Abb. S. 368

Ich wandte mich zum Gehen – offensichtlich war nichts hier unten –, und eine Stimme in meinem Kopf meldete sich zu Wort. Es war die Stimme meines Herrn.

Pass auf, Will Henry! Was fällt dir am Wasser auf?

Ich zögerte. Ich musste hier raus. Ich konnte nicht atmen in diesem widerlichen Loch. Chanler war nicht hier. Das Baby war nicht hier. Dobrogeanu brauchte mich.

Und dennoch blieb die Stimme hartnäckig: Das Wasser, Will Henry, das Wasser.

Halt die Klappe mit deinem Wasser!, schrie ich die Stimme schweigend an. Ich muss Dr. Dobrogeanu finden

Etwa sechs Fuß über dem Tümpel erstarrte ich. Ich drehte mich um. Die leeren Augenhöhlen der Ratte erwiderten mein Starren.

»Das Wasser bewegt sich«, sagte ich zu der toten Ratte. »Wieso sollte es sich bewegen?«

Die Stimme in meinem Kopf verstummte. Endlich benutzte ich jenes unentbehrliche Anhängsel zwischen meinen Ohren.

Heiße Tränen brannten mir in den Augen, teils vom Gestank, aber hauptsächlich vom Begreifen. Ich wusste, wieso sich das Wasser bewegte. Und ich wusste, weshalb ich kein Weinen hörte.

Die Lampe erzeugte eine vollkommene Lichtkugel um mich herum. Ich watete in das Abwasser, und meine Füße rutschten über den schleimigen Backsteinboden. Ich spürte, wie das dreckige Wasser langsam in meine Stiefel eindrang. Die tote Ratte stupste mit ihrer langen Schnauze mein Knie an, als ich vorbeikam.

Es war keine Flasche oder ein altes Brett, das ich in der Kotsuppe hatte schwimmen sehen. Als ich danach griff, rutschte ich aus und fiel mit einem leisen Schrei um. Ich fing mich ab, indem ich den Revolver fallen ließ und mich mit der rechten Hand vom Boden abdrückte. Dadurch war es mir möglich, mit der Linken die Lampe hochzuhalten. Ihr Licht spielte auf dem nach oben gerichteten Gesicht, das einen Fuß weiter weg auf dem Wasser trieb; das war alles, was ich sehen konnte – das Gesicht des Babys. Der Rest war unter dem senfgelben Schaum verborgen. Ich drückte mich hoch. Jetzt kniete ich davor – hustend, würgend, schluchzend. Es kümmerte mich nicht mehr, ob die Bestie mich hörte. Alles, was ich sehen konnte, war dieses Gesicht, verschmiert mit gallertartigen Fäkalien, dessen leere Augen blind in die Unergründlichkeit über uns starrten.

Ich konnte es nicht dort lassen, nicht an diesem Ort. Ich streckte die Hand danach aus.

Meine Knöchel streiften die Wange. Das Gesicht tauchte unter, tauchte wieder auf. Es drehte sich gemächlich wie ein losgemachtes Boot.

Da wusste ich es. Ich hatte den Säugling gefunden, aber nicht alles von ihm. Ich hatte nur sein Gesicht gefunden.

»Oh nein«, wimmerte ich, wie Dobrogeanu es getan hatte, wie der Doktor es getan hatte, als ihm in der Wildnis klar geworden war, dass wir uns verirrt hatten – der zeitlose Refrain, die alterslose Antwort. »Nein.«

Wir können es zu dem Priester bringen. Er wird wissen, was damit zu tun ist.

Mit diesen Worten hatte ich ihn in dem kalten und dreckigen Korridor im Stich gelassen. Ich war über ihn hinweggetreten in dem Glauben, es gäbe nichts, was ich tun könnte. Ich war über ihn hinweggetreten und hatte mir gesagt, dass sein Leiden nichts mit mir zu tun hatte.

Im Ödland des grauen Lichts, wo die schwarzen Buteos auf Aufwinden über den Ruinen des Waldes schwebten, hatte ein Mann sich seine Bürde auf die Schulter gestemmt. Das gehört mir!, hatte er in der kalten, toten Luft geschrien. Mir! Er hatte ihn nicht dorthingeschickt; es war nicht die Wahl des Doktors gewesen, dass er ging. Aber der Doktor hatte sich nach dem Unglück zu seinem Freund bekannt. Er hatte seine Bürde akzeptiert.

So überwältigt war ich von der Ungeheuerlichkeit meines Verbrechens, dass ich die Bestie nicht hörte. Das Wasser wallte hinter mir auf, ein Brett stieß mir in den Rücken; ich merkte es nicht. Als die Bestie sich aus dem Schmutz erhob und ihr Schatten hart auf mich fiel, sah ich es nicht. Die blinden Augen des Kindes hielten mich fest. Das fleischlose Gesicht hielt mich gepackt.

Aus dem Augenwinkel heraus sah ich verschwommen ihren Arm wie eine Rakete herumschnellen, bevor die harte Faust mir an die Schläfe krachte. Etwas riss sich los in meinem Verstand, ein heftiger Aufruhr wie bei einem Vulkanausbruch. Die Lampe flog mir aus der Hand und zerbarst mit lautem Knall an der Kellerwand, bevor sie ins Abwasser fiel und zischend erlosch. Ich fiel nach vorn und stürzte in die Unergründlichkeit.

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo
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