Mary Amesbury

In dieser Nacht weckte mich Carolines Weinen, ein lautes hohes Wimmern, das nicht aufhörte. Als ich in ihr Zimmer kam, lag sie auf allen vieren in ihrem Kinderbett und versuchte, sich an den Gitterstangen hochzuziehen. Ihr Gesicht war krebsrot und verzerrt vor Schmerz. Als ich sie herausnehmen wollte, merkte ich sofort, daß sie Fieber hatte. Ich legte meine Hand auf ihre Stirn. Sie drehte den Kopf von mir weg. Sie war glühend heiß.

Ich lief in die Küche und zerdrückte eine Aspirintablette. Sie löste sich in dem Apfelsaft nur unvollständig auf, und als ich Caroline den Saft einflößen wollte, warf sie schreiend den Kopf zurück und schlug die Flasche weg. Da ich mir keinen anderen Rat wußte, nahm ich sie auf den Arm und ging mit ihr hin und her. Aber das half auch nichts. Ich wollte sie an meine Brust drücken, um sie zu trösten, doch sie drehte sofort den Kopf weg und begann, sich in meinem Arm hin und her zu werfen. Ich wollte unbedingt ruhig bleiben und klar denken, aber dieses Hinund Herwerfen des Kopfes machte mir Angst.

Jack kam wie immer kurz vor Tagesanbruch. Ich hatte Caroline auf die Matte im Badezimmer gelegt, nachdem ich ihr Schlafanzug und Windeln ausgezogen hatte, und versuchte, sie mit einem kühlen Waschlappen abzureiben, um das Fieber zu senken. Aber sie schrie nur noch lauter.

Jack blieb an der Tür stehen. Er hatte seinen Ölmantel an und die hohen Stiefel.

»Was ist denn los?« fragte er.

»Sie hat Fieber. Aber ich kann nicht feststellen, was ihr fehlt.«

Er kauerte neben mir nieder, um ihr Gesicht zu berühren.

»Um Gottes willen«, sagte er. »Sie glüht ja.«

Ich hatte versucht, mir einzureden, das Fieber wäre nicht allzu schlimm, aber als er »Um Gottes willen« sagte, konnte ich mich nicht länger täuschen.

»Ich wollte warten, bis die Klinik in Machias aufmacht«, sagte ich hastig. »Aber ich weiß nicht. Was meinst du?«

Er sah auf seine Uhr. »Es ist jetzt halb sechs«, sagte er. »Vor neun ist keiner da.«

Er stand auf. Seine Stiefel und der Ölmantel raschelten.

»Ich geh rauf zu den LeBlancs«, sagte er. »Ich ruf den Notarzt an.«

»Das kannst du doch nicht tun!« Ich sah zu ihm hinauf. Was er vorhatte, war viel zu riskant. Wenn er meinetwegen zu den LeBlancs ging, würde alles herauskommen.

»Ich sag einfach, ich wär auf dem Weg zum Boot gewesen, als du zur Tür kamst und mich um Hilfe gebeten hast.«

»Das glauben sie dir bestimmt nicht«, entgegnete ich.

»Keine Ahnung«, meinte er, »aber darüber solltest du dir jetzt wirklich keine Gedanken machen.«

Als er zurückkam, saß ich mit Caroline in der Badewanne. Es war ungemütlich und kalt, aber ich wußte einfach nicht, was ich sonst tun sollte. Wichtig war nur, das Fieber zu senken.

»Fahren wir«, sagte er von der Tür her. »Der Arzt wartet dort auf uns.«

Ich warf ihm einen fragenden Blick zu. Seine grauen Augen waren klar und wach.

»Willst du wirklich …?« begann ich.

Er schüttelte ungeduldig den Kopf. »Ich fahr euch hin. Zieh dich an.«

Ich stand auf und gab ihm Caroline. Er wickelte sie in ein Badetuch und hielt sie, während ich nach oben ging und mich anzog. Dann lief ich wieder hinunter und versuchte, Caroline etwas überzuziehen. Sie schrie unaufhörlich, warf den Kopf von einer Seite auf die andere, so daß selbst Jack, den ich für unerschütterlich gehalten hatte, unruhig wurde. Einmal, als ich sie auf den Rücken gelegt hatte und versuchte, ihren Fuß in das Bein ihres Schlafanzugs zu schieben, begann sie, sich seitlich an den Kopf zu schlagen. Ich sah Jack an, aber er wich meinem Blick aus. Danach gab ich meine Bemühungen auf und packte sie einfach in eine Wolldecke.

Jack hielt sie, während ich ins Führerhaus seines Pickups hinaufkletterte. Der Himmel war violett, und am westlichen Horizont waren noch Sterne. Es war kaum Verkehr auf der Straße, aber in manchen Häusern brannte schon Licht. In Machias war es so still, daß wir das Gefühl hatten, durch eine Geisterstadt zu fahren.

Der Arzt war schon in der Klinik eingetroffen. Er hatte die Außenbeleuchtung eingeschaltet. Er kam um die Ecke, als wir ins Wartezimmer traten, und ich sah mit Überraschung, wie jung er war. Er kann nicht älter als dreißig gewesen sein, und er sah überhaupt nicht aus wie ein Arzt. Er hatte Blue Jeans an und ein zerknittertes blaues Arbeitshemd. Er schien direkt in die Kleider gestiegen zu sein, die vor seinem Bett auf dem Boden gelegen hatten. Er führte uns in ein Sprechzimmer und bat mich, Caroline freizumachen. Während ich sie aus der Decke nahm, berichtete ich ihm.

Er hielt sich nicht damit auf, ihre Temperatur zu messen. Das schien er gar nicht zu brauchen. Er sah ihr in den Hals und dann in beide Ohren.

Erst als er sich wieder aufrichtete, griff er ihr an die Stirn. »Mittelohrentzündung«, erklärte er sachlich. »Hab ich mir gleich gedacht. Hat’s ganz schön erwischt, die Kleine.«

Er holte ein Fläschchen aus einem Schrank und träufelte in jedes Ohr einen Tropfen Flüssigkeit. »Das wird den Schmerz erst mal ein bißchen lindern«, sagte er. »Aber wir müssen ihr sofort Antibiotika geben. Am liebsten würde ich ihr gleich eine Spritze geben, wenn Ihnen das recht ist. Den Saft können Sie dann holen, wenn die Apotheke aufmacht. Offen gesagt, mir gefällt dieses Fieber nicht, ich denke, wir sollten schleunigst was dagegen tun.« Wieder legte er die Hand auf ihre Stirn. »Ich werde ihre Temperatur gleich messen, aber meiner Schätzung nach hat sie um die vierzig Grad Fieber.« Sein Ton war ruhig, aber ich sah ihm an, daß das Fieber ihn beunruhigte.

Ich hatte plötzlich das Gefühl zu ersticken, und der Boden schien unter meinen Füßen wegzusinken. Mit einer Hand hielt ich mich an der Kante des ledergepolsterten Untersuchungstischs fest. Krampfhaft versuchte ich nachzudenken, mich zu erinnern, aber das, woran ich mich erinnern mußte, entzog sich mir wie die Lösung einer komplizierten Rechenaufgabe.

»O nein«, sagte ich leise, beinahe unhörbar.

Der Arzt hörte mich, aber verstand mich falsch. Auch Jack machte ein verwundertes Gesicht. Es gab doch schlimmeres als eine Mittelohrentzündung.

»Das wird schon wieder«, sagte der Arzt schnell, um mich zu beruhigen. Und vielleicht lag in seiner Stimme eine Schwingung falscher Munterkeit. Aus einem Glas, das mit irgendeiner Flüssigkeit gefüllt war, nahm er ein Fieberthermometer und hielt Carolines Beine fest, um es einzuführen. Sie versuchte strampelnd, sich zu wehren, aber er hielt sie mit fester Hand. »Ich wollte, ich bekäme für jede Mittelohrentzündung, die ich diesen Winter behandelt habe, nur fünf Cents«, bemerkte er. »Wenn ich ihr jetzt eine Spritze gebe, wird sie wahrscheinlich gegen Abend höchstens noch erhöhte Temperatur haben, und morgen wird sie wieder ganz auf dem Damm sein. Aber Sie müssen ihr das Antibiotikum zehn Tage lang geben.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Was ist denn?« Jack sah mich ratlos an. Das grelle Licht im Sprechzimmer fiel gnadenlos auf die rauhe Haut seines Gesichts und die tiefen Furchen zu beiden Seiten seines Mundes. Die Male in meinem Gesicht, obwohl beinahe verheilt, waren wahrscheinlich genauso deutlich zu sehen. Ich fragte mich, ob Jack schon früher einmal hier gewesen war, mit seiner Frau in diesem Zimmer gestanden hatte, während sein eigenes Kind auf dem Untersuchungstisch gelegen hatte.

»Sie hat eine Allergie gegen irgendein Antibiotikum«, sagte ich so ruhig ich konnte, »und ich weiß nicht mehr, welches es ist.«

»Na, das ist weiter kein Problem«, meinte der Arzt und zog das Thermometer heraus. »Genau«, sagte er. »Vierzig Grad. Damit ist nicht zu spaßen. Ich gebe ihr auch gleich was gegen das Fieber. Wer hat sie denn behandelt? Ich rufe sofort an. Es muß auf ihrer Karte stehen.«

Da begriff Jack. Er trat nervös von einem Fuß auf den anderen und sah mich wieder an.

»Sie war drei Monate alt.« Ich sprach mehr mit mir selbst als mit Jack und dem Arzt. »Sie hatte ziemlich hohes Fieber, aber ihr Kinderarzt konnte die Ursache nicht feststellen. Er hat ihr damals irgend etwas gegeben, und ich weiß nicht mehr, was es war, aber sie hat sofort Ausschlag und Schwellungen bekommen. Daraufhin haben sie ihr etwas anderes gegeben, aber was das war, weiß ich auch nicht mehr. Ich vermute, es war Penicillin, aber sicher bin ich nicht. Sie hat außerdem noch ein Sulfonamid bekommen, glaube ich, aber ich weiß einfach nicht mehr, was was war.«

Niemand sagte etwas.

»Es tut mir wirklich leid, daß ich mich nicht erinnern kann«, sagte ich. »Ich war nicht sehr …«

»Sicher«, unterbrach mich der Arzt. Er schien ungeduldig, ungehalten darüber, daß ich offenbar nicht sehen konnte, wie einfach die Lösung dieses Problems war. »Das ist wichtig. So eine allergische Reaktion kann beim zweitenmal tödlich sein. Aber es ist doch kein Problem, das wir nicht lösen können. Sie brauchen mir nur den Namen des behandelnden Arztes zu geben, dann kann ich Ihre Karte abrufen.«

Jacks Gesicht war unbewegt. »Können Sie der Kleinen nicht irgendein anderes Medikament geben, bei dem nichts zu fürchten wäre?« fragte er.

Der Arzt sah zuerst Jack an, dann mich. Man sah ihm an, daß ihm langsam ein Licht aufging.

»Okay, ich rufe an«, sagte ich schnell.

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Nein«, widersprach er. »Das muß ich selbst machen. Man würde Ihnen die Informationen wahrscheinlich nicht geben, und Sie würden sie auch nicht verstehen. Und wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.«

Ich wollte etwas sagen und ließ es dann.

»Da ist doch irgend etwas nicht in Ordnung, richtig?« fragte der Arzt.

Caroline, die im Moment keine Schmerzen zu haben schien, aber vom Fieber erschöpft war, sah zu mir hinauf.

»Doch«, entgegnete ich hastig und vielleicht zu laut. »Doch, es ist alles in Ordnung.«

Ich gab ihm Namen und Adresse von Carolines Kinderarzt in New York an. Ich wußte sogar die Telefonnummer auswendig.

Jack trug Caroline, als wir zum Wagen gingen. Er sagte, an den Kinderarzt habe mein Mann bestimmt nicht gedacht, die Chancen, daß er darauf gekommen sei, stünden eins zu einer Million. Um ihn zu beruhigen, stimmte ich zu. Aber in Wirklichkeit glaubte ich das Gegenteil.

Jack fuhr uns zum Haus zurück. Es begann hell zu werden, als wir die holprige Straße hinunterrumpelten, und schon färbte sich das Meer bläulich. Die Luft war klar und rein wie frisch gewaschen, und kalt. Seit drei Tagen war es wieder klirrend kalt, und ich ahnte, daß die kurze Wärmeperiode vorüber war, daß wir jetzt eine ganze Weile keinen Nebel und keine milderen Temperaturen mehr bekommen würden. Jack hatte am Tag zuvor gesagt, daß er jetzt bald sein Boot aus dem Wasser holen würde.

Vor dem Haus setzte er mich ab und fuhr nach Machias zurück. Er wollte dort warten, bis die Apotheke öffnete, um das Mittel zu holen, das der Arzt Caroline verschrieben hatte. Er würde viel später als sonst zum Fischen hinausfahren und vielleicht von den Männern im Fischhaus gesehen werden, wenn er herkam, um mir das Medikament zu bringen. Ich hatte selbst in die Stadt fahren wollen, um es zu holen, aber davon hatte er nichts wissen wollen. Ich müsse bei Caroline bleiben, hatte er gesagt. Er würde fahren.

Wie es der Zufall wollte, stand der rote Pick-up vor dem Fischhaus, als Jack zurückkam. Er klopfte und gab mir das Päckchen. Er fragte, wie es Caroline gehe. Ich konnte ihm sagen, daß sie sich besser fühlte und jetzt schlief. Ich wünschte mirso sehr, er könnte hereinkommen, und spürte, daß auch er diesen Wunsch hatte, am liebsten einfach über die Schwelle getreten wäre und die Tür hinter sich zugeschlagen hätte. Er hielt die Tür mit seiner Schulter offen und stand vorgebeugt, wie auf dem Sprung.

»Komm doch rein«, sagte ich und wußte doch schon im selben Moment, daß er ablehnen mußte. Es war jetzt ganz hell, und ich war sicher, daß Willis uns durch die salzverkrustete Fensterscheibe im Fischhaus beobachtete. Ich wartete nur darauf, daß er zur Tür herauskommen würde.

»Ich kann nicht«, sagte Jack.

Ich schob meine Hand unter den Kragen seines Flanellhemds. Vom Fischhaus aus konnte man das nicht sehen. Seine Haut war warm. Ich zitterte vor Kälte und Verlangen. Und in seinem Gesicht sah ich das gleiche Verlangen. Hinter uns kreisten die Möwen und machten in tollkühnen Sturzflügen Jagd auf Beute.

Die Zeit war kostbar geworden – noch kostbarer vielleicht seit den Ereignissen des Morgens. Ich wußte, Jack empfand es wie ich – wir durften die Minuten, die uns blieben, nicht vergeuden. Wenn er in ein paar Tagen sein Boot an Land brachte, würde er bis zum Saisonbeginn im Frühling morgens nicht mehr zu mir kommen können. Er konnte mich nicht besuchen, wenn er vorgeblich im Fischhaus seine Ausrüstung reparierte. Das hätten die anderen gesehen. Und er konnte nicht um vier Uhr morgens sein Bett verlassen. Es war ja kein Boot mehr da, zu dem er hinausfahren mußte, und seine Frau würde das wissen. Wieviele Tage blieben uns noch? Drei oder vier?

»Ich muß jetzt gehen«, sagte er.

Ich zog meine Hand zurück.

»Kommst du morgen?« fragte ich.

»Ja«, sagte er und drehte sich abrupt herum, um den kleinen Hang zum Ende des Kaps hinunterzulaufen.

Ich kümmerte mich den ganzen Tag nur um Caroline, döste ein wenig, wenn sie schlief, trug sie herum, wenn sie wach war. Das Antibiotikum hatte sie sehr matt gemacht, aber sie schien keine starken Schmerzen mehr zu haben, und das Fieber ließ auch nach. Ich war froh darüber. Gegen Abend wurde sie wieder etwas munterer, und wir spielten zusammen auf dem Teppich. Ich streckte mich darauf aus, und sie versuchte, über mich hinweg zu krabbeln, bis ich sie packte und durch die Luft schwang oder sie neben mir niederlegte und ein wenig kitzelte. Sie kicherte und lachte – ein herzhaftes Lachen, das tief aus dem Bauch kam, so wunderbar, daß ich sie einfach drücken mußte.

Jack kam kurz vor Tagesanbruch. Ich war wach und wartete schon auf ihn. Er rannte die Treppe herauf und riß sich schon seinen gelben Ölmantel herunter, als er die Tür zu meinem Schlafzimmer öffnete. Ich setzte mich im Bett auf, um ihn zu begrüßen, und er umarmte und küßte mich, noch ehe er sich ganz ausgezogen hatte. Er liebte mich an diesem Morgen mit einem heißen, stürmischen Verlangen. Ich spürte etwas Neues an ihm – eine hoffnungslose Sehnsucht, die das Unmögliche begehrte.

»Ich möchte sie verlassen«, sagte er später. »Ich möchte hierher kommen und bei dir bleiben.«

Ich wollte etwas sagen, aber er unterbrach mich.

»Ich kann sie nicht verlassen«, fuhr er fort. »Als du gestern morgen dem Arzt den Namen und die Telefonnummer angegeben hast, so mutig und ganz ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, dachte ich einen Moment lang, wenn du so viel riskieren kannst, könnte ich das auch. Den ganzen Tag habe ich nur darüber nachgedacht und versucht, einen Weg zu finden, sie zu verlassen, ohne ihr weh zu tun. Aber ich weiß jetzt, daß das nicht möglich ist. Es gibt keinen Weg. Ich selbst würde ja gar nichts riskieren. Aber ich würde alles aufs Spiel setzen, was ihr etwas bedeutet – ihre Familie und ihr Zuhause, und ich würde ihre Gesundheit gefährden. Das kann ich ihr nicht antun. Ich habe kein Recht dazu. Sie ist zu labil, und das würde ihr …«

Ich drückte meine Hand auf seinen Mund und legte meinen Kopf auf seine Brust, zog die Decke bis über unsere Schultern hinauf. »Hör auf, dir darüber den Kopf zu zerbrechen«, sagte ich. »Laß uns einfach genießen, was wir haben.«

Er schlang seine Arme um mich und zog mich fest an sich.

»Es tut mir leid«, sagte er.

Dann schwiegen wir beide.

»Weißt du«, sagte er nach einer Weile, »ich möchte wirklich nicht, daß du gehst, aber vielleicht solltest du doch mal darüber nachdenken, nur der Sicherheit halber.« Ich spürte die Spannung in seinen Armen. »Es muß ja nicht gleich ein anderer Kontinent sein, nur ein anderer Ort, ein bißchen weiter im Norden vielleicht.«

Mir war schon in der Klinik in Machias dieser Gedanke gekommen, aber ich hatte ihn sofort verworfen. Ich konnte dieses Haus jetzt nicht einfach zurücklassen. Ich konnte Jack nicht verlassen. Ich hatte nicht die Kraft dazu. Das wußte ich.

»Wann fängt die Saison wieder an?« fragte ich.

»Im April«, antwortete er. »Aber ich könnte sie ein bißchen vorziehen. Das Boot schon Mitte März wieder herholen.«

»Dann tu das«, sagte ich.

Später, als er am Küchentisch saß und ich Tee kochte, fragte ich ihn, was er eigentlich studiert hatte und was er nach dem Studium vorgehabt hatte. Draußen war es noch dunkel, und ich konnte unsere Spiegelbilder im Glas der Fenster sehen: ich in Nachthemd und Wolljacke mit offenem Haar, das zu lang war, Jack in Flanellhemd und Pullover, mir halb zugewandt, so daß er mir zusehen konnte, wie ich am Herd hantierte. Im dunklen Glas gespiegelt, sahen wir aus wie ein Fischer und seine Frau, die früh aufgestanden war, um ihrem Mann das Frühstück zu richten. An eine heimliche Liebesaffäre hätte bei unserem Anblick sicher keiner gedacht – dazu wirkten wir zu wenig romantisch, zu familiär. Dieses Bild im Fenster fesselte mich einen Moment, wir erweckten den Anschein, das wir nicht waren, niemals sein konnten.

»Was ist los?« fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. Ich trug den Tee und etwas Toast zum Tisch.

»Du wirst lachen«, sagte er, »aber ich dachte allen Ernstes daran, später einmal an einem College zu unterrichten. Ich bekam das Stipendium aufgrund meiner sportlichen Leistungen und wollte eigentlich Sportlehrer oder Trainer werden. Für mich hat’s nie etwas Schöneres gegeben als Laufen, nicht einmal das Fischen kann da mithalten – aber dann bin ich im Grundstudium bei einem Professor für englische Literatur gelandet, der mich unheimlich beeindruckt hat, und dachte, ich könnte ja beides machen: unterrichten und trainieren.«

»Hast du mal dran gedacht weiterzumachen – mit dem Studium, meine ich«, fragte ich. Ich dachte an die Bücher, die ich auf dem Boot entdeckt hatte.

»Nein«, antwortete er schnell und abwehrend. »Kein einziges Mal, seit ich aufgehört habe.«

»Trauerst du dem Studium nach?«

»Nein.« Er sagte es mit einer Endgültigkeit, als hätte er mit diesem Kapitel schon vor Jahren abgeschlossen.

Während wir unser bescheidenes Frühstück aßen, sagte er, er würde sein Boot am Freitag aus dem Wasser holen, wenn das Wetter es zuließe, und dann mit den Reparaturen an der Ausrüstung anfangen. Im Februar mache er mit seiner Frau und seiner Tochter immer eine kleine Reise, fügte er hinzu, einen kleinen Urlaub. Er wußte noch nicht genau, wohin sie dieses Jahr fahren würden. Er selbst wollte gern nach Boston, um seinen Sohn zu besuchen, der dort studierte, aber seine Tochter plädierte heftig für wärmere Regionen. Er sprach schneller als sonst, es klang beinahe gehetzt, und ich machte es nicht anders. Und es war, als wüßten wir, daß wir das, was wir einander sagen wollten, besser jetzt sagten, da noch Zeit war. Ich fragte mich, ob ich auch in den kommenden Tagen, wenn er nicht mehr zu mir kommen würde, jeden Morgen vor Tagesanbruch erwachen würde.

Die Sonne ging über dem Horizont auf, und ich dachte, wie verrückt, daß wir den Tagesbeginn fürchten müssen als wären wir Geschöpfe der Nacht, die im Licht zu Staub zerfallen. Ich stand auf und ging zur Tür und wartete dort auf ihn. Ich haßte diesen Moment, wenn er gehen mußte. Ich sah zu, wie er aufstand, in seine Gummistiefel schlüpfte und seinen gelben Ölmantel überzog.

»Vielleicht laß ich dich einfach nicht zur Tür hinaus«, sagte ich scherzend und umfaßte ihn unter dem Ölmantel mit beiden Armen. »Vielleicht behalte ich dich einfach den ganzen Tag hier.«

Er drückte sein Gesicht in mein Haar. Er legte die Arme um mich und schob das Nachthemd hoch, um meine Haut fühlen zu können.

»Ich wollte, du tätest es«, sagte er.

Am nächsten Morgen – es war Mittwoch – kam Jack nicht. Ich erwachte wie immer kurz vor Tagesanbruch und wartete, aber im Haus blieb alles still, keine Schritte auf der Treppe. Hellwach lag ich im Bett und horchte angestrengt nach draußen, wartete auf das Rattern seines Wagens unten auf der kleinen Straße, aber ich hörte nichts als die ersten Schreie der Möwen, das Plätschern der Wellen auf dem Kies. Ich sah zu, wie es langsam hell wurde, die Morgendämmerung den Himmel färbte. Als die Sonne aufging, wußte ich, daß er nicht kommen würde. Zum erstenmal seit dem Nebel blieb er aus, und ich empfand eine tiefe Leere. Es war, als hätte der Tag alle Farbe verloren.

Caroline erwachte kurz nach Sonnenaufgang. Sie schien, genau wie der Arzt vorausgesagt hatte, wieder ganz gesund zu sein, aber ich gab ihr vorschriftsmäßig weiter das Antibiotikum. Nachdem ich sie gestillt hatte, legte ich sie auf den Teppich im Wohnzimmer und sah zum Fenster hinaus zum Ende der Landzunge. Das grün-weiße Boot schaukelte auf dem Wasser, als wollte es mich verspotten. Nach und nach trudelten die Pick-ups ein und parkten beim Fischhaus. Männer stiegen aus, aber Jack war nicht unter ihnen. Ich suchte nach Gründen für sein Ausbleiben.

Vielleicht war bei ihm zu Hause etwas passiert. Vielleicht hatte Rebecca eine Szene gemacht. Möglich, daß Jack ihr doch alles gesagt hatte. Oder aber er hatte beschlossen, die Beziehung zu mir abzubrechen – zuzutrauen wäre es ihm. Ja, das war es. Als er sich gestern von mir verabschiedet hatte, hatte er gewußt, daß es ein Abschied für immer sein würde, deswegen hatte er mich so fest gehalten. Er hatte mir Lebwohl gesagt, nur hatte ich es nicht gewußt.

Ich versuchte, mich mit dieser Möglichkeit auseinanderzusetzen, sie ernstzunehmen und zu akzeptieren. Aber ich konnte es nicht. Ziellos, mit leeren Händen ging ich im Haus hin und her, während Caroline im Wohnzimmer spielte. Ich konnte nicht stillsitzen. Wollte er mir sagen, ich solle jetzt gehen? Diesen Ort verlassen und mir einen anderen suchen?

Aber ich konnte nicht gehen. Ich hatte nicht den Willen dazu. Und ich konnte nicht gehen, ohne vorher mit Jack gesprochen zu haben. Ich mußte wissen, ob er wirklich nie wieder kommen wollte.

Ich zog mir etwas an und machte dann Caroline fertig. Am liebsten wäre ich ins Dorf gefahren, direkt zu seinem Haus, und hätte ihn gefragt, warum er nicht gekommen war, aber das konnte ich natürlich nicht tun. Unten beim Fischhaus konnte ich die Männer reden hören. Ich wäre gern hinunter gegangen und hätte nach Jack gefragt – zum Teufel mit Willis –, aber mir war klar, daß auch das ein absurder Gedanke war. Statt dessen packte ich Caroline in das Tragetuch und ging los, um einen Spaziergang zu machen. Ein bißchen frische Luft würde ihr sicher nicht schaden, wenn sie warm genug angezogen war.

Die Luft war trocken und prickelnd wie eisgekühlter Champagner. Ganz sicher hatte nicht das Wetter Jack davon abgehalten, mit seinem Boot hinauszufahren. Ich ging schnell bis zur Spitze der Landzunge und wieder zurück. Wenn jemand mich gesehen hätte, hätte er gesagt, ich habe wütend ausgesehen. Ich sah zum Haus hinauf, aber ich wollte noch nicht wieder hineingehen. Ich bog nach Süden ab und ging das Ufer entlang in Richtung zum Dorf. Soweit wie noch nie zuvor. Das abfließende Wasser hinterließ einen breiten Streifen festen feuchten Sands. Von Zeit zu Zeit trug ein leichter Windstoß den besonderen Geruch der Ebbe herein, der sich dann in der spröden, trockenen Luft verflüchtigte. Ich lief, bis mir die Beine weh taten und mich der Rücken schmerzte von Carolines Gewicht. Aber genau das hatte ich gewollt, das wurde mir jetzt bewußt – mich ausgeben bis zur Erschöpfung.

Auf dem Rückweg ging ich langsamer. Wir waren fast zwei Stunden unterwegs, als Caroline zu weinen begann. Ich hätte sie längst stillen müssen. Ich begann wieder schneller zu gehen.

Als ich um einen Felsen herumkam, sah ich vor mir das Haus auf der kleinen Anhöhe. In der Auffahrt stand ein Wagen, den ich nicht kannte. Ein alter schwarzer Buick. Julia Strout stand auf der Treppe vor dem Haus und schien nach mir Ausschau zu halten.

Dann sah sie mich und winkte. Ich winkte zurück und eilte den Hang hinauf.

»Ich dachte mir schon, daß Sie wahrscheinlich einen Spaziergang machen«, sagte sie. »Der Kleinen geht’s gut?«

»Sie ist hungrig«, antwortete ich. »Ich muß sie stillen. Wie geht es Ihnen?«

»Gut, danke«, sagte Julia und hielt mir die Tür. Wir gingen ins Haus. Ich nahm Caroline aus dem Tragetuch und schlüpfte aus meinem Mantel. Ich setzte mich im Wohnzimmer auf die Couch und bedeutete Julia, Platz zu nehmen. Sie kam der Aufforderung nach, legte aber ihren Mantel nicht ab.

»Jack Strout hat mich heute morgen angerufen«, sagte sie und sah mich dabei aufmerksam an.

Ich bemühte mich, ein nichtssagendes Gesicht zu machen, aber ich spürte sofort, wie sich etwas in mir krampfartig zusammenzog. Ich atmete tief durch. Am liebsten hätte ich ein Fenster geöffnet.

»Er hat mir erzählt, daß die Kleine ziemlich krank war«, fuhr sie fort. »Sie hätten ihn vorgestern morgen um Hilfe gebeten, und er hätte sie dann nach Machias in die Klinik gefahren.«

Ich nickte.

»Aber jetzt geht es der Kleinen wieder gut?« fragte sie.

»Besser«, sagte ich. »Viel besser.« Mir wurde bewußt, daß ich völlig verkrampft saß und ganz flach atmete. Und ich sah, daß keine Milch mehr kam. Caroline hatte zu trinken aufgehört und hob den Kopf, um mich anzusehen. Ich bemühte mich, tief und gleichmäßig zu atmen, mich zu entspannen, damit die Milch wieder fließen würde. Bleib ganz ruhig, sagte ich mir.

»Jedenfalls«, sprach sie weiter, »hat er mich gebeten, Ihnen zu sagen, daß er heute eigentlich vorbeikommen wollte, um sich nach der Kleinen zu erkundigen und zu fragen, ob Sie etwas brauchen, aber seine Frau, Rebecca, ist in der Nacht selbst krank geworden – ein schlimmer Mageninfekt, sagte er –, und da konnte er nicht weg. Er meinte, wenn ich zufällig hier herauskäme, könnte ich ja mal nach Ihnen sehen.«

»Das war … das war sehr nett von ihm«, sagte ich schwach. »Und von Ihnen auch«, fügte ich hastig hinzu. »Sie können ihm ausrichten, daß es Caroline wieder gut geht. Und mir auch. Es geht uns beiden gut.«

Julia sah mich forschend an. Meine Stimme klang hoch und gepreßt. Ich überlegte krampfhaft, wie ich Jack über Julia eine Nachricht zukommen lassen könnte, aber ich war nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

Julia lehnte sich in ihren Sessel zurück und sagte, während sie ihren Mantel aufknöpfte: »Ich hatte tatsächlich vor, heute bei Ihnen vorbeizukommen. Es ist vielleicht völlig belanglos, und ich möchte Sie auf keinen Fall beunruhigen, aber ich fand, Sie sollten es wissen. Ich war heute morgen schon in aller Frühe bei Everett im Laden – ich gehe jeden Morgen rüber, um mir meine Milch und meine Zeitung zu holen –, und da sagte er, daß gestern abend ein Mann aus New York bei ihm war und nach einer Frau namens Maureen English gefragt hat.«

Möglich, daß ich blaß wurde, oder mein Gesicht sonstwie mein Erschrecken verriet, jedenfalls sagte Julia hastig: »Geht es Ihnen nicht gut?«

»Doch, doch, ich hab nur hier ein paar Schwierigkeiten«, versetzte ich und deutete auf meine Brust.

»Das ist wirklich alles?«

»Ja«, versicherte ich. »Was war das für ein Mann?«

»Everett meinte, es sei ein Privatdetektiv gewesen oder sowas, was Genaues hat ihm der Mann allerdings nicht gesagt. Everett hat ihm jedenfalls erklärt, er kenne niemanden namens Maureen English. Daraufhin hat ihm der Mann die Frau beschrieben, die er sucht, und gesagt, sie sei mit einem kleinen Kind unterwegs. Worauf Everett sagte, so jemand sei ihm auch nicht bekannt.«

Ich schloß die Augen.

»Der Mann ist gegangen und nicht wiedergekommen«, fuhr Julia fort. »Everett meint, daß er in einen anderen Ort gefahren ist. Er hat ihm geraten, es in Machias zu versuchen, aber der Mann sagte, da sei er schon am Nachmittag gewesen. Er suche in allen Ortschaften hier an der Küste nach der Frau. Er hätte einen Tip bekommen, daß sie sich in dieser Gegend aufhält.«

Ich machte die Augen wieder auf und versuchte, ruhig zu atmen. Auf mehr Milch bestand jetzt keine Hoffnung mehr, und Caroline fing an, quengelig zu werden.

»Ich muß ihr eine Flasche machen«, sagte ich und stand auf.

Julia folgte mir in die Küche.

»Ich denke, Sie sind hier sicher«, sagte sie. »Everett meint, der Mann hat ihm geglaubt und ist weitergefahren.«

Ich nickte. Ich wollte ihr nur zu gern glauben.

»Weiß Everett, ob dieser Mann noch mit anderen Leuten im Dorf gesprochen hat?« fragte ich.

Julia schüttelte den Kopf. »Nein, aber er glaubt nicht. Es ist nur logisch, daß ein Fremder sein Glück zuerst im Laden versucht. Das ist ja der einzige Ort im Dorf, der halbwegs lebendig aussieht.«

Normalerweise hätte ich darüber gelächelt.

»Kommen Sie, ich nehme sie, während Sie die Flasche machen«, sagte Julia.

Ich legte ihr Caroline in die Arme und machte etwas Milch warm. Meine Bluse klebte mir am Rücken, erst jetzt merkte ich, daß ich stark geschwitzt hatte.

»Sie sollten zur Polizei gehen«, sagte Julia. »Ich meine jetzt nicht zu Everett. Ich meine, zur richtigen Polizei, in Machias. Wenn Sie so große Angst haben.«

Ich schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht«, entgegnete ich. »Für mich ist es besser, wenn er keine Ahnung hat, wo ich bin. Wenn ich zur Polizei ginge, müßten sie vielleicht meinen Mann benachrichtigen und ihm mitteilen, wo ich bin. Ich weiß nicht, wie so was läuft, aber ich kann kein Risiko eingehen.«

Ich machte die Flasche fertig und nahm ihr Caroline wieder ab. Wir gingen ins Wohnzimmer zurück. Zuerst wollte Caroline die Flasche nicht nehmen, dann aber gab sie sich mit ihr zufrieden. Julia setzte sich mir gegenüber wie zuvor. Sie hatte immer noch ihren Mantel an.

»Möchten Sie eine Tasse Tee?« fragte ich.

»Nein, danke«, antwortete sie. »Ich kann nicht bleiben.«

Dennoch machte sie keine Anstalten zu gehen. Sie blieb, während ich Caroline die Flasche gab. Vielleicht, dachte ich, um sich, bevor sie ging, zu vergewissern, daß es mir gut ging.

»Jack besucht Sie also?« fragte sie.

Ich hielt meinen Blick starr auf Caroline gerichtet. Die Bedeutung von Julias Frage war unmißverständlich. Sie hatte nicht gesagt, so, mein Vetter hat Ihnen also geholfen? Oder, Sie haben Jack also kennengelernt. Sie hatte gesagt, Jack besucht Sie also?

Ich wußte nicht, was ich darauf antworten sollte. Vielleicht wollte sie nur auf den Busch klopfen.

»Ja, er hat mir an dem Morgen geholfen.«

Sie nickte bedächtig.

Danach war es lange still.

»Ich würde Jack ein bißchen Glück gönnen«, sagte sie schließlich.

Eine ungewöhnliche Bemerkung, wenn sie tatsächlich von nichts wußte. Aber noch während sie sprach, wurde mir bewußt, daß unsere Beziehung sich verlagert hatte, daß Lügen hier nicht mehr am Platz waren. Es war eine verlockende Erkenntnis. Aber vielleicht empfand ich es nur so, weil ich nicht lügen wollte, weil ich jemandem die Wahrheit sagen wollte.

»Ich glaube, das hat er bekommen«, antwortete ich vorsichtig und sah dabei von ihr weg zum Fenster hinaus.

Sie wechselte das Thema. »Sie sehen besser aus«, sagte sie. »Viel besser.«

Ich nickte und versuchte zu lächeln. »Na, das ist wenigstens etwas Gutes.«

Jetzt stand sie doch auf.

»Ich muß wirklich gehen«, sagte sie, plötzlich ganz geschäftig. »Ich will noch nach Machias. Kann ich Ihnen irgend etwas besorgen? Brauchen Sie vielleicht was für die Kleine?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, danke«, sagte ich. »Wir haben alles, was wir brauchen.« Ich stand ebenfalls auf. »Vielen Dank, daß Sie gekommen sind.«

Sie setzte ihre Mütze auf, zog ihre Handschuhe über und ging zur Tür. Ich dachte, sie würde so flott wieder hinausmarschieren, wie sie hereingekommen war, aber sie blieb plötzlich stehen und sah zu den Wagen hinaus, die beim Fischhaus standen. Ich spürte, daß sie drauf und dran war, noch etwas zu sagen, eben das, was sie mir von Anfang an hatte sagen wollen, weshalb sie überhaupt hergekommen war, aber ihre natürliche Zurückhaltung, ihr Taktgefühl schienen sie daran zu hindern.

»Ich komm in den nächsten Tagen wieder vorbei, um nach Ihnen zu sehen«, sagte sie. »Oder Jack kommt.«

»Ich liebe ihn«, sagte ich verwegen.

Sie drehte sich herum. Im ersten Moment schien sie wie vom Donner gerührt, aber sicher nicht, weil sie die Wahrheit nicht geahnt hatte, sondern weil ich sie ausgesprochen hatte. Dann nickte sie bedächtig, wie zur Bestätigung ihrer eigenen Vermutungen.

»Das hab ich mir fast gedacht«, sagte sie.

Und sie sah mich an, als wäre ich eine Tochter, die zu schnell erwachsen geworden war, um noch behütet werden zu können, die jetzt der Hand der Mutter entglitten war.

»Seien Sie nur vorsichtig«, sagte sie.

Jack kam auch am nächsten Morgen nicht. Es war der Donnerstag, und ich dachte daran, daß er am Freitag sein Boot aus dem Wasser holen würde. Wir hatten höchstens noch einen Morgen. Ich blieb im Bett liegen und wartete, bis die Sonne aufging. Dann stand ich auf und ging hinunter ins Wohnzimmer ans Fenster. Ich schaute zu seinem Boot hinunter. Auf dem Weiß lag rosiges Licht.

Am Nachmittag fuhr ich ins Dorf zum Einkaufen. Ich tat es beinahe jeden Tag, mehr aus Gewohnheit als aus Notwendigkeit.

Als ich an diesem Nachmittag meinen Wagen auf der anderen Straßenseite abstellte, sah ich vor der Mobilzapfsäule einen schwarzen Pick-up. Ich kannte ihn gut, ich kannte jede einzelne Schramme, jeden einzelnen Rostfleck. Vorn auf dem Mitfahrersitz war eine Frau. Ich schaltete den Motor aus und sah sie mir an. Das graue Haar war streng aus dem Gesicht zurückgenommen. Sie trug ein blau gemustertes Halstuch aus irgendeinem seidenähnlichen Material. Man sah dem Gesicht mit den hohen Wangenknochen noch an, daß es einmal schön gewesen war, jetzt jedoch war es blaß und ausgezehrt. Die Lippen waren schmal, beinahe verkniffen. Sie trug einen marineblauen Wollmantel, und mir schien, obwohl ich das nicht sehen konnte, als hätte sie die Hände im Schoß gefaltet. Sie hatte wohl gespürt, daß jemand sie ansah, denn sie drehte langsam den Kopf in meine Richtung.

Ich sah ihre Augen, und da kam mir eine Ahnung, womit Jack all die Jahre hatte leben müssen. Die Augen waren blaß, von einem milchigen Blau, aber vielleicht war das auch nur mein Eindruck, weil sie betrübt wirkten, wie verhangen. Und gleichzeitig hatten sie einen gehetzten Blick, den Blick eines gejagten Tieres. An den Winkeln waren sie zusammengekniffen. Man konnte, wenn man diese Augen betrachtete, nicht beschreiben, was sie sahen, aber man ahnte, daß es etwas Schreckliches war. Mein erster unmittelbarer Eindruck war, daß diese Frau einen schweren Verlust erlitten hatte, vielleicht durch Krankheit oder Unfall ihre Kinder verloren hatte, aber ich wußte, daß das nicht stimmte.

Ich wandte mich ab. Ich wollte diese Augen nicht ansehen und ich wollte vermeiden, daß sie auf mich aufmerksam wurde. Als ich noch einmal hinsah, war ihr Blick starr geradeaus gerichtet. Sie schien zu warten.

Ich sollte schnurstracks nach Hause fahren, dachte ich. Aber ich wußte, daß er im Laden war. Ich konnte diese Gelegenheit, ihn zu sehen, nicht vorbeigehen lassen, auch wenn ich nicht mit ihm würde sprechen können.

Ich stieg aus und hob Caroline aus der Tragetasche. Ich ging hinten um den schwarzen Pick-up herum und die Treppe hinauf zum Laden. Die Glocke über mir bimmelte.

Er stand mit seiner Tochter an der Theke. Sie trug keine Mütze, und ihr Haar fiel lockig ihren Rücken herab. Sie hatte eine rote Wolljacke an. Als sie sich herumdrehte, umzu sehen, wer hereingekommen war, folgte er ihrer Bewegung. Everett nickte mir zu und sagte hallo. Ich sah Jack an. Ich wußte nicht, ob er mich ansprechen, zu zeigen wagen würde, daß er mich kannte. Er warf einen Blick auf seine Tochter und sagte dann wie beiläufig: »Wie geht es der Kleinen?«

»Besser, danke«, antwortete ich.

Everett beobachtete uns.

Jack sagte zu seiner Tochter: »Ich glaube, du hast Mary Amesbury noch nicht kennengelernt. Sie wohnt in Julias Haus drüben auf dem Kap.«

Und zu mir: »Das ist meine Tochter Emily.«

Ich sagte hallo, und sie erwiderte schüchtern meinen Gruß.

Ich sah, wie Jack einen kurzen Blick zum Fenster hinaus auf seinen Pick-up warf. Er fragte sich zweifellos, ob ich Rebecca gesehen hatte.

»Marys Baby war neulich ziemlich krank«, sagte er zu Emily. Dann wandte er sich mir zu. »Aber jetzt geht’s ihr besser?«

Ich nickte.

Die Regale rundherum und die Neonlichter über mir begannen sich zu drehen. Es war eine Reprise jenes ersten abends im Laden, nur war jetzt Jack da. Ich hielt mich mit meinem Blick an seinem Gesicht fest, als sich die Welt zu drehen begann, und wurde mir bewußt, daß ich schon viel länger hier stand, als normal gewesen wäre. Mit einer wie mir schien ungeheuren Willensanstrengung zwang ich mich, weiterzugehen und wie nebenbei zu sagen: »Ich brauche Milch und verschiedene andere Dinge …«

Ich wartete hinten im Laden, bis ich das Bimmeln hörte. Als ich zur Theke zurückkam, sagte Everett: »Julia hat mir erzählt, daß die Kleine krank war. Aber sie scheint jetzt wieder in Ordnung zu sein.«

Er tippte meine Einkäufe ein. Ich hatte keine Ahnung, was ich gekauft hatte. Draußen hörte ich den Wagen starten, das vertraute Motorengeräusch.

»Rebecca geht’s schlecht«, bemerkte Everett mit einer kurzen Kopfbewegung zur Straße hin. »Jack muß sich sehr um sie kümmern.«

Als ich in dieser Nacht im Bett lag, hörte ich unten auf der Straße Motorengeräusch. Das Zimmer schien dunkler als sonst, und ich dachte, er ist früher dran heute. Dies war unser letzter gemeinsamer Morgen, und er war wie ich ungeduldig gewesen. Vielleicht hatte er seiner Frau gesagt, daß er früher losfahren würde, weil er noch eine Menge zu tun hätte, bevor er das Boot aus dem Wasser holen könne.

Ich hörte seine Schritte auf dem Linoleumboden in der Küche. Er kam nicht gleich die Treppe herauf, wie ich gedacht hatte, sondern schien sich erst an der Spüle ein Glas Wasser einlaufen zu lassen. Dann hörte ich ihn die Tür zu Carolines Zimmer öffnen. Natürlich, dachte ich, er sieht nach dem Kind. Er hat sich Sorgen um sie gemacht.

Dann endlich hörte ich seine Schritte auf der Treppe. Ich setzte mich im Bett auf. Er öffnete die Tür.

»Jack!« sagte ich glücklich.

Groß und dunkel trat er ins Zimmer und blieb vor dem Bett stehen.

Es war nicht Jack.