konnte er einige Zeugen aus St. Hilaire präsentieren – Shedd, Julia Strout und Muriel Noyes, die Eigentümerin des Motels, in dem die Angeklagte die erste Nacht in Maine verbrachte –, die berichteten, daß Mrs. Englishs Gesicht bei ihrer Ankunft in St. Hilaire am 3. Dezember voller Blutergüsse und ihre Lippe aufgeplatzt und dick geschwollen war. Allerdings verloren diese Aussagen einiges an Wirkung, als später Beale und Mrs. Strout berichteten, Mrs. English habe ihnen selbst erzählt, diese Verletzungen seien die Folgen eines Autounfalls.

Schließlich scheint Cotton selbst einigermaßen verwirrt über die Liebesbeziehung zwischen seiner Mandantin und Strout. Bei der Verhandlung versuchte er ziemlich zaghaft, diese Klippe irgendwie zu umschiffen, aber das gelang ihm nicht. Cotton ist nicht bereit, sich über seine Verhandlungsstrategie zu äußern, aber aus der Verteidigung nahestehenden Kreisen wird angedeutet, daß er Mrs. English nur mit großem Widerstreben in den Zeugenstand rief, weil er den Schaden fürchtete, der ihr durch die Offenlegung ihrer Beziehung zu Strout erwachsen könnte. Erst als alle Bemühungen, Zeugen der Gewalt im Hause English zu finden, scheiterten, blieb ihm nichts andres übrig, als Mrs. English selbst sprechen zu lassen – und sie so Pickerings routiniertem Kreuzverhör auszusetzen.

Das tragische Ende Rebecca Strouts machte den Fall noch schwieriger für ihn. Es gab zu der Vermutung Anlaß, daß die Beziehung zwischen Mrs. English und Jack Strout nicht nur zur Ermordung Harrold Englishs, sondern auch unmittelbar zum Tod von Strouts Ehefrau führte.

Cotton weiß wahrscheinlich besser als jeder andere, wie kompliziert dieser Fall liegt. Bei einem kurzen telefonischen Interview sagte er lediglich, dies sei »ein äußerst ernster Fall«, es handle sich hier um einen für alle Frauen wichtigen Musterprozeß.

Der Verteidiger wird sich fragen, ob er nicht zuviel riskiert hat, als er Mrs. English riet, auf ihr Recht auf einen Geschworenenprozeß zu verzichten, und ob nicht ihr Auftreten als Zeugin ihm mehr geschadet als genützt hat. Ob sich Cottons gewagte Taktik nun auszahlen wird oder nicht – es gibt viele, die der Ansicht sind, daß es hier um größere Fragen geht, und auch wenn Richter Geary nächste Woche sein Urteil gesprochen hat, werden viele dieser Fragen bleiben:

Wie ist Gewalt in der Ehe zu definieren? Wo ist im Privatbereich des ehelichen Schlafzimmers, wo »Normalität« ein dehnbarer Begriff ist, die Grenze zwischen Sexspielen und Gewalt zu ziehen?

Inwieweit hat Mrs. English tatsächlich die sadomasochistischen Neigungen ihres Mannes gefördert, die sie zugegebenermaßen billigend in Kauf genommen hat? War sie unschuldiges Opfer oder unwillentliche Komplizin?

Wenn Mrs. English aus Notwehr gehandelt hat, wie sie behauptet, warum hat sie dann geschossen, nachdem Strout das Zimmer betreten hatte?

Und schließlich: Hatte sie nicht vielleicht ein ganz anderes Motiv? Trieb wirklich der Wille zu überleben sie zu den Schüssen? Handelte sie in einem Zustand seelischer Labilität? Oder war die Liebesbeziehung zu einem anderen Mann das Tatmotiv?

Cotton trat zu seinem Pontiac, aber bevor er einstieg, sah er noch einmal zum Haus hinauf. Seit Mrs. English am Morgen des 15. Januar abgeführt wurde, steht es leer. Einsam und verlassen steht es von wilden Strandrosen umgeben auf der kleinen Anhöhe. Auf einer Seite liegt ein verwittertes Hummerboot auf dem Sand. Das Wasser war ungewöhnlich glatt, über dem Dach mit den Gauben kreisten die Möwen. Cotton warf einen letzten Blick auf das Haus, als könnte es ihm die Antworten geben, die er suchte.

Aber die kann ihm jetzt nur Mrs. English oder »Mary Amesbury« geben.

Willis Beale hat es vielleicht am besten ausgedrückt: »Vor Mary Amesburys Ankunft war das hier ein friedliches kleines Dorf. Dann kam sie, und es war, als wäre ein Orkan durch den Ort gefegt. Ich sage nicht, daß sie absichtlich Ärger machen wollte, aber sie hat ihn gemacht.

Als sie wieder verschwunden ist, hatten wir hier einen Mord und einen Selbstmord. Und drei Kinder hatten keine Mutter mehr.

Die hat doch wohl einiges zu verantworten.«