DREIZEHN

Als sie am Abend vor die Wache traten, hatte ein scharfer Ostwind die Wolken hinaus auf das Meer getrieben. Doch es war kühl, und die Sonne kämpfte noch vergeblich gegen den Wind an. Wiebke zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu und warf ihrem Vater einen abwartenden Blick zu. Sie genoss nach der abgestandenen Büroluft den frischen Wind. Die Abendsonne tauchte die umliegenden Gebäude an der Poggenburgstraße in ein warmes Licht. „Und nun?“, fragte Ulbricht mit in den Manteltaschen versenkten Händen.

„Feierabend?“

Wiebke schüttelte lächelnd den Kopf. „Noch nicht ganz – für mich jedenfalls nicht.“ Sie hielt ihm den Haustürschlüssel hin. „Aber du kannst ruhig schon vorfahren und es dir gemütlich machen.“

Ulbricht betrachtete seine Tochter zweifelnd. „Soll ich uns etwas zum Abendessen kochen?“

„Nein.“ Wiebke stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihren Vater auf die rechte Wange. „Ich weiß nicht, wie lange es dauert.“

„Wie du meinst.“ Er zuckte die Schultern, nahm den Schlüssel und verabschiedete sich von ihr. „Bis später dann.“

Wiebke stand auf dem Bürgersteig und blickte ihm nach. „Papa?“

Er blieb stehen und drehte sich langsam zu ihr um.

„Nicht böse sein. Ist nichts Dienstliches.“

„Kein Problem.“ Ihr Vater winkte ab. „Werde ich davon erfahren?“

„Klar, Papa.“ Wiebke nickte. „Alles zu seiner Zeit.“

„Geht klar.“ Ulbricht hob zum Abschied die Hand und trottete davon.

Wiebke stieg in den Passat und fuhr eine Runde durch die Innenstadt von Husum. An einem Supermarkt hielt sie an und besorgte ein paar Dinge, bevor sie weiterfuhr und einen der wenigen freien Plätze an der Süderstraße fand. Sie stieg aus und nahm die Kiste „Flens“ aus dem Kofferraum. Mit jedem Schritt klapperten die Bierflaschen in dem tiefblauen Kasten. Ein alter Mann auf dem Rad betrachtete sie mit einem Kopfschütteln, als sie sich mit ihrem für eine junge Frau eher ungewöhnlichen Gepäck über den schmalen Gehweg schleppte, um vor einem der windschiefen Traufenhäuser stehen zu bleiben. Die Häuser in der Süderstraße hatten eine bewegte Geschichte hinter sich, und auch Menschen wie Ingwer Paulsen und Hermann Tast, die das Leben in Husum geprägt hatten, waren hier zu Hause gewesen. Unwillkürlich fragte sich auch Wiebke, ob der Besuch bei ihrem Partner ihr Leben verändern würde. Der Gedanke, dass er sich in sie verliebt haben könnte, war ungewohnt für Wiebke. Jan war gut zehn Jahre älter als sie, und wenn sie zusammen Dienst schoben, dann strahlte er immer etwas Väterliches aus. Sie mochte seine langjährige Diensterfahrung und hatte längst begriffen, dass sie viel von ihm lernen konnte. Außerdem hatte er meist einen lockeren Spruch auf den Lippen und setzte sich für das Gesetz und die Gerechtigkeit ein. Frei von Vorurteilen ging er mit den Menschen um, die sie zu einer Tat befragten, auch das war ein Attribut, das Wiebke an ihm schätzte.

Doch das waren alles Eigenschaften, die sie bisher auf das gemeinsame Berufsleben beschränkt hatte. Wiebke hatte – bewusst oder unbewusst – verdrängt, dass dies Attribute waren, die ihr auch privat sehr sympathisch waren. Sie mochte Petersen sehr, doch sie wusste nicht, ob sie ihn auch lieben können würde. Je länger sie darüber nachdachte, desto plausibler wurde seine unbegründete Eifersucht auf Tiedje. Ihr Exfreund hatte sich schon seit Tagen nicht mehr gemeldet, und Wiebke wurde bewusst, dass sie nichts in ihrem Leben vermisste. Sie hatte die Trennung von ihm inzwischen ganz gut verkraftet und es genügte ihr, in ihm einen guten Freund für Gespräche und einen leidenschaftlichen Liebhaber für die eine oder andere einsame Nacht gefunden zu haben. Wiebke fragte sich, ob Jan Petersen diesen Platz in ihrem Leben einnehmen konnte. Nein, gab sie sich selbst die Antwort, er war viel zu schade, um nur bruchstückhaft an ihrem Leben teilzuhaben. Sie wollte ihn nicht verletzen, und deshalb war sie gekommen, um ein offenes Wort mit ihm zu sprechen.

Wiebke zögerte, dann streckte sie die freie Hand aus und legte den Daumen auf den Klingelknopf. Drinnen schrillte eine Glocke, die ihr Kopfschmerzen bereiten würde, müsste sie hier wohnen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, dann hörte sie drinnen schlürfende Schritte. Jemand drehte den Schlüssel im Schloss und nahm eine Kette ab. Dann blickte sie in das überraschte Gesicht von Jan Petersen. Er trug bereits Freizeitlook – ein verwaschenes T-Shirt mit dem Logo des HSV und eine graue Jogginghose. Seine braunen Haare standen in alle Windrichtungen ab – wahrscheinlich hatte sie ihn bei seinem Feierabendnickerchen gestört.

Als er sah, dass sie einen Kasten „Flens“ am langen Arm trug, entgleisten seine Gesichtszüge kurzfristig.

„Na“, sagte Wiebke mit einem Grinsen. „Bin ich jetzt deine Traumfrau?“

Petersen strahlte. „Aber so was von. Komm rein!“ Er nahm ihr den Bierkasten ab und gab den Eingang frei.

Sie erwiderte nichts und folgte der Einladung. Der Flur war halbhoch gekachelt, und neben der Holztreppe mit den ausgetretenen Stufen lehnte sein altes, knallrotes Mountainbike an der Wand.

Petersen führte sie in die Stube mit der niedrigen Decke. Der Bierkasten landete scheppernd vor dem Wohnzimmertisch. Durch die kleinen Fenster zum Hinterhof fiel das warme Licht der Abendsonne in den Raum. Der Fernseher lief ohne Ton. NDR, eine regionale Reportage. Großformatig zeigte man den Leuchtturm von Eiderstedt. Szenenwechsel, Totale der Seehundstation von Friedrichskoog. Eine Frau in Gummihosen fütterte einen Heuler. Auf dem Tisch erblickte Wiebke eine leere PET-Flasche Bier aus dem Discounter und eine offene Tüte Chips. Ungarisch, ihre Lieblingssorte.

„Setz dich doch“, forderte Petersen sie auf und schob ihr seinen bequemen Lehnsessel zurecht, bevor er selbst auf dem Sofa Platz nahm.

„Tolle Idee“, grinste Petersen und deutete auf den dunkelblauen Kasten. „Das mit dem Feierabendbier hatte ich mir zwar anders vorgestellt, aber gut … Wusste gar nicht, dass du eine Frau der Superlative bist.“

Wiebke schmunzelte. „Ich dachte, ein Feierabendbier in der nächstbesten Kneipe ist blöd. Und praktischer ist es auch, wenn wir hier eines trinken.“ Sie griff in den Kasten und nahm zwei handliche Bügelflaschen heraus. Eine reichte sie ihrem Partner.

„Du willst mich abfüllen?“

„Nein“, lachte Wiebke. „Was wir heute nicht schaffen, lass ich dir einfach hier.“ Nun hob sie mahnend den Zeigefinger. „Aber denk dran: ,Bier bewusst genießen!‘“ Wiebke deutete auf das kleine Etikett auf der Flasche. „Hier steht es, also halt dich dran!“

„Aber sowas von.“

Sie ließen die Flaschen ploppen, prosteten sich zu und tranken.

„Ach“, sagte Petersen nach dem ersten tiefen Schluck. „Das flenst. Ist schon was anderes als die Billig-Plörre aus der Plastikflasche.“ Er wischte sich den Schaum mit dem Handrücken von den Lippen und lehnte sich im Sofa zurück. „Also“, sagte er gedehnt. „Was treibt dich in mein gemütliches Heim?“

Wiebke stellte die Flasche auf dem Wohnzimmertisch ab und schlug die Beine übereinander. Sie wusste nicht recht, wie sie anfangen sollte, und nagte ein wenig unsicher auf der Unterlippe. „Es ist höchste Zeit, dass wir reden“, sagte sie schließlich und achtete auf jede Regung in Jan Petersens Gesicht. „Ich habe bemerkt, dass du dich … nun, ein wenig verändert hast in den vergangenen Tagen.“

„Hm. Und nu?“

„Will ich meinen alten Partner Jan Petersen zurück.“

„Na“, grinste er, „den hast du doch wohl. Das Verhör heute haben wir gut gemeistert, und einmal mehr haben wir uns bewiesen, dass wir ein eingespieltes Team sind. Fast wie ein altes Ehepaar, findest du nicht?“

Genau das war der Punkt, durchzuckte es Wiebke. Sie richtete sich im Sessel auf. „Wir sind ein gutes Team.“

„Ja, das sind wir.“ Petersen trank und nickte. „In der Tat verstehen wir uns blind.“

„Jan, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.“

„Immer raus mit der Sprache“, versuchte er sie zu beruhigen. Ihm war nicht entgangen, dass sie etwas beschäftigte. Da war er wieder, der sanfte Unterton in seiner Stimme. „Ich werd dir schon nicht den Kopf abreißen.“

„Du hast beim Essen gesagt, dass deine Probleme etwas mit der Liebe zu tun haben.“

„Na ja … Ach so“, dann erinnerte sich. „Du meinst gestern Mittag, an der Bockwurst-Baracke im Hafen?“

„Richtig. Wir sind ein eingespieltes Team, ich schätze deine Art und verbringe den Tag gern mit dir.“ Ihr Herz schlug ein paar Takte schneller, und Wiebke fürchtete Unsinn zu reden, deshalb stockte sie ein wenig. „Aber ich will unsere unbeschwerte Art nicht in Gefahr bringen.“

„Womit denn?“ Petersen legte den Kopf schräg. „Ich mag dich auch, Mädchen. Und seit der Zeit, als Mattes noch mein Partner war, sind wir das beste Team der Husumer Wache.“

„Mehr ist nicht?“ Wiebke schaute ihn mit festem Blick an. „Stichwort Liebe …“, half sie ihm auf die Sprünge, als sie merkte, dass er um den heißen Brei redete. Wiebke griff zur Bierflasche und nahm einen tiefen Schluck. Trank sie sich jetzt schon Mut an?

Wie albern, durchzuckte es sie, während sie ein wenig nervös am Etikett der bauchigen Flasche herum knibbelte und seinem Blick auswich.

„Nein … Warum?“

Jan Petersen schien nicht zu verstehen, worauf sie hinauswollte. Dann begriff er. „Du meinst wegen der Andeutung, die ich im ,Blinkfüer‘ gemacht habe? Wegen der Liebe, die mich in den letzten Tagen beschäftigt?“ Er lächelte verstehend. „Mach dir mal keinen Kopp, Mädchen: Es ist nicht so, dass ich unsterblich verliebt bin.“

Wiebke wusste nicht recht, was sie davon zu halten hatte. Stand ihrem Kollegen der Sinn eher nach einer lockeren Beziehung, womöglich ohne jede Verpflichtung? Nein, so etwas traute sie Petersen eigentlich nicht zu, war er doch ein grundehrlicher Mensch, der im Notfall sein letztes Hemd gab. Wiebke konnte sich kaum vorstellen, dass er der Typ für eine On-Off-Beziehung war.

Ja, dachte sie verächtlich. So nannte Tiedje das, was sie derzeit führten: Eine On-Off-Beziehung. Wie mit einem Schalter regelte man seine Gefühle. Mal waren sie ein-, mal ausgeschaltet. So einfach war das für Tiedje. Doch Jan Petersen unterschied sich um Längen von ihrem Exfreund. Sollte sie sich so in ihm getäuscht haben? Wut keimte in ihr auf.

„Au Kacke“, rief Petersen plötzlich, als er ihr betroffenes Gesicht sah. Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Jetzt hab ich‘s: Du hast mich erwischt.“ Er machte eine betroffene Miene. „War wohl nur eine Frage der Zeit, schließlich kennst du mich gut genug.“

„Allerdings“, nickte Wiebke und war froh, dass er endlich verstanden hatte, worum es ging. Das machte die Sache leichter.

„Eigentlich soll man ja nicht in der Firma anbändeln. Aber ich bin ja nicht mehr der Jüngste – da kann man schon mal eine Regel vergessen.“

„Petersen – wir …“, stammelte Wiebke und suchte nach den richtigen Worten. „Also im Job sind wir unschlagbar, und ich mag dich auch sehr, ich schätze deine Art, aber wir …“ Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, und suchte nach einer Strategie, jetzt bloß keinen Fehler zu machen, doch Petersen schüttelte den Kopf und sprach weiter.

„Aber sie ist schon ziemlich nett.“ Er grinste. „Und es stört mich auch nicht, dass sie ein paar Pfund zu viel auf den Hüften hat. Im Gegenteil, ich mag das, wenn Frauen die Kurven an den richtigen Stellen haben.“ Er wirkte ein wenig verlegen. „Aber wie soll ich es ihr sagen?“

Nun bildete sich eine steile Falte auf Wiebkes Stirn. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie begriff, dass Petersen wohl verliebt war, aber nicht in sie. Verlegen kratzte sie sich am Hinterkopf. Wiebke überlegte, wie sie schnell und dennoch unauffällig zurückrudern konnte, bevor sie sich vor ihm blamierte. Hatte sie bereits zu viel von ihren Gedanken preisgegeben? Was dachte Petersen denn nun von ihr? Wahrscheinlich hielt er sie für eine unreife junge Frau. Wie töricht war sie denn gewesen, seinen Liebesfrust auf sich selbst zu beziehen?

Wiebke fragte sich, um wen es sich bei Petersens Herzdame handeln könnte.

Die Antwort gab er im nächsten Satz selbst. „Ich mag Katja eben. Gut, ich will nicht sagen, dass ich unsterblich in sie verliebt bin – aber wer weiß? Was nicht ist, kann ja noch werden.“

„Moment“, rief Wiebke aus. „Du stehst auf Katja Graf?“

„Auf sie stehen wäre wohl zu viel gesagt. Aber ich finde sie ganz nett.“ Petersen lächelte ein wenig verlegen. „Ich werd doch auch nicht jünger. Und ehe ich mich versehe, bin ich ein alter Mann und muss einsam und verbittert zurechtkommen. Willst du das etwa?“

„Natürlich nicht“, lächelte Wiebke und leerte ihre Flasche. Es war ein eigenartiges Gefühl, zu wissen, dass Petersen sich in Katja Graf verliebt hatte. Dabei wusste sie selbst nicht einmal, warum es sich seltsam anfühlte. Hatte sie sich ernsthaft Hoffnungen gemacht, dass sie diejenige war, an die der alte Seebär sein Herz verschenkt hatte? Wiebke fühlte sich unwohl in ihrer Haut. Sie bezweifelte plötzlich, ob es richtig gewesen war, hierher zu kommen. Er schien von ihren Gedankengängen nichts mitzubekommen. Immerhin hatte er sich ihr anvertraut.

„Ich bin mir nicht sicher, immerhin ist sie eine Arbeitskollegin“, bemerkte Petersen nun.

„Das wäre ich auch – beispielsweise.“

Er ging nicht auf Wiebkes Bemerkung ein. „Aber der alte Grundsatz … ,Not inside the company‘ …“

„Liebe ist ein Gefühl, das man nicht mit Dienstbeginn ausklammern kann.“

Petersen wiegte nachdenklich den Kopf. „Weise Worte“, murmelte er und trank von seinem „Flens“.

„Möglicherweise ist es völlig übertrieben, zu behaupten, ich wäre in Katja verknallt. Aber ich denke halt öfter mal an sie. Und da bin ich mir nicht sicher, ob es gut ist, ein Verhältnis mit einer Kollegin zu haben.“ Er lächelte. „Aber ich werde die Dinge auf mich zukommen lassen. Vielleicht lasse ich mich auch versetzen, wenn das mit Katja nicht gut geht.“

„Du willst Husum verlassen?“

Jan Petersen zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Aber gern würde ich nicht gehen.“ Er deutete auf seine Brust. „Die graue Stadt am Meer ist mir ans Herz gewachsen. Ich bin hier groß geworden und kenne jeden Baum und jeden Strauch. Vielleicht hast du recht – es wäre wohl ein großes Opfer, mich versetzen zu lassen. Und ich weiß nicht, ob ich bereit bin, diesen Schritt zu gehen.“

Mit einem eleganten Schwung, für den sie sich insgeheim selbst bewunderte, beförderte Wiebke die Bügelflasche zurück in den Kasten. „So“, sagte sie dann gedehnt. „Ich muss auch mal wieder los.“

„Du gehst schon?“ Er blickte enttäuscht auf.

Wiebke nickte, während sie sich erhob. „Ich wollte nur mal nach dem Rechten sehen. Hab mir ein wenig Sorgen gemacht in den letzten Tagen. Aber wenn du mir versprichst, jetzt wieder ganz der Alte zu sein, dann bin ich ja beruhigt.“

Ostenfelder Landstraße, 19.10 Uhr

Mit gemischten Gefühlen trat Wiebke den Weg nach Ostenfeld an. Einerseits war sie erleichtert, dass ihr Verhältnis zu Jan Petersen auch künftig nicht von privaten Gefühlsduseleien beeinträchtigt werden würde. Andererseits war sie auch ein wenig enttäuscht, weil er sich für Katja Graf entschieden hatte. Wiebke mochte Katja als Mensch und schätzte sie als Kollegin, und trotzdem fühlte es sich noch ein wenig seltsam an, dass ihr Partner sich offenbar zu ihr hingezogen fühlte.

Aber wahrscheinlich, so machte sich Wiebke Mut, war es gut so. Schwieriger wäre es gewesen, wenn er sich falsche Hoffnungen auf sie gemacht hätte. Hoffnungen, die sie womöglich nie erfüllt hätte. Es war nur vernünftig, dass er sich nicht die Frau ausgesucht hatte, mit der er Schreibtisch und Dienstwagen teilte. Wäre es anders, würden private Probleme sich wohl auch negativ auf die Arbeit auswirken.

Petersen und Katja … Wiebke versuchte sich vorzustellen, wie die beiden Händchen haltend durch Husums Straßen flanieren, frisch verliebt und immer wieder zärtliche Küsse austauschend. Dennoch war es eigenartig, dass Jan etwas für eine andere Frau zu empfinden schien. War sie etwa eifersüchtig?

Unsinn, schalt sie sich selbst eine Närrin, während sie das Seitenfenster ein wenig öffnete und die einströmende Luft tief in die Lunge sog.

„Wir sind schließlich erwachsene Menschen, wir sind Profis, und da würde eine Liebe nicht in den Job passen. Basta.“

Wiebke gönnte Jan von Herzen, dass er im Privatleben endlich wieder eine Frau an seiner Seite hatte. Zwar wusste niemand, ob sich daraus überhaupt eine Liebe entwickelte, doch ihr war das verliebte Blitzen in seinen Augen nicht entgangen, als er von ihr gesprochen hatte. Auch Wiebke würde irgendwann den richtigen Mann finden. Eines Tages würde er ihr über den Weg laufen, ganz bestimmt sogar. Nur eines wusste sie jetzt schon: Es war ganz sicher nicht Tiedje.

Ihr war aufgefallen, dass sie während ihres Besuches bei Jan nicht ein einziges Mal über den Fall gesprochen hatten. Und vielleicht war das auch gut so, denn mitunter tat es einfach gut, sich um private Dinge zu kümmern. Wiebke dachte an Petersens gescheiterte Ehe. Sie wusste, dass seine Exfrau ihm das Leben schwer machte. Dass er diesen Monat nicht einmal in der Lage war, seine Miete zu bezahlen, ahnte sie nicht.

Hinter Mildstedtfeld brach die Sonne durch die Wolkentürme, die der Wind ins Landesinnere geschoben hatte. Der Asphalt der Ostenfelder Landstraße glitzerte, und Wiebke setzte ihre Sonnenbrille auf. Sie atmete noch ein paar Mal tief durch und gewann langsam den nötigen Abstand, um sich auf den Feierabend mit ihrem Vater freuen zu können. Es gab noch so viel zu besprechen, sie hatte so viele Fragen an ihn.

Die Schatten der mächtigen Windräder strichen monoton über die weiten Felder und zauberten ein gleichmäßiges Muster auf die Wiesen. Weiter hinten, am Waldrand, zog ein Traktor gemächlich seine Bahn über einen Acker. Es stank nach Gülle, und Wiebke kurbelte das Fenster hoch. Aus dem Radio drang leise Musik. Natürlich berichtete man in den Lokalnachrichten über den brutalen Mord an Gabriele Heiners, und auch der Umstand, dass die Polizei offenbar vor einem Rätsel stand und der Mörder sich noch immer auf freiem Fuß befand, wurde thematisiert.

Wiebke fühlte sich wie ein winziges Zahnrad in einem mächtigen Getriebe. Zwar funktionierte sie, aber dennoch blieb das Gefühl von Hilflosigkeit. Sie jagten nun schon seit vierzig Stunden einen Mörder, Torben Schäfer hatte zwar den Mord an Holger Heiners gestanden, aber alles deutete darauf hin, dass er mit dem Tod der Millionärswitwe nichts zu tun hatte. Es war zum Verrücktwerden.

Am Ortseingang von Ostenfeld drosselte sie das Tempo und schaltete das Autoradio aus. Wiebke fand, dass es ein schönes Gefühl war, nach einem langen Arbeitstag nach Hause zu kommen. Sie lenkte den Wagen auf die kleine Einfahrt, die zum Haus führte. Heike hockte über einem Beet und bekämpfte das Unkraut. Sie winkte Wiebke freundlich zu. Das Verhältnis zwischen ihnen war beinahe freundschaftlich; sicherlich eine positive Eigenschaft der Menschen in dieser Region. Zusammenhalt wurde hier nicht gepredigt – er wurde gelebt.

Seit ihrem Einzug in die Dachgeschosswohnung an der Hauptstraße 4 a fühlte sich Wiebke hier wie zu Hause. Und augenblicklich konnte sie es sich nicht vorstellen, hier jemals wieder auszuziehen. Sie parkte den Passat an seinem angestammten Platz und stieg aus. Trotz des aufreibenden Tages empfand Wiebke tiefe Zufriedenheit, als sie die Haustür mit den Butzenscheiben aufschloss und die Stufen ins obere Stockwerk des Hauses erklomm. Oben roch es wundervoll nach einem frisch zubereiteten Abendessen. Wiebke trat in die Wohnung und hörte ihren Vater in der Küche mit dem Geschirr klappern. Das Küchenradio lief auf voller Lautstärke – Ulbricht sang laut, aber falsch zu einer Schlagermelodie mit. Unwillkürlich erinnerte sich Wiebke an ihre Kindheit. Früher hatte er immer an den Sonntagen – wenn er zu Hause war – für seine kleine Familie gekocht. Sie erinnerte sich an die Dreizimmerwohnung an der Straße An der Bergbahn in Wuppertal-Barmen. Ob er dort noch immer lebte? Oder war er umgezogen und hatte sich vielleicht eine kleinere Wohnung genommen? Sie beschloss, ihn danach zu fragen. Wiebke spürte einen Hauch von Heimweh nach Wuppertal – ein Gefühl, das sie lange schon nicht mehr empfunden hatte. Das unerwartete Auftauchen ihres Vaters hatte längst vergessene Kindheitserinnerungen hervorgerufen.

„Kind, da bist du ja“, sagte er, als er bemerkte, dass sie die Wohnung unter der Dachschräge betreten hatte und im Türrahmen lehnte, um ihm bei der Arbeit zuzusehen. Es duftete herrlich, und im Ofen brutzelte ein Braten. Ulbricht trug wieder die alberne Titten-Schürze, doch Wiebke hatte sich fast schon daran gewöhnt und schmunzelte nur.

„Oh“, sagte sie erfreut und blickte in die Backröhre des Umluftofens.

„Du machst uns einen Braten?“

Ulbricht, der gerade den Salat an der Spüle abwusch, fuhr herum. „Warum? Braten?“ Dann schien er sie zu verstehen. „Ach so, das im Ofen. Nein, das ist kein Braten. Es ist dein Kater.“

Wiebke schluckte im ersten Moment, dann erinnerte sie sich daran, dass sie Witze ihres Vaters schon als Kind nicht immer auf Anhieb verstanden hatte und lachte. Trotzdem ertappte sie sich dabei, sich unauffällig nach Garfield umzuschauen. Der Kater war nicht zu sehen.

„Schön, dass du uns doch etwas kochst“, sagte sie dann.

„Na klar. Wie in alten Zeiten, weißt du noch? Auf dem Heimweg bin ich in Mildstedt vorbeigefahren, da gibt es doch diese Ansammlung von Supermärkten auf der grünen Wiese. Ich konnte nicht anders und musste anhalten, um etwas für uns einzukaufen. Tja …“ Er machte eine ausladende Handbewegung. „Und da steh ich nun mitten im Geschehen.“ Er trat an die Arbeitsplatte und präsentierte ihr voller Stolz eine Flasche Rotwein. „Hier“, sagte er. „Habe ich extra für dich mitgebracht. Den magst du doch, oder?“

Wiebke betrachtete das Etikett der bauchigen Flasche. Ein Rioja, die Sorte Rebensaft, die sie über alles liebte. „Ja“, sagte sie leise. „Den mag ich sehr.“

„Schön.“ Ulbricht durchsuchte die Schubladen der Küche nach einem Korkenzieher, fand ihn schließlich im Fach neben der kleinen Spülmaschine und machte sich daran, die Weinflasche zu entkorken. Wiebke sah ihm dabei zu, dann ging sie zu einem Hängeschrank und nahm eines der langstieligen Weingläser heraus, die Tiedje ihr irgendwann aus Tønder mitgebracht hatte. Er hatte den kleinen Ort hinter der dänischen Grenze sehr geliebt und war regelmäßig mit ihr dorthin gefahren. Damals, als sie noch ein Paar gewesen waren. Damals, in einem anderen Leben.

Mit einem satten Geräusch löste sich der Korken vom Flaschenhals, und Ulbricht schenkte ihr das Glas ein. Nicht randvoll, so wie es sich gehörte. Er selbst hatte sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank genommen. Sie stießen an und tranken schweigend.

„Es ist schön, hier zu sein“, sagte er anschließend und wandte sich eilig ab, um nach dem Braten zu schauen.

Wiebke sah, dass seine Augen feucht schimmerten, und vermutete, dass ihrem Vater das unangenehm war. Deshalb sprach sie ihn nicht darauf an. Nachdem sie noch einen Schluck von ihrem Wein genippt hatte, stellte sie das Glas auf den kleinen Küchentisch.

„Ich deck uns schon mal den Tisch“, sagte sie und nahm Teller und Besteck aus dem Küchenschrank, um beides zum Esstisch im Wohnzimmer zu bringen. In einer Schublade fand sie gemusterte Papierservietten, die sie kunstvoll faltete und neben die Teller drapierte. Auch eine Kerze zündete sie an. Maunzend kam Garfield aus seinem Versteck und strich um ihre Beine. Wiebke kraulte den Kater und führte ihn in die Küche. Eilig öffnete sie eine Dose Katzenfutter, um den bereitstehenden Fressnapf damit zu füllen. Der Kater war glücklich und fraß sofort.

„Wo kommt der denn her?“, wunderte sich Ulbricht.

Wiebke zuckte die Schultern. „Manchmal macht er es sich im Korb mit der Dreckwäsche bequem.“ Dann lächelte sie. „Was hast du noch so getrieben, während ich Petersen einen Besuch abgestattet habe?“

„Ich war noch mal bei Johannsen. Er scheint ganz in Ordnung zu sein.“

„In der Tat, das ist er“, bestätigte Wiebke, dann runzelte sie die Stirn. „Was wolltest du von ihm? Hattest du noch etwas vergessen?“

Ulbricht nickte. „Sozusagen, ja. Ich habe ihm etwas zur Überprüfung gebracht.“ Nun grinste er wieder jungenhaft. „Sonderlich begeistert war er nicht, aber er hat mir versprochen, sich gleich an die Arbeit zu machen.“

„Was war das?“, fragte Wiebke.

Ulbricht schüttelte den Kopf. „Noch nicht, Kind, noch nicht. Ich warte ab, und wenn ich mit meinem Verdacht richtig liege, dann möchte ich dir den Ruhm lassen.“

„Und wenn nicht?“

„Dann blamierst du dich nicht bei deinen Kollegen.“ Mit einer Geste deutete ihr Vater an, dass er das Thema vorerst als erledigt betrachtete. „Bei Petersen warst du also“, bemerkte er stattdessen. Schon früher hatte er geschickt das Thema gewechselt, wenn ihm etwas unangenehm war. „Wie ist er, dein Partner? Bildet ihr immer ein Team?“

„Ja, man hat mich am ersten Tag in der Polizeidirektion Husum gleich in sein Büro gesetzt. Wahrscheinlich sollte er ein wachsames Auge auf mich Küken haben.“

„Aber du bist nicht zufällig in ihn verknallt?“

„Papa – bitte!“ Wiebke winkte empört ab. „Woran denkst du?“

„Glaubst du ernsthaft, es wäre das erste Mal, dass aus zwei Kollegen ein Paar wird?“ Ulbricht schüttelte den Kopf. „Manchmal bist du so gutgläubig wie deine Mutter, Kind.“ Er lachte amüsiert, dann wurde er ernst. „Eines Tages wird auch für dich der Richtige kommen, ganz bestimmt.“

Nun beneidete Wiebke ihn um sein Talent, in peinlichen Situationen das Thema zu wechseln. Um weiteren Anspielungen aus dem Weg zu gehen, kümmerte sie sich um Garfield.

„Was hast du vor?“, fragte Wiebke später, als Ulbricht sich erhob und den Mantel vom Garderobenhaken nahm. Im Fernsehen hatten sie gemeinsam einen Krimi geschaut – eine Sache, die sie verband, nicht nur aus beruflicher Sicht. Natürlich war Wiebke nicht verborgen geblieben, dass er unruhig war und immer wieder auf die Uhr geschaut hatte.

Als er sich gegen zehn erhob und Anstalten machte, zu später Stunde noch einmal das Haus zu verlassen, beschlich Wiebke ein seltsames Gefühl.

„Es ist ein wunderschöner Abend, und ich muss noch einmal an die frische Luft.“ Er lächelte geheimnisvoll.

„Verscheißern kann ich mich allein, Papa.“ Wiebke winkte ab und stieß die Wolldecke, mit der sie es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte, fort. „Also – was liegt an?“

„Ich möchte mir die Gegend anschauen.“

Wiebke kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er schweigen würde wie ein Grab. „Bitte mach mir keinen Ärger.“

„Keine Sorge, ganz im Gegenteil. Ich werde dich anrufen, wenn ich Fragen habe“, versprach er mit einem spitzbübischen Lächeln auf den Lippen und hauchte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn, dann war er draußen. Wiebke stand ein wenig unschlüssig im dunklen Flur und hörte, wie der Motor seines alten Opels röchelnd ansprang, dann entfernte sich das Fahrzeug. Ihr Vater war ein wandelndes Geheimnis, und sie ahnte, dass er sich mal wieder in ihren Fall einmischte. Ein ungutes Gefühl beschlich sie, und Wiebke spielte mit dem Gedanken, ihm hinterher zu fahren. Doch wahrscheinlich war er längst zu weit entfernt, und so verwarf sie den Gedanken rasch wieder. Sie erschrak, als etwas Warmes und Pelziges um ihre Füße strich.

„Mein Gott, Garfield, hast du mich erschreckt!“ Sie nahm den Kater auf den Arm und kehrte nachdenklich ins Wohnzimmer zurück. Wenn Wiebke eines hasste, dann war es Warten. In der Stube angekommen, trat sie an das große Wohnzimmerfenster und blickte in Heikes Garten. Das Schilf am künstlichen Teich wiegte sich im Abendwind. Wiebke überlegte fieberhaft, was ihr Vater vorgehabt hatte, dann hatte sie eine Idee. Je länger sie nachdachte, umso sicherer wurde sie, dass ihr Vater nach Oster-Ohrsted aufgebrochen war. Sie setzte Garfield, den sie zärtlich gekrault hatte, auf den Boden und ging in die Diele, wo sie das schnurlose Telefon aus der Station nahm. Eilig tippte sie eine Nummer ein. „Ich brauche dringend die Kollegen vom Streifeneinsatzdienst.“

Der Militärstützpunkt hatte etwas von der mysteriösen Area 51 der Amerikaner, fand Ulbricht. Die Kaserne lag zwischen Ostenfeld und Treia mitten in einem Waldgebiet. Selbst tagsüber herrschte hier kaum Verkehr; nur ab und zu verirrte sich ein Lieferwagen in die Einöde, um über die verkehrsarmen Nebenstrecken zur Bundesstraße 201, die Schleswig und Husum miteinander verband, zu gelangen und so dem einen oder anderem gemütlich dahin schleichenden Wohnmobil ein Schnippchen zu schlagen.

Beinahe hätte er die enge Einmündung in den kleinen Waldweg übersehen. Als die Lichtfinger der Scheinwerfer über das auseinanderklaffende Buschwerk am Straßenrand wischten, trat er das Bremspedal bis zum Bodenblech durch. Der Wagen schlingerte, dann riss Ulbricht das Lenkrad nach links und brachte es in einem waghalsigen Manöver fertig, ihn im letzten Moment auf den unbefestigten Weg zu bugsieren. Die Stoßdämpfer des alten Opels schlugen ein paar Mal hart durch, als der Wagen durch Schlaglöcher rumpelte, in denen man einen Kleinwagen hätte versenken können. Ulbricht wendete den Vectra, wobei tiefhängende Äste und Zweige über den Lack kratzten. Das Wenden war eine alte Angewohnheit, die er vor zig Jahren in der Polizeischule gelernt hatte und die ihm irgendwann in Fleisch und Blut übergegangen war. Im Zweifelsfall konnte ein vor der Abfahrt durchgeführtes Wendemanöver Leben retten, dann nämlich, wenn er sich einfach in den Wagen setzen und verschwinden konnte. Nachdem der Opel in entgegengesetzter Richtung stand, zog er den Zündschlüssel ab. Stille und absolute Dunkelheit umgaben ihn.

„Dunkel wie im Bärenarsch“, brummte Ulbricht missmutig und verfluchte, dass die Batterien der Taschenlampe im Handschuhfach leer waren. Er löste den Sicherheitsgurt und stieg aus.

Obwohl ein seichter Wind durch die Äste der Bäume strich, fror er nicht, als er die Wagentür so leise wie möglich ins Schloss drückte. Das Klicken der Zentralverriegelung kam ihm in der Stille überlaut vor. Ulbricht atmete tief ein und genoss die frische Waldluft. Wäre da nicht der militärisch abgeriegelte Sicherheitsbereich mit Überwachungskameras und den leistungsstarken Scheinwerfern, die die Dunkelheit auch aus dem letzten Winkel peitschten, so wäre dies ein friedlicher, ja, ein idyllischer Ort gewesen. Dies hätte ebenso gut die Lüneburger Heide sein können, oder der Schwarzwald, doch dies war Schleswig-Holstein. Kein Urlauber ahnte, was hier geschah, und Ulbricht war wild entschlossen das Geheimnis zu lüften. Selbst die Menschen, die hier brav als Soldaten ihren Dienst verrichteten, ahnten nicht, welche Geschäfte hier abgewickelt wurden.

Hier wurden Container für den Einsatz in Afghanistan montiert und aufbereitet. Doch kaum jemand wusste, dass vor dem mannshohen Kasernenzaun noch andere Geschäfte getätigt wurden, die nichts mit der Bundeswehr zu tun hatten. Doch die Täuschung funktionierte perfekt, denn kaum ein Außenstehender würde sich Gedanken darüber machen, wenn hier Militär-Lastwagen anhielten und beladen wurden. Ulbricht wollte endlich wissen, was hier umgeladen und für den Transport vorbereitet wurde.

Der Wind frischte auf und erzeugte in den Kronen der Bäume ein sanftes Rascheln. Es dauerte einen Augenblick, bis der Mond durch die Wolken drang und die Szenerie in ein kaltes Licht tauchte. Nun konnte er sich zumindest ein wenig orientieren. In der Nacht sah alles anders aus, und erst, als er die Stelle erreicht hatte, an der die Schienen die Straße kreuzten, konnte er seine augenblickliche Position bestimmen. Ein paar Meter weiter gab es auf der rechten Seite ein großes Tor. Die Einfahrt selbst lag im Wald und war für die Insassen vorbeifahrender Autos nur schlecht einsehbar. Wahrscheinlich, so überlegte Ulbricht, war dies durchaus beabsichtigt. Keine Armee der Welt ließ sich gern in die Karten blicken; das galt für die Bundeswehr genauso wie für die amerikanische Armee. Er blickte sich um. Die Stelle, an der er den Vectra im Wald geparkt hatte, konnte man von seinem jetzigen Standort nicht mehr ausmachen. Gut so. Niemand durfte mitbekommen, dass er hier war. Ulbricht hoffte, dass die Bundeswehr keine Wachposten durch den nächtlichen Wald scheuchte, um das Areal auf mögliche Feinde zu durchkämmen. Als er noch einmal zum Himmel blickte, sah er, dass der Wind die Wolken nun vollständig vertrieben hatte. Ulbricht suchte sich eine Stelle, von der aus er das Haupttor des Kasernengeländes gut beobachten konnte. Er fand hüfthohes Dickicht auf der gegenüberliegenden Straßenseite und stellte sich dicht an den Stamm einer Eiche. Er wartete und hätte gern eine Zigarette geraucht. Doch auch wenn die Waldbrandgefahr nach den Regenfällen in den letzten Tagen äußerst gering war, so wusste er doch, dass die Glut einer Zigarette in der Dunkelheit unnatürlich hell war und seine Anwesenheit verraten würde. Also zog er ein Hustenbonbon aus der Tasche seines Mantels, wickelte das Papier ab und schob sich das Bonbon in den Mund. Der starke Minzgeschmack brannte in seinem Rachen, doch er glaubte zu fühlen, wie sich das Volumen seiner Lunge vergrößerte. Die Minuten verrannen zäh wie Sirup. Als sich aus der Ferne ein Motorengeräusch näherte, beschleunigte sich der Pulsschlag des alten Hauptkommissars. „Es geht los“, knurrte er zu sich selbst und presste sich tiefer in den Schatten des alten Baumes.

Ulbricht musste kein Fachmann zu sein, um am Geräusch zu hören, dass es sich um ein schweres, hubraumstarkes Fahrzeug handelte. Ein Sechs- oder Achtzylinder näherte sich ziemlich schnell. Bald schon sah Ulbricht die Lichtbalken der Scheinwerfer, die dem Wagen vorauseilten und die Dunkelheit zerschnitten. Grelles Xenonlicht, wahrscheinlich die Grundausstattung einer Limousine der gehobenen Preisklasse. Nach endlosen Sekunden tauchte der dunkle Mercedes der S-Klasse in Ulbrichts Sichtfeld auf. Der Fahrer bremste das schwere Gefährt mit quietschenden Reifen wenige Meter hinter der Einfahrt zur Kaserne auf dem befestigten Seitenstreifen der Landstraße. Der Motor erstarb mit einem letzten Blubbern, dann klappte die Wagentür auf, und der Fahrer stieg aus. Ulbricht spähte durch das Buschwerk und erkannte eine hochgewachsene Gestalt in dunkler Kleidung. Wahrscheinlich war das Peer Hansen, der Freund von Beke Frahm. Unwillkürlich fragte er sich, was das für Geschäfte waren, die ein gestandener und offenbar angesehener Unternehmer aus Husum nachts und in aller Einsamkeit eigenständig abzuwickeln hatte. War Hansen in illegale Waffengeschäfte verwickelt?

Wieder vergingen einige Minuten, der Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite wanderte ungeduldig neben seinem Mercedes auf und ab, blickte dabei immer wieder auf die Armbanduhr und schüttelte den Kopf.

Dann tat sich auf dem Kasernengelände etwas. Ein Lieferwagen rollte im Schritttempo auf das große Tor zu. Der Fahrer stoppte an der Schranke, ein Wachmann trat an das Fenster auf der Fahrerseite und beugte sich ins Innere des Transporters. Die Männer wechselten ein paar Worte, dann legte der Wachmann grüßend eine Hand an die Krempe seiner Mütze und öffnete erst die Schranke, dann das große Tor. Der Diesel setzte sich schwerfällig in Bewegung, und Ulbricht erkannte, dass es sich um einen alten VW-Bus handelte. Das Fahrzeug war in Nato-Oliv lackiert, ob es sich dabei aber um ein echtes Bundeswehrfahrzeug handelte, konnte er aus der Entfernung nicht einschätzen. Viele Fahrzeuge aus dem ehemaligen Bestand der Bundeswehr waren längst veräußert worden.

Der Fahrer des Bullis bog nach rechts ab. Doch er schaltete nicht in den zweiten Gang, sondern näherte sich mit dröhnendem Motor dem wartenden Mercedes. Der Motor klapperte ein letztes Mal, dann sprang der Fahrer ins Freie und begrüßte den Mann, der nun an seiner Limousine lehnte, mit einem jovialen Handschlag.

„Sie sind spät dran“, maulte Hansen, während er die Kofferraumklappe seines Wagens mit einem Knopfdruck auf die Fernbedienung öffnete.

„Ging nicht früher“, entgegnete der Mann mit dem Armee-Bulli und machte sich ebenfalls am Heck seines Autos zu schaffen. „Wir schaffen das Zeug auf dem direkten Weg fort, und dann sind wir wieder gut in der Zeit.“

„Ihr Wort in Gottes Ohr.“ Hansen deutete auf den Inhalt seines Kofferraumes, den Ulbricht von seinem Versteck aus nicht sehen konnte. „Fünf Kisten sind es.“

Der Mann aus dem Transporter beugte sich in die Limousine und hob ächzend eine schwere Kiste heraus, während Hansen keine Anstalten machte, ihm zu helfen. Ulbricht schüttelte den Kopf und wartete ab, bis die erste Holzkiste im Heck des Bullis verstaut war, dann verließ er sein Versteck. Er war in etwa auf der Mitte der Straße angelangt, als sich ein Wagen in halsbrecherischem Tempo näherte. Ulbricht brachte sich mit einem beherzten Satz in Sicherheit und erkannte aus dem Augenwinkel, dass es sich bei dem Auto um einen blau-silbernen Touran handelte. Ein Streifenwagen, wie er überrascht feststellte. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Die Männer blieben wie angewurzelt stehen, dann knallte Hansen den Kofferraum des Mercedes zu. Gleichzeitig machte der Fahrer des VW-Busses Anstalten zu flüchten, doch Ulbricht war schnell bei ihm und hielt ihn fest. „Schön hierbleiben, Freundchen“, zischte er und sah, wie die Besatzung des Streifenwagens mit gezückten Waffen näher trat.

„Hände hoch – alle!“, rief der Streifenführer in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

„Ich bin ein Kollege – Hauptkommissar Ulbricht“, rief er, als ein Schuss durch die Nacht peitschte. Peer Hansen hatte plötzlich eine Pistole in der Hand. Eine Kugel traf den Fahrer des Bullis in den Oberkörper. Der Mann sackte mit einem kehligen Schmerzenslaut auf den Lippen zusammen. Ulbricht ahnte, dass die Kugel ihm gegolten hatte. Die Miene des Schützen glich einer Fratze. Wutverzerrt und zum Äußersten entschlossen wollte er sich nicht festnehmen lassen. Hansen rannte um seinen Wagen herum und warf sich hinter das Lenkrad. Doch noch bevor er den Motor starten konnte, hatten die Polizisten ihm beide Hinterreifen zerschossen. Einer rannte mit der Waffe im Anschlag zum Einstieg der Limousine. „Werfen Sie die Waffe weg und kommen Sie mit erhobenen Händen aus dem Fahrzeug!“ Nun endlich schien der Widerstand des Mannes gebrochen zu sein. Er folgte der Aufforderung, ließ sich die Handschellen anlegen und in den Fond des Streifenwagens verfrachten. Einer der Polizisten zückte das Handy und wollte einen Notarzt rufen, doch Ulbricht winkte ab. Der Fahrer des VW-Busses hatte den Schuss nicht überlebt. Ulbricht fühlte keinen Puls mehr, und der Mann hatte im Anblick des Todes die Augen weit aufgerissen. Hier kam jede Hilfe zu spät.

„Was war denn hier los?“, fragte der Polizist mit belegter Stimme an Ulbricht gewandt.

„Eine Übergabe – von was auch immer. Macht einfach die Kisten auf, dann wisst ihr es. Der Mann, den ihr da verhaftet habt, ist mit größter Wahrscheinlichkeit ein gewisser Peer Hansen.“

Der Polizist machte große Augen. „Der Peer Hansen? Ich meine, der von der Werft?“

Ulbricht nickte. „Hatte wohl nebenher noch Geschäfte laufen, die so wichtig waren, dass er sich selbst darum gekümmert hat.“ Dann verdunkelte sich seine Miene. „Wer hat euch eigentlich alarmiert, Kollegen?“

„Kommissarin Wiebke Ulbricht, sie hat sich wohl Sorgen um ihren Vater gemacht“, grinste der Polizist, dann deutete er zu seinem Einsatzwagen. „So“, sagte er, „dann fängt die Nachtschicht jetzt wohl erst richtig an.“

„Ich werde Wiebke anrufen und sagen, dass alles vorbei ist“, brummte Ulbricht und zog das Handy aus der Manteltasche, um seiner Tochter vom dramatischen Ausgang der Aktion zu berichten.