SECHS

»Eine völlig andere Spezies«

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In jener ersten Nacht schlugen wir, nach einer Wanderung von fast zwanzig Meilen entlang einem ausgetretenen Pfad, das Lager am nördlichen Ufer eines riesigen Sees auf. Auf jeder Seite des Sees waren Kanus zurückgelassen worden, eine Gefälligkeit für hiesige Jäger und die eingeborenen Völker, die den Pfad als Handelsroute nach Rat Portage nutzten. Das Überqueren des Sees nahm fast zwei Stunden in Anspruch, so gewaltig war die Ausdehnung des Gewässers und so bedachtsam unsere Überfahrt, denn mit uns dreien und unserer gesamten Ausrüstung an Bord lag das kleine Kanu bedenklich tief im Wasser. Während Warthrop Hawk beim Aufstellen des Zelts half – dieser hatte nur eins eingepackt, weil er nicht damit gerechnet hatte, dass wir zu dritt wären –, wurde ich in den umliegenden Wald geschickt, um Anzündmaterial für unser Feuer zu sammeln. Im Schatten der Abenddämmerung vermeinte ich, ein Rascheln zu hören, verursacht von irgendeiner großen, durchs Unterholz schleichenden Kreatur. Ich kann nicht sagen, ob es wirklich so war, nur dass, so wie das Tageslicht schwand, die Fruchtbarkeit meiner Vorstellungskraft exponentiell zuzunehmen schien.

Die Nacht war jedoch noch nicht vollends hereingebrochen, da hatte Sergeant Hawk schon ein fröhliches Feuer entfacht, über dem er in einer Pfanne frische Wildbretwürste briet, und schwatzte munter drauflos wie ein aufgeregter Schuljunge am Vorabend der Sommerferien.

»Jetzt müssen Sie mir aber etwas über dieses Monstrumologiegeschäft erzählen, Doktor!«, sagte er. »Ich habe einige ziemlich merkwürdige Wesen in den Wäldern gesehen, aber die sind mit Sicherheit nichts im Vergleich zu dem, was Sie auf Ihren Reisen gesehen haben! Holla, wenn nur die Hälfte von dem, was meine Mutter erzählt hat, wahr ist …!«

»Da ich nicht weiß, was sie Ihnen erzählt hat, kann ich nichts über die Wahrheitsliebe Ihrer Mutter sagen«, entgegnete der Doktor.

»Was ist mit Vampiren – haben Sie mal welche gejagt?«

»Habe ich nicht. Das wäre auch ein außerordentlich schwieriges Unterfangen.«

»Wieso? Weil sie so schwer zu erwischen sind?«

»Sie sind unmöglich zu erwischen.«

»Nicht, wenn man einen in seinem Sarg findet, habe ich gehört.«

»Sergeant, ich mache keine Jagd darauf, weil sie, wie der Wendigo, nicht existieren.«

»Wie sieht’s mit Werwölfen aus? Schon mal einen von denen gejagt?«

»Noch nie.«

»Existieren die auch nicht?«

»Ich fürchte nein.«

»Was steht’s mit –«

»Ich hoffe, Sie werden nicht gleich ›Zombies‹ sagen!«

Der Mund des Mannes klappte zu. Er starrte ein paar Momente lang ins Feuer und stocherte mit einem Stock in der flackernden Glut herum. Er wirkte irgendwie geknickt.

»Nun, wenn Sie nichts davon jagen, was für Wesen jagen Sie dann?«

»Im Großen und Ganzen jage ich sie gar nicht. Ich habe mich ihrem Studium verschrieben. Sie zu fangen oder gar zu töten ist etwas, das ich zu vermeiden suche.«

»Klingt nicht nach besonders viel Spaß.«

»Ich nehme an, das hängt von Ihrer Definition von ›Spaß‹ ab.«

»Tja, wenn es sich bei der Monstrumologie nicht um solche Sachen dreht, weshalb ist dann Ihr Freund Chanler hier hochgekommen, um nach dem Wendigo zu suchen?«

»Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Ich würde allerdings sagen, dass es nicht geschah, um seine Nichtexistenz zu beweisen, denn einen nicht zu finden würde bloß beweisen, dass einer nicht gefunden wurde. Meine Vermutung ist, dass er hoffte, einen zu finden, oder wenigstens einen unwiderlegbaren Beweis für einen. Sehen Sie, es ist eine Bewegung im Gange, den Umfang unserer Forschungen dahin gehend auszudehnen, dass ebendiese Wesen darin eingeschlossen werden, von denen Sie gesprochen haben – Vampire, Werwölfe und dergleichen –, eine Bewegung, der ich ausgesprochen ablehnend gegenüberstehe.«

»Und warum ist das so?«

Warthrop gab sich größte Mühe, ruhig zu bleiben. »Weil, mein guter Sergeant Hawk, sie, wie ich schon gesagt habe, nicht existieren.«

»Aber Sie haben auch gesagt, einen nicht zu finden beweist nicht, dass sie nicht existieren.«

»Ich kann mit nahezu absoluter Gewissheit sagen, dass sie es nicht tun, und ich brauche mich nicht über mein eigenes Denkvermögen hinauszuwagen, um das zu beweisen. Nehmen wir als Beispiel den Wendigo. Was sind seine Charakteristika?«

»Charakteristika?«

»Ja. Was unterscheidet ihn von, sagen wir einmal, einem Wolf oder einem Bären? Wie würden Sie ihn definieren?«

Hawk schloss die Augen, wie um sich vor seinem inneren Auge ein besseres Bild vom Gesprächsgegenstand zu machen.

»Na ja, sie sind groß. Über fünfzehn Fuß hoch, sagt man, und dünn, so dünn, dass sie verschwinden, wenn sie sich zur Seite drehen.«

Der Doktor lächelte. »Ja. Machen Sie weiter!«

»Er ist ein Gestaltwandler. Manchmal ist er bloß wie ein Wolf oder ein Bär, und er ist immer hungrig. Er frisst nichts außer Menschen, und je mehr er frisst, desto hungriger wird er und desto dünner wird er, deshalb muss er ständig weiterjagen; er kann nicht aufhören. Er bewegt sich durch den Wald, indem er von Baumkrone zu Baumkrone springt; manche sagen auch, er breitet seine langen Arme aus und gleitet auf dem Wind. Er kommt einen immer nachts holen, und sobald er einen gefunden hat, ist man ein Todeskandidat; es gibt nichts, was man dann noch machen kann. Er spürt dir tagelang nach, ruft deinen Namen, und etwas in seiner Stimme macht, dass du gehen willst.

Eine Kugel kann ihn nicht niederstrecken, außer wenn sie aus Silber ist. Alles aus Silber kann ihn umbringen, aber das ist das Einzige. Dann muss man ihm das Herz herausschneiden und den Kopf abhacken und anschließend den Körper verbrennen.«

Er holte tief Luft und blickte meinen Herrn mit verdrossener Miene an.

»Nun haben wir also die meisten körperlichen Attribute abgedeckt«, sagte der Doktor wie ein Schulleiter, der eine Klasse durch Suggestivfragen lenkt. »Humanoide Erscheinung, sehr groß, mehr als zweimal so groß wie ein erwachsener Mann, extrem dünn, so dünn, sagen Sie, dass er sich über die Physik hinwegsetzt und unsichtbar wird, wenn er sich zur Seite dreht. Zu erwähnen vergaßen Sie, dass das Herz des Lepto lurconis aus Eis besteht. Der Wendigo ernährt sich von Menschen – und, interessanterweise, gewissen Moosarten, wie ich hinzufügen darf – und besitzt die Fähigkeit zu fliegen. Ein weiteres Attribut, welches Sie zu erwähnen versäumten, ist seine Reproduktionsmethode.«

»Seine was?«

»Jede Spezies auf dem Planeten muss irgendein Verfahren haben, die nächste Generation hervorzubringen, Sergeant. Jedes Kind weiß das. Sagen Sie mir also, wie macht der Wendigo kleine Wendigos? Als Hominide ist er eine höhere Ordnung der Säugetiere – den wesentlichen Punkt einmal unberücksichtigt gelassen, wie ein Herz aus Eis Blut pumpen kann –, folglich ist er nicht ungeschlechtig. Was können Sie mir über seine Werberituale sagen? Haben Wendigos Rendezvous? Verlieben sie sich? Sind sie monogam oder nehmen sie sich mehrere Partner?«

Unser Führer musste unwillkürlich lachen. Die Absurdität des Ganzen war zu viel für ihn geworden.

»Vielleicht verlieben sie sich ja tatsächlich, Doktor. Es ist eine nette Vorstellung, dass wir nicht die Einzigen sind, die das können.«

»Man muss sich hüten, die Natur zu anthropomorphisieren, Sergeant. Dennoch müssen wir Raum für Liebe bei den niederen Ordnungen lassen – ich kann Herrn Biber nicht in den Kopf sehen; vielleicht liebt er Frau Biber von ganzem Herzen. Aber um zu meiner Frage über die Wendigos zurückzukehren: Sind sie unsterblich – im Gegensatz zu jedem anderen Organismus auf der Erde – und brauchen sich daher nicht zu reproduzieren?«

»Sie nehmen uns und machen uns zu einem von ihnen.«

»Aber ich dachte, Sie hätten gesagt, sie fräßen uns!«

»Na ja, wie das genau funktioniert, kann ich nicht sagen. Die Geschichten kommen aus den Wäldern: Ein Jäger oder ein Fallensteller, öfter noch ein Indianer, wird zum Wendigo.«

»Aha, dann ist er also wie der Vampir oder der Werwolf. Wir sind sowohl seine Nahrung als auch seine Nachkommenschaft.« Der Doktor nickte mit gespieltem Ernst. »Die Sache ist beinah unwiderleglich, nicht wahr? Viel wahrscheinlicher als die Alternative, dass der Wendigo eine Metapher für Hungersnot und das Tabu des Kannibalismus in solchen Zeiten ist oder ein Butzemann, mit dem Eltern ihren Kindern Angst machen, damit sie ihnen gehorchen.«

Ein paar Minuten lang sprach keiner. Das Feuer knisterte und knallte; Schatten tanzten und wirbelten um unser kleines Lager herum; der See schimmerte im Mondlicht, die Wellen leckten wollüstig am Ufer; und der Wald hallte vom Lied der Grillen und dem gelegentlichen Zerbrechen eines Zweiges unter dem Fuß irgendeines Waldwesens wider.

»Tja, Dr. Warthrop, fast tut es mir leid, dass ich nach der Monstrumologie gefragt habe«, sagte Hawk wehmütig. »Verdammt, Sie haben mir beinah den ganzen Spaß dran genommen!«

Die Männer warfen eine Münze, um die erste Wache auszulosen. Auch wenn die Zivilisation nur einen Tagesmarsch hinter uns lag, waren wir doch schon ein gutes Stück in Wolf- und Bärengebiet eingedrungen, und jemand musste das Feuer die ganze Nacht hindurch am Leben erhalten. Warthrop verlor – er würde als Letzter zum Schlafen kommen –, schien aber zufrieden mit dem Ausgang. Dies gäbe ihm, so sagte er, Zeit zum Nachdenken, eine Aussage, die mich reich an Ironie dünkte. Ich hatte den Eindruck, dass er ansonsten mit seiner Zeit wenig anfing.

Der stämmige Sergeant Hawk krabbelte ins Zelt und warf sich neben mir auf den Boden; unsere Unterkunft war so klein, dass seine Schulter sich an meiner rieb.

»Irgendwie ist dein Boss schon ein seltsamer Kerl, Will«, sagte er leise, damit Warthrop ihn nicht hörte. Ich konnte die Silhouette des Doktors durch die offene Zeltklappe sehen, wie er vor dem orangefarbenen Feuerschein kauerte, die Winchester an den Oberschenkel gelehnt. »Höflich, aber nicht besonders freundlich. Irgendwie kalt. Aber er muss ein gutes Herz haben, wenn er wegen seinem Freund den ganzen Weg hierherkommt.«

»Ich bin nicht sicher, ob es bei dem Ganzen nur um seinen Freund geht«, sagte ich.

»Nicht?«

»Er glaubt, dass Dr. Chanler tot ist.«

»Na ja, das denke ich auch, und deshalb haben wir ja auch die Suche abgebrochen. Aber es ist wie mit diesem Wendigo. Alles spricht dafür, dass dein Boss ihn nicht finden wird – und das wird nicht beweisen, dass er tot ist oder nicht.«

»Ich bin nicht sicher, ob es auch nur darum geht, ihn zu finden«, gestand ich.

»Ja worum zum Teufel geht’s denn dann?«

»Ich denke, es geht hauptsächlich um sie.«

»Um mich?«

»Um Mrs. Chanler.«

»Mrs. Chanler!« Sergeant Hawk flüsterte. »Was willst du damit – Oh. Oh! Ist es das, was – Na, haste Töne!« Er kicherte schläfrig. »Wohl doch nicht ganz so kalt, was?«

Er rollte sich auf die Seite, und binnen weniger Sekunden begannen die Zeltwände von der Macht seiner Schnarcher zu vibrieren. Ich lag lange Zeit schlaflos da, nicht so sehr aufgrund seines Schnarchens wach gehalten als vielmehr von der verwirrenden Leichtheit des Seins, dem Gefühl, ganz klein in einem unermesslichen, leeren Raum zu sein, weit weg von allem Vertrauten, Wind und Wellen einer unbekannten und gleichgültigen See preisgegeben. Durch halb geschlossene Augen beobachtete ich den Umriss meines Herrn draußen; er tröstete mich irgendwie. Ich schlief ein, indem ich mich an diesem unerwarteten Balsam festhielt, ihn in mich zog oder ihm gestattete, mich in ihn zu ziehen – die Vorstellung des Monstrumologen, der über mich wachte.

Das Unbehagen, eine merkwürdige Mischung aus Langeweile und Beklemmung, das ich während jener ersten Nacht in der Wildnis empfand – und welches umso bedrückender war nach der heftigen Vorfreude, die ich beim Anbruch der Reise verspürt hatte –, dauerte in den folgenden Tagen an. Denn so wie Stunde auf monotone Stunde folgte, nahm der Wald eine furchtbare Gleichheit an, brachte jede Wegbiegung mehr vom immer wieder selben, mit nur bedeutungslosen Unterschieden. Zuweilen traten die Bäume unvermittelt auseinander, wie ein Vorhang, der zur Seite gerissen wurde, und dann stolperten wir aus der ewigen Düsternis des Waldes in den jähen Sonnenschein einer Lichtung. Gewaltige Felsbrocken reckten ihre Köpfe aus der Erde, steinerne Leviathane, die die Oberfläche des engen Tals durchbrachen und deren zerfurchte Gesichter stolz zottige Flechtenbärte zur Schau trugen.

Wir überquerten ungezählte Bäche und Wasserläufe, manche zu breit, um darüberzuspringen; dann blieb uns keine andere Wahl, als ihr eisiges Wasser zu durchwaten. Wir kletterten über Auswaschungen und durch tiefe Schluchten, wo sich die Schatten selbst um die Mittagszeit dick über die Erde legten. Zerstörte Landschaften, die Hawk Brûlé nannte, erhoben sich, um uns entgegenzutreten, wo die verkohlten Skelette von silbernen Birken und Ahornen, Fichten und Hemlocktannen auf den Horizont zumarschierten, Opfer der Frühlingsbrände, die wochenlang getobt hatten und eine apokalyptische Aussicht erschaffen hatten, so weit das Auge reichte, wo der ruhelose Wind die zolltiefe Asche am Boden zu einem stickigen Nebel aufpeitschte. Inmitten dieser Öde blickte ich nach oben und sah hoch über uns eine schwarze Form vor dem nichtssagenden Himmel, ein Adler oder irgendein anderer großer Greifvogel, und einen grässlichen Moment lang sah ich uns durch seine Augen – jämmerlich kleine, gänzlich unbedeutende Nomaden, Eindringlinge in dieses leblose Land.

Sergeant Hawk versuchte immer, den täglichen Marsch an irgendeiner offenen Stelle in der Wildnis zu beenden, aber oft überraschte uns der Sonnenuntergang mitten im Bauch des Waldes und nötigte uns, in einer Finsternis das Lager aufzuschlagen, die so tief wie die eines Grabes war und in der man ohne das Lagerfeuer die Hand nicht vor den Augen hätte sehen können.

Das gutmütige Naturell unseres Führers trug ebenfalls dazu bei, dass das aufdringliche Dunkel leichter zu ertragen war. Er erzählte Geschichten und Witze – manche, wenn nicht die meisten, ziemlich unzüchtig – und, da er eine ganz passable Stimme besaß, sang die alten Lieder der französischen Voyageurs, wobei er das Kinn leicht neigte, als wolle er sein Lied einem namenlosen Waldgott darbringen:

J’ai fait une maîtresse y a pas longtemps.

J’irai la voir dimanche, ah oui, j’irai!

»Kennen Sie das, Doktor?«, zog er meinen Herrn auf. »›Le Cœur de Ma Bien-aimée‹ – ›Das Herz meiner heiß Geliebten‹? ›Eine sanfte Geliebte verzauberte mich, ’s ist noch nicht lang her …‹ Erinnert mich an ein Mädchen, das ich in Keewatin kannte. Im Moment fällt mir ihr Name nicht ein, aber bei Gott, ich stand verdammt kurz davor, sie zu heiraten! Sind Sie verheiratet, Doktor?«

»Nein.«

»Nie gewesen?«

»Nie«, antwortete der Monstrumologe.

»Aber beinah bereit dazu, oder?«

»Nie.«

»Was denn, mögen Sie keine Frauen?«, stichelte er, wobei er mir zuzwinkerte.

Der Doktor schürzte verdrießlich die Lippen. »Als Mann der Wissenschaft habe ich oft gedacht, dass, um der Genauigkeit willen, sie als eine völlig andere Spezies klassifiziert werden sollten – Homo enigma vielleicht, oder Homo mortalis

»Tja, ich weiß nicht viel über Ihre Wissenschaft, Dr. Warthrop. Ich schätze, ein Monsterjäger betrachtet die Dinge ein bisschen anders als die meisten, hat das Auge immer auf das Dunkle und Hässliche gerichtet, ist aber dem Hellen und Schönen gegenüber umso empfänglicher, wenn es dann daherkommt, das denk ich jedenfalls. Ich zweifle aber nicht an Ihren Worten.«

Er sang leise: »La demande à m’amie je lui ferai …«

Mit einem Knurren stand Warthrop auf. »Bitte, würden Sie mit diesem infernalischen Gesang aufhören!«

Er stapfte fort ins dichte Unterholz und blieb stehen, wo das Licht des Lagerfeuers dem Dunkel des Waldes begegnete. Seine hagere Gestalt schien sich zu winden, als befände er sich in der überhitzten Luft über dem Feuer.

Hawk war unbeeindruckt. Er stieß mir in die Seite und zeigte auf den Doktor. »Kommt mir vor, als wär er einer von der Sorte, die hassen, was sie lieben, Will«, meinte er. »Und andersrum!«

»Das habe ich gehört, Sergeant!«, blaffte Warthrop über die Schulter.

»Ich habe mit Ihrem unentbehrlichen Diener gesprochen, Doktor!«, rief Hawk vergnügt zurück.

Der Doktor senkte den Kopf ein bisschen. Er hielt die Hand hoch. Seine Fingerspitzen zuckten; ansonsten war er bewegungslos, so starr wie ein in den Boden gerammter Pfosten. Er schien auf irgendetwas zu horchen. Albern grinsend drehte Hawk sich zu mir um und setzte zum Reden an, aber die Worte erstarben ihm auf der Zunge, als ich mich aufrappelte. Ich kannte meinen Herrn; mein Instinkt reagierte auf seinen.

Ein Windstoß bewegte die Haare des Monstrumologen und versetzte die Flammen unseres Feuers in Aufregung; Funken hüpften und wirbelten herum; die Zeltwände flatterten. Hawk rief leise den Namen des Doktors, aber der Monstrumologe gab keine Antwort. Er spähte in den dunklen Wald, als hätte er die Augen einer Katze, die das Düster durchdringen konnten.

Hawk sah mich spöttisch an. »Was ist los, Will?«

Der Doktor stürmte in den Wald und war im Nu zwischen den Bäumen verschwunden, vollständig verschluckt vom Ungetüm Dunkelheit. Das Ganze ging so schnell vonstatten, dass es aussah, als hätte etwas aus dem Wald herausgegriffen und ihn sich geschnappt. Ich raste los; Hawk packte mich am Kragen und riss mich zurück.

»Halt, Will!«, rief er. »Schnell, in meinem Rucksack sind ein paar Lampen!«

Im Innern des Waldes konnten wir den Doktor herumstampfen und sich krachend einen Weg bahnen hören, doch das Geräusch wurde schwächer, als er sich immer weiter wegbewegte. Ich zündete die Lampen mit einem brennenden Holzscheit an, reichte eine Hawk, und wir stürmten hinter meinem launenhaften Mentor in den Wald hinein. Obwohl unsere Lichter das Dunkel kaum durchdrangen, war Warthrops Fährte für Hawk nicht schwer zu verfolgen. Sein erfahrenes Auge machte jeden geknickten Zweig aus, jedes bisschen durcheinandergebrachte Erde. Sein Sehvermögen war alles, worauf er sich verlassen konnte, denn die Nacht war totenstill geworden. Es gab kein Geräusch außer dem unserer eigenen Passage durchs dichte Blätterwerk. Äste und Kletterpflanzen zerrten an uns, als versuchte der Wald selbst, uns zu verlangsamen, als würde irgendein primordialer Geist sagen: Bleibt. Bleibt, das wollt ihr nicht sehen.

Das Gelände stieg an. Die Bäume traten auseinander. Wir stolperten auf eine Lichtung, strahlend im Sternenlicht, in deren Zentrum der zersplitterte Stamm einer jungen Hemlocktanne stand, acht Fuß über dem Boden geborsten, und auf dem Boden um den Stamm herum lagen verstreut die zerbrochenen Knochen ihrer Äste. Es sah aus, als hätte ein Riese vom sternenübersäten Firmament herabgegriffen und sie wie einen Zahnstocher entzweigebrochen.

Ein paar Fuß vom Stamm entfernt war der Monstrumologe, den Kopf leicht auf die Seite gelegt, die Arme vor der Brust verschränkt, wie ein Connaisseur in einer Galerie, der ein besonders interessantes Kunstwerk betrachtet.

Ein Mensch war auf der gesplitterten Hemlocktanne aufgespießt, sodass der Schaft des Baums aus einer Stelle knapp unter dem Sternum herausragte und der Körper auf einer Höhe mit Warthrops Augen war – Arme und Beine ausgestreckt, der Kopf zurückgeworfen, der Mund aufgesperrt, wo sich, wie in den augenlosen Höhlen, unermesslich tiefe Schatten sammelten.

Die Leiche war völlig entblößt worden. Es gab keine Kleider und, abgesehen vom Gesicht, keine Haut; dem Körper war beides abgezogen worden. Die darunterliegenden Sehnen und Muskeln schimmerten feucht im silbernen Licht.

Die kalten Sterne drehten sich zu dem uralten Rhythmus, dem ehrwürdigen Marsch einer immer währenden Sinfonie.

Sie sind alt, die Sterne, und ihr Gedächtnis reicht weit zurück.

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo
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