NEUN
Ostenfeld, 6.40 Uhr
Sie wurde von Musik geweckt. Wiebke blinzelte in die helle Morgensonne, die durch das Rollo in ihr Schlafzimmer drang. Als sie verschlafen an sich herunterblickte, stellte sie fest, dass sie einen ihrer karierten Baumwollpyjamas trug, die sie in kalten Winternächten so sehr liebte. Im Sommer schlief sie entweder nackt oder in einem leichten, übergroßen T-Shirt. Da sie aber nicht wusste, was ihr Vater davon hielt, wenn sie nackt durch das Haus lief, hatte sie sich für ihren kuscheligen Lieblingsschlafanzug entschieden. Dass der Pyjama einmal ein Geschenk von Tiedje gewesen war, verdrängte sie erfolgreich.
Die Nacht war viel zu kurz gewesen, und so brauchte Wiebke einen Moment, bis sie sich an den gestrigen Tag erinnerte. Ihr Vater Norbert Ulbricht war völlig überraschend aufgetaucht; sie hatten bis in die späte Nacht zusammengesessen und geplaudert. Und, so hatten sie festgestellt – die Chemie zwischen Vater und Tochter stimmte auch nach Jahren der Trennung noch. Irgendwann in den frühen Morgenstunden hatten sie sich verabschiedet und sie war hundemüde, aber sehr glücklich ins Bett gekrochen.
Wiebke warf einen Blick auf den kleinen Wecker und schüttelte die restliche Müdigkeit ab. Nun drang ein verführerischer Kaffeeduft in ihre Nase. Sie hörte, dass in der Küche mit Geschirr geklappert wurde. Gut gelaunt stand Wiebke auf, öffnete das Schlafzimmerfenster und atmete tief durch. Der Morgen roch frisch, und auf der Wiese hinter dem Haus glitzerte der Morgentau im Gras wie winzige Perlen in der Sonne. Der Hahn vom Nachbarn krähte, aber das tat er nicht nur im Morgengrauen, sondern den lieben langen Tag. Das Vieh war irgendwie gestört, fand Wiebke.
Der Tag konnte kommen, dachte sie und verließ das Schlafzimmer. Barfuß tappte sie durch den Flur. Dabei führte ihr Weg am Wohnzimmer vorbei. Vater hatte, das sah sie im Vorbeigehen, den Tisch der kleinen Essecke bereits gedeckt.
„Moin“, sagte sie, als sie im Rahmen der Küchentür stand. Ulbricht hatte sie nicht kommen hören und fluchte gerade über seine eigene Unfähigkeit, den Eierkocher zu bedienen. Als er sich zu ihr umwandte, bemerkte Wiebke, dass er eine ihrer Küchenschürzen trug. Natürlich die mit den großen Gummibrüsten, die ihr die Kollegen zum ersten Grillfest der Polizeidirektion geschenkt hatten. Ein Scherzartikel, wie man ihn jedes Jahr zu Karneval in jedem Geschäft hinterhergeworfen bekam.
„Morgen … Na, gut geschlafen?“ Als er ihren amüsierten Blick sah, verharrte er in der Bewegung und blickte an sich herab. „Was gibts denn da zu gaffen?“
„Die Schürze steht dir ganz hervorragend, Papa“, lächelte sie, trat näher und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, was den alten Brummbär prompt erröten ließ.
„Es war die Einzige, die ich gefunden habe“, verteidigte er seinen Anblick.
Bevor Wiebke etwas erwidern konnte, jaulte der Eierkocher auf. Ulbricht zuckte zusammen, Wiebke trat an seine Seite und zog den Netzstecker des kleinen, lärmenden Gerätes. Auf der Stelle kehrte Ruhe ein.
„Das Geräusch weckt ja Tote auf“, brummte Ulbricht.
„In unserem Beruf vielleicht gar nicht mal die schlechteste Erfindung“, lächelte Wiebke. „Abgesehen davon heißt es ,Moin‘, nicht ,Morgen‘. In Friesland grüßt man sich so, und zwar vierundzwanzig Stunden am Tag, Papa.“
„Da kannste mal sehen, dass ihr hier oben Langschläfer seid“, konterte Ulbricht. Dann grinste er wie ein kleiner Junge und strich sich zärtlich über die üppigen Gummibrüste an der Schürze. „Aber schön habt ihr es hier im Norden schon.“
„War klar, Papa.“ Wiebke winkte ab und nahm die Eier aus dem kleinen Gerät auf der Arbeitsplatte. „Das hast du schön gemacht“, sagte sie dann. „Du hast mir kein Frühstück mehr gemacht, seit ich sechs Jahre alt war.“
„Ich habe auch schon den Kater in den Backofen geschoben und die Brötchen gefüttert“, stammelte er ein wenig hilflos, und erst, als sie lachte, registrierte er, was er gesagt hatte und stimmte in ihr Lachen ein.
„Gibt es eigentlich eine Frau in deinem Leben?“ Ihr fiel auf, dass sie das Liebesleben ihres Vaters gestern völlig ausgeblendet hatten.
Ulbricht wiegte den massigen Schädel. „Eigentlich nicht.“
„Und uneigentlich?“
„Es gibt eine Frau – eine gute Freundin, mehr ist da nicht. Sie ist Hauptkommissarin wie ich, lebt in Hameln, das liegt im Weserbergland. Ich war dort zur Kur, als ich über eine Leiche stolperte. Natürlich hab ich die Kur gleich abgebrochen und mich in die Arbeit gestürzt.“ Norbert Ulbricht kicherte, während er in der Erinnerung an seinen ersten Aufenthalt im Weserbergland schwelgte. „Das fand Maja Klausen gar nicht lustig. Sie hat die Ermittlungen geleitet damals und hat mich in meine Schranken verwiesen.“ Er tippte sich bezeichnend an die Schläfe. „Aber du kennst deinen alten Vater, Wiebke. Ich habe trotzdem weiter ermittelt. Den Fall haben wir schließlich gemeinsam gelöst.“
„Die neue Frau tut dir gut“, bemerkte Wiebke. „Diese Maja.“
Norbert Ulbricht protestierte. „Sie ist nicht meine neue Frau.“
„Wie dem auch sei. Immerhin kannst du den Eierkocher und die Kaffeemaschine bedienen. Lerne ich sie kennen?“
„Bestimmt – irgendwann.“ Er lächelte schief. „Kaffee kochen konnte ich aber schon früher, Kind.“
Wiebke lächelte und half ihrem Vater, den Rest ins Wohnzimmer zu tragen. Sie setzten sich an den gedeckten Frühstückstisch, und Wiebke sah entzückt, dass er sogar ein paar Gänseblümchen gepflückt hatte, die er als liebevolle Dekoration um ihren Teller gelegt hatte.
Ulbricht schenkte ihr Kaffee ein. „Milch? Zucker?“
„Schwarz wie die Nacht.“
„Genau wie ich.“ Norbert Ulbricht freute sich diebisch, dass seine Tochter den Kaffee ebenso trank, wie er es selbst schon seit zig Jahren tat.
Wiebke setzte sich und betrachtete den gedeckten Tisch. Er hatte an alles gedacht: Käse, frischer Aufschnitt, Marmelade, Brötchen. Das Frühstück bot alles, was das Herz begehrte. Dann stutzte sie.
„Woher hast du die Brötchen?“
Er schmunzelte. „Ich bin Frühaufsteher und habe die Gegend erkundet. Praktisch, dass es hier im Dorf einen kleinen Supermarkt mit Bäckerei gibt. Und da habe ich uns eben die Brötchen von meinem Morgenspaziergang mitgebracht.“
Sie aßen, und Wiebke fühlte sich richtig wohl. Sie genoss das Frühstück mit ihrem Vater und verdrängte, dass sie sich gleich wieder um einen Mörder kümmern musste.
Ostenfeld, Hauptstraße, 8.05 Uhr
Ulbricht hatte sein Versprechen wahr gemacht. Er hatte sich, nachdem seine Tochter das Haus verlassen hatte, ins Bad begeben, geduscht und sich angezogen. Eine halbe Stunde später verließ er gut gelaunt das Haus an der Hauptstraße. Es schien ein sonniger Tag zu werden, und nur der in diesem Landstrich ständig präsente Wind verhinderte eine unangenehme Hitze. Der alte Vectra parkte im Schatten eines mächtigen Kastanienbaums. Er stieg ein und startete den Motor. Zuvor hatte er sich auf einer Landkarte in Wiebkes Wohnzimmer den Weg nach Glücksburg angesehen. Das würde er auch ohne seine „Linda“ finden, dachte Ulbricht, während er über kleinere Ortschaften zur Bundesstraße 201 fuhr und die idyllische nordfriesische Landschaft bewunderte. „Linda“ – so nannte er das kleine Navigationssystem, das er sich vor einiger Zeit angeschafft hatte. Obwohl er technischen Neuerungen eigentlich eher skeptisch gegenüberstand, so hatte er sich für die Anschaffung der kleinen Kiste entschieden, weil er es satthatte, viel Geld in schlechte Karten zu investieren. „Linda“ wies ihm stets mit ihrer sympathischen Stimme den Weg, wenn er mal über die Grenzen des Bergischen Landes hinausfuhr und er sich nicht auskannte.
Doch heute hatte „Linda“ frei. Er richtete sich nach der Beschilderung am Straßenrand, hielt sich erst in Richtung Schleswig, fuhr dann bei Schuby auf die A7 bis Flensburg, wo er die Autobahn verließ und eine gute Viertelstunde später am Wasserschloss von Glücksburg vorüberrollte. Nachdem er eine Runde durch den Ort gedreht hatte, suchte sich Ulbricht einen freien Parkplatz. Er fühlte sich auf Anhieb wohl hier und wunderte sich, dass er bis zur Ostsee kaum eine Stunde unterwegs gewesen war.
Ulbricht betrachtete die Auslagen der Geschäfte und hatte sich irgendwann verlaufen. Ein Umstand, der ihn nicht nervös machte. Anders war das, als er feststellte, dass seine Zigarettenpackung leer war. Seitdem er Maja Klausen kannte, hatte er das Rauchen drastisch reduziert. Doch ab und zu brauchte er einfach den würzigen Duft einer Zigarette. So wie jetzt.
Auf der Suche nach einem Zigarettenautomaten marschierte er die Waldstraße hinunter, als sein Blick am Schaufenster eines Ladens hängen blieb. Auffällig war, dass auf dem schmalen Sims ein kleiner runder Aschenbecher stand. Hier schien ein Raucher zu arbeiten.
Ulbricht stoppte seine Schritte. Was gab es denn hier? Bücher. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte er, dass es sich ausschließlich um Kriminalromane handelte. Ulbricht drückte den Kopf in den Nacken und las das Schild über dem Eingang. „Spurensuche“, stand dort in roter Schrift. „Die Krimibuchhandlung“.
„Na toll“, murmelte er kopfschüttelnd. „So etwas braucht doch kein Mensch.“ Dann hatte er eine Idee. Maja liebte Kriminalromane. Er beschloss, ihr ein Buch mitzubringen. Sicherlich würde sie sich darüber freuen. Doch ob es in dieser Buchhandlung auch die Weserberglandkrimis gab, die Maja so gern las, wagte er zu bezweifeln. Immerhin lagen fast vierhundert Kilometer zwischen Glücksburg und Hameln, wo Maja Klausen lebte. Er drückte die Klinke der Tür nieder und fand sich im nächsten Augenblick schon inmitten unzähliger Krimis aus dem In- und Ausland wieder. Die Verkaufstheke rechter Hand bestand aus zwei Schreibtischen. Der Rest der Buchhandlung war hell und freundlich eingerichtet, und es gab sogar zwei Ohrensessel, die zum Schmökern einluden.
„Moin.“ Eine rundliche Frau mit freundlichem Gesicht saß auf einem Stuhl und bearbeitete eine Computertastatur. Ihre Brille saß weit vorn auf der Nase, und sie wirkte schrecklich konzentriert. „Ich bin sofort bei Ihnen“, sagte sie, ohne aufzublicken.
„Lassen Sie sich ruhig Zeit.“ Ulbricht wunderte sich insgeheim über seine Geduld. Eigentlich hatte er nicht vor, in Glücksburg alt zu werden. Wiebke wartete schließlich auf ihn. Immerhin hatte er ihr versprochen, sich im Umfeld des toten Holger Heiners umzusehen.
Es fühlte sich immer noch seltsam an, dass er nun, nach vielen Jahren, wieder eine Tochter hatte. Wiebke war längst erwachsen, doch plötzlich hatte er wieder die alten Kinderbilder vor Augen. Die ersten Weihnachtsfeste, der erste Geburtstag, Wiebke in einem bunten Laufstall, beim Kinderfotografen im Kaufhaus – stilecht mit einem knallroten Plastiktelefon in der einen und einem braunen Plüschhund in der anderen Hand. Er erinnerte sich, dass das Vieh asthmatisch geröchelt anstatt gebellt hatte. Wo waren bloß die Jahre geblieben?
„So“, riss ihn die Stimme der Frau am Computer aus der Erinnerung. Sie hatte sich erhoben und stand nun vor ihm. „Was kann ich für Sie tun?“
„Haben Sie nur Krimis?“, fragte er grimmig.
„, Nur‘ ist gut.“ Sie lachte, und es klang sympathisch. „Ich habe zahlreiche Krimis vorrätig und kann viele Titel über Nacht bestellen. Aber ich recherchiere auch nach Ihrem Wunschbuch und verfüge über ein umfangreiches Antiquariat.“
„Dann lieben Sie Krimis?“ Ulbricht blickte sie fragend an.
„Sozusagen, ja.“ Ein Haarreifen bändigte ihre schulterlangen silbernen Haare. „Was suchen Sie denn?“
„Ich suche die Weserbergland-Krimis. Es gibt da so eine Reihe …“
„Gerne.“ Die Dame, offensichtlich die Inhaberin der Krimibuchhandlung, nickte und führte Ulbricht wie selbstverständlich zu einem der zahlreichen Bücherregale. „Bitte schön, es sind alle Titel vorhanden, und Sie haben die Qual der Wahl. Oder suchen Sie etwas Bestimmtes?“
„Ich, ähm, nein, also …“ Ulbricht versuchte sich an den Namen eines Autors zu erinnern, für den Maja schwärmte. Doch ihm fiel nichts ein. „Was ist denn der neueste Titel?“ Er wollte sichergehen, dass seine Freundin das Buch, das er ihr kaufen würde, noch nicht besaß.
Die Buchhändlerin griff ins Regal und reichte ihm den neuesten Band eines Hamelner Verlages. Das Titelbild war ansprechend gestaltet, und Ulbricht glaubte, auch den Namen des Autors zu kennen. „Gut, Frau …“
„Burkart“, half sie ihm. „Eva-Maria Burkart.“
„Danke.“ Ulbricht stellte sich nun ebenfalls vor, nicht, ohne seinen Dienstgrad zu nennen. Doch hatte er sich bei der Titulierung „Kriminalhauptkommissar“ so etwas wie eine Regung im Gesicht der netten Buchhändlerin erhofft, so wurde er enttäuscht.
„Darf ich fragen, ob Sie aus rein privatem Interesse in die Buchhandlung ,Spurensuche‘ gekommen sind?“, fragte Eva-Maria Burkart. „Ich meine … In Ihrem Beruf haben Sie es doch täglich mit Kriminellen zu tun und müssen mit ansehen, zu welch schrecklichen Dingen Menschen in der Lage sind.“ Sie tippte auf das Taschenbuch, das Ulbricht in der Hand hielt. „Mag man sich als Kommissar da nicht mit anderen Dingen ablenken?“
„Es ist für eine Freundin, die Krimis liebt“, erwiderte Ulbricht. Dass auch Maja bei der Kripo arbeitete, sprach er nicht aus. „Sagen Sie“, wechselte er dann das Thema. „Eigentlich war ich auf der Suche nach einem Zigarettenautomaten.“
„Auch Genussraucher?“ Die Buchhändlerin zwinkerte ihm verschwörerisch zu.
Ulbricht nickte. „Und offen gestanden ist mir der Aschenbecher auf dem Sims Ihres Schaufensters ins Auge gefallen.“
„Dann sollten wir den jetzt auch mal benutzen.“ Sie lachte. „Kommen Sie schon.“ Das Buch nahm sie Ulbricht ab und legte es neben der Kasse ab. Gemeinsam traten sie vor das Geschäft. Eva-Maria Burkart hielt ihm eine Packung Zigaretten hin, er zog dankend einen Glimmstängel hervor, sie gab ihm Feuer und nahm sich dann auch eine Zigarette. Während sie rauchend an der frischen Luft standen, musterte Eva-Maria Burkart ihn von der Seite.
„Sind Sie dienstlich oder privat in Glücksburg?“
„Beides … Gewissermaßen“, schmunzelte Ulbricht und formte mit dem Mund kleine Rauchkringel. „Ich interessiere mich für Holger Heiners.“
„Oh, da kommen Sie zu spät – er ist gestern tot im Großaquarium des Multimar Wattforums gefunden worden.“ Sie machte eine betroffene Miene. „Stand heute Morgen in der Zeitung.“
„Das ist richtig, deshalb bin ich ja hier“, nickte Ulbricht und wunderte sich insgeheim, wie gut man an der Ostsee über das Verbrechen in Nordfriesland Bescheid wusste. „Ich interessiere mich für ihn, will herausfinden, wie er als Mensch war.“
Eva Maria Burkart lachte auf und verschluckte sich prompt am Rauch ihrer Zigarette. „Lesen Sie keine Zeitung, Herr Kommissar?“ Nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte, sprach sie weiter. „Sie sollten wissen, dass er immer wieder mit seinen fragwürdigen Geschäften in die Schlagzeilen geraten ist. Angeblich hat er gemeinsame Sache mit einer Bank gemacht. Auch einflussreiche Politiker soll er geschmiert haben, damit sie seine Bauanträge wohlwollend beurteilen und durchwinken.“
„Also haben wir es hier mit Korruption zu tun?“ Ulbricht erinnerte sich an einen Fall, den er vor einigen Jahren in Wuppertal bearbeitet hatte. Angeblich sollten im Rathaus Politiker bestochen worden sein. Diese Geschichte hatte ihr tragisches Ende gefunden, als der Oberbürgermeister der Stadt dem Druck der Öffentlichkeit nicht mehr gewachsen war und Selbstmord beging.
„Das liegt auf der Hand, allerdings kann, … also … konnte sich Heiners die besten Rechtsanwälte des Landes leisten. So ging er immer wieder als Sieger vom Platz und nichts und niemand schien ihn aufhalten zu können.“ Die sympathische Buchhändlerin winkte ab. „Feinde hatte er wohl genug. Wird bestimmt nicht leicht, da den Mörder zu finden.“
Ulbricht paffte gedankenverloren und fragte sich, warum er den Urlaub mit seiner Tochter nicht einfach mal ganz in Ruhe und ohne Arbeit genießen konnte. Wahrscheinlich lag das daran, dass er Polizst durch und durch war und er längst verlernt hatte abzuschalten, um die wohl verdiente Freizeit zu genießen. Andererseits stand Wiebke noch am Anfang ihrer Karriere. Und nun wurde sie mit einem derart kompliziert gelagerten Fall konfrontiert. Ulbricht schob es auf seinen väterlichen Beschützerinstinkt, dass er seiner Tochter durch seine jahrzehntelange Erfahrung ein wenig unter die Arme greifen wollte.
„Sie wissen nicht zufällig, wo er wohnte?“
Eva-Maria Burkhart lachte. „Sind Sie der Polizist, oder ich?“ Sie nahm einen letzten Zug von ihrer Zigarette und drückte den Stummel in dem kleinen Aschenbecher auf dem Fenstersims aus. Dann gab sie Ulbricht ein Zeichen. Er folgte ihr in die Buchhandlung.
„Was wollen Sie wirklich von ihm?“, fragte sie drinnen. „Als Polizist müssen Sie längst bei ihm gewesen sein, um seine Frau vom Tod ihres Mannes zu unterrichten. Also werden Sie seine Privatanschrift wohl in den Akten finden.“ Sie verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. „Warum sind Sie hier? Privat oder dienstlich?“
„Wie ich schon sagte: Beides“, murmelte Ulbricht ein wenig zerknirscht. „Also – wo wohnte Heiners?“
Eva-Maria Burkart schien über eine gute Menschenkenntnis zu verfügen. Offenbar vertraute sie Ulbricht. „Es gibt ein Haus am Mühlenteich, hoch umzäunt. Stand lange leer, bis Heiners beschloss, sich in Glücksburg niederzulassen. Er kaufte das halb fertige Haus für `nen Appel und ein Ei, ließ es fertig bauen und hat seitdem dort am Teich seine Residenz.“ Sie nannte Norbert Ulbricht die Adresse, er zückte den kleinen Notizblock, den er immer bei sich hatte, und schrieb mit.
„Aber wenn Sie etwas über ihn rausfinden wollen, dann sollten Sie sich im YCG umhören. Dort war er sehr engagiert.“
„Bitte wo?“
Die Buchhändlerin schmunzelte. „Im Yachtclub Glücksburg. Dort saß er im Vorstand und hat angeblich jede freie Minute am Meer verbracht. Der Geschäftsführer der Bank ist dort übrigens der erste Vorsitzende. Vielleicht erreichen Sie ihn und erhalten einen heißen Tipp aus erster Hand. Der Club liegt im Ortsteil Sandwig, können Sie gar nicht verfehlen.“
Ulbricht schrieb eifrig mit. Dann steckte er den Block in die Jackentasche und nickte. „Vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen.“ Er bezahlte das Buch, nachdem Eva-Maria Burkart es in Geschenkpapier eingeschlagen hatte, und verließ die Krimibuchhandlung.
Husum, Polizeidirektion Poggenburgstraße, 9.35 Uhr
„Sach mal, Mädchen, hast du im Lotto gewonnen, oder warum grinst du die ganze Zeit wie ein Honigkuchenpferd?“ Jan Petersen hatte es sich am Schreibtisch bequem gemacht. Er hatte die Füße auf die Platte gelegt und tickerte mit einem Kugelschreiber, ohne seine junge Kollegin aus den Augen zu lassen. Ihm war offensichtlich nicht entgangen, dass Wiebke heute zwar ein wenig zu spät, dafür aber blendend gelaunt zum Dienst erschienen war.
Wiebke saß am Computer und schrieb das Einsatztagebuch des gestrigen Tages. Noch immer befand sich Jörn Holst in Untersuchungshaft. Die Beweislage schien ihn förmlich zu erdrücken, und Petersen wollte später mit ihm sprechen. Er war immer noch sicher, dass der Bauunternehmer irgendeine andere Geschichte vertuschen wollte.
Petersen musterte Wiebke von der Seite. Als Wiebke schwieg, setzte Petersen nach: „Lass mich raten: Es liegt am Besuch, den du gestern hattest.“
Jetzt nickte sie. Doch sie wollte es spannend machen und nicht gleich alles verraten. Sollte sich Petersen doch ein paar Gedanken machen, dachte sie amüsiert, während sie von ihrem Tee nippte und ihn lächelnd betrachtete.
„Ein Kerl?“ Petersen verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen und nahm die Füße vom Schreibtisch. „War dieser Schlappschwanz etwa wieder da?“
„Tiedje?“ War Petersen etwa eifersüchtig? So weit durfte es nicht kommen. Sie waren ein gutes Team im Job, sie verstanden sich – meistens – blendend und waren sich sympathisch. Und sie dachten und handelten wie ein altes Ehepaar, das sich nach vielen gemeinsamen Jahren ohne Worte verstand. Jeder wusste, wie der andere tickte, und manchmal genügten Blicke, um sich zu verständigen. Doch privat gingen sie getrennte Wege. Dabei fiel Wiebke auf, dass Petersen in letzter Zeit nicht mehr viel von seinem Privatleben erzählt hatte. Gab es einen Grund für seine Verschlossenheit? Wiebke überlegte, ob Petersen vielleicht sogar in sie verliebt sein könnte und deshalb in letzter Zeit so seltsam reagierte. Doch dass er nun eifersüchtig auf ihren Exfreund war, konnte Wiebke nicht nachvollziehen. „Ob Tiedje bei mir war?“
„Ja, ich glaube, so hieß der Dösbaddel.“
„Nee, er hat nichts damit zu tun.“ Wiebke winkte ab. „Viel besser: Gestern stand mein Papa auf der Matte.“ Sie hatte Petersen vor einiger Zeit von ihrem verschollen geglaubten Vater erzählt, und er hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er ihr von Herzen wünschte, dass sich ihre Vorstellung, er würde nicht mehr leben, nicht bewahrheitete.
„Mensch, das freut mich. Wusst‘ ich‘s doch – dein Vater lebt. Ich hab dir schon immer gesagt, dass er eines schönen Tages bei dir auf der Matte stehen wird.“ Jan Petersen schien erleichtert zu sein, dass es sich nicht um Tiedje handelte, der Wiebke so strahlen lies.
„Ich habe selbst schon nicht mehr daran geglaubt“, murmelte Wiebke, als das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Als sie Petersens Lächeln sah, griff sie selbst zum Hörer und meldete sich. Am anderen Ende der Leitung war eine Frau.
„Mein Name ist Madeleine Oelke. Ich arbeite im Sekretariat der Hermann-Tast-Schule.“
Wiebke überlegte kurz, dann erinnerte sie sich an die Sekretärin der Schule. „Was können wir für Sie tun?“
„Ich habe ein paar seltsame Dinge beobachtet, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte.“
„Geht es um den Mord an Holger Heiners?“
„Das weiß ich nicht, aber ich würde gern mit Ihnen darüber sprechen.“
Wiebke schielte zur Wanduhr. „Wann können Sie hier sein?“
Die Schulsekretärin druckste herum. „Ich kann schlecht weg hier. Wäre es möglich, dass Sie herkommen?“
„Natürlich. Wir sind in einer Viertelstunde da.“ Wiebke legte auf und berichtete Petersen von dem kurzen Telefonat.
„Die erzählt uns jetzt bestimmt, dass Torben Schäfer hinter dem Mord steckt“, grinste Petersen, während er sich erhob und nach dem Autoschlüssel suchte.
„Du machst blöde Witze“, brummte Wiebke, dann waren sie draußen.
Husum, Hermann-Tast-Schule, 9.55 Uhr
Madeleine Oelke errötete, als Wiebke und Petersen das Sekretariat betraten. Die Zeit war günstig, denn die Frühstückspause war gerade zu Ende, und die meisten Schüler befanden sich in den Klassen. Auch das Büro des Schulleiters war verwaist – wahrscheinlich unterrichtete er selbst gerade.
„Moin“, wurden sie freundlich begrüßt.
„Also“, begann Petersen das Gespräch. „Sie haben etwas auf dem Herzen. Wir sind ganz Ohr.“
„Ich weiß gar nicht so recht, wie ich das schildern soll“, murmelte Madeleine Oelke. „Es ist nicht meine Art, meinen Mitmenschen hinterherzuspionieren. Auf der anderen Seite bin ich ein sehr aufmerksamer Mensch und nicht ganz auf den Kopf gefallen. Allerdings obliegt es mir nicht, dass ich mir ein Urteil über andere Leute erlaube. Deshalb versuche ich Ihnen jetzt zu erzählen, was ich gesehen habe. Vielleicht hilft das.“
„Immer zu“, nickte Wiebke freundlich.
„Sie müssen wissen, dass ich in Treia lebe. Heute Nacht war es sehr stickig in unserem Schlafzimmer, und ich fand keine Ruhe. Also stand ich auf, um etwas zu trinken. Dabei fiel mein Blick aus dem Fenster auf das Nachbarhaus. Dort wohnt Torben Schäfer, den Sie ja nun auch schon kennen.“
„Zufälle gibts“, bemerkte Petersen.
Die Sekretärin nickte. „Aber wie gesagt – denken Sie nichts Falsches von mir. Meine Beobachtung war wirklich Zufall.“
„Was haben Sie denn gesehen?“, fragte Wiebke.
„Im Haus von Torben Schäfer brannte Licht, und das, obwohl er früh schlafen geht und sorgfältig darauf achtet, kein unnötiges Licht brennen zu lassen.“ Nun lächelte Madeleine Oelke. „Sie wissen ja, dass er ein sehr großes Umweltbewusstsein hat und streng auf seinen eigenen Energieverbrauch achtet. Ich sah im gleichen Moment, wie er mit quietschenden Reifen noch mal losfuhr, wohin, weiß ich natürlich nicht. Aber auch hier war auffällig, dass Herr Schäfer sonst ein sehr umsichtiger Fahrer ist und sehr zaghaft mit dem Gaspedal seines Autos umgeht. Diese beiden Dinge haben mich gewundert – er lässt sonst nie die Festtagsbeleuchtung brennen, wenn er das Haus verlässt.“
„Hm.“ Wiebke überlegte und konnte den Hinweis nicht ganz einordnen.
„Verstehen Sie mich nicht falsch, ich kann Torben Schäfer trotz seiner Eigenarten sehr gut leiden, aber er hat sich letzte Nacht sehr seltsam verhalten, und da habe ich mir Sorgen gemacht.“
„Was hat das mit dem Tod von Holger Heiners zu tun?“, stellte Petersen eine Zwischenfrage.
„Das weiß ich nicht – ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt damit zu tun hat. Aber Torben Schäfer hat sich vor zwanzig Minuten krankgemeldet. Den Grund hat er mir nicht genannt. Und das Seltsame ist, dass er Levke Kühn auch gleich entschuldigt hat.“
Wiebke warf Petersen einen Blick zu. Er zuckte unmerklich die Schultern.
„Haben die beiden ein Verhältnis?“, fragte Wiebke.
„Davon weiß ich nichts. Allerdings betrat ich gestern unser Arbeitszimmer und glaube die beiden gestört zu haben. Sie standen dicht beieinander; und er hatte seine Hände auf ihren Schultern. Ich habe den Raum ohne anzuklopfen betreten, und die beiden schienen sich irgendwie ertappt zu fühlen.“
„Sicherlich war es ihnen unangenehm, dass Sie von ihrem Verhältnis etwas mitbekommen haben“, vermutete Wiebke.
„Ich habe vor einigen Tagen noch etwas beobachtet – es war auf dem Dockkoog. Ich bin oft mit dem Rad unterwegs, so auch an diesem Tag. Eher zufällig wurde ich auf ein heftig streitendes Paar aufmerksam. Es war Ebbe, und sie standen im Watt und schrien sich an. Was sie sagten, konnte ich auf die Entfernung nicht verstehen, außerdem war es windig. Bei der Frau handelte es sich um Levke Kühn.“
„Kannten Sie den Mann auch?“ Wiebke hoffte, dass nun der Name von Torben Schäfer fallen würde.
„Ja.“ Madeleine Oelke nickte. „Bei dem Mann handelte es sich eindeutig um Holger Heiners.“
„Kein Zweifel?“, fragte Petersen.
„Absolut nicht, nein. Er hatte sie gepackt und schüttelte sie. Levke kreischte wie am Spieß und wehrte sich. Schließlich hat sie ihn gebissen. Erst nachdem Heiners ihr eine Ohrfeige verpasst hatte, ließ er von ihr ab. Ich bin dann schnell weitergefahren, damit Levke mich nicht sieht.“
„Gebissen?“ Petersen schien es nicht glauben zu können. „Und das erzählen Sie uns erst jetzt?“
„Es … es war mir unangenehm. Ich wollte nicht wie ein altes Waschweib dastehen.“
Wiebke winkte ab. „Haben Sie Frau Kühn darauf angesprochen, dass sie den Streit beobachtet haben?“
„Nein, mit keiner Silbe.“
„Gut.“ Wiebke nickte ihrem Partner zu. Sie bedankten sich und verabschiedeten sich von Madeleine Oelke. An der Tür des Sekretariats angekommen wandte sich Wiebke noch einmal zu ihr um. „Verraten Sie mir eins: Woher haben Sie ihre Beobachtungsgabe?“
Nun schmunzelte Madeleine Oelke. „Ich lese für mein Leben gern Krimis.“
Glücksburg-Sandwig, Yachthafen 10.05 Uhr
Unweit der Krimibuchhandlung gab es einen Supermarkt, in dem Ulbricht sich mit Zigaretten und einem zweiten Frühstück versorgt hatte, dann war er nach Sandwig aufgebrochen. Nachdem er den Vectra im Philosophenweg abgestellt hatte, legte er den Rest des Weges zu Fuß zurück. Vor dem Planetarium auf der gegenüberliegenden Seite des Weges hatte sich eine Schlange gebildet. Am Ende der Straße bot sich ihm ein Anblick, der ihn sehr an die Urlaube erinnerte, die er anfangs mit Brigitte erlebt hatte. Ulbricht stand mit in den Jackentaschen versenkten Händen am Bootsanleger und atmete tief durch, während er den Ausblick auf das Wasser genoss und sekundenlang alle Gedanken ausblendete.
Ein seichter Wind strich über die Flensburger Förde und spielte mit den Grasbüscheln am Ufer. Kleine Segelboote wirkten wie bunte Farbtupfer auf den glitzernden Wellen. Als die Sonne durch die Wolken brach und das Land in ein fast surreales Licht tauchte, war Ulbricht sicher, dass es ein derartiges Licht nur hier, ganz oben im Norden des Landes, gab. Alle Farben wirkten irgendwie kräftiger. Das seichte und von üppigem Grün bewachsene gegenüberliegende Ufer gehörte schon zu Dänemark. Ulbricht glaubte sich daran zu erinnern, dass die Staatsgrenze genau durch die Mitte der Förde verlief. Drüben lagen die Orte Østerkov, Olinde und Sønderhav. Als Ulbricht den Kopf nach links wandte, sah er die Schuppen des Yachtclubs. Es gab eine kleine Werft, darüber befand sich ein Gebäude, in dem offenbar das Clubheim des YCG untergebracht war.
„Moin.“
Ein bulliger Typ im Blaumann nickte ihm zu. Die Seemannsmütze saß schief auf dem beinahe rechteckigen Schädel; die Pfeife in seinem Mundwinkel war längst erkaltet. „Gefällts Ihnen?“
„Guten Morgen“, erwiderte Ulbricht und riss sich vom atemberaubenden Blick auf die Förde los. Innerlich schimpfte er sich einen Idioten. Wann würde er sich endlich daran gewöhnen, dass die Nordlichter sich rund um die Uhr mit einem zünftigen „Moin“ begrüßten und das nichts mit dem üblichen hochdeutschen Gruß am Morgen zu tun hatte?
„Hübsch hässlich haben Sie‘s hier.“ Ulbricht grinste.
„Kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen?“ Der norddeutsche Slang war unüberhörbar. „Sie seh‘n so orientierungslos aus, Meister.“
„Na schönen Dank auch.“ Ulbricht schnaubte. „Ich suche jemanden vom Vorstand des Yachtclubs. Vielleicht können Sie mir weiterhelfen?“
„Kommt drauf an. Ich bin übrigens Erik.“ Er reichte Ulbricht die Hand und drücke fest zu.
„Ulbricht, Norbert Ulbricht.“ Den Dienstgrad ließ er weg. Er wollte Erik nicht unnötig einschüchtern und dessen Misstrauen erwecken. Es gab einige Leute, die reagierten allergisch, wenn sie mit Polizisten sprachen. „Ich suche Holger Heiners. Kennen Sie ihn?“
Der Mann im ölverschmierten Overall bedachte Ulbricht mit einem mitleidigen Blick. „Sie lesen wohl keine Zeitung?“ Die Pfeife in seinem Mundwinkel wippte bei jedem Wort auf und ab.
„Warum?“ Ulbricht stellte sich absichtlich dumm und hoffte so, weitere Informationen über Heiners herauszufinden.
„Weil er tot ist, mausetot. Ertrunken im Aquarium.“
Ulbricht zog eine Augenbraue hoch. „Sie verscheißern mich.“
„Nicht die Bohne.“ Der Mitarbeiter des Yachtclubs schüttelte sein kantiges Haupt. „Natürlich nicht in einem Aquarium wie Sie es vielleicht kennen, so mit Goldfischen und so. Ich rede hier von einem Großaquarium mit zighunderttausend Litern Wasser.“
„Wie kann man darin ertrinken?“
Erik zuckte die Schultern. „Was weiß denn ich, wie das geht. Fest steht aber, dass es genauso passiert ist.“ Nun blickte er sich um. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sich niemand in Hörweite aufhielt, senkte er – wohl sicherheitshalber – die Stimme und raunte Ulbricht zu: „Man munkelt, dass da jemand nachgeholfen haben soll.“
„Das ist starker Tobak“, brummte Ulbricht und verspürte auf der Stelle das Verlangen nach einer Zigarette. Er zupfte die Packung, die er sich auf dem Weg nach Sandwig gekauft hatte, aus der Hemdtasche und öffnete sie. „Auch eine?“
„Nee, danke, ich rauch nur Pfeife, sonst macht meine Alte wieder Krach.“ Erik lachte kichernd.
Ulbricht nickte verstehend und zündete sich eine Zigarette an. „Hatte er denn Feinde?“
„Der hatte mehr Feinde als Haare auf dem Kopp, sach ich dir.“ Wie selbstverständlich war Erik zum vertraulichen „Du“ übergegangen. „Kein Wunder, bei den Geschäften, die er gemacht hat.“
„Wie war er hier im Club – so als Mensch?“
„Ein ganz anderer Mensch, wie ausgewechselt, und wer noch nie geschäftlich mit ihm zu tun hatte, der mag gar nicht glauben, dass Heiners so abgebrüht war. Aber der hatte es faustdick hinter den Ohren und ging über Leichen. Will nicht wissen, was in seinem Büro am Ballastkai abgelaufen ist.“
„Wo bitte?“
„Na, in seiner Firma. In Flensburg. Am Ballastkai. Wusstest du das nicht?“
„Nee, wusste ich nicht. Noch nicht.“ Ulbricht paffte und grinste. „Dank dir aber für den Tipp.“ Er beugte sich vertraut zu Erik hinüber. „Und wem würdest du einen Mord zutrauen?“
„Seiner Alten“, kam es wie aus der Pistole geschossen. „Die hat Haare auf den Zähnen.“
„Inwiefern?“ Ulbricht musste darauf achten, dass er nicht zu sehr in seinen gewohnten Verhör-Tonfall geriet. Er wollte sich nicht als Kommissar outen und das Gespräch mit Erik zum Stocken bringen, noch bevor es begonnen hatte.
„Es ist ein offenes Geheimnis, dass Gabi was mit Jepsen hatte“, brummte Erik und kaute auf dem Mundstück seiner Pfeife herum.
„Wer ist dieser Jepsen?“
„Kassierer, hier im Club.“ Erik deutete mit dem Daumen über die Schulter zum Gebäude des Yachtclubs.
„Und – ist da was dran?“
Schulterzucken. „Man hat sie ab und zu in, na ja woll‘n mal sagen, verwerflichen Situationen angetroffen. Und wenn du mich fragst, war die Ehe der Heiners’ sowieso im Arsch. Da ging nichts mehr, wenn du verstehst?“ Erik kicherte und schob den Daumen seiner rechten Hand zwischen Zeige- und Mittelfinger hindurch.
Ulbricht verstand. „Hatten die beiden Kinder?“
„Gott sei Dank nicht.“ Erik schüttelte den Kopf. „Aber die Gabi, also seine Alte, die war unerträglich. Sie war grün veranlagt, wenn du verstehst. Und sie hat ihm das Leben schwer gemacht. Könnte mir gut vorstellen, dass sie längst einen anderen Macker am Start hatte. Und deshalb ist ihr Holger lästig gewesen. Sie hat ihn aus dem Weg geräumt und freut sich jetzt auf die Auszahlung der Lebensversicherung.“
„Die nicht zahlt, wenn es sich um Mord handelt.“
Eriks Augenbrauen verengten sich. „Kennst dich wohl aus in dem Geschäft?“
Ulbricht zuckte die Schultern, zog an seiner Zigarette und sagte dann: „Mord ist sozusagen mein Hobby.“ Er schnippte den Zigarettenstummel weg und bedankte sich bei Erik. Er musste in Ruhe nachdenken, und das konnte er am besten, wenn er allein war.
Husum, Polizeidirektion Poggenburgstraße, 10.20 Uhr
„Das ist ein Knaller“, bemerkte Petersen, als sie wieder im Büro saßen. „Die Kühn hat Pfeffer im Hintern. Aber dass sie sich ausgerechnet mit Schäfer, diesem alten Körnerfresser, einlässt, hätte ich nicht von ihr gedacht.“
Wiebke schmunzelte. „Bist wohl neidisch?“
„Ich werd mir mal einen Bart wachsen lassen, soll ja momentan wieder total angesagt sein.“
Wiebke wurde ernst. „Glaubst du, dass die beiden unter einer Decke stecken?“
„Meinst du das jetzt wortwörtlich?“ Petersen grinste amüsiert.
„Ich weiß nicht, aber fest steht, dass in fünf Minuten unsere Morgenrunde bei Matthias losgeht.“ Wiebke suchte einige Unterlagen zusammen und schnappte sich Block und Papier. „Komm schon“, sagte sie, als sich Petersen nicht rührte. „Oder willst du den Kollegen aus Flensburg etwas vorenthalten?“
„Falsches Thema“, murrte Petersen und stand ebenfalls auf. „Aber erst noch ein Tee.“
Wiebke hatte keine Einwände und hängte sich ihre leere Tasse an den kleinen Finger. Auf dem Weg zum Büro des Ersten Kriminalhauptkommissars machten sie Station in der Kaffeeküche. Wiebke schenkte sich einen Kaffee ein; Petersen setzte sich einen Tee auf. Danach begaben sie sich in das Büro von Matthias Dierks. Er telefonierte gerade, bedeutete seinen Mitarbeitern aber gestenreich, schon einmal am langen Besprechungstisch Platz zu nehmen. Nach und nach trudelten auch die anderen Kollegen ein. Nur von Kriminalhauptkommissar Udo Friedrichs fehlte jede Spur – auch von seinen Leuten ließ sich niemand blicken.
„Der Abschlussbericht der Obduktion ist heute Morgen auch eingetroffen“, bemerkte Piet Johannsen und wedelte mit einem Schnellhefter in der Luft herum. „Aber um es vorwegzunehmen: Entscheidende neue Erkenntnisse gibt es nicht.“
„Dann hören wir zuerst, was die Kollegen der Rechtsmedizin herausgefunden haben“, nickte Dierks, der vor Kopf des langen Tisches Platz nahm.
Petersen versenkte ein Kluntje in seinem Tee, und lehnte sich zurück, während er rührte. Das Klimpern des Löffels am Tassenrand störte niemanden. Vielleicht, dachte Wiebke, traut sich auch niemand etwas zu sagen, damit er nicht wieder ausrastet.
Johannsen rückte sich die Nickelbrille zurecht und schlug die Mappe auf. Nachdem er einmal in die Runde geblickt hatte, las er vor: „Fest steht die Todesursache, nämlich Tod durch Ertrinken. Aber das“, er lächelte, „wussten wir ja schon. Trotzdem kurz die Grundlage, vielleicht könnt ihr etwas daraus gewinnen.“ Piet Johannsen räusperte sich und holte tief Luft. „Tod durch Ertrinken erfolgt, wie wir uns denken können, durch das Einatmen von Flüssigkeiten, einer speziellen Form der Asphyxie, also einer Form des äußeren Erstickens. Der Tod erfolgte bei Holger Heiners in vier Phasen: Zunächst erlitt er einen Kälteschock, hervorgerufen durch das plötzliche Eintauchen seines Körpers in relativ kaltes Wasser. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass der Kälteschock mit Absinken der Wassertemperatur bedrohlicher wird. Einen Kälteschock erleidet man bei einer Wassertemperatur von knapp 20 Grad. Ab 15 Grad wird es schwierig, und wie wir wissen, hatte das Großbecken rund 11 Grad – absolut tödlich also für unser Opfer. Infolge des Kälteschocks wird die Funktion einiger Organe außer Kraft gesetzt. Parallel dazu führt das Einatmen von Wasser zu einem starken Husten. Durch die unkontrollierte Atmung kann das Opfer nicht verhindern, dass Wasser in die Lunge eindringt. Mediziner reden in einem solchen Fall vom primären Ertrinken.“
„Was soll uns das jetzt bringen?“, fragte Petersen und pustete in seine Tasse.
Johannsen ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Das sind die Grundlagen, mein lieber Petersen. Hinzu kommt, dass es vor dem Eintauchen ins Wasser des Großbassins offenbar zu einem Handgemenge gekommen ist. Beim Toten haben wir Blutergüsse festgestellt, die von einer Schlägerei stammen könnten. Ebenfalls gibt es Würgemale am Hals, die nicht auf den ersten Blick erkennbar waren, da sie durch den Druck des Wassers auf die Haut weniger ausgeprägt sind. Und eine Bisswunde am linken Unterarm. Problematisch ist jedoch die Bestimmung des Todeszeitpunkts, denn das ist bei Wasserleichen, wie wir ja wissen, nicht so einfach.“
„Demnach war das Opfer körperlich geschwächt, als es ins Wasser stürzte“, spann Wiebke den Faden weiter und erntete einen anerkennenden Blick von Dierks.
Johannsen nickte. „Korrekt. Und damit wurde der Tod durch Ertrinken begünstigt.“
„Konnte er denn nicht schwimmen?“, warf Sven Gerke nun ein und fuhr sich mit der Hand durch das kurze, blonde Haar.
„Das hat damit nichts zu tun“, erwiderte Johannsen. „Bei dieser Wassertemperatur hätte er ein sehr guter Schwimmer sein können, es hätte ihm nichts genutzt. Womit wir wieder bei den vier Phasen wären: Zunächst der Kälteschock, der bereits nach einer Minute eintritt. Nach drei Minuten ist das Opfer nicht mehr schwimmfähig. Wie wir wissen, gibt es einen recht hohen Rand am Großbecken, sodass sich Heiners nicht aus eigener Kraft aus dem Wasser retten konnte. Wahrscheinlich hat er hilflos im Wasser herumgepaddelt – das könnte er mit etwas Glück eine halbe Stunde durchgehalten haben, bis die Unterkühlung einsetzte. Danach ging er unter … Der Rest ist bekannt.“ Piet Johannsen klappte die Mappe zu und nahm die Brille ab, um sich den Nasenrücken zu massieren.
„Gehen wir also davon aus, dass er sich zum Unglückszeitpunkt nicht allein in dem Technikraum über dem Becken befunden hat – die Spuren weisen ja darauf hin“, überlegte Katja Graf und kaute auf ihrem Kugelschreiber herum. „Wer auch immer bei ihm war – er machte keine Anstalten, den in Not geratenen Heiners zu retten. Somit scheidet der Unfalltod aus. Der große Unbekannte hat billigend in Kauf genommen, dass Holger Heiners ertrinkt.“
„Jörn Holst“, warf Dierks ein.
„Er ist kein großer Unbekannter mehr. Er sitzt in Untersuchungshaft. Sein Alibi, er habe die Nacht mit der Dame einer Begleitagentur verbracht, wurde widerlegt.“ Der Erste Hauptkommissar trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte herum. „Dennoch können wir ihn nicht ewig hier festhalten, die Zeit läuft.“ Er betrachtete sein Team, musterte jeden Einzelnen. „Vorschläge?“
Petersen wandte sich an Piet Johannsen. „Was hat die Spurensuche im Technikraum ergeben – außer den Fingerabdrücken, die uns zu Jörn Holst führen?“
„Wir konnten Faserreste sicherstellen. Am Beckenrand konnte ich textile Spuren am Geländer feststellen, die eindeutig nicht von Holger Heiners’ Kleidung stammen“, berichtete Johannsen und blätterte in seinen Unterlagen. „Dabei handelt es sich um Baumwolle, nicht chemisch gefärbt. Die Proben befinden sich zum Abgleich im Labor. Sobald die Kollegen Ergebnisse haben, werden wir es erfahren.“
„Und Fußspuren?“, hakte Petersen nach und trank von seinem Tee.
„Einige“, nickte Johannsen. „Ich habe leider zu viele Prints festgestellt, die von den Mitarbeitern und dem Handwerker stammen könnten. Das Profil einiger Schuhe ist recht grob, was auf Arbeitsschuhe hindeutet.“
„Wie sie Jörn Holst trägt, wenn er auf einer Baustelle arbeitet“, murmelte Katja Graf. „Eigentlich ist der Fall doch sonnenklar.“
„Leider nicht“, brummte Dierks. „Uns fehlt noch das entscheidende Beweisstück. Ich bringe Jörn Holst nicht dauerhaft hinter Gitter, solange nur einiges gegen ihn spricht. Wir sprechen hier von Mord, da wird kein Richter bei einer recht vagen Beweislage ein Urteil fällen, das eine lebenslange Freiheitsstrafe nach sich zieht.“
„Ich bin der Meinung, wir sollten die anderen Verdächtigen nicht aus den Augen verlieren“, wagte Wiebke einen Einspruch. „Es wäre fatal, wenn Holst im Knast landet, während der wahre Mörder frei herumläuft.“
Dierks wandte sich an Graf und Gerke. „Was haben Sie über die Mitglieder der Bürgerinitiative herausgefunden? Gibt es militante Umweltschützer, die für den Erhalt des Dockkoog auch einen Mord in Kauf nehmen würden?“
Katja Graf studierte ihre Unterlagen. „Wir haben drei Personen befragt, die für eine solche Tat infrage kommen könnten. Allerdings haben alle drei ein stichhaltiges Alibi und scheiden aus. Alle drei hatten schon mal Stress mit dem Gesetz und wurden erkennungsdienstlich behandelt.“ Sie spielte mit einer blonden Locke und warf Johannsen einen Blick zu. „Wie Piets Abgleich mit den am Tatort gefundenen Prints ans Licht brachte, waren unsere Verdächtigen auch nicht im Technikbereich des Multimar.“
„Was ist mit diesem Torben Schäfer?“ Dierks richtete seine drahtige Gestalt auf und betrachtete Wiebke.
„Er ist ein Kerl wie ein Schrank, aber zahm wie ein Lamm“, erwiderte sie schnell. „Ich traue ihm keinen Mord zu.“
Matthias Dierks schüttelte den Kopf. „Leider können wir uns hier nicht auf Intuition verlassen. Hat er ein Alibi für die Tatzeit?“
„Wir werden es überprüfen“, sprang Petersen für Wiebke in die Bresche.
„Warum ist das noch nicht längst passiert?“ Dierks sprach ruhig und sachlich, dennoch war ihm anzumerken, dass er unzufrieden war.
„Weil wir nur zwei Beine und zwei Hände haben und der Tag nur vierundzwanzig Stunden hat, Mattes. Komm also runter.“ Petersen funkelte seinen Vorgesetzten wütend an.
„Bitte kümmert euch darum“, antwortete der etwas versöhnlicher.
Wiebke nickte und machte sich eine Notiz. „Wir kommen übrigens gerade aus der Hermann-Tast-Schule“, berichtete sie dann. „So wie es aussieht, hatte Holger Heiners ein Verhältnis mit einer Referendarin der Schule.“ Sie brachte die Kollegen über das Gespräch mit der Schulsekretärin auf Stand.
„Dann ist Levke Kühn eine wichtige Ansprechpartnerin“, bemerkte Dierks.
„Das wissen wir selbst, Mattes. Und rate mal, was wir vorhaben, wenn das Kasper-Theater hier zu Ende ist?“
Dierks ging nicht auf Petersens Provokation ein. „Vielleicht müssen wir das Pferd auch von hinten aufzäumen, um an die Lösung zu gelangen“, überlegte er. „Vielleicht solltet ihr euch mal im Multimar umhören. Fahrt nach Tönning und sprecht mit den Verantwortlichen.“
„Was soll das bringen?“ Petersen erinnerte sich offenbar an das Telefonat, das er gestern Abend mit Wiebke geführt hatte. „Wir sollten uns anders an den Fall ranmachen. Angenommen, Holst hat Heiners nicht auf dem Gewissen, und ein anderer steckt dahinter. Warum nimmt Jörn Holst dann in Kauf, unter Mordverdacht verhaftet zu werden? Ich mein‘, er muss doch was anderes auf dem Kerbholz haben, denn sein Alibi ist ein Witz, das wissen wir alle.“
„Darum können wir uns kümmern, wenn wir den Täter haben“, winkte Dierks ab. „Heute wird übrigens in Holger Heiners’ Büros eine Durchsuchungsaktion der Kollegen aus Flensburg stattfinden. Wir erhoffen uns Hinweise auf den Computern, die mit ganz viel Glück zur Ergreifung des Täters führen. Dafür müssen wir natürlich alle beschlagnahmten Rechner spiegeln und die Korrespondenz aller E-Mail-Konten sichten.“
„Und das kann dauern“, maulte Petersen.
„Das ist zu befürchten“, nickte Dierks, und zum ersten Mal an diesem Morgen war es so, als wären sich die Männer einig. „Deshalb bleibt euch genügend Zeit für einen Besuch in der Verwaltung des Nationalparks.“
„Was hast du die ganze Zeit gemacht, während wir draußen waren?“ Petersen beugte sich über den Tisch.
Auch diesmal ließ sich Dierks nicht aus der Ruhe bringen. „Ich habe Informationen eingeholt und das weitere Vorgehen mit den Kollegen aus Flensburg abgestimmt. Wie wir wissen, gibt es bei der Staatsanwaltschaft bereits eine Akte, die das seltsame Vorgehen von Holger Heiners dokumentiert. Ich habe die Unterlagen gesichtet. Der Vorwurf lautet, dass Heiners und der Geschäftsführer einer Bank Grundstücke und Häuser weit unter Wert über nicht ordnungsgemäß vergebene Kredite an Privatpersonen und Unternehmen vermittelt haben. Angeblich hat Heiners der Bank die Objekte abgekauft und überteuert wieder an den Mann gebracht. Dazu soll er selbst Kredite an seine potenziellen Käufer vergeben haben.“ Dierks kehrte die Hände nach oben. „Wie die Ermittlungsakte zutage brachte, ist wohl jeder käuflich. Und er machte vielen den Traum vom eigenen Haus möglich, die nicht kreditwürdig waren und nicht über die nötige Bonität verfügten. Sobald die Kunden zahlungsunfähig waren, kaufte er seine Objekte weit unter Wert zurück und veräußerte sie überteuert zurück an die Bank … Und so begann das Spiel immer wieder von vorne.“
„Das ist ja ein echter Sympathieträger“, bemerkte Sven Gerke und pfiff durch die Zähne. „Und zuletzt hat er es sich auch noch mit den Umweltschützern am Dockkoog verscherzt.“
„Womit wir wieder in Husum wären“, nickte Dierks. „Also wissen wir, was zu tun ist.“
Nachdem Dierks die Besprechung beendet hatte, erhoben sich alle Mitarbeiter, um weiterzuarbeiten. Dierks selbst trat an seinen Schreibtisch und hockte sich auf die schwere Platte.
„Jan, hast du mal einen Moment Zeit?“
Petersen, der schon fast auf dem Gang der Direktion stand, blieb stehen.
„Na klar.“
Matthias Dierks wartete, bis alle anderen sein Büro verlassen hatten, dann rutschte er von seinem Tisch und bat Petersen, die Tür zu schließen. Er deutete auf einen der beiden Besucherstühle vor dem Schreibtisch und sank selbst auf seinen Sessel. Petersen setzte sich. Sekundenlang hockten sie schweigend da und starrten sich unverwandt an. Die Geräusche vom Korridor drangen gedämpft an ihre Ohren. Irgendwo klingelte ein Telefon.
„Was ist los mit dir?“, begann Dierks das Gespräch mit einer Frage und beobachtete den Hauptkommissar.
Petersen schwieg beharrlich. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen. Als er sich über das kantige Kinn strich, knisterten die Stoppeln seines Dreitagebartes vernehmlich.
Matthias Dierks kannte Jan Petersen seit der Polizeischule in Eutin, sie hatten fast zeitgleich nach der Ausbildung ihren Dienst in Husum begonnen und waren zwischenzeitlich sogar als Team unterwegs gewesen. Dann schied der damalige Erste Kriminalhauptkommissar aus, und einer der beiden Partner sollte befördert werden. Es war zu der Zeit, als Petersen noch verheiratet war und seine Frau das Souvenirgeschäft am Husumer Binnenhafen führte.
Irgendjemand hatte damals dafür plädiert, Dierks zum Abteilungsleiter zu ernennen. Automatisch war er mit der Beförderung in eine höhere Besoldungsstufe gerutscht und leitete seitdem die Geschicke der Husumer Kriminalpolizei. Natürlich hatte er sich gefreut und sich schnell damit angefreundet, fortan mehr Verantwortung zu übernehmen. Doch es hatte ihm immer leidgetan, dass Petersen seitdem keine Beförderung mehr erfahren hatte.
Seit einiger Zeit hatte Jan Petersen eine Pechsträhne. Er rückte noch täglich aus, musste bei jedem Wetter Tag und Nacht präsent sein, seine Frau war ihm weggelaufen und nahm ihn seitdem aus wie eine Weihnachtsgans. Natürlich hatte er es nicht leicht, aber Dierks hatte sich vorgenommen ein strenger, aber fairer Vorgesetzter zu sein. Dass sich Petersen in den letzten Tagen aufführte wie ein Rebell, gefiel ihm ganz und gar nicht. Nicht, weil es nicht in sein Idealbild eines Hauptkommissars passte, sondern weil er Petersen schon lange genug kannte, um zu wissen, dass er vor einer Explosion stand.
Matthias Dierks öffnete eine Schublade in seinem Schreibtisch und nahm die Tüte mit den Lakritzbonbons heraus. Er knisterte mit der Packung, schob sich einen Lakritz in den Mund und hielt Petersen die Tüte hin. „Also, sag schon, was ist eigentlich los mit dir?“, fragte er, nachdem sie sich ein paar weitere Minuten stumm betrachtet hatten.
„Ich hab die Schnauze voll.“ Petersen griff in die Tüte und angelte nach einem Lakritz.
Dierks kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er auf das schwarze Zeug stand. „Die Schnauze voll von mir?“
Petersen nickte schmatzend. „Auch. Du kommandierst uns rum, als wären wir kleine Kinder. Wir haben unseren Job zur gleichen Zeit erlernt, sind quasi die dienstältesten Bullen in diesem Stall, und ich habe keine Lust, mich von dir bevormunden zu lassen.“
„Das verlangt der Job“, verteidigte sich Dierks.
Petersen winkte ab. „Hör doch auf mit dem Scheiß. Sobald sich Kollegen aus Flensburg oder Kiel in unsere Arbeit einmischen, ziehst du den Schwanz ein, Mattes.“
„Ich ziehe nicht den Schwanz ein, ich spiele nach den Regeln, die wir gemeinsam gelernt haben, wie du richtig bemerkt hast.“ Wütend knüllte er das Papier des Lakritzbonbons zusammen und beförderte es mit einem Schwung in den Papierkorb.
„Du hast doch `nen nassen Hut auf.“ Petersen tippte sich gegen die Schläfe. „Wenn du das wirklich so siehst, dass wir uns die Butter vom Brot nehmen lassen sollen, dann beantrage ich hiermit meine Versetzung.“ Er sprang wütend auf.
„Mach mal Urlaub, Petersen.“
„Der Witz war echt gut.“ Sein ehemaliger Partner lachte trocken auf und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. „Wovon denn? Am Ende des Geldes ist immer so viel Monat über, verstehst du? Ich reiß mir für den Stall hier den Arsch auf, und der Anwalt meiner Exfrau findet immer was Neues, wie er mich ausziehen kann bis aufs letzte Hemd. Und dann kommst du und wirfst mir Knüppel zwischen die Beine. Vielen Dank auch, Herr Kriminalhauptkommissar!“ Petersen rauschte aus dem Büro und knallte die Tür hinter sich zu.
Als die Schritte auf dem Flur verstummt waren, griff Matthias Dierks zum Telefon. Es war höchste Zeit, seinem ehemaligen Partner unter die Arme zu greifen. Es dauerte nur zwei Freizeichen, bis abgenommen wurde. „Wir müssen was tun“, kam Dierks gleich auf den Punkt. „Jan scheint mal wieder Schwierigkeiten zu haben. Und ich will nicht, dass er obdachlos wird.“
Glücksburg, 10.30 Uhr
Das Haus von Holger Heiners lag am Ende der Seestraße, einer Sackgasse, die am Ufer des Mühlenteiches in einen Wendehammer mündete. Ulbricht drosselte das Tempo und verrenkte sich den Hals nach dem Gebäude auf der linken Seite, dessen Fassaden nur aus Glas und Stahl zu bestehen schienen. Eine Hausnummer suchte er vergeblich, und so fuhr Ulbricht bis zum Wendehammer vor und parkte den Opel dort. Über seinem Kopf raschelte das Laub der Bäume im seichten Wind. Das Wasser des Mühlenteiches glitzerte im Licht der Sonne durch das dichte Geäst.
Ulbricht ließ den Blick über das Grundstück schweifen. Es war von einem zwei Meter hohen Zaun umgeben. Der alte Kommissar war sicher, dass auch irgendwo Überwachungskameras montiert waren, die den Hausbesitzer vor ungebetenem Besuch warnten. Wahrscheinlich, so dachte er sich, war seine Ankunft längst bemerkt worden. Er war versucht, die Zunge rauszustrecken, ließ es dann aber doch bleiben. Schließlich war der Hausherr einem Mord zum Opfer gefallen, und wer auch immer sich gerade im Innern des Hauses befand, war in seiner Haut auch nicht sicher, nahm er an, während er die Straße hinauf marschierte. Das Haus strahlte eine kühle Eleganz aus. Es lag auf einer kleinen Anhöhe, die von pedantisch gestutztem Rasen umgeben war. Für Ulbrichts Geschmack etwas zu protzig. Wer hier wohnte, der prahlte mit seinem Reichtum, und so etwas konnte er einfach nicht leiden. Ein Plattenweg führte zum Hauseingang, der seltsamerweise nicht vergittert war. Unterhalb des Erdgeschosses gab es eine Art offene Tiefgarage. Ein Beetle Cabrio parkte dort im Schatten. Ulbricht verharrte einen Augenblick und ließ den Anblick des Hauses auf sich wirken. Es gab zwar edle Jalousien hinter den großen Fensterflächen, die allerdings offen standen und neugierigen Besuchern einen Blick in das Innere des Hauses ermöglichten. Durch die gläserne Fassade erkannte er das Mobiliar – bestimmt handelte es sich dabei um Designermöbel, die allesamt eine nüchterne Eleganz ausstrahlten und für Ulbricht alles andere als Wohnlichkeit bedeuteten.
„Wer im Glashaus sitzt, der sollte nicht mit Steinen werfen“, murmelte er grinsend. Ein Namensschild suchte er vergebens. So vermutete er, dass der Hausherr keinen großen Wert darauf gelegt hatte, dass jeder Besucher auf Anhieb erfuhr, wer hier residierte. Seltsamerweise bestand die Haustür nicht komplett aus Glas. Es handelte sich um ein besonders massives Modell aus eloxiertem Aluminium.
Er drückte den Klingelknopf. Drinnen schlug ein dumpfer Gong an, der Ulbrichts dritte Zähne zum Vibrieren brachte. Er verzog das Gesicht und blickte sich um. Hinter ihm öffnete sich die Tür, und als er sich umwandte, blickte er in das Gesicht einer Frau Anfang dreißig. Sie war von zierlicher Statur. Das schwarze, lange Haar hatte sie hinter dem Kopf zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, ihr Make-up war dezent. Eine Duftwolke von schwerem Parfüm umgab sie. Zu einer glänzenden, schwarzen Bluse trug sie einen knielangen, ebenfalls schwarzen Rock. Ihre Beine steckten in schwarzen Nylonstrümpfen, an den Füßen High Heels. Für Ulbrichts Geschmack etwas zu aufgetakelt, in Anbetracht der Situation. Wenn er sich nicht gründlich irrte, dann stand hier eine trauernde Witwe vor ihm. Die Knöpfe der Bluse standen offen und erlaubten ihm einen atemberaubenden Einblick in ihr Dekolleté. Ulbricht war ein Mann, und prompt ertappte er sich dabei, auf den Ansatz ihrer Brüste zu starren.
„Ja bitte?“ Die Stimme klang kalt, distanziert.
„Mein Name ist Ulbricht, Hauptkommissar Ulbricht“, sagte er und war um ein freundliches Lächeln bemüht. Er griff in die Jackentasche und präsentierte ihr die Dienstmarke so, dass sie das nordrhein-westfälische Wappen nicht sehen konnte.
„Worum geht es?“ Sie schüttelte den Kopf. „Doch nicht schon wieder um meinen verstorbenen Mann, oder?“ Ihre Stimme klang, als würde sie gleich den Polizeipräsidenten von Flensburg anrufen, um sich über Ulbricht zu beschweren.
Doch Ulbricht ließ sich nicht aus der Fassung bringen. „Ich fürchte doch, Frau …“ Eilig ließ er die Dienstmarke wieder in der Tasche verschwinden.
„Heiners, Gabriele Heiners“, half sie ihm schnell aus. „Ich bin ein wenig altmodisch und habe bei der Hochzeit den Namen meines Mannes angenommen.“ Sie betrachtete Ulbricht von oben bis unten. Nachdem ihre Sichtprüfung gerade eben noch wohlwollend ausgefallen war, bat sie ihn ins Haus und führte ihn in das lichtdurchflutete Wohnzimmer. Es handelte sich um einen gut dreißig Quadratmeter großen Raum, der von der Fensterfront beherrscht wurde. Das Glas ging vom Boden bis zur Decke und endete in einem stilisierten Spitzgiebel, der innerhalb des Hauses von einer Galerie mit stählernem Geländer umgeben war. Womöglich bewunderten die Hausbewohner an milden Sommerabenden von hier aus den Sonnenuntergang über dem Mühlenteich. Wie Ulbricht sah, gab es eine Art Steg, der vom Grundstück direkt ans Ufer führte. Das Haus strahlte eine ihm noch nicht untergekommene Dekadenz aus, und als Gabriele Heiners ihm einen Sitzplatz auf dem Ledersofa anbot, verneinte er dankend.
Die Witwe zuckte die Schultern, so, als wolle sie sagen „dann halt nicht“ und setzte sich. Sie schlug die Beine übereinander, wobei der Rocksaum noch ein Stück höher rutschte und sie ihm zwei wunderschöne Beine zeigte.
Ulbricht wandte sich um und blickte hinaus. „Schön haben Sie es hier.“
„Sicher sind Sie nicht gekommen, um mit mir über unser Haus zu sprechen.“ Plötzlich klang Gabriele Heiners’ Stimme schneidend.
„Wie wir erfahren haben, fungierte Ihr Mann vor der Tat als Investor in Husum.“
„Sie sind ein wahrer Meisterdetektiv“, erwiderte Gabriele Heiners spöttisch.
Ulbricht ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Es geht um das Ferienressort am Dockkoog.“
„Möglich. Von den Geschäften meines Mannes habe ich keine Ahnung. Ich leite eine Werbeagentur, und so ging jeder seinem Job nach.“
Jetzt riss sich Ulbricht vom Ausblick auf den Mühlenteich los und drehte sich zu Gabriele Heiners um. „Hatte Ihr Mann Feinde?“
Sie lachte trocken auf. „Wer hat die nicht?“
„Ich, zum Beispiel.“
Wieder das Lachen, diesmal klang es spöttisch. „In Ihrem Beruf hat man Feinde.“
„Alles ist relativ. Die Menschen, die ich hinter Gitter bringe, bedeuten erst mal keine Gefahr für mich. Aber bei ihrem Mann war das sicherlich etwas anders.“ Ulbricht wanderte durch den Raum, die Arme wie ein dozierender Professor hinter dem Rücken verschränkt.
„Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann.“
„Und den Umweltschützern in Husum ein Dorn im Auge.“ „Dann wissen Sie, in welchen Kreisen Sie den Mörder suchen müssen.“ Tränen sammelten sich in ihren Augen, doch sie hatte sich unter Kontrolle und weinte nicht.
„Wir ermitteln in alle Richtungen“, erwiderte Ulbricht.
Gabriele Heiners lachte spöttisch. „Sagen Sie das nicht immer?“ Sie fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. Ihre rot lackierten Fingernägel fielen Ulbricht erst jetzt auf. „Ich hasse dieses Behördendeutsch!“
Ulbricht ging nicht darauf ein. „Was wird nun aus der Immobilienfirma?“
„Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht“, erwiderte sie ein wenig zu schnell. „Wahrscheinlich wird sie sein Geschäftsführer fortführen.“
„Während Sie die Zügel in der Hand halten?“
„Das weiß ich noch nicht.“ Zum ersten Mal wirkte sie wirklich hilflos, wie Ulbricht fand. „Es ist noch alles so frisch. Und ich habe kein sonderlich gutes Verhältnis zu Rohde.“
„Das ist die rechte Hand Ihres Mannes gewesen?“
„Ja. Er leitet die Geschäfte, wenn Holger unterwegs ist … war.“
„Wie stand es um gesellschaftliche Kontakte Ihres Mannes? War er Mitglied in einem Golfclub oder so etwas?“ Bewusst stellte er sich dumm. Es ging die Witwe nichts an, was er schon wusste.
„Er liebte das Segeln. Und er hatte viele Freunde im Yachtclub. Vielleicht fragen Sie dort einmal nach?“
„Kennen die Menschen im Club Ihren Mann besser als Sie?“ Nun war es an Ulbricht, sarkastisch zu klingen.
„Das wirft kein gutes Licht auf Ihre Ehe.“
„Unser Verhältnis geht Sie nichts an.“
„Das sehe ich anders.“ Ulbricht lächelte süffisant. „Wie stehen Sie zu Herrn Jepsen?“ Er achtete auf jede Regung in Gabriele Heiners’ apartem Gesicht.
Die Witwe hatte sich recht gut unter Kontrolle, und dennoch sah ihr der alte Hauptkommissar an, dass sie wie unter einem unsichtbaren Peitschenhieb zusammenzuzucken schien.
„Er sitzt im Vorstand. Also kannte ich ihn.“
„Sehr gut sogar, würde ich sagen. Hat er Sie unter Druck gesetzt?“
„Worauf wollen Sie hinaus?“ Gabriele Heiners schüttelte den Kopf.
„Dass Ihre Ehe nicht so gut lief, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte, Frau Heiners. Sie hatten ein Verhältnis mit Jepsen, warum stehen Sie nicht dazu?“
Sekundenlang herrschte eisiges Schweigen zwischen ihnen. Dann hatte Gabriele Heiners die Sprache zurückgefunden. Ihre Stimme zitterte, als sie Ulbricht antwortete.
„Wollen Sie mir vorwerfen, dass ich zu den Verdächtigen zähle, weil unsere Ehe faktisch nicht mehr bestand?“ Sie lachte. „Aber Sie glauben nicht ernsthaft, dass ich meinen Mann in das Wasserbecken gestoßen habe, oder?“ Sie sprang vom Sofa auf. „Sehen Sie mich an. Ich bin einen Meter siebenundsechzig groß und wiege achtundfünfzig Kilo. Glauben Sie, dass ich körperlich in der Lage wäre, meinen Mann zu überwältigen?“
„Vielleicht mithilfe eines Partners.“ Ulbricht presste die Lippen zusammen. „Ist Herr Jepsen groß und stark genug?“ War es die Handschrift eines wohlhabenden Mannes, seinen Kontrahenten ins Wasser zu stoßen?
„Ich werde ein Disziplinarverfahren gegen Sie anstrengen!“, keifte Gabriele Heiners nun. „Das ist Verleumdung!“ Ihre blassgrauen Augen funkelten ihn wütend an.
Plötzlich ertönte ein markerschütterndes Klirren. Ulbrichts Herzschlag setzte für den Bruchteil einer Sekunde aus, dann sah er, was das Klirren verursacht hatte: Die riesige Fensterfront zeigte Risse, die sich sternförmig ausbreiteten. Im gleichen Augenblick ging ein Scherbenregen nieder, und Ulbricht riss schützend beide Arme vor das Gesicht. Zunächst glaubte er an eine Explosion, doch als die Druckwelle ausblieb, tippte er auf einen Schuss, den man auf die Fensterfront des Hauses abgegeben hatte, die zum Ufer des Mühlenteiches zeigte. Und er war sicher, dass es sich dabei nicht um einen Streich handelte, den irgendwelche Jugendlichen sich geleistet hatten. Hier handelte es sich um ein Attentat auf die Hausherrin. Es war kein einzelner Schuss, der abgegeben worden war – das tödliche Rattern einer Maschinenpistole drang jetzt an Ulbrichts Ohren. Wer auch immer es auf Gabriele Heiners abgesehen hatte, er wollte sicher sein, sie auch aus großer Entfernung, und wahrscheinlich von außerhalb des Zaunes, zu treffen.
Als Ulbricht sich schützend hinter dem Sofa in Deckung gebracht hatte und das Prasseln der Munition verstummt war, drang ein heiseres Röcheln an seine Ohren. Er zwang sich zur Ruhe und spähte vorsichtig über die Lehne des Sofas hinweg. Gabriele Heiners lag inmitten einer Blutlache. Ihr apartes Gesicht war schmerzverzerrt und glich einer Maske. Schwer hob und senkte sich ihre Brust; sie versuchte vergeblich, mit ihrem Mund Worte zu formen, doch es kam nichts als ein Röcheln über ihre Lippen. Die Bluse war zerfetzt und blutdurchtränkt. Es war ein grausamer Anblick, der selbst dem alten Kommissar noch einen Schauer über den Rücken jagte. Plötzlich bäumte sich ihr zierlicher Körper ein letztes Mal auf, bevor sie leblos zusammen sackte.
Hier kam jede Hilfe zu spät – Gabriele Heiners war tot.
„Verdammt“, zischte Ulbricht. „Verdammte Scheiße!“ Er zögerte, dann verließ er seine Deckung und stürmte durch den Raum. Durch die Reste der zerstörten Fensterfront rannte er auf die Rasenfläche und suchte nach dem geheimnisvollen Schützen. Vergeblich. Erst als er hörte, wie ein Motor gestartet wurde, riss er den Kopf nach rechts. Er sah einen grünen Wagen mit durchdrehenden Reifen davonfahren. Dabei handelte es sich um einen VW Golf Country. Ein seltsames Fahrzeug, das nur kurze Zeit hergestellt worden war. VW hatte den seinerzeit braven Golf als Geländewagen aufgerüstet und mit einem leistungsstarken Motor und Allradantrieb ausgerüstet. Ulbricht versuchte einen Blick in das Fahrzeuginnere zu erhaschen, doch die Verglasung des Golfs war staubig. Er blickte dem Wagen hinterher, aber auch das Kennzeichen war von Dreck verschmiert und unleserlich. Dennoch glaubte er ein „SL“ zu erkennen. Ulbrichts Hand zitterte, als er das Handy aus der Tasche zog und den Notruf wählte.
Husum, 12.00 Uhr
Sie trafen Levke Kühn nicht in ihrer Wohnung am Stadtweg an. Die junge Frau wohnte in einem der Mehrfamilienhäuser mit Backsteinfassade, die hier Mitte der 1950er-Jahre entstanden waren. Eine Siedlung, die man in den Jahren nach dem Krieg gebaut hatte, um Wohnraum zu schaffen, der dringend nötig geworden war. Wiebke erinnerte sich daran, dass in einem der Häuser eine Schulfreundin gelebt hatte. Nachdem sie dreimal geklingelt hatten, öffnete sich ein Fenster im Erdgeschoss des Mehrfamilienhauses. Eine grauhaarige Frau im geblümten Kittel legte ihren Oberkörper auf die Fensterbank.
„Wo wollen Sie denn hin?“, krächzte sie. Misstrauen lag in ihrem Blick.
Wiebke trat einen Schritt zurück und schenkte der alten Frau ein freundliches Lächeln. Gleichzeitig zeigte sie ihren Dienstausweis. „Moin, wird sind von der Kripo Husum und würden gern mit Frau Kühn sprechen.“
„Um diese Zeit ist die doch in der Schule. Sie will Lehrerin werden.“
So viel wussten sie auch. „Leider ist Frau Kühn heute nicht zum Dienst erschienen – sie ist krank. Haben Sie eine Ahnung, wo sie sich aufhalten könnte?“
Die Alte schüttelte den Kopf. Dann setzte sie eine besorgte Miene auf. „Da wird doch nichts passiert sein?“
„Das wollen wir mal nicht hoffen“, brummte Petersen und gab Wiebke ein Zeichen. Hier würden sie nicht die gewünschte Information bekommen. Doch Wiebke wollte noch nicht aufgeben.
„Hat Frau Kühn einen festen Freund, den sie unter Umständen besucht haben könnte?“
„Nicht dass ich wüsste“, erwiderte die Alte.
„Ist schon gut“, mischte sich Petersen plötzlich ein.
Wiebke warf ihm einen misstrauischen Blick zu. „Was ist denn los?“
Petersen beantwortete die Frage nicht und widmete sich der alten Frau am Fenster. „Ist Frau Kühn schon mal mit einem Mann hier gewesen?“
„Nee, die doch nicht.“ Sie schüttelte das graue Haupt. „Obwohl ihr bei ihrem Aussehen die Kerls bestimmt zu Füßen liegen. Aber die Levke Kühn ist nicht so, nee, keine Männerbesuche. Wieso fragen Sie?“
„Nur so“, grinste Petersen und bedankte sich bei Levke Kühns Nachbarin. Er gab Wiebke ein Zeichen. „Komm schon“, raunte er ihr zu. „Ich will keine Zeit verlieren.“ Er zog Wiebke zum Auto. Erst als niemand ihnen zuhören konnte, teilte er ihr seine Gedanken mit.
„Die Schulsekretärin hat doch erzählt, dass sich Torben Schäfer krankgemeldet hat. Nicht allein, schon vergessen?“
„Du meinst …“ Wiebke schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn, dass es klatschte. „Verdammt, das ist mir ja total durchgegangen. Klar, die hängt mit diesem Schäfer zusammen.“ Sie zog das Handy heraus und wählte Piet Johannsens Nummer, da sie wusste, dass sie ihn mit Sicherheit erreichen würde. Es dauerte nur zwei Freizeichen, bis er sich meldete.
„Wir brauchen die Anschrift von Torben Schäfer. Er wohnt in Treia.“ Wiebke hörte, wie Johannsen im Hintergrund eine Computertastatur bearbeitete.
„Ich habe ihn“, meldete er dann und nannte ihr die Anschrift.
Wiebke schrieb mit. „Wir werden da jetzt hinfahren und diesem Biolehrer mal auf den Zahn fühlen. Irgendetwas stimmt da nicht.“
„Ihr macht das schon.“
„Was wären wir nur ohne dich, Piet?“
„Nichts, ist doch klar.“ Er legte auf, hatte offenbar keine Lust auf sinnfreies Geplänkel.
„Fahr zu“, rief Wiebke, nachdem Petersen den Motor gestartet hatte. „Ich spüre, dass da was nicht stimmt.“
Petersen rollte mit den Augen. „Geht das schon wieder los?“ Er ahnte, dass es nichts Gutes zu bedeuten hatte, wenn Wiebke etwas zu spüren glaubte, war er doch ein Mensch, der sich lieber auf handfeste Fakten berief, wenn es darauf ankam.